Hitler 1889 – 1936 - Ian Kershaw - E-Book

Hitler 1889 – 1936 E-Book

Ian Kershaw

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Beschreibung

Ein epochales Werk, ein Höhepunkt der Geschichtsschreibung

Das auf zwei Bände angelegte Werk des britischen Historikers Ian Kershaw ist beides: eine Biographie Hitlers und eine Geschichte der NS-Zeit. Es untersucht eindrucksvoll die historischen Kräfte, die einen trägen österreichischen Träumer in einen Diktator mit immenser Macht verwandelten. Kershaw vertritt den Standpunkt, dass die Ursachen für Hitlers Macht nicht nur in den Taten des Diktators gesucht werden müssen, sondern auch (und ganz besonders) in den sozialen Verhältnissen eines Staates, der es ihm erlaubte, alle institutionellen und moralischen Grenzen zu überschreiten.

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Seitenzahl: 1652

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe ist 1998 unter dem Titel Hitler. 1889–1936: Hubrisbei Allen Lane / The Penguin Press in London erschienen.
Jörg W. Rademacher übersetzte Kap. 1–10 Jürgen Peter Krause übersetzte Kap. 11–13 aus dem Autorenmanuskript unter Mitarbeit von Cristoforo Schweeger
Das Sach- und Personenregister sowie das Abkürzungsverzeichnis zu den beiden Bänden von Ian Kershaws Hitler-Biographie finden Sie unter www.pantheon-verlag.de/kershaw_hitler_register.pdf
Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Pantheon-Ausgabe August 2013Copyright © 1998 by Ian Kershaw Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.Covergestaltung: Jorge Schmidt, München
ISBN 978-3-641-11982-9V002
www.pantheon-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Betrachtungen zu Hitler
Erstes Kapitel - Phantasien und Fehlschläge
Zweites Kapitel - Der Aussteiger
Drittes Kapitel - Begeisterung und Verbitterung
Viertes Kapitel - Entdeckung einer Begabung
Fünftes Kapitel - Der Bierkelleragitator
Sechstes Kapitel - Der »Trommler«
Siebtes Kapitel - Der Auftritt des »Führers«
Achtes Kapitel - Auf dem Weg zur Beherrschung der »Bewegung«
Neuntes Kapitel - Der »Durchbruch«
Zehntes Kapitel - An die Schalthebel der Macht »gehievt«
Elftes Kapitel - Auf dem Weg zum Diktator
Zwölftes Kapitel - Sicherung der totalen Macht
Dreizehntes Kapitel - »Dem Führer entgegen arbeiten«
Danksagung
Anhang
Anmerkungen
Verzeichnis der zitierten Literatur
Abkürzungsverzeichnis
Bildnachweise
Personenregister
Copyright

Vorwort

Bis vor wenigen Jahren hatte ich nie daran gedacht, eine Hitler-Biographie zu schreiben. Schließlich gab es eine Reihe aus meiner Sicht hochrangiger Biographien. Als Student hatte ich Alan Bullocks frühes Meisterwerk fasziniert gelesen. Und als 1973 Joachim Fests neue Biographie erschien, las ich sie sofort in einem Zug durch und bewunderte wie alle anderen ihre stilistische Brillanz. Zur Abfassung des vorliegenden Werkes ließ ich mich 1989 erst nach anfänglichem Widerstreben und mit voller Hochachtung vor den Leistungen von Bullock und Fest bewegen.

Und ich zögerte auch, weil Biographien im Rahmen meiner Pläne für künftige Bücher keine Rolle gespielt hatten und ich das Genre eher mit kritischen Augen betrachtete. Seit den Anfängen meiner Laufbahn als Wissenschaftler, zunächst als Mediävist, hatte mich die Sozialgeschichte weit mehr interessiert als die »hohe Politik« oder gar die Lebensgeschichte eines Mannes. Diese Neigungen erhielten Auftrieb, als ich in den siebziger Jahren auf die antibiographischen Strömungen der deutschen Geschichtswissenschaft traf. Beim Wechsel der Fachrichtung, um künftig über das Dritte Reich zu forschen, erregten das Verhalten und die Einstellungen gewöhnlicher Deutscher während jener außerordentlichen Epoche meine Aufmerksamkeit, und nicht Hitler und seine Entourage. In meinen frühen Arbeiten, die aus der Mitwirkung am bahnbrechenden »Bayern-Projekt« erwuchsen und von den Anregungen eines brillanten Mentors, Martin Broszat, ungeheuer profitierten, verfolgte ich diese Interessen, indem ich einerseits die Volksmeinung und den politischen Dissens unter der NS-Herrschaft und andererseits das Image Hitlers in der Bevölkerung untersuchte. Mit der letztgenannten Studie nahm ich eine exponierte Position in der historiographischen Hitler-Debatte ein, die im Deutschland der siebziger Jahre geführt wurde. Gleichwohl blieb ich als Nicht-Deutscher, der sich primär für die Rezeption von Hitlers Image und die Gründe für seine Popularität und weniger für Hitler selbst interessierte, im wesentlichen außerhalb dieser Auseinandersetzungen.

Das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, ließ nach, als ich, immer noch kaum mehr als ein Neuling auf dem Gebiet, 1979 an einer wichtigen Konferenz in Cumberland Lodge bei London teilnahm. Die meisten deutschen Koryphäen nahmen ebenfalls an dem Kongreß teil, der gleichermaßen anschaulich und bestürzend die Gräben offenlegte, die sich zwischen führenden Historikern auftaten, wenn sie die Rolle Adolf Hitlers im NS-System deuteten. Die Erfahrung der Konferenz war mir ein Ansporn, mich noch weiter in die unterschiedlichen Ansätze der deutschen Geschichtswissenschaft zu vertiefen, woraus schließlich eine Überblicksdarstellung hervorging, in der meine Sympathien für die »strukturalistischen« Ansätze zur Deutung der NS-Herrschaft offenkundig waren, die eine Abkehr von der biographischen Beschäftigung mit dem NS-Diktator einleiteten.

Die nicht unwesentliche Ironie einer Hitler-Biographie aus meiner Feder beruht schließlich darauf, daß ich mich dem Genre sozusagen aus der »falschen« Richtung genähert habe. Gleichwohl hat mich die zunehmende Beschäftigung mit den Strukturen der NS-Herrschaft und mit der Kluft zwischen den Interpreten in bezug auf Hitlers eigene Stellung innerhalb dieses Systems, wenn man es überhaupt »System« nennen will, unweigerlich dazu geführt, vermehrt über den Mann nachzudenken, der der unverzichtbare Dreh- und Angelpunkt sowie die Inspirationsquelle der Ereignisse war: Hitler selbst. Schließlich drängte sich mir die Überlegung auf, ob es nicht möglich sei, die auffallende Polarisierung der Ansätze zu überwinden und sie in einer Hitler-Biographie aus der Feder eines »strukturalistischen« Historikers zu integrieren, der dem Genre Biographie mit einem kritischen Blick begegnet. Instinktiv ist er vielleicht bestrebt, bei komplexen historischen Prozessen die Rolle des Individuums, wie wirkungsmächtig es auch sei, eher abzuwerten als zu überhöhen.

Die folgende Arbeit unternimmt auf dem Wege einer Hitler-Biographie den Versuch, personale und strukturelle Elemente im Entwicklungsprozeß einer der wichtigsten Epochen der Menschheitsgeschichte zu verbinden. Während der Abfassung des Buches hat mich nach wie vor weniger der merkwürdige Charakter des Mannes interessiert, der zwischen 1933 und 1945 das Schicksal Deutschlands in seinen Händen hielt, als die Frage, wie Hitler möglich war: nicht nur, wie dieser für ein hohes Staatsamt anfänglich untaugliche Anwärter die Macht erlangte, sondern auch, wie er diese Macht ausdehnte, bis sie absolut wurde, bis Feldmarschälle bereit waren, die Befehle eines ehemaligen Gefreiten zu befolgen, ohne Fragen zu stellen, bis hoch qualifizierte »Profis« und kluge Köpfe aus allen Milieus sich bereit fanden, unkritisch einem Autodidakten zu gehorchen, dessen einzige unumstrittene Begabung darin bestand, die niedrigen Empfindungen der Massen aufzupeitschen. Wenn eine befriedigende Antwort auf diese Frage nicht aus den gegebenen Charaktereigenschaften Hitlers hervorgeht, dann muß man sie vornehmlich in der deutschen Gesellschaft suchen – in den sozialen und politischen Motivationen, die Hitler möglich gemacht haben. Es ist das Ziel meiner Studie, diese Motivationen freizulegen und sie mit Hitlers persönlichem Beitrag zur Erringung und Ausdehnung der Macht, bis er das Schicksal von Millionen bestimmen konnte, in einer Darstellung zu verknüpfen.

Wenn ich ein Konzept nennen soll, das mir mehr als jedes andere geholfen hat, beim Schreiben den Gegensatz des biographischen und sozialgeschichtlichen Ansatzes aufzulösen, dann ist dies Max Webers Begriff der »charismatischen Herrschaft« – ein Begriff, der zur Erklärung dieser außergewöhnlichen Form politischer Herrschaft primär auf diejenigen blickt, die das »Charisma« wahrnehmen, das heißt, auf die Gesellschaft und nicht in erster Linie auf die Persönlichkeit als dem Gegenstand ihrer Verherrlichung.

So kühn das Vorhaben einer neuen Hitler-Biographie auch sein mag, die ungeheure Menge an erstklassigen Publikationen zu praktisch allen Gesichtspunkten des Dritten Reiches, seitdem Joachim Fest oder gar Alan Blullock ihre bedeutenden Arbeiten schrieben, hat mich sowohl noch mehr ermutigt als auch, wie einzuräumen ist, etwas entmutigt oder sogar bestürzt. Im Rückblick überrascht zum Beispiel, welch geringe Bedeutung der antijüdischen Politik und der Entstehung der »Endlösung« in diesen frühen Biographien beigemessen wurde. Die Schwierigkeiten, Hitlers eigene oft schattenhafte Rolle auf dem »gewundenen Weg nach Auschwitz« genau zu bestimmen, gehören natürlich zu den Gründen für dieses Defizit. Doch die wichtigen Fortschritte, welche die Forschung auf diesem Gebiet erzielt hat, machen es sowohl erforderlich als auch möglich, hier Abhilfe zu schaffen, also die Arbeit fortzusetzen, zu der kürzlich Marlis Steinerts Biographie einen ersten Beitrag lieferte.

