Der Onyxpalast - Wo die Toten tanzen - Stefanie Lasthaus - E-Book

Der Onyxpalast - Wo die Toten tanzen E-Book

Stefanie Lasthaus

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Beschreibung

Willkommen im Onyxpalast, wo die Toten tanzen – wirst du dich ihnen anschließen?
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Als ihr Bruder Vander völlig überraschend verstirbt, bricht für Gwen eine Welt zusammen. Verzweifelt fasst sie einen Entschluss: Da die Grenzen zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten in Cardiff besonders durchlässig sind, wird sie ihren Bruder zurückholen! Im sagenhaften Onyxpalast angekommen, traut sie ihren Augen kaum: ein rauschender Totenball erwartet sie, auf dem sich Verstorbene und Totengötter amüsieren. So trifft Gwen auf Aran, Herrscher der walisischen Unterwelt. Dieser Gott lässt ihr Herz bald höher schlagen – dabei darf er auf keinen Fall wissen, dass ihres noch schlägt …

Eine furchtlose Heldin, verführerische Todesgötter und eine Forbidden Romance der Auftakt einer opulenten neuen Romantasy-Trilogie!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 679

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Als ihr Bruder Vander völlig überraschend verstirbt, bricht für Gwen eine Welt zusammen. Verzweifelt fasst sie einen Entschluss: Da die Grenzen zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten in Cardiff besonders durchlässig sind, wird sie ihren Bruder zurückholen! Im sagenhaften Onyxpalast angekommen, traut sie ihren Augen kaum: Ein rauschender Totenball erwartet sie, auf dem sich Verstorbene und Totengötter amüsieren. So trifft Gwen auf Aran, Herrscher der walisischen Unterwelt. Dieser Gott lässt ihr Herz bald höherschlagen – dabei darf er auf keinen Fall wissen, dass ihres noch schlägt …

Autorin

Stefanie Lasthaus wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Studium zog es sie nach Australien, England sowie in die Schweiz. Zurück in Deutschland, widmete sie sich zunächst dem Dokumentationsfilm und schließlich ganz dem Schreiben – ob für Zeitungen, Zeitschriften, Onlinespiele, den PR-Bereich oder als Autorin ihrer Romane. Da sie nur noch temporär durch die Welt reisen kann, besucht sie in ihren Büchern Gegenden, die sie faszinieren. Mit ihrer Romantasy »Die Totengötter-Saga« erscheint Stefanie Lasthaus erstmals bei Penhaligon.

Die »Totengötter-Saga« bei Penhaligon

Der Onyxpalast – Wo die Toten tanzen

Der Onyxpalast – Wo die Seelen brennen

Der Onyxpalast – Wo die Welten sterben

Stefanie Lasthaus

Wo die Toten tanzen

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

1. Auflage 2025

Copyright © 2025 Stefanie Lasthaus

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur

Copyright der Originalausgabe © 2025 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon

Umschlagmotive: Palast © Elm Haßfurth | birbstudio.com; Rosen, Ornament, Totenkopf: © shutterstock (higyou, Sinung Wahyono, Raland)

Karte: © Elm Haßfurth | birbstudio.com

SH · Herstellung: fe

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32540-4V002

www.penhaligon.de

Für alle, die zwischen den Welten tanzen und dennoch nicht verloren gehen.

1

Unter der Erde.

Der Regen wurde stärker und prasselte im Takt meiner Gedanken zu Boden. Schirme wurden aufgespannt, und ich starrte auf die Reihe vor mir, während mir die Wörter wieder und wieder durch den Kopf schossen – und die Erkenntnis, wie ungerecht das hier war. Diese schwarz gekleideten Menschen liefen, atmeten, betrachteten den Himmel und das Loch im Boden oder flüsterten miteinander, während mein Bruder all das nicht mehr tun konnte. Weil er – wie tief eigentlich? – unter mir in der Erde des Thornhill Cemetery lag, in einem verfluchten Sarg aus Fichtenholz. Es war nicht fair, und es war auch nicht richtig. Vander hatte das nicht verdient.

Ich erwischte mich bei der Frage, welchen Trauergast ich gegen ihn eintauschen würde. Mein Blick fiel auf Mrs Davies, die jede streunende Katze in ihr Haus zerrte und mit Fisch vollstopfte, aber ihre Nachbarn regelmäßig beschimpfte, und wanderte weiter zu Mr Sheers, der Vander oft Sohn genannt hatte, seitdem der nach einem Einbruch seine Aussage aufgenommen und ihn beruhigt hatte. Mr Sheers hatte noch wochenlang davon geredet, wie überzeugend Vander mit seiner gelben Polizeiweste aufgetreten sei.