Eine neue Biographie scheint nicht nur wegen des Ausmaßes an Sekundärliteratur geboten, sondern auch auf Grund der nunmehr verfügbaren Quellentexte zu Hitler. Die großartige vielbändige Ausgabe von Hitlers Reden und Schriften seit der Neugründung der Partei im Jahr 1925 bis zu seiner Ernennung zum Reichskanzler im Jahr 1933 erschließt der Wissenschaft einen wichtigen Quellenbestand. Dank ihr ist es heute möglich, im Verbund mit der ebenso exzellenten Edition von Hitlers Reden und Schriften bis 1924 für die gesamte Zeit, bevor er die Macht übernahm, die Entwicklung seiner Ideen, wie er sie öffentlich zum Ausdruck brachte, zu betrachten. Eine zweite unverzichtbare Quelle, die jetzt zum ersten Mal einer Hitler-Biographie vollständig zur Verfügung steht, sind die Tagebücher des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, die auf Glasplatten (einer Frühform der Photokopie) im früher unzugänglichen Moskauer Staatsarchiv bewahrt wurden und erst vor kurzem ans Licht der Öffentlichkeit getreten sind. Trotz der Vorsicht, die die von Goebbels regelmäßig wiedergegebenen Bemerkungen Hitlers natürlich in einem Text gebieten, den der Propagandaminister, die spätere Veröffentlichung im Auge, zur Selbstverherrlichung schrieb und um sich einen Platz ganz oben im Pantheon der NS-Helden zu sichern, werden die Kommentare durch ihre Unmittelbarkeit und Dichte zu einer wichtigen Quelle, um Einsichten in Hitlers Denken und Handeln zu gewinnen.

Eine vermeintliche Quelle, die über Jahrzehnte als authentischer Wegweiser für Hitlers Gedanken und Pläne genutzt und allen voran von Bullock und von Fest ausgeschöpft wurde, ist auf der Strecke geblieben. Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler«, ein Werk, dem man heute so wenig Authentizität zumißt, daß man es besser ganz außer acht läßt, habe ich an keiner Stelle zitiert. Auch andere Quellen, insbesondere Memoiren und sogar die »Monologe im Führerhauptquartier« der letzten Monate (die sogenannten »Bunkergespräche«), deren ursprünglicher deutscher Text nie ans Tageslicht kam, müssen mit entsprechender Vorsicht behandelt werden. Nimmt man Hitlers angeborene Heimlichtuerei, die Leere seiner persönlichen Beziehungen, seinen unbürokratischen Stil, die Extreme an Verherrlichung und Haß, die er auslöste, und die Apologien und Verzerrungen, welche die nach dem Krieg publizierten Memoiren und die geschwätzigen Anekdoten der Menschen seiner Entourage kennzeichnen, zusammen, sind die Quellen zur Rekonstruktion der Lebensgeschichte des deutschen Diktators trotz der erhaltenen Papierberge, die der Regierungsapparat des Dritten Reiches ausgestoßen hat, in vielfacher Hinsicht außerordentlich begrenzt und nicht mit den umfänglicheren archivalischen Hinterlassenschaften seiner Hauptgegner Churchill und Stalin zu vergleichen.

Hitler und der Nationalsozialismus sind für die deutsche Gesellschaft und natürlich in ganz anderer Gestalt für die Millionen Opfer des Regimes ein fortdauerndes Trauma. Doch Hitlers Vermächtnis gilt uns allen. Teil dieses Erbes ist die fortgesetzte Verpflichtung, immer wieder neu zu fragen, wie Hitler möglich wurde. Nur über die Geschichte können wir für die Zukunft lernen. Und in dieser Hinsicht ist keine Phase der Geschichte von größerer Bedeutung als die Epoche, die Adolf Hitler beherrscht hat.

Ian Kershaw

Sheffield/Manchester im April 1998

Betrachtungen zu Hitler

»Charismatische Herrschaft ist lange Zeit vernachlässigt und lächerlich gemacht worden, hat aber offenbar weit zurückreichende Wurzeln und wird, wenn die geeigneten psychologischen und sozialen Bedingungen erst einmal vorhanden sind, zu einer machtvollen Antriebskraft. Die charismatische Macht des Führers ist kein bloßes Trugbild – niemand kann bezweifeln, daß Millionen an sie glauben.«

Franz Neumann 1942

War das 20. Jahrhundert das Zeitalter Hitlers? Sicherlich hat es kein zweiter stärker geprägt als Adolf Hitler. Andere Diktatoren – allen voran Mussolini, Stalin und Mao – waren an Eroberungskriegen und der Versklavung unterdrückter Völker beteiligt, trugen Verantwortung für Gewaltakte unvorstellbarer Unmenschlichkeit und haben dem Wesen des 20. Jahrhunderts ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Doch ist keiner mit seiner Herrschaft weltweit so tief in das Gesamtbewußtsein der Menschen eingedrungen wie Adolf Hitler. In diesem »Zeitalter der Extreme«1 hat es auch politische Führer gegeben, die die positiven Werte des Jahrhunderts symbolisieren, den Glauben an die Menschheit und die Hoffnung auf die Zukunft verkörpern. Im Register solcher Figuren stehen an erster Stelle die Namen von Franklin Delano Roosevelt, Winston Churchill, John F. Kennedy und aus jüngster Zeit Nelson Mandela. Doch Hitler hat tiefere Spuren in unserem Jahrhundert hinterlassen als jeder andere.

Die Diktatur Adolf Hitlers besitzt für das 20. Jahrhundert paradigmatische Bedeutung, mehr als die von Stalin oder Mao. Extrem und eindringlich spiegelt sie den »totalen« Anspruch des modernen Staates, eine bisher ungeahnte staatliche Repression und Gewaltanwendung, beispiellose Manipulation der Medien zur Kontrolle und Mobilisierung der Massen, einen unerhörten Zynismus in den internationalen Beziehungen, die Sprengkraft eines überhitzten Nationalismus, die ungeheure zerstörerische Energie der Ideologien »rassischer Überlegenheit« und die äußersten Konsequenzen des Rassismus, begleitet von der pervertierten Anwendung der modernen Technologie und »Sozialtechnik«. Vor allem war die Hitler-Diktatur ein warnendes Fanal, das noch immer hell leuchtet: Sie zeigt, wie eine moderne, fortschrittliche und kultivierte Gesellschaft so rasch in die Barbarei sinken kann, die in einem ideologischen Krieg, räuberischen Eroberungen von kaum vorstellbarer Brutalität und einem Völkermord gipfelte, wie sie die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Die Hitler-Diktatur führte zu einem Kollaps der modernen Zivilisation – zu einer Form des nuklearen Super-GAUs in der Gesellschaft. Sie hat gezeigt, wozu wir fähig sind.

Grundlegende Fragen sind bislang nicht geklärt. Was war an dieser katastrophalen Entwicklung spezifisch deutsch? Was war typische Zeiterscheinung? Was war Teil einer allgemeineren europäischen Krankheit? Waren die Geschehnisse ein Ergebnis und ein Merkmal der modernen Zivilisation? Besteht ihre Kraft untergründig fort, oder lebt sie gar am Ende des Jahrhunderts wieder auf?

Zwölf Jahre Hitler-Herrschaft haben Deutschland, Europa und die Welt dauerhaft verändert. Hitler ist einer der wenigen Menschen, über die man mit absoluter Sicherheit sagen kann, daß die Geschichte ohne sie anders verlaufen wäre.2 Der Kalte Krieg, Hitlers unmittelbares Vermächtnis  – ein durch die Mauer zweigeteiltes Deutschland, ein durch den Eisernen Vorhang gespaltenes Europa, eine zwischen verfeindeten Supermächten, deren Waffen den Planeten in die Luft sprengen konnten, aufgeteilte Welt – ging erst vor einem Jahrzehnt zu Ende. Das tieferreichende Erbe – das moralische Trauma, das er der Nachwelt hinterlassen hat – ist uns noch immer gegenwärtig.

Das Jahrhundert, das gewissermaßen mit seinem Namen überschrieben ist, war wesentlich durch Krieg und Völkermord bestimmt – Hitlers charakteristische Merkmale. Am Ende des Jahrhunderts gilt es daher, so sorgfältig wie möglich und auf der Grundlage aktueller Forschungsergebnisse erneut die Kräfte zu beurteilen, die Hitler möglich machten und die Barbarei prägten, für die sein Name als bleibendes Symbol und Menetekel steht. Was unter Hitler Wirklichkeit wurde, geschah – konnte tatsächlich nur geschehen – in der Gesellschaft eines modernen, kultivierten, technologisch fortschrittlichen und hoch bürokratisierten Landes. Wenige Jahre nachdem Hitler Regierungschef geworden war, steuerte dieses hochentwickelte Land im Herzen Europas auf einen bewaffneten Konflikt hin, der sich als apokalyptischer Völkermord herausstellte und Deutschland und Europa nicht nur durch einen Eisernen Vorhang zerschnitt und buchstäblich in Ruinen legte, sondern auch moralisch verwüstete. Dieser Prozeß ist nach wie vor erklärungsbedürftig. Die Kombination aus einer Führung, die sich einer ideologischen »Mission« der nationalen Wiedergeburt und »rassischen Reinigung« verschrieben hatte, und einer Gesellschaft, die genügend an ihren »Führer« glaubte, um in seinem Sinne ihm und den Zielen, für die er offenbar stand, entgegenzuarbeiten, und einer hochentwickelten Bürokratie, die imstande und überaus willens war, eine höchst inhumane Politik zu planen und umzusetzen, liefert eine erste Erklärung. Wie und warum sich diese Gesellschaft von Hitler mitreißen ließ, bedarf trotz allem einer ausführlichen Untersuchung.

Es wäre bequem, wenn man auf der Suche nach Gründen für das deutsche und europäische Verhängnis nicht über die Person Adolf Hitlers hinausschauen würde, dessen unvorstellbar unmenschliche Vorstellungen acht Jahre, bevor er Reichskanzler wurde, veröffentlicht waren. Doch ungeachtet der primären moralischen Verantwortung Hitlers für das, was unter seinem autoritären Regime geschah, böte eine personalisierte Erklärung nur eine verkürzte Version der Wahrheit. Hitler kann als Musterbeispiel für einen Satz von Karl Marx dienen: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber (...) nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«3 Wie weit »vorgefundene, gegebene und überlieferte Umstände«, das heißt, überpersönliche Entwicklungen jenseits der Einflußmöglichkeiten des Individuums, so weitreichend sie auch waren, das Schicksal Deutschlands gestalteten; wieviel der Kontingenz, ja dem historischen Zufall anheimgestellt werden kann; was man den Handlungen und Motivationen der außergewöhnlichen Person zuschreibt, die Deutschland in jener Zeit beherrschte: All diese Fragen erfordern eine kritische Prüfung. Alle sind Teil der folgenden Untersuchung. Einfache Antworten verbieten sich von selbst.

Neben einer Biographie bieten sich andere Herangehensweisen an,4 doch der biographische Ansatz besitzt – unabhängig von einigen Unwägbarkeiten  – Erklärungskraft, wie der Text im folgenden zeigen will. Natürlich liegt eine mögliche Gefahr bei jedem biographischen Versuch in der für den Gegenstand nötigen Einfühlung, die leicht Mitgefühl, sogar versteckte Bewunderung werden kann. Auf den folgenden Seiten ist der Beweis anzutreten, daß dieses Risiko vermeidbar ist. Unter Umständen birgt sogar der umfassende Widerwille gegenüber dem Gegenstand mehr Gefahren für das Erkenntnisinteresse als die Möglichkeit des Mitgefühls.5

Jede Biographie ist natürlich mit dem Wagnis behaftet, komplexe historische Entwicklungen zu personalisieren, die Rolle des Individuums bei der Gestaltung und Bestimmung von Ereignissen zu überschätzen und den sozialen Kontext, in dem diese Geschehnisse stattfanden, zu ignorieren oder herunterzuspielen.6 Nicht in diese Falle zu gehen, war die entscheidende Herausforderung für die Arbeit an dem vorliegenden Buch und zugleich der Ausgangspunkt für eine neue biographisch akzentuierte Hitler-Deutung.

Es ist ein riskantes Unterfangen. Schließlich herrscht kein Mangel an – sehr oft hochklassiger – Literatur über Hitler und das Dritte Reich. Eine wichtige Arbeit, die vor anderthalb Jahrzehnten erschien, erfaßte über 1 500 Titel.7 Ein jüngerer Versuch, eine Bilanz der unterschiedlichen Interpretationsansätze zu ziehen, sprach von 120000 Arbeiten über Hitler.8 Erstaunlicherweise gibt es nur eine Handvoll ausführlicher, ernstzunehmender wissenschaftlicher Biographien des NS-Führers.9

Seit Adolf Hitler in den zwanziger Jahren erstmals ins Rampenlicht trat, hat er viele verschiedene und variierende Deutungen erfahren, die häufig in direktem Gegensatz zueinanderstehen. Zum Beispiel wurde er als »ein völlig prinzipienloser Opportunist« gesehen, dessen Herrschaft »bar jeder Idee« gewesen sei, »außer der einen – seine eigene und die Macht der Nation, mit der er sich identifizierte, immer weiter auszudehnen«, dessen »Revolution« nur ein einziges Thema hatte, nämlich das »als Rassenlehre verkleidete von der Herrschaft«, und später aus nichts anderem bestand als »rachsüchtiger Zerstörungswut«.10 Im Gegensatz dazu hat man Hitler als einen Fanatiker porträtiert, der ein im voraus geplantes und determiniertes ideologisches Programm verfolgte.11 Es gab Versuche, ihn als Inbegriff des politischen Schwindlers zu sehen, der das deutsche Volk hypnotisierte und verhexte, es in die Irre und die Katastrophe führte, oder ihn zu »dämonisieren«, das heißt, in eine mystische, unerklärliche Figur des deutschen Schicksals zu verwandeln. Albert Speer, zunächst Hitlers Architekt, dann Reichsminister für Bewaffnung und Munition, der dem Diktator im Dritten Reich lange Zeit näherstand als jeder andere, beschrieb ihn kurz nach Kriegsende als eine »dämonische Gestalt«, als »eines jener unerklärlichen geschichtlichen Phänomene, die nur in großen Abständen von der Menschheit hervorgebracht werden«. Hitlers »Person entschied das Schicksal der Nation«.12 Eine derartige Sichtweise läuft Gefahr, die Geschehnisse in Deutschland zwischen 1933 und 1945 zu mystifizieren und die Ursache der deutschen und europäischen Katastrophe auf die willkürliche Laune einer dämonischen Persönlichkeit zu reduzieren, das Unheil wird ausschließlich mit den Handlungen eines außergewöhnlichen Individuums erklärt, und komplexe Vorgänge sind nur noch der Ausdruck von Hitlers Willen.

Ein konträrer Standpunkt, der nur so lange galt, wie er Teil einer Staatsideologie war, und daher in dem Moment verschwand, als der sowjetische Block zusammenbrach, leugnete jeglichen wichtigen Einfluß der Persönlichkeit pauschal und wertete Hitler auf die Rolle eines Handlangers für den Kapitalismus ab, der wie eine Marionette den Interessen der Wirtschaft diente.13

Manche Darstellung hat überhaupt jede Schwierigkeit bei der Erklärung des Phänomens Hitler beiseite gewischt oder Probleme schlicht und einfach ausgeschlossen.14 Ein weiterer Ansatz bestand darin, die Person Hitler ins Lächerliche zu ziehen, denn wer ihn bloß als »Verrückten« oder »vollkommen Wahnsinnigen« beschreibt, umgeht die Notwendigkeit einer Erklärung – obwohl damit natürlich die Schlüsselfrage offenbleibt: Warum sollte eine Gesellschaft bereit sein, einem Menschen in den Abgrund zu folgen, der geistig gestört, ein »pathologischer« Fall war?15

Weit komplexere Deutungsansätze haben sich über die Frage gestritten, inwieweit Hitler tatsächlich der »Herr im Dritten Reich« war oder sogar als ein »in mancher Hinsicht (...) schwacher Diktator« beschrieben werden kann.16 Hat er wirklich die »totale«, uneingeschränkte und alleinige Macht ausgeübt?17 Oder beruhte sein Regime auf einer hydraähnlichen »Polykratie« von Machtstrukturen, als deren unverzichtbare und zugleich auf diese Rolle beschränkte Schaltzentrale Hitler fungierte, kraft seiner unbestreitbaren Popularität und des ihn umgebenden Kultes, wobei er der Propagandist blieb, der er immer gewesen war, der Gelegenheiten nutzte, sobald sie sich boten, ohne ein Programm, einen Plan oder eine Absicht zu haben?18

Die auseinandergehenden Meinungen zu Hitler waren nie allein abseitigen, akademischen Debatten vorbehalten. Sie weisen über die Wissenschaft hinaus und haben weiterreichende Implikationen. Als Hitler wie ein Gegenbild zu Lenin und Stalin dargestellt wurde, ein Führer, dessen paranoische Angst vor dem bolschewistischen Terror, dem »Klassenmord«, ihn motivierte, den »Rassenmord« zu verüben, lagen die Implikationen auf der Hand. Hitler war böse, zweifellos, aber nicht so böse wie Stalin. Hitler war die Kopie, Stalin das Original. Die untergründige Ursache des nationalsozialistischen »Rassenmords« sei der sowjetische »Klassenmord« gewesen.19

Ähnlich weitreichende Folgen hatte es, als man sich einmal nicht auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentrierte, für die Hitler die Verantwortung trägt, und sein Einwirken auf die Umgestaltung der deutschen Gesellschaft in den Blick nahm. Dieser Hitler interessierte sich für soziale Mobilität, bessere Wohnungen für die Arbeiter, die Modernisierung der Industrie, die Einrichtung eines Wohlfahrtsstaates und dafür, mit den reaktionären Privilegien der Vergangenheit aufzuräumen, insgesamt also für eine bessere, zeitgemäßere, weniger von Klassengegensätzen beherrschte deutsche Gesellschaft, wie brutal die Methoden auch sein mochten. Dieser Hitler war trotz seiner Dämonisierung der Juden und seines Vabanquespiels um die Weltmacht »ein Politiker, dessen Denken und Handeln wesentlich rationaler war, als bislang angenommen«.20 Aus dieser Perspektive konnte man Hitler als böse ansehen – zugleich hatte er für die deutsche Gesellschaft Gutes im Sinn oder zumindest Absichten, die in einem positiven Licht gesehen werden konnten.21

Solche Revisionen waren nicht als Apologien gedacht. Der Vergleich der Verbrechen des Nationalsozialismus mit denen des Stalinismus gegen die Menschlichkeit zielte, wie verzerrt der Ansatz auch war, darauf, die furchtbare Grausamkeit des ideologischen Konflikts im Europa der Zwischenkriegszeit und die motivierenden Kräfte hinter dem deutschen Völkermord zu erhellen. Die Schilderung von Hitler als einem Sozialrevolutionär versuchte auf vielleicht etwas irrige Weise zu erklären, warum er während einer Gesellschaftskrise in Deutschland ein so breites Echo gefunden hatte. Dennoch ist leicht zu erkennen, daß beide Ansätze, wie unbewußt auch immer, einer möglichen Rehabilitation Hitlers den Weg bahnen, bei der er allmählich trotz der mit seinem Namen verbundenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als der »große Führer« des 20. Jahrhunderts gelten würde, einer der, wenn er vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben wäre, einen Platz im Pantheon der deutschen Geschichte einnähme.22

Die Frage nach »geschichtlicher Größe« stellte sich stets implizit in der konventionellen biographischen Literatur – das ist besonders eine deutsche Tradition.23 Eine Figur wie Hitler, dessen persönliche Eigenschaften – im Unterschied zu seiner politischen Aura und Wirkung – kaum vorbildlich, erhebend oder bereichernd waren, stellte eine derartige Tradition natürlich vor Probleme.24 Einen Ausweg bot die Andeutung, daß Hitler eine Art »negativer Größe« besitze; zwar fehlten ihm die charakterlichen Vorzüge und andere Eigenschaften, die gemeinhin zur »Größe« historischer Gestalten beitragen, aber seine Wirkung auf die Geschichte sei unstrittig, wenn auch von katastrophalen Ausmaßen gewesen.25 Die »negative Größe« kann auch tragische Züge tragen – ungeheure Bemühungen und erstaunliche Leistungen wurden zunichte gemacht und die nationale Größe in eine nationale Katastrophe verwandelt.