Mein Bruder hatte diese Wirkung auf viele gehabt. Mich hatte er manchmal in den Wahnsinn getrieben, wenn ich auf Streit aus gewesen war, er meine Wut jedoch einfach nur weggegrinst hatte.

Mir wurde klar, dass ich bei der Antwort auf meine Frage kaum Einschränkungen machte: Ich hätte sie alle eingetauscht, um ihn zurückzubekommen. Alle bis auf Mum und Mari. Es kam mir vor, als würde ich kaum noch jemanden hier kennen und die wenigen hätten sich nicht oder nur wenig verändert, seitdem ich Cardiff vor vier Jahren den Rücken gekehrt hatte, um mit meinem Rucksack durch Europa zu ziehen. Aber ich hatte mich verändert, sodass sich das alles anfühlte wie eine fremde Welt, die sich die Kulisse einer Heimat übergestülpt hatte. Eine Täuschung.

Die meisten Menschen hier bedeuteten mir nichts und ich ihnen ebenso wenig.

Auch ich würde mit Vander tauschen, weil er es verdient hatte, zu leben. Er hatte viele kleine Ziele gehabt und ein paar größere, auf die er mit so viel Vorlauf hingearbeitet hatte, dass ich manchmal wahnsinnig geworden war.

Ich presste die Lippen noch fester aufeinander, bis sie pochten, und sah nach unten auf diese lächerlichen schwarzen Handschuhe, die mir irgendjemand geliehen hatte. Als ob es den Toten wichtig wäre, dass man in Trauerkleidung und nicht im ausgeleierten Jogginganzug am Grab stand. Vielleicht lachten sie ja über das hässlich glänzende Schlangenmuster auf meinen Fingern. Vielleicht taten sie auch nichts, weil sie eben nicht mehr existierten.

Abgesehen davon passte ich heute hervorragend auf den Friedhof. Ich war schon immer blass gewesen, aber in den vergangenen Tagen nahezu bleich geworden. Die Ringe unter meinen Augen nahmen allmählich eine violette Tönung an und ließen mich in Kombination mit den weißblond gefärbten Haaren vermutlich nicht sehr lebendig wirken.

Mari schräg vor mir wandte den Kopf; ihr Blick kreuzte meinen und hielt ihn fest. Dann hob meine Schwester die Hand, mit der sie unsere Mutter nicht stützte, und winkte mich zu sich.

Die zwei standen nah am Grab neben all den Kränzen; schmale Frauen mit dunklen Haaren, die ihre Gesichter noch bleicher wirken ließen. Beinahe schien es, als wollten sie sich hineinstürzen, um Vander zu folgen.

Erstaunt stellte ich fest, dass ich mittlerweile bis hinter die letzte Trauerreihe zurückgewichen war. Aber ich hatte ihn in so vielen Gesichtern gesehen, diesen stummen Vorwurf, weil ich erst vor einigen Wochen zurückgekommen war.

Als hätte das eine Rolle gespielt.

Außerdem – und das gab ich nur ungern zu – konnte ich von meiner Position aus den Eingang des Friedhofs im Auge behalten. Ein Teil von mir hoffte noch immer, dass Sean auftauchte. Nicht, weil ich ihn unbedingt sehen wollte, sondern weil er es seinem Sohn verdammt noch mal schuldig war, Tränen zu vergießen, an seinem Grab auf die Knie zu sinken und es zu bereuen, so ein mieser Vater zu sein.

Sean ließ sich jedoch nicht blicken; vermutlich wusste er nicht einmal, was geschehen war, und klampfte in einem Pub am anderen Ende der Welt auf seiner Gitarre herum.

Mari winkte mir noch einmal, aber ich rang mir ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht vorn stehen, wo alle mich anstarrten und vermutlich dachten, wie sehr ich meinem Vater ähnelte, weil ich durch die Welt gegondelt war. Das schlechte Gewissen sorgte dafür, dass meine Haut kribbelte, und ich zupfte an dem dünnen Stoff meiner Jacke. Immerhin ließ der Regen nach.

Mari begriff, nickte mir zu und redete leise auf unsere Mutter ein. Sogar auf die Entfernung sah ich, wie sich Mum ein wenig entspannte. Sie wollte mich nicht neben sich haben. Sie wollte Mari.

In der Hinsicht ähnelte meine kleine Schwester Vander. Während es mich in einsame Landstriche in die Ferne gezogen hatte, war sie ein Mensch für Menschen. Immer für andere da; manchmal noch ehe man wusste, dass man sie brauchte. Kein Wunder, dass die Bewohner des St.-Giles-Pflegeheims sie vergötterten, und umso unverständlicher, dass dieser Idiot von Christopher sie ohne eine Erklärung verlassen hatte.

Aus diesem Grund war ich zurückgekommen – um bei Mari zu sein, während sie mit ihrer ersten großen Trennung kämpfte. Seitdem wohnte ich in Christophers altem Arbeitszimmer, dessen Inhalt wir feierlich verbrannt oder unter Freunden verteilt hatten.

Ich war also gerade rechtzeitig zurückgekehrt, um einen Serienmarathon mit ihr hinzulegen, eine riesige Schüssel Chips zwischen uns, während Vander am anderen Ende der Stadt erstochen wurde.

Die Frau vor mir – ich hatte sie noch nie zuvor gesehen – brachte ihre Lippen an das Ohr des Mannes neben sich. »Vielleicht war er unvorsichtig.« Sie flüsterte, aber ich hörte es dennoch. »Die Polizei ist ja heutzutage auch nicht mehr richtig auf alles vorbereitet. Früher …«

Ich wich noch weiter zurück, weil ich es nicht hören wollte und trotzdem den Drang verspürte, etwas zu erwidern. Erst als ich fast die Baumgruppe am Ende des Areals erreicht hatte, atmete ich durch – und runzelte die Stirn, als jemand neben mich trat. War er etwa doch aufgetaucht? Schlagartig kochte ich innerlich und hatte bereits eine entsprechende Bemerkung auf den Lippen, nur war es nicht Sean, sondern ein Fremder. Er stand zu nah für einen Zufall, und das gefiel mir nicht. Ich hatte mich nicht abgesondert, um ein Gespräch zu führen.

»Gwen Clarke, oder? Sean Clarkes Tochter?«

Was sollte das? Ich wandte den Kopf nur eine Winzigkeit, um dem Kerl zu signalisieren, dass ich keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. Er war kleiner als ich, trug eine dieser glänzenden schwarzen Jacken, die mehr Körper vorgaukelten, als wirklich da war, dazu schwere Schuhe und Jeans. Die Haare hatte er nach hinten gegelt. Wenn es jemanden gab, der noch weniger hierher passte als ich, dann war er es. Das konnte auch an dem Streichholz liegen, auf dem er herumkaute. Am liebsten hätte ich es ihm aus dem Mund gerissen.

Der Typ schien meine Gedanken zu erraten, denn er spuckte es auf den Boden und zog die Nase hoch. »Ich weiß zwar nicht, wer dafür verantwortlich ist«, er hob das Kinn in einer knappen Geste, »aber ist mir auch egal.«

Nun ruckte mein Kopf doch herum. »Was?«

Sein Blick begegnete meinem. Wie konnten wässrige Augen nur so hart wirken? Ich schätzte ihn auf einige Jahre älter als mich, Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Er hatte Pockennarben auf beiden Wangen, die so schneeweiß waren wie seine Fingerspitzen. Vermutlich rauchte oder kokste er zu viel.

»Ich überbringe euch eine Warnung, Mädchen. Bisher liefen solche Dinge über deinen Bruder.« Schulterzucken.

Euch. Die Tatsache, dass er auf einmal in der Mehrzahl redete, sorgte für ein Ziehen in meinem Magen. Was wollte er? Und was hatte er mit Vander zu tun gehabt?

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Dir ist wohl noch nicht aufgefallen, dass wir hier auf einer Beerdigung sind«, sagte ich scharf, während meine Gedanken rasten. »Das ist der falsche Ort für Warnungen.«

»Mir war klar, dass ich die Clarkes hier finde, und du hast dich freundlicherweise abgesetzt.« Er legte eine Hand an seine Hüfte, eine Bewegung, die so offensichtlich inszeniert war, dass ich ahnte, was ich unter der aufklaffenden Jacke sehen würde. Das Metall einer Waffe glänzte matt. Trotzdem war es ein Schock. Was auch immer er wollte, er meinte es ernst. Innerlich begann ich so sehr zu zittern, dass ich mich anspannte, so fest ich konnte, um es nicht zu zeigen. Raubtiere durften nicht merken, dass man Angst hatte. Und wäre ich nicht ohnehin so betäubt durch Vanders Tod gewesen, hätte ich vermutlich geschrien.