Es erscheint besser, die Frage der »Größe« ganz zu meiden (außer wenn man verstehen will, warum so viele Zeitgenossen die »Größe« in Hitler erkannten). Sie führt uns auf eine falsche Fährte, da sie mißverständlich, sinnlos, unwichtig und potentiell apologetisch ist. Sie ist mißverständlich, weil sie wie alle Theorien von »großen Männern« gar nicht anders kann, als den historischen Prozeß auf extreme Weise aus der Perspektive einer Person zu betrachten. Sie ist sinnlos, weil die ganze Vorstellung von »geschichtlicher Größe« in letzter Konsequenz keinen Nutzen bringt, denn da sie auf einem subjektiven Geflecht moralischer und sogar ästhetischer Urteile beruht, ist sie eine philosophisch-ethische Kategorie, die nicht weiterführt. Sie ist unwichtig, denn die Antwort würde, unabhängig davon, ob wir die Frage nach Hitlers vermeintlicher »Größe« bejahen oder verneinen, die furchtbare Geschichte des Dritten Reiches keineswegs erklären. Und sie ist potentiell apologetisch, weil allein die Fragestellung eine gewisse widerwillige Bewunderung für Hitler – welche Fehler er auch gemacht hat – offenbart und weil die Suche nach »Größe« bei Hitler fast automatisch mit sich bringt, daß man die Wirkung von denjenigen, die seine Herrschaft unmittelbar förderten, jene Kräfte, die sie stützten, und das deutsche Volk selbst, das der Diktatur so großen Rückhalt gab, zu bloßen Statisten des »großen Mannes« macht.

Statt mit dem Problem der »geschichtlichen Größe« sollten wir uns mit einer anderen, weit wichtigeren Frage befassen. Wie erklären wir, daß ein Mensch mit so geringen geistigen Gaben und sozialen Fähigkeiten, der außerhalb seines politischen Lebens wenig mehr als ein herrenlos auf den Wellen treibendes Boot war, unnahbar und undurchdringlich selbst für seine unmittelbare Umgebung, der offenbar zu echter Freundschaft nicht fähig war und ohne den Hintergrund aufwuchs, der einen zu hohen Ämtern befähigt, und sogar ohne jede Regierungserfahrung das Amt des Reichskanzlers antrat, wie konnte ein solcher Mann eine so gewaltige historische Wirkung entfalten, daß die ganze Welt den Atem anhielt?

Vielleicht ist die Frage zumindest teilweise falsch gestellt. Denn erstens war Hitler sicherlich ein Mann mit Scharfsinn, der sich auf sein ungeheuer gutes Gedächtnis verlassen konnte. Mit seiner raschen Auffassungsgabe gelang es ihm nicht nur, seine Entourage zu beeindrucken, was man erwarten würde, sondern auch kühle, kritische und erfahrene Staatsmänner und Diplomaten. Die rhetorische Begabung fand natürlich auch die Anerkennung seiner politischen Gegner. Schließlich ist er bestimmt nicht der einzige unter den Staatsoberhäuptern im 20. Jahrhundert, der nach außen sichtbare Charakterschwächen und niedriges geistiges Niveau mit bemerkenswertem politischen Geschick und entsprechender Wirksamkeit kombinierte. Es gilt auch die Falle zu vermeiden, in welche die meisten seiner Zeitgenossen gingen, die Hitlers Fähigkeiten sträflich unterschätzten.

Überdies sind neben Hitler auch andere Männer nach bescheidenen Anfängen in hohe Ämter gelangt. Napoleon war der erste, dem dies in der Neuzeit gelang, wobei er über die Schlüsselinstitution der Armee aufstieg (in der es Hitler nie weiter als bis zum Gefreiten brachte) und als militärischer Befehlshaber ungewöhnliches Können und ebensolche Leistungen zeigte. Der spätere französische Konsul und Kaiser war geistig erheblich begabter und im persönlichen Umgang viel flexibler als Hitler. Im 20. Jahrhundert haben sich die Möglichkeiten erweitert, als Mitglied einer Gruppe, die nicht zur sozialen und politischen Elite gehört, an die Spitze der staatlichen Macht vorzudringen. Dessen ungeachtet sind solche Aufstiege immer noch selten, sie kommen eher in Zeiten politischer Unruhe bei Führern revolutionärer Bewegungen (wie bei Stalin, Mao oder Castro) vor als in stabilen Demokratien.

Wenn Hitlers Aufstieg aus völliger Namenlosigkeit auch nicht ganz einzigartig ist, bleibt das Problem, das er uns stellt, bestehen. Ein Grund, warum Hitler sich als »ein Rätsel innerhalb eines Mysteriums« entpuppte, »das wiederum in einem Enigma steckt«, um in den Worten Winston Churchills zu sprechen, der sie in einem anderen Kontext gebrauchte, ist die Substanzlosigkeit der Privatperson des Diktators. Er war, wie häufig gesagt wurde, fast schon eine »Unperson«.26 In diesem Urteil schwingt vielleicht Herablassung mit, eine Bereitschaft, auf den vulgären, ungebildeten Emporkömmling herabzuschauen, dem eine abgerundete Persönlichkeit fehlte, den Außenseiter, der über alles und jedes unter der Sonne unreflektierte Meinungen von sich gab, den unkultivierten selbsternannten Kulturrichter. Zum Teil beruht dieses schwarze Loch des Privatmanns Hitler auf seiner Verschwiegenheit – nicht zuletzt in bezug auf sein persönliches Leben, seine Herkunft und seine Familie. Die Heimlichtuerei und die Distanz gehörten zu seinen Charaktereigenschaften und trafen gleichermaßen auf sein politisches Verhalten zu; sie waren auch politisch bedeutsam, als Komponenten der Aura von der »heroischen« Führung, deren Aufbau er bewußt förderte, um das seine Person umgebende Mysterium zu verstärken. Nach Abzug aller Vorbehalte bleibt die Tatsache, daß Hitlers Leben außerhalb der Politik weitgehend ereignislos war. Napoleon, Bismarck, Churchill, Kennedy: Alle waren auch Menschen außerhalb ihrer politischen Existenz. Plutarchs Bemerkung, das Glück stellt, »wenn es einen gemeinen Charakter durch glänzende und ausgezeichnete Taten erhebt, denselben nur noch mehr hervor und gibt ihn, wenn er wankt, und aus Mangel an Schwere strauchelt, der Schande preis«, ist auf Stalin angewandt worden.27 Es ist verlockend, im Falle Hitlers noch einmal an sie zu erinnern.

Die Biographie einer »Unperson«, der eine persönliche Existenz oder Geschichte außerhalb der politischen Ereignisse, an denen sie beteiligt ist, fast völlig fehlt, stößt natürlich an ihre Grenzen. Doch die Nachteile existieren nur so lange, wie man annimmt, das Privatleben sei entscheidend für das öffentliche Leben. Eine derartige Annahme wäre ein Fehler. Für Hitler gab es kein »Privatleben«. Natürlich konnte er seine Filme, den täglichen Spaziergang zum Teehaus am »Berghof«, seine Zeit im alpinen Idyll weit weg von den Berliner Ministerien genießen. Doch das waren leere Rituale. Für ihn gab es keinen Rückzug in eine Sphäre außerhalb der Politik, eine tiefere Existenz, die seine öffentliche reflexartig bedingt hätte. Nicht, daß sein »Privatleben« Teil seines öffentlichen Gesichts wurde; im Gegenteil: Es blieb so geheim, daß das deutsche Volk erst von Eva Brauns Existenz erfuhr, als das Dritte Reich schon in Trümmern lag. Eher hat Hitler die öffentliche Sphäre »privatisiert«.»28 Privat« und »öffentlich« verschmolzen zu einer unzertrennlichen Einheit. Hitlers ganzes Wesen ging in der Rolle auf, die er perfekt spielte: die Rolle des »Führers«.

Die Aufgabe des Biographen wird nun deutlicher. Sie besteht nicht in der Konzentration auf Hitlers Persönlichkeit, sondern in der Fokussierung auf das Wesen seiner Macht – der Macht des Führers.

Diese Macht leitete sich nur teilweise von Hitler selbst ab. In größerem Maße war sie ein Produkt der Gesellschaft – ein Ergebnis der gesellschaftlichen Erwartungen und Motivationen, die Hitlers Anhänger auf ihn übertrugen. Das heißt nicht, daß Hitlers eigene Handlungen im Kontext seiner sich erweiternden Macht nicht in Schlüsselmomenten von höchster Wichtigkeit waren. Doch die Wirkung seiner Macht darf weitgehend nicht in bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, sondern muß in seiner Rolle als »Führer« gesehen werden – eine Rolle, die nur möglich wurde durch andere, die Hitler unterschätzten, Fehler begingen, Schwächen hatten und mit ihm kollaborierten. Zur Erklärung dieser Macht müssen wir daher in erster Linie auf die anderen und nicht auf Hitler selbst schauen.

Hitlers Macht war von außergewöhnlichem Zuschnitt. Außer in einem höchst formalen Sinne stützte er seinen Machtanspruch nicht auf die Stellung als Parteiführer oder eine andere Funktion, vielmehr leitete er ihn aus dem ab, was er als seine historische »Mission« zur »Rettung« Deutschlands ansah. Hitlers Macht war, anders ausgedrückt, charismatischer, nicht institutioneller Natur. Sie hing von der Bereitschaft der anderen ab, in ihm »heroische« Fähigkeiten zu erkennen.29 Und sie erkannten diese Fähigkeiten – vielleicht sogar, bevor er selbst an sie zu glauben begann.