»Ich fasse es für dich zusammen, Liebes, in Worten, die du verstehst. Euer Vater hat vor einer Weile ziemlichen Mist gebaut und viel in den Sand gesetzt. Ein gutes Geschäft. Damit hat er Schulden.«

Mir wurde noch kälter, aber ich schüttelte den Kopf. »Unser V…Vater«, ich stotterte leicht und war nahe dran, ebenso auszuspucken wie er zuvor, »hat sich jahrelang nicht blicken lassen. Oder siehst du ihn etwa hier?« Der Kerl machte sich nicht die Mühe, sich umzublicken. Er wusste genau, wer vor Ort war und wer nicht – und vermutlich noch mehr. »Was auch immer seine Probleme sind, sie gehen meine Familie nichts an. Wir haben eigene.«

Zum Beispiel, dass mein Bruder dort in einem Loch liegt, falls dir Vollidiot dieses Detail entgangen ist.

Allein die Fassade, die ich heute um mich hochgezogen hatte, sorgte dafür, dass ich weiterhin ruhig wirkte.

Er verengte die Augen, und das süffisante Halblächeln verschwand.

»Eure Probleme interessieren mich einen Scheiß. Die Clarkes werden ihre Schulden begleichen, Ende. Bisher hat das dein Bruder geregelt, aber der persönliche Polizeischutz fällt nun weg, nicht wahr?« Es klang fast liebenswürdig. Sein Blick wanderte zu Mari und Mum, und mir stockte der Atem. Er zog etwas aus der Hosentasche, einen Zettel, und reichte ihn mir.

Ich faltete ihn auseinander und starrte auf die Zahlen hinter dem Pfundzeichen, geschrieben mit schwarzem Filzstift. Wie in einem Film. Nur dass all das hier echt war: Vander ermordet im Dienst. Der Kerl mit der Waffe neben mir. Und die Vermutung, dass mein Vater, der diese Bezeichnung noch nie verdient hatte, in zwielichtige Geschäfte verstrickt war.

Jetzt stand dieser Fremde hier und drohte. Auf einmal zitterten meine Hände doch.

»Moment«, sagte ich, und das Blut rauschte in meinen Ohren. »Hast du … ihr … habt ihr …« Ich starrte zum Grab.

Er gab etwas von sich, das nicht ganz wie ein Lachen, doch auch zu wenig nach einem Fluch klang. »Einen Cop beseitigt? Nein. Wir sind nicht dumm, Kleines.«

Aber wer seid ihr?

Ich traute mich nicht, die Frage zu stellen. Mein Kopf war einen schrecklichen Augenblick lang wie leer gefegt. Ich brauchte Zeit. Verstohlen sah ich mich um, doch niemand achtete auf uns. »Ich weiß nicht mal, was Sean …«

»Dreißigtausend. Ihr dürft in Raten zahlen. Ich melde mich in drei Wochen für die ersten zehn.« Er schnalzte mit der Zunge. »Du erzählst niemandem von unserem netten Gespräch, erst recht nicht den Bullen, sonst …« Er streckte zwei Finger aus, berührte seine Schläfe, und mir war klar, was er meinte. Dann betrachtete er seine Hände und pulte Dreck unter dem Daumennagel hervor. »Vor ’ner Weile gab es schon mal jemanden, der versucht hat, uns zu verarschen«, sagte er nachdenklich. »Hat sich nach Irland abgesetzt. In ein Kaff namens Bundoran. Wir haben ihn und seine Frau trotzdem gefunden, und … nun.« Jetzt zog er die zwei Finger über seinen Hals. »War kein schöner Anblick. Bei beiden nicht. Also denk daran, dass wir euch im Blick haben, und zwar jederzeit. Fahr hübsch weiter Pizza mit deinem Rad durch die Gegend, Gwen Clarke, doch achte darauf, dass du keinen Unfall hast.« Er zwinkerte mir zu, dann drehte er sich um und schlenderte mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen zum Friedhofstor.

Ich starrte ihm hinterher und machte einen Schritt zur Seite, weil mir auf einmal schwindelig war. Dieser Typ hatte mir und meiner Familie offen gedroht! So wie in einem schlechten Film. Die Vorstellung war surreal, ich würde den Kopf schütteln, wenn mir jemand so etwas erzählte. Ich wusste nicht, was ich zuerst denken oder tun sollte. Weglaufen. Schreien. Durchdrehen.

Aber nein, nicht hier. Erst musste ich Vanders Beerdigung durchstehen, danach konnte ich mir Gedanken machen.

Der Kerl kannte meinen Arbeitsplatz. Was wusste er noch? Über mich, über meine Familie? Und was hatte er mit persönlichem Polizeischutz gemeint? Hatte Vander etwa von diesen Schulden gewusst?

Also denk daran, dass wir euch im Blick haben.

Mit rasendem Herzen starrte ich auf das Papier in meiner Hand – die einzig brennende Stelle an meinem Körper, während der Rest zu Eis gefroren war.

Am Grab warfen Mum und Mari Blumen und Erde, und ich konnte mich nicht länger aus der Sache rausziehen. Rasch schob ich den Zettel in die Hosentasche und ging nach vorn. Meine Knie schlotterten, Absätze meiner schicken Schuhe, die mir eine Freundin von Mari geliehen hatte, sanken im Untergrund ein, und ich brauchte mehrere Anläufe, um diese brodelnde Angst zurück hinter die Trauer zu drängen. Meine Hände zitterten noch immer.

Die Menge machte mir Platz, als ich die weiße Rose aus meiner Jacke wickelte. Ihre Blätter waren nur leicht zerdrückt, und die Seidenbänder fielen locker vom Stängel hinab. Auf jedem hatte ich eine Erinnerung notiert.

Weißt du noch, unser Kajakunfall unten in Cornwall?

Mit dir hatte ich den besten Fudge Pudding der Welt in Bath.

Danke, dass du damals Glen Harris für mich verprügelt hast.

Bis auf den Wind und Mums leises Schluchzen war es still, als ich an das Grab trat, so nah, dass Mari hinter mir die Luft einsog. Ich starrte auf die Spitzen meiner Schuhe und schob sie noch eine Winzigkeit vorwärts, stellte mir vor, ich würde in das Loch stürzen, auf das Holz und die kalte Erde.

Ich dachte, ich wäre sauer, weil du uns allein lässt. Aber ich glaube, dafür bin ich zu traurig. Ein wenig verfluche ich dich trotzdem. Wir konnten uns alles erzählen und haben immer verstanden, was der andere wirklich meinte. Wusstest du, dass ich meinen Rucksack wieder gepackt hatte, weil Cardiff mich erdrückt? Ich wollte dir davon erzählen, sobald ich mich für ein Ziel entschieden hab, und losziehen, wenn es Mari besser geht. Doch jetzt bleibe ich. Und was sollte das gerade mit diesem Kerl, Vander? Was hast du gewusst? Wovor hast du uns beschützt? Warum hast du mir nichts erzählt? Und warum, verdammt noch mal, stehe ich an deinem Grab und kann dich das nicht persönlich fragen? Kannst du mir verraten, was ich ohne dich machen soll? Denn ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Du bist weg, und ich kann mich nicht erinnern, was das Letzte war, was ich zu dir gesagt habe. Ich hoffe …

Meine Gedanken verhedderten sich, als sich alles in mir zusammenzog, als würde der Schmerz jeden Moment in meiner Brust explodieren. Ich schluckte dagegen an, während ich blinzelte, weil die Umgebung vor meinen Augen verschwamm, doch meine Kehle war zu eng. Als hätte ich mit einem Mal zu wenig Platz in dieser Welt. Wie lebte man weiter, wenn plötzlich einer der wichtigsten Menschen verschwunden war?

Hektisch wischte ich mir über das Gesicht und brauchte mehrere Sekunden, in denen ich nur ein- und ausatmete, immer wieder, um das Reißen in meiner Brust halbwegs zu ertragen. Ich biss die Zähne zusammen, bis mein Kiefer schmerzte, und versuchte, den Sarg vor mir zu erkennen. Doch sie hatten ihn zu weit in die Dunkelheit hinabgelassen, und ich sah ihn nicht mehr.

Ich musste mich zusammenreißen. Für Vander. Er hätte es so gewollt.

Wir reden weiter, du und ich, okay? Versprich mir das. In meinen Träumen, und wenn du deinen Hintern da nicht blicken lässt, dann in meinem Kopf. Mach’s gut, Großer. Ich hoffe, es gefällt dir da, wo du jetzt bist. Und dass es dir gut geht. Du hast nichts anderes verdient.

Die Bänder der Rose flatterten, als sie fiel, und ich stellte mir vor, wie sie versuchten, sich am Rand des Grabs festzuhalten. Aber sie waren zu glatt und zu schwach.

Ich wusste, ich sollte mich umdrehen und Platz machen für keine Ahnung, wer hinter mir wartete, doch ich konnte nicht. Wie gebannt starrte ich auf den weißen Stoff. Vielleicht blieb ich, weil ich schon die ganze Zeit innerlich erstarrt war und hierher gehörte. An ein Grab, in dem bis auf ein paar Würmer und Käfer nichts mehr lebte.