Einer der brillantesten zeitgenössischen Analytiker des NS-Phänomens, Franz Neumann, notierte 1942: »Charismatische Herrschaft ist lange Zeit vernachlässigt und lächerlich gemacht worden, hat aber offenbar weit zurückreichende Wurzeln und wird, wenn die geeigneten psychologischen und sozialen Bedingungen erst einmal vorhanden sind, zu einer machtvollen Antriebskraft. Die charismatische Macht des Führers ist kein bloßes Trugbild – niemand kann bezweifeln, daß Millionen an sie glauben.«30

Man sollte Hitlers eigenen Beitrag zur Erweiterung dieser Macht und der daraus resultierenden Konsequenzen nicht unterschätzen. Eine kurze kontrafaktische Betrachtung mag dies unterstreichen. Gesetzt den Fall, wir fragen, ob ein terroristischer Polizeistaat, wie er unter Himmler und der SS entstand, ohne Hitler als Staatsoberhaupt errichtet worden wäre. Hätte Deutschland unter einem anderen, sagen wir ruhig, einem autoritären, Führer Ende der dreißiger Jahre einen allgemeinen europäischen Krieg angezettelt? Und hätte die staatliche Diskriminierung gegen die Juden (die mit ziemlicher Sicherheit stattgefunden hätte) unter einem anderen Staatsoberhaupt in einen totalen Völkermord gemündet? Gewiß kann die Antwort auf jede dieser Fragen nur »nein« lauten oder mindestens »sehr unwahrscheinlich«. Wie die äußeren Umstände und überpersönlichen Faktoren auch gewesen wären, Hitler war nicht austauschbar.

Die in hohem Maße personalisierte Macht, die Hitler ausübte, machte sogar auf kluge und intelligente Menschen – Kirchenmänner, Intellektuelle, ausländische Diplomaten, hochrangige Besucher – großen Eindruck. Die meisten hätten sich nicht von den gleichen Gedanken fesseln lassen, die er vor einer heiseren Menschenmenge in einem Münchner Bierkeller zum Ausdruck brachte. Doch mit der Autorität des Reichskanzlers im Rücken, unterstützt von den bewundernden Massen, umgeben von den Insignien der Macht, eingehüllt in die Aura von der »großen Führerschaft«, nach außen getragen von der Propaganda, überraschte es kaum, daß, neben den völlig Naiven und Leichtgläubigen auch andere ihn beeindruckend fanden. Seine Macht war der Grund, warum die Untergebenen – niedere NS-Führer, sein persönliches Gefolge, Parteileiter aus der Provinz – sklavisch an seinen Lippen hingen, bevor sie, als diese Macht im April 1945 am Ende war, wie die sprichwörtlichen Ratten das sinkende Schiff verließen. Die Mystik der Macht erklärt sicher auch, warum so viele Frauen (besonders diejenigen, die viel jünger waren als er) Hitler, dessen Person uns als das Gegenteil erotischer Ausstrahlung erscheint, von ihm angezogen wurden und warum einige seinetwegen Selbstmordversuche unternahmen.

Eine Geschichte Hitlers muß daher eine Geschichte seiner Macht sein – wie er sie errang, welcher Art sie war, wie er sie ausübte, warum er sie erweitern konnte, bis sie alle institutionellen Schranken sprengte, warum der Widerstand gegen diese Macht so schwach war. Doch diese Fragen richten sich an die deutsche Gesellschaft, nicht nur an Hitler.

Es ist nicht nötig, den Beitrag des Charakters zur Erringung und Ausübung der Macht herunterzuspielen. Zielstrebigkeit, Inflexibilität, Rücksichtslosigkeit, wenn es darum ging, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, zynisches Geschick, der »Alles-oder-Nichts«-Instinkt des Spielers für das höchste Risiko: Jedes dieser Merkmale formte das Wesen seiner Macht, und in dem übergreifenden Element von Hitlers innerem Drang, seiner grenzenlosen Egomanie, kamen sie dann zusammen. Die Macht war Hitlers Elixier. Für einen so narzißtischen Menschen wie ihn bot sie ihm einen Sinn nach der ziellosen Jugend, einen Ausgleich für all die tiefempfundenen Rückschläge der ersten Lebenshälfte – die Ablehnung als Künstler, der soziale Bankrott, der ihn ins Wiener Obdachlosenasyl führte, der Zusammenbruch seiner Welt durch Niederlage und Revolution im Jahr 1918. Die Macht zehrte ihn auf. Wie es ein Beobachter schon 1940, noch vor dem Triumph über Frankreich, scharfsinnig ausdrückte: »Hitler ist der potentielle Selbstmörder par excellence. Er hat keine Bindungen außer an sein Ego (...). Er ist in der privilegierten Position eines Mannes, der nichts liebt außer sich selbst. (...) Also kann er alles wagen, um seine Macht zu erhalten oder zu vergrößern, (...) die allein zwischen ihm und dem raschen Tod liegt.«31

Die Sucht nach persönlicher Macht von solchen Ausmaßen schloß auch ein unersättliches Verlangen nach territorialen Eroberungen ein, das – mit wenig Aussicht auf Erfolg – zu einem schrankenlosen Spiel um das Machtmonopol auf dem europäischen Festland und später in der Welt wurde. Das unbeirrte Streben nach immer größerer Machtfülle duldete keinen Rückschritt, keine Beschränkung, keine Grenzen. Ferner war es davon abhängig, daß er weiterhin die sogenannten »großen Erfolge« feierte. Da es dem fortschreitenden Größenwahnsinn Hitlers an jeglicher Grenze fehlte, enthielt er unweigerlich zerstörerische Elemente, die das Ende des Regimes ankündigten. In Hitlers Selbstmord-Neigungen fand dies seine Entsprechung.

Obwohl die Macht für Hitler die verzehrende Leidenschaft war, blieb sie kein Selbstzweck. Hitler war nicht nur ein Propagandist, Manipulator, Mobilisierer. Er war alles in einer Person. Doch er war auch Ideologe und vertrat unerschütterliche Überzeugungen – er war der radikalste unter den Radikalen als Exponent einer, so abstoßend dies für uns auch ist, in sich geschlossenen »Weltanschauung«,32 die ihre Stoßkraft und Stärke aus der Kombination weniger grundlegender Ideen bezog, die er in die Vorstellung von der Menschheitsgeschichte als der »Geschichte von Rassenkämpfen« integrierte. Seine Weltanschauung bot Hitler eine abgerundete Erklärung für die Übel in Deutschland und der Welt und eine Lösung, wie er Abhilfe schaffen könne. An der Weltanschauung hielt er von den frühen zwanziger Jahren bis zum Tod im Bunker unbeirrbar fest. Sie lief auf eine utopische Vision von der nationalen »Erlösung« hinaus, nicht auf ein Programm mittelfristig anzustrebender politischer Ziele. Aber die Weltanschauung nahm nicht nur alle unterschiedlichen Stränge der nationalsozialistischen Idee in sich auf; verbunden mit Hitlers rhetorischen Fähigkeiten führte sie rasch dazu, daß er in bezug auf die Parteidoktrin praktisch unangreifbar wurde.

Hitlers ideologische Ziele, seine Handlungen und sein persönlicher Beitrag zur Gestaltung der Ereignisse müssen also sehr genau betrachtet werden. Doch sie erklären weitaus nicht alles. Wir müssen die Diktatur ebenso wie den Diktator untersuchen;33 denn jenseits der Herrschaftsstrukturen verliehen die sozialen Impulse, die die Diktatur stützten, ihr die entsprechende Dynamik und sicherten den Grundkonsens. Was Hitler nicht selbst getan, nicht veranlaßt hat, was dennoch durch die Initiativen anderer in Gang kam, ist genauso wichtig wie die Handlungen des Diktators, will man die verhängnisvolle »kumulative Radikalisierung« des Regimes verstehen.34

Eine neue Hitler-Biographie erfordert also auch einen neuen Ansatz, der versucht, die Handlungen des Diktators in den Rahmen der politischen Strukturen und sozialen Kräfte zu integrieren, die den Erwerb und die Ausübung seiner Macht sowie deren außergewöhnliche Wirkung bedingten. Ein Ansatz, der mehr auf die Erwartungen und Motivationen der deutschen Gesellschaft schaut als auf Hitlers Persönlichkeit, um die ungeheure Wirkung des Diktators zu erklären, bietet die Möglichkeit, die Ausweitung seiner Macht durch die innere Dynamik des Regimes und die Kräfte, die er freigesetzt hat, zu erforschen. Diesen Blick auf Hitler umschreibt die Maxime, die ein Staatssekretär im Reichsernährungsministerium 1934 formulierte, und sie liefert damit ein Leitmotiv für die Biographie insgesamt und zugleich den Titel des dreizehnten Kapitels: Es sei die Pflicht jeder Person im Dritten Reich, »zu versuchen, im Sinne des Führers ihm entgegenzuarbeiten«, ohne auf Anweisung von oben zu warten.35 In die Tat umgesetzt, war diese Maxime eine der Antriebskräfte des Dritten Reiches, denn sie konnte Hitlers nur lose geknüpftes Netz ideologischer Zielsetzungen in Initiativen überführen, die auf die Erfüllung der visionären Ziele des Diktators hinarbeiteten. Natürlich war Hitlers Autorität der ausschlaggebende Faktor. Doch die Initiativen, die er guthieß, gingen viel häufiger von anderen aus.