Gemurmel setzte ein. Ein Teil von mir war sauer, weil man von mir erwartete, zur Seite zu treten. Ich wollte jetzt nicht auf andere achten, ich wollte Zeit mit meinem Bruder.

Ich wollte ihn nicht hier zurücklassen.

»Süße.«

Maris Stimme war so sanft, dass meine Kehle noch enger wurde, weil das schlechte Gewissen hinzukam. Ich war kurz davor, die Nerven zu verlieren, während meine kleine Schwester uns alle über Wasser hielt.

Ich wandte mich um und las im Gesicht meiner Mutter, dass sie dasselbe dachte wie ich. Aber wir hatten uns nie richtig nahegestanden. Ich war gezeugt worden, als Sean Clarke gemerkt hatte, dass Familie doch nicht das war, was er sich vom Leben wünschte, und Mum hatte ihre Hoffnungen darauf gesetzt, ihr zweites Kind würde die Sache herumreißen und ihre Ehe retten. Diesen Job hatte ich grandios vermasselt.

Mums Gesicht war rot und verquollen, und sie sah weg, als sie meinen Blick bemerkte.

»Tut mir leid«, flüsterte ich Mari zu und legte einen Arm um sie. Meine Schwester lehnte den Kopf an meine Schulter, und eine Weile standen wir zu dritt vor Vanders Grab. Es machte die Sache nicht leichter, und ich glaubte noch immer, dass ich beim nächsten Atemzug zerspringen würde, aber mit Mari an meiner Seite würde ich zumindest nicht so tief stürzen, dass der Schmerz mich begrub.

»Es ist schon okay«, hauchte sie. Sie verstand mich, und diese wenigen Sekunden, in denen sie sich auf mich stützte, genügten ihr. Sie war die beste Schwester der Welt.

Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, wir drehten uns um und machten Platz für die Trauergäste. Auf das offizielle Händeschütteln würde ich verzichten. Doch je weiter ich mich vom Grab entfernte, desto mehr kam die Angst zurück, und ich dachte an den Typen mit der Waffe. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Fast wäre ich gestolpert und schluckte hart.

Als ich spürte, dass mich jemand ansah, machte ich den Fehler, den Kopf zu heben: Unter den Trauergästen war auch Evan, Vanders Freund und Kollege, und er betrachtete mich sorgenvoll. Ich biss die Zähne fester zusammen, um nicht zu ihm zu rennen und ihn um Hilfe zu bitten. Stattdessen nickte ich ihm zu und zog mich wieder unter die Bäume am Rand des Gräberfelds zurück.

Wir kannten uns schon ewig, und es tat weh, dass ich jetzt an die schönen Momente mit ihm und meinem Bruder denken musste: beispielsweise, wie sich Evan über Vander lustig gemacht hatte, wenn ihm kalt gewesen war, und wie er ihm daher den hässlichsten Schal in ganz Wales zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein anderes Mal waren es Ohrenschützer aus Kunstfell gewesen. Vander hatte gelacht und versucht, sie seinem Kumpel in den Mund zu stopfen.

Evan war der Sohn des Chief Inspectors, und damit hatte auch mein Bruder einen besonderen Draht zu seinem obersten Boss gehabt, wobei er stets betont hatte, dass ihm das keine Vorteile im Job brächte. Mit elf war ich schrecklich in Evan verknallt gewesen und hätte alles getan, um mit ihm Nachrichten auszutauschen. Jetzt wünschte ich mir, dass es den letzten Chat zwischen uns nie gegeben hätte. Ich erinnerte mich an jedes einzelne Wort, unter anderem, weil ich die Tasten unter meinen Finger nicht mehr gespürt hatte. Mein gesamter Körper war taub gewesen.

Was ist da wirklich passiert, Evan? Was sagt dein Vater dazu?

Wir wissen nicht mehr als ihr, Gwen. Es tut mir so leid.

Aber ihr wart zusammen auf Patrouille, du und Vander. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.

Ich hatte zuerst »wie er sterben konnte« geschrieben, es jedoch einfach nicht absenden können.

Er hat mir von den AdU erzählt und dass ihr ein Versammlungshaus observiert habt. Kann es sein, dass jemand von dort …?

Nein, Gwen. Diese Leute sorgen für viel Wirbel, aber sie bringen niemanden um.

Die Anhänger der Ursprünge waren eine Sekte mit einem rasanten Mitgliederzuwachs in den vergangenen Jahren. Eine Weile waren sie überall gewesen: in den Medien, in Internetforen, mit Schildern in den Innenstädten. Sogar Influencer und bekannte Schauspieler hatten sich ihnen angeschlossen, es sich allerdings schnell wieder überlegt, als sie feststellten, dass ihre Reichweite sank oder sich Filmrollen nicht mit den Statuten der AdU vereinbaren ließen.

Sie proklamierten eine urtümliche Lebensweise als Kontrast zu allem, mit dem sie sich überfordert fühlten, wie Technik, Fortschritt und Maschinen, lebten alternativ und verzichteten auf vieles. Allerdings hielten sie auch seltsame Rituale ab und beteten zu Göttern, von denen ich teilweise noch nie gehört hatte.

An sich hätten sie damit noch keine Wellen geschlagen, aber ihnen waren einige wohlhabende Schäfchen ins Netz gegangen, und damit verfügten sie über Geld. Und wie immer, wenn das im Spiel war, rief es früher oder später Hass, Chaos und Auseinandersetzungen auf den Plan. Daraufhin entschieden die Köpfe der Sekte, nicht mehr mit der Welt in Einklang leben zu können, und seitdem schossen in verschiedenen Ländern spezielle Wohnprojekte aus der Erde. Dörfer, in denen kein Politiker, sondern die Führung der AdU die Regeln vorschreiben sollte. Es dauerte nicht lange, bis eine dieser Möchtegern-Enklaven an der St. Mellons Road entstand, und wenig später kam es zu den ersten Ausschreitungen. Die Bevölkerung bekämpfte, was sie nicht kannte, und mir konnte niemand erzählen, dass das irgendwen überraschte.

Vander zumindest war nicht erstaunt gewesen, als konstante Polizeiüberwachung für die Kommune angeordnet worden war, und er hatte die letzten Wochen seines Lebens damit verbracht, Menschen zu beschützen, die versuchten, aus dieser Welt in eine andere zu wechseln. Bis er bei einem dieser Einsätze gestorben war.

Aber warum hast du denn niemanden gesehen, Evan? Tut mir leid, das alles hat man dich sicher schon tausend Mal gefragt.

Wir teilen uns auf Patrouille zwischenzeitlich auf. Und ich würde diese Frage mit Freuden weitere tausend Mal und noch tausend Mal mehr beantworten, wenn es ihn wieder lebendig machen würde, Gwen.

Unwillkürlich starrte ich zum Friedhofstor, und ein Teil von mir erwartete, den Kerl mit der Bomberjacke zu sehen. Auf einmal schien der Zettel in meiner Hosentasche ein Loch durch den Stoff zu brennen, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Hand auf die Stelle zu pressen.

Sollte ich Evan doch von der Begegnung erzählen? Ihn fragen, ob er etwas über diese Sache wusste oder … keine Ahnung, ob etwas dazu in irgendeiner Akte stand? Möglich, dass Vander sich ihm anvertraut hatte. Vielleicht – ein winziger Funken Hoffnung keimte in mir auf – konnte Evan helfen. Sich darum kümmern. Bomberjacke, und wer auch immer zu ihm gehörte, aufspüren und festnehmen und Sean Clarke am liebsten gleich mit.

Der Funke erlosch schlagartig, als ich an die Drohung von zuvor dachte. An diese Geschichte des Unbekannten, der nach Irland geflüchtet war und im Anschluss nicht mehr lange gelebt hatte.

So wie seine Frau.

Ich erschauerte bei dem Bild von Bomberjacke, der einen Schnitt vor seiner Kehle andeutete.

Ich musste mir nichts vormachen, Evan war keine gute Option. Nicht, um diese Typen dingfest zu machen, und erst recht würde er mir nicht so viel Geld leihen können. Meine Hoffnung war eine Illusion. Denn selbst wenn die Schuldengeschichte stimmte, war die Gefahr zu groß, dass ich Maris und Mums Sicherheit riskierte, wenn ich mich jemandem anvertraute. Was, wenn Evan dem Chief davon erzählte? Ich war noch immer nicht sicher, was ich glauben sollte. Momentan konnte ich auch nicht weiter darüber nachdenken. Nicht hier auf dem Friedhof.

Trotzdem hatte sich in meinem Kopf verhakt, was der Typ über Vander gesagt hatte.

Einen Cop beseitigt? Nein. Wir sind nicht dumm, Kleines.

Es war der einzige Satz gewesen, in dem etwas anderes als Überheblichkeit gelegen hatte. Er hatte ehrlich geklungen.

Später. Ich würde mich später damit befassen. Ich brauchte Zeit, um den Schrecken wieder loszuwerden.