Hitler war kein Tyrann, der Deutschland aufgezwungen wurde. Obwohl er bei freien Wahlen nie die absolute Mehrheit der Stimmen errang, war er genauso legal wie seine Vorgänger zum Reichskanzler ernannt worden und wurde zwischen 1933 und 1940 zum unbestritten beliebtesten Staatsoberhaupt auf der Welt. Wer das verstehen will, muß offenbar unversöhnliche Gegensätze miteinander versöhnen: die personalisierte biographische Methode und die ihr entgegengesetzten Verfahren zum Studium der Gesellschaftsgeschichte und der Strukturen der politischen Herrschaft.36 Hitlers Wirkung ist nur zu erfassen durch die Epoche, die ihn schuf und die von ihm zerstört wurde. Eine überzeugende Hitler-Studie muß unter diesem Aspekt gleichzeitig auch eine Geschichte des Nationalsozialismus sein.37 Obwohl man dieses Ziel natürlich nicht nur mit Hilfe einer Biographie erreichen kann – das heißt, falls es überhaupt erreichbar ist –, spricht einiges dafür, sich auf die Figur Hitlers zu konzentrieren – die Person, die unbestreitbar die zentrale, oft entscheidende Rolle beim »Amoklauf« des Dritten Reiches gespielt hat.38

Wer versucht, zu einem umfassenden Verständnis des NS-Phänomens zu gelangen, ohne dem »Hitler-Faktor« gerecht zu werden, hat keinerlei Aussicht auf Erfolg.39 Solche Deutung muß nicht nur Hitlers ideologische Ziele, seine Handlungen und seinen persönlichen Beitrag zur Gestaltung der Ereignisse berücksichtigen, sondern diese zugleich im Rahmen der gesellschaftlichen Kräfte und politischen Strukturen betrachten, die das Wachstum eines zunehmend von personalisierter, absoluter Macht abhängigen Systems gestatteten, gestalteten und förderten, und alles im Kontext der katastrophalen Konsequenzen darstellen.

Der Angriff der Nationalsozialisten auf die Wurzeln der Zivilisation hat das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt. Hitler war das Epizentrum dieses Angriffs. Doch er war dessen wichtigster Exponent, nicht seine primäre Ursache.

Erstes Kapitel

Phantasien und Fehlschläge

»Als ihn der Herr Postmeister eines Tages frug was er eigentlich einmal werden wolle und ob er nicht zur Post kommen möchte, erwiderte er, daß es seine Absicht sei einmal ein großer Künstler zu werden.«

Eine Nachbarin der Familie Hitler in Urfahr

»Ich war vom Erfolg so überzeugt, daß die mir verkündete Ablehnung mich wie ein jäher Schlag aus heiterem Himmel traf.«

Hitler in »Mein Kampf« über die fehlgeschlagene Aufnahmeprüfung an der Akademie für Bildende Künste in Wien

I

Der erste von zahlreichen Glücksfällen, die das Leben Adolf Hitlers bestimmten, ereignete sich bereits 13 Jahre vor seiner Geburt. 1876 ließ der Mann, der sein Vater wurde, eine Namensänderung vornehmen und hieß fortan nicht mehr Alois Schicklgruber, sondern Alois Hitler. Durchaus glaubhaft wirkt Adolf Hitlers Aussage, keine der Handlungen des Vaters habe ihm so sehr gefallen wie die Aufgabe des derb bäuerlichen Namens Schicklgruber.»1 Heil Schicklgruber« wäre als Gruß für einen »Nationalhelden« kaum denkbar gewesen.

Seit Generationen lebten die Schicklgrubers als Kleinbauern im Waldviertel am nordwestlichsten Zipfel Niederösterreichs. Die Bewohner der malerischen, doch armen, hügeligen und bewaldeten Gegend an der Grenze zu Böhmen genossen den Ruf mürrischer, nüchterner und abweisender Zeitgenossen.2 Hitlers Vater Alois wurde am 7. Juni 1837 als nichtehelicher Sohn der Maria Anna Schicklgruber in Strones geboren. Seine Mutter war 42 Jahre alt und Tochter des Johann Schicklgruber, eines armen Kleinbauern. Am gleichen Tag empfing Hitlers Vater im nahe gelegenen Döllersheim die Taufe auf den Namen Aloys Schicklgruber. Im Taufbuch blieb die Spalte für den Vater leer.3 Der Name von Hitlers Großvater väterlicherseits wurde nicht enthüllt und ist trotz vielfältiger Spekulationen bis heute unbekannt.

Fünf Jahre später heiratete Hitlers Großmutter Johann Georg Hiedler, einen 50jährigen Müllergesellen aus dem etwa 25 Kilometer entfernten Spital. Nach Jahren zielloser und unsteter Lebensführung hatte Hiedler einige Zeit mit Maria Anna und deren Vater in Strones unter einem Dach gewohnt.4 Die Ehe währte fünf Jahre. Maria Anna starb 1847, und ein Jahrzehnt später setzte ein Schlaganfall Hiedlers wackliger Existenz ein Ende.

Vermutlich wohnte Alois seit längerem, nicht erst seit dem Tod der Mutter, im Hause von Johann Georgs Bruder, dem 15 Jahre jüngeren Johann Nepomuk Hiedler, der in Spital einen mittelgroßen Hof bewirtschaftete.5 Die Gründe, warum Nepomuk den jungen Alois so gut wie adoptierte, liegen im dunkeln. Allem Anschein nach bot er dem Jungen ein bescheidenes, aber gutes Zuhause. Nach dem Besuch der Volksschule ging Alois im Ort bei einem Schuhmacher in die Lehre, und bereits als 13 jähriger machte er sich wie viele Landjungen nach Wien auf, um dort die Ausbildung im Lederhandwerk fortzusetzen.

Hitlers Vater war der erste Aufsteiger der Familie. Im Alter von knapp 19 Jahren hatte Alois 1855 eine bescheidene Stufe in der Hierarchie der österreichischen Finanzwache erklommen.6 Für einen jungen Mann seiner Herkunft und mit so beschränktem Bildungsgrad war der berufliche Werdegang in den folgenden Jahren beeindruckend. Nach Abschluß der Ausbildung und der notwendigen Examina übernahm er 1861 eine leitende Funktion auf unterer Ebene, wurde 1864 provisorischer Amtsassistent in der Zollbehörde und 1870 Nebenzolleinnehmer, bevor er im folgenden Jahr in Braunau am Inn als Kontrollassistent zum Einsatz kam und ab 1875 als Zollamtsoffizial tätig war.7

Ein Jahr später ließ er die Namensänderung vornehmen. Sie erfolgte keineswegs, weil Alois Schicklgruber als uneheliches Kind unter einem sozialen Stigma gelitten hatte. Zwar geißelte die katholische Kirche außereheliche Geburten, aber in der österreichischen Landbevölkerung waren sie nicht unüblich.8 Alois unternahm nie den Versuch, die eigene Illegitimität zu verbergen, nicht einmal nach 1876. Es bleibt unklar, ob der Impuls für die Namensänderung von ihm selbst ausging oder vom Onkel (und de facto Stiefvater) Nepomuk, der keine männlichen Erben besaß und ein Vermächtnis an Alois offenbar von der Annahme des eigenen Namens abhängig gemacht hatte.9 Das vom Notar der Stadt Weitra am 6. Juni 1876 ausgestellte Legalisierungsprotokoll trägt die Unterschrift von drei Zeugen, die Alois als Sohn des Georg »Hitler« bestätigen  – der Name taucht hier bereits in dieser Form auf, nicht als »Hiedler«.10 Am nächsten Tag, 39 Jahre nach Alois’ Geburt, war die Legitimierung abgeschlossen, als der Gemeindepfarrer von Döllersheim das Taufbuch änderte, den Namen »Schicklgruber« strich, »unehelich« durch »ehelich« ersetzte und in die bisher leere Spalte für den Namen des Vaters »Georg Hitler« eintrug.11 Dies war der Johann Georg Hiedler, der Alois’ Mutter schon 1842 geheiratet hatte und 1857 verstorben war. Er habe die Vaterschaft anerkannt, bekundeten die drei Zeugen der Legitimierungszeremonie wie auch Alois selbst.12 Schließlich vermerkt der Eintrag des Priesters die Aussage der Zeugen, Alois’ Vater habe um den Eintrag seines Namens ins Taufbuch gebeten.13

Die Namensänderung – seinerzeit als Ereignis lediglich für die Geschichte einer Bauernfamilie in der österreichischen Provinz von Bedeutung  – hat allein deshalb unablässig Spekulationen ausgelöst, weil der Vorgang selbst und die Identität von Adolf Hitlers Großvater unentwirrbar ineinandergreifen. Nur drei mögliche Erklärungen sind in Betracht zu ziehen. Die beiden ersten laufen lediglich auf die Frage hinaus, ob es in der Familie Hiedler einen kleineren, verborgenen Skandal gegeben hat. Die dritte Möglichkeit, die historisch einige Bedeutung erlangt hätte, kann angesichts der Beweislage außer acht gelassen werden.

Der ersten Möglichkeit zufolge war Alois’ Vater tatsächlich die im ergänzten Taufbuch genannte Person, die im »Dritten Reich« offiziell als Hitlers Großvater galt: Johann Georg Hiedler. Wenn er wirklich der Vater war, warum hat Hiedler zu Lebzeiten, selbst während seiner Ehe, nie versucht, die Geburt des Sohnes zu legitimieren? Armut ist vermutlich keine befriedigende Begründung. Nach der Hochzeit ging das Gerücht, Johann Georg und Maria Anna seien so arm gewesen, daß sie in einem Futtertrog fürs Vieh nächtigen mußten, gleichwohl herrscht Übereinstimmung, so verarmt wie vermutet war Maria Anna nicht.14 Sollte dies zutreffen, wird die sonst angeführte Begründung hinfällig, die »Adoption« Alois’ durch Nepomuk sei ein Akt der Humanität gewesen, der den Neffen aus der bitteren Armut der Eltern rettete. Warum war Maria Anna, die den Namen des Vaters bei der Taufe zweifellos nicht preisgab, bereit, getrennt von ihrem einzigen Sohn zu leben? Warum wurde Alois Schicklgruber nicht vom vermeintlichen Vater, sondern im Heim des Vaterbruders aufgezogen? Und warum hat man die Legitimierung – die unter nicht ganz einwandfreien Bedingungen erfolgte, denn in Abwesenheit des Vaters gibt es keine rechtliche Anerkennung der Vaterschaft – bis 1876 aufgeschoben und vielleicht auch als kleine Farce gestaltet, die Alois, Nepomuk und die drei Zeugen, alles enge Freunde oder gar Verwandte Nepomuks, zur Täuschung von Notar und Gemeindepfarrer in Szene gesetzt hatten?15 Aller Wahrscheinlichkeit nach war eine Erbschaft Nepomuks an Alois im Spiel. Aber warum hätte das die Namensänderung erfordert? Die Überlegung, Nepomuk, der keine männlichen Nachkommen hatte, hätte in dem mit einer 50jährigen Frau verheirateten Ziehsohn Alois die Sicherheit für den Fortbestand des Familiennamens gesehen, ist fragwürdig und zumindest keine hinreichende Erklärung.

Die Antworten auf die Fragen haben sich im Lauf der Zeit verflüchtigt, auch sonst wären sie historisch fast bedeutungslos. Bleibt die Vaterschaft Johann Georgs in Frage gestellt, wer hätte der Vater sein können? Der andere Kandidat ist Nepomuk selbst. Er hat Alois »adoptiert«, für ihn gesorgt und ihn aufgezogen. Vielleicht war er auch die treibende Kraft hinter der Namensänderung – drei Jahre nach dem Tod seiner Frau Eva Maria. In Verbindung mit der Namensänderung scheint er Alois als Erben eingesetzt zu haben. Nach Nepomuks Tod im Jahre 1888 erfuhren die erwartungsvollen Hinterbliebenen zu ihrer Überraschung, es gebe nichts zu erben. Zur gleichen Zeit erwarb Alois Hitler, der bis dahin nie über beträchtliche Geldsummen verfügt hatte, für einen Preis zwischen 4000 und 5000 Gulden unweit von Spital ein stattliches Haus einschließlich des umliegenden Grundbesitzes.16 Die Schlußfolgerung lautet, Nepomuk und nicht Johann Georg war Alois’ tatsächlicher Vater; Johann Georg hat Alois, den Sohn des Bruders, während der Ehe mit Maria Anna abgelehnt, der Familienskandal drang nicht an die Öffentlichkeit, und die Namensänderung mußte unterbleiben, solange Nepomuks Frau lebte.17

Einen Beweis gibt es dafür nicht, selbst nach dem Tod seiner Frau war Nepomuk, wenn er der Vater war, bestrebt, die Tatsache geheimzuhalten. Einige Bedeutung hat man in Adolf Hitlers Kommentar zu Beginn von »Mein Kampf« gelegt, sein Vater sei »Sohn eines armen, kleinen Häuslers« gewesen (die Beschreibung trifft nicht auf Johann Georg, einen Müllergesellen, zu).18 In den autobiographischen Abschnitten von »Mein Kampf« ging Hitler mit den Details häufig ungenau und sorglos um, und es wäre ein Fehler, zu viel in diesen kurzen und vagen Hinweis auf den Großvater hineinzulesen, der, falls Hitler Nepomuk meinte, weit mehr als ein »armer Häusler« war. Ferner wurde behauptet, die von Alois 1876 gewählte Form des Namens – »Hitler« – sei eher ein bewußter Rückgriff auf »Hüttler« (Nepomuks Name) als auf Hiedler (Johann Georgs Name). Doch damit käme der Entscheidung für eine Variante dieses Namens, der bis kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts keine feste Form annahm, zuviel Gewicht zu. Anfang und Mitte des Jahrhunderts tauchen »Hiedler«, »Hietler«, »Hüttler«, »Hütler« und »Hitler«, was so viel heißt wie »Kleinbauer«, in Dokumenten als austauschbare Namen auf. Auch phonetisch waren sie kaum zu unterscheiden.19 Auf den Namen Nepomuk »Hiedler« getauft, wurde der Ziehvater Alois’ als »Hüttler« getraut.20 Der Aufsteiger Alois mag die weniger bäuerliche Form »Hitler« vorgezogen haben. Vielleicht war »Hitler« nur die vom Notar in Weitra bei der Legalisierung gewählte Variante, die der Gemeindepfarrer von Döllersheim am nächsten Tag abschrieb.21 Welche Motive die Namenswahl auch bestimmt hatten, Alois war allem Anschein nach zufrieden. Später wich er im Gebrauch des Namens nie mehr davon ab, und nach der endgültigen Autorisierung im Januar 1877 unterzeichnete er stets mit »Alois Hitler«. Auch dem Sohn gefiel die deutlichere Form »Hitler«.22

Schließlich gibt es eine dritte Hypothese. Demnach hatte Adolf Hitler einen jüdischen Großvater. Entsprechende Gerüchte kursierten bereits Anfang der zwanziger Jahre in Münchner Cafés und erhielten durch den Sensationsjournalismus der ausländischen Presse in den dreißiger Jahren zusätzliche Nahrung. Die Zeitungen behaupteten, der Name »Hüttler« sei jüdisch, sie »enthüllten«, er sei auf eine jüdische Familie namens Hitler in Bukarest zurückzuführen, und schrieben sogar, Hitlers Vater sei von Baron Rothschild gezeugt worden, in dessen Wiener Haus die Großmutter angeblich einige Zeit als Dienerin verbracht habe.23 Ernster zu nehmen sind Spekulationen über Hitlers vermuteten jüdischen Hintergrund, die nach dem Krieg auftauchten und direkt auf die Memoiren des führenden NS-Anwalts und »Generalgouverneurs« von Polen, Hans Frank, zurückgehen, die er im Gefängnis von Nürnberg vor Vollstreckung der Todesstrafe diktiert hat.

Frank behauptete, Hitler habe ihn Ende 1930 zu sich gerufen und ihm einen Brief seines Neffen William Patrick Hitler (dem Sohn des Halbbruders Alois, der kurze Zeit mit einer Irin verheiratet war) gezeigt: Das Schreiben enthielt die Drohung, im Zusammenhang mit den Pressegeschichten über Hitlers Herkunft aufzudecken, daß in Hitlers Adern jüdisches Blut fließe. Angeblich von Hitler dazu beauftragt, familiengeschichtliche Nachforschungen anzustellen, entdeckte Frank seinem Bericht zufolge, Maria Anna Schicklgruber habe das Kind zur Welt gebracht, als sie einer jüdischen Familie namens Frankenberger in Graz als Köchin diente. Nicht nur das: Von Frankenberger senior hieß es, er habe regelmäßig Alimente gezahlt, um anstelle seines zum Zeitpunkt der Geburt etwa 19 Jahre alten Sohnes das Kind bis zum 14. Geburtstag zu unterstützen. Maria Anna und die Frankenbergers hätten jahrelang Briefe gewechselt. Frank zufolge soll Hitler erklärt haben, aus Erzählungen des Vaters und der Großmutter wisse er, der Großvater sei nicht der Jude aus Graz. Da die Großmutter und ihr späterer Mann so arm gewesen seien, hätten sie dem Juden eingeredet, er sei der Vater, und ihn überredet, den Jungen finanziell zu unterstützen.24

In den fünfziger Jahren wurde Franks Geschichte weithin verbreitet.25 Einer Überprüfung hält sie nicht stand. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts lebte in Graz keine jüdische Familie namens Frankenberger. In der gesamten Steiermark gab es seinerzeit keine Juden, erst seit 1849 durften Juden in diesem Teil Österreichs ihren Wohnsitz nehmen. Zwar lebte dort eine Familie Frankenreiter, aber sie war nicht jüdischer Herkunft. Falls Maria Anna je in Graz war oder beim Metzger Frankenreiter gearbeitet hat, läßt sich das nicht belegen. Auch ein Briefwechsel zwischen Maria Anna und einer Familie namens Frankenberger oder Frankenreiter ist niemals aufgetaucht.

Gesetzt den Fall, Frank hat nur die Namen vertauscht, dann war der Sohn Leopold Frankenreiters und der vermeintliche Vater des Kindes, für das Großvater Frankenreiter dem Anschein nach 13 Jahre Alimente zahlte, zum Zeitpunkt von Alois’ Geburt gerade zehn Jahre alt. Überdies durchlebte die Familie Frankenreiter eine entbehrungsreiche Zeit, in der Unterhaltszahlungen an Maria Anna Schicklgruber einfach undenkbar gewesen wären.26 Ebenso unglaubwürdig ist Franks Kommentar, Hitler habe von der Großmutter erfahren, die Graz-Geschichte enthalte kein Körnchen Wahrheit: Zum Zeitpunkt von Hitlers Geburt war die Großmutter bereits über 40 Jahre tot. Zweifelhaft ist auch, ob Hitler tatsächlich 1930 einen Erpresserbrief des Neffen erhalten hat. Wenn es so war, hatte Patrick, der dem berühmten Onkel wiederholt als »Schnorrer« zur Last fiel, Glück, die zumeist in Deutschland verbrachten nächsten Jahre zu überleben und im Dezember 1938 das Land für immer verlassen zu können.27 Als seine »Enthüllungen« im August 1939 in einer Pariser Zeitung erschienen, erwähnten sie die Graz-Geschichte mit keinem Wort.28 Auch den Berichten der Gestapo, die in den dreißiger und vierziger Jahren mehrmals Erkundigungen über Hitlers familiären Hintergrund einzog, ist kein Hinweis auf die vermeintlichen Wurzeln in Graz zu entnehmen.29 Sie entdeckten keine neuen »Leichen im Keller«. Hans Franks Memoiren, »im Angesicht des Galgens« unter deutlicher psychischer Anspannung diktiert,30 sind voller Ungenauigkeiten und mit Vorsicht zu genießen. In bezug auf die Geschichte von Hitlers angeblichem jüdischen Großvater sind sie wertlos. Hitlers Großvater, wer er auch war, war kein Jude aus Graz.31

So sind Johann Georg Hiedler und Johann Nepomuk Hiedler (oder Hüttler) die einzigen, die Hitlers Großvater (die offizielle Version nannte stets Johann Georg als Adolf Hitlers Großvater) hätten sein können. Vielleicht hat Hitler es selbst nicht gewußt, obwohl kein zwingender Grund die Annahme stützt, er habe an Johann Georg Hiedler gezweifelt.32 Wäre Nepomuk Adolf Hitlers Großvater gewesen, seine Abstammung wäre noch stärker von Inzest durchzogen gewesen als im Falle von Johann Georg, denn Nepomuk war zugleich der Großvater von Adolfs Mutter.33

Klara Pölzl, die künftige Mutter Adolf Hitlers, war die älteste unter den von elf Kindern überlebenden drei Töchtern – die beiden anderen hießen Johanna und Theresia – aus der Ehe zwischen Nepomuks ältester Tochter, Johanna Hüttler, und Johann Baptist Pölzl, einem weiteren Kleinbauern in Spital. Klara wuchs auf einem Hof neben dem des Großvaters Nepomuk auf. Klaras Mutter, Johanna, und Klaras Tante Walburga waren gemeinsam mit Alois Schicklgruber in Nepomuks Haus aufgezogen worden.34 Offiziell, nach der Namensänderung und Legitimierung im Jahre 1876, waren Alois Hitler und Klara Pölzl also Vetter und Kusine zweiten Grades. Im Alter von 16 Jahren verließ Klara Pölzl 1876 den Hof der Familie in Spital und zog nach Braunau am Inn, um als Magd im Haushalt von Alois Hitler zu dienen.35

Zu dem Zeitpunkt lebte Alois als angesehener Zollamtsoffizial in Braunau. Die persönlichen Angelegenheiten hatte er nicht so gut geordnet wie sein Berufsleben. Er war insgesamt dreimal verheiratet, zunächst mit einer viel älteren Frau, dann mit Frauen, die seine Töchter hätten sein können. Aus einer vorehelichen Beziehung und den beiden letzten Ehen gingen neun Nachkommen hervor, von denen vier im Kleinkindalter starben. Das Privatleben verlief überdurchschnittlich turbulent – wenigstens für einen Zollbeamten in der Provinz.36 Schon in den sechziger Jahren hatte er ein uneheliches Kind gezeugt.37 Im Jahre 1873 ehelichte er die damals 50jährige Anna Glassl. Eine Liebesheirat war es wohl kaum. Die Hochzeit mit einer 14 Jahre älteren Frau erfolgte mit großer Wahrscheinlichkeit aus materiellen Gründen, denn Anna ging es verhältnismäßig gut, zudem verfügte sie über Beziehungen zum Beamtenstand.38 Binnen kurzer Zeit wurde Anna krank, wenn sie es nicht von Anfang an war. Ihr Zustand wird sich nicht gebessert haben, als sie Ende der siebziger Jahre von einer Affäre erfuhr, die ihr Mann mit Franziska (Fanni) Matzelberger hatte, einer jungen Magd im Gasthaus Streif, wo die Hitlers lebten. Um 1880 hatte Anna genug und erwirkte die Trennung.39

Alois lebte nun offen mit Fanni zusammen, die gleich zu Anfang darauf bestand, die ein Jahr ältere Klara Pölzl, die sie offensichtlich als Nebenbuhlerin fürchtete, müsse den Haushalt Hitlers verlassen. Im Jahre 1882 brachte Fanni einen Sohn zur Welt, der auf den Namen Alois Matzelberger getauft und legitimiert wurde, sobald Anna Hitlers Tod 1883 den Weg für die sechs Wochen später geschlossene Ehe zwischen Alois und Franziska frei gemacht hatte. Ein zweites Kind, Angela, wurde weniger als zwei Wochen nach der Hochzeit geboren. Aber 1884 erkrankte Fanni an Tuberkulose und starb im August desselben Jahres erst 23jährig.40

Während der Krankheit hatte man Fanni an einen Ort mit gesunder Luft außerhalb Braunaus gebracht. Für die Betreuung der beiden Kleinkinder wandte sich Alois sofort an Klara und holte sie nach Braunau zurück. Als Fanni im Sterben lag, wurde Klara schwanger. Da sie Vetter und Kusine zweiten Grades waren, durften Alois und Klara nur mit kirchlichem Dispens heiraten. Nach einer Wartezeit von vier Monaten, währenddessen Klaras Zustand um so deutlicher zutage trat, traf die Genehmigung aus Rom schließlich Ende 1884 ein, und am 7. Januar 1885 wurde das Paar getraut. Die Hochzeitszeremonie fand um sechs Uhr morgens statt. Nach einer förmlichen Feier ging Alois wieder seiner Arbeit im Zollamt nach.41

Das erste Kind aus Alois’ dritter Ehe, Gustav, kam im Mai 1885 auf die Welt, im September des nächsten Jahres gefolgt von einem zweiten Kind, Ida, und unmittelbar danach von einem weiteren Sohn, Otto, der wenige Tage nach der Geburt verstarb. Den nächsten Schlag erhielt Klara, als ihre beiden Kinder Gustav und Ida sich mit Diphterie infizierten und innerhalb weniger Wochen im Dezember 1887 und Januar 1888 verstarben.42 Im Sommer 1888 war Klara wieder schwanger. Am 20. April 1889, einem bewölkten und kühlen Karsamstag,43 brachte sie um halb sieben Uhr abends zu Hause im »Gasthof zum Pommer«, Vorstadt Nr. 219, ihr viertes Kind zur Welt, das erste, das überlebte: Sie nannten den Jungen Adolf.44

In den ersten Sätzen von »Mein Kampf« betonte Adolf Hitler – was die Nationalsozialisten sich später zunutze machten –, welch »glückliche Bestimmung« es doch sei, daß er in Braunau am Inn geboren wurde, an der Grenze der zwei deutschen Staaten, »deren Wiedervereinigung« er als »Lebensaufgabe« ansah.45 Tatsächlich hatte er an Braunau kaum konkrete Erinnerungen, denn 1892 wurde sein Vater zum Zollamtsoberoffizial befördert – der höchste Rang, der einem Beamten ohne höhere Schulbildung offenstand –, und die Familie zog nach Passau, bevor Adolf drei Jahre alt war, und blieb eine Zeitlang in Bayern auf der deutschen Seite der Grenze.46 Dies war der erste von zahlreichen Wohnungswechseln, die der junge Hitler erlebte.

Die historischen Belege aus Adolf Hitlers frühen Jahren sind spärlich. Der eigene Bericht in »Mein Kampf« ist unzuverlässig und einseitig. Die nach dem Krieg bekanntgewordenen Erinnerungen von Familienmitgliedern und Bekannten erfordern eine kritische Prüfung, zum Teil sind sie ebenso fragwürdig wie die Bemühungen während des Dritten Reiches, die Kindheit des künftigen »Führers« zu verherrlichen. Im Hinblick auf die für Psychologen und »Psycho-Historiker« wichtigen prägenden Jahre muß man sich mit der Tatsache abfinden, daß es nur wenige Anhaltspunkte gibt, die über reine Vermutungen hinausweisen.47

Materiell gesehen führte die Familie Hitler eine gesicherte Mittelstandsexistenz. Neben Alois und Klara sowie den beiden Kindern aus Alois’ zweiter Ehe, Alois junior (bevor er 1896 das Haus verließ) und Angela, Adolf und dem jüngeren Bruder Edmund (1894 geboren, 1900 verstorben) sowie der 1896 geborenen Schwester Paula umfaßte der Haushalt noch Rosalia Schichtl, die als Köchin und Magd arbeitete. Auch Adolfs Tante Johanna lebte im Haus, eine der jüngeren Schwestern der Mutter, eine übellaunige, bucklige Frau, die Adolf jedoch sehr mochte und Klara eine gute Hilfe war. Nach Erbschaft und Grunderwerb im Jahr 1888 war Alois ein bescheiden situierter Mann mit solidem Einkommen, das um einiges höher lag als das eines Volksschulrektors.48

Gleichwohl verlief das Familienleben nicht harmonisch und glücklich.49 Alois Hitler war der Inbegriff eines provinziellen Beamten – ein Wichtigtuer, stolz auf seinen Status, streng, humorlos, sparsam, überpünktlich und pflichtbewußt. In der Gemeinde genoß er Respekt. Aber im Amt und daheim konnte sich sein Mißmut ganz unvermittelt in Wutausbrüchen entladen. Er rauchte wie ein Schlot und zog es vor, nach der Arbeit in der Schenke einige Bier zu trinken und zu diskutieren, statt nach Hause zu gehen. Er hatte keinen Familiensinn und war glücklicher, wenn er nicht zu Hause saß.50 Seine Leidenschaft galt der Bienenzucht. Täglich ging er von der Arbeitsstelle in Passau eine halbe Stunde zu Fuß zu den Bienenstöcken und wieder zurück, bevor er auf dem Rückweg einkehrte. Das bot ihm zweifellos friedliche Erholung von einem Haushalt mit übermütigen kleinen Kindern. Der Wunsch, die Bienenstöcke auf eigenem Grund und Boden aufzustellen, erfüllte sich 1889, als ihm Nepomuks Erbe half, in Spital, in der Nähe seines Geburtsortes im Waldviertel, ein Stück Land zu erwerben. Obwohl er es drei Jahre später veräußerte, erwarb er danach noch zweimal Land.51 Zu Hause trat er als autoritärer, anmaßender, herrschsüchtiger Ehemann und als strenger, distanzierter, gebieterischer und oft reizbarer Vater in Erscheinung. Noch lange nach der Eheschließung behielt Klara die Gewohnheit bei, ihn »Onkel« zu nennen.52 Und selbst nach seinem Tod bewahrte sie in der Küche einen Pfeifenständer auf und verwies, wenn die Rede auf ihn kam, darauf, als wolle sie seine Autorität anrufen.53

Mochte der Vater den Kindern auch keine Zuwendung bieten, die Mutter schenkte sie ihnen um so mehr. Jahrzehnte später beschrieb der jüdische Hausarzt der Familie Hitler, Eduard Bloch, nachdem er das nationalsozialistische Deutschland hatte verlassen müssen, Klara Hitler als »eine einfache, bescheidene, liebenswürdige Frau«. »Sie war groß, hatte bräunliches Haar, das sie in sauber geflochtenen Zöpfen trug, und ein langes, ovales Gesicht mit wunderschön ausdrucksstarken graublauen Augen.«54