Also zog ich die Mütze aus der Jackentasche und setzte sie auf, ehe ich dem Pfad folgte, der parallel zur Baumreihe verlief und mich zum Rand des Thornhill führte. Die Silhouette von Cardiff ragte hinter den Bäumen auf. Ich dachte an die Zeremonie, an die vielen Blumen und stellte mir vor, wie ihre Blütenblätter in der nächsten Welt auf Vander hinabrieselten.

Dabei war ich nicht einmal sicher, ob ich an ein Leben nach dem Tod glaubte. Natürlich hatte ich mir wie vermutlich irgendwann jeder Gedanken darüber gemacht, war aber zu keinem Schluss gekommen. Doch auch wenn ich mit jeder Faser meines Seins hoffte, dass es Vander gut ging und er irgendwo saß und zu einem Himmel aufblickte, an dem die Sterne für ihn flackerten … Hoffen war nicht glauben. Und ich wusste einfach nicht, was es brauchte, um mich vollends zu überzeugen. Von einer Wahrheit oder auch der anderen.

Vor mir wurde der Boden unebener, der Pfad verlief sich zwischen den Bäumen. Ich zog meinen dünnen Schal bis weit über die Nase und ertappte mich bei dem Wunsch, verschwinden zu wollen.

Dann blieb ich stehen, als ich schräg vor mir eine einsame Gestalt bemerkte. Einen Mann, hochgewachsen und reglos. Von hier erkannte ich nur einen Teil seines Profils, wusste jedoch, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Die Haare fielen ihm in die Stirn und waren so dunkel und glänzend, dass sie an das Gefieder eines Raben erinnerten. Er hatte die Hände in die Taschen seines Mantels geschoben, trug schlichte schwarze Kleidung und die Kapuze halb über dem Kopf. Trotzdem fiel er auf, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum. Vielleicht lag es an seiner Haltung, die etwas an sich hatte, das ich nicht benennen konnte. Vielleicht aber auch, weil er so reglos über den Friedhof starrte, als würde er Dinge sehen, die anderen verborgen blieben.

Jetzt bemerkte ich die helle Strähne an seiner Stirn – im trüben Tageslicht schimmerte sie silbrig. Er musste in Vanders Alter sein, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ebenfalls Polizist war. Dafür wirkte er zu … ja, zu was? Ich beobachtete ihn genauer. Er verströmte nicht nur Selbstsicherheit, sondern Eleganz. Fast schon Überlegenheit.

Es störte mich. Niemand sollte auf einem Friedhof so wirken.

Eine Windböe fuhr durch sein Haar; die einzige Bewegung an ihm. Als hätte sie ihn wachgerüttelt, wandte er den Kopf und blickte zur Seite in Richtung der Trauergesellschaft. Mich hatte er nicht bemerkt, aber ich erkannte ihn nun besser. Der Stoff der Kapuze verdeckte die Hälfte seines Gesichts, aus der anderen blitzte sein Auge selbst über die Entfernung hinweg in derselben Farbe wie die Haarsträhne. Offenbar spielte das Wetter mir einen Streich. Auch wenn der Fremde nicht mich ansah, ging sein Blick mir so unter die Haut, dass ich einmal mehr merkte, wie sehr mich der Abschied von Vander mitgenommen hatte.

Leise lief ich rückwärts und ließ ihn nicht aus den Augen, dann drehte ich mich um und ging zurück.

Als ich noch einmal über die Schulter blickte, war er verschwunden.

2

Ich ließ das Rad ausrollen, als ich mich der Bay näherte und im Sattel aufrichtete. Meine Schicht war vorbei, und meine Waden pochten, weil ich über Stunden hinweg so fest in die Pedale getreten hatte, als würde ich Rennen fahren und keine Pizza ausliefern. Das Shirt klebte mir am Körper, dabei war der Tag kühl und schickte feinen Nieselregen über die Stadt.

Am Bordstein parkte ein Lieferwagen zum Entladen, hinter mir hupte es, dann gab jemand Gas und zog viel zu nah an mir vorbei. Früher hätte ich mich darüber aufgeregt, doch ich fühlte mich noch immer, als wäre ich kein Teil der Stadt, sondern nur ein Gast, der in einer seltsamen Blase durch die Straßen schwebte und das Leben auf der anderen Seite beobachtete, ohne daran teilnehmen zu können.

Früher.

Interessant, wie schnell ein Wort seine Bedeutung ändern konnte. Lange hatte es für mich eine Zeit bezeichnet, die viele Jahre zurücklag. Früher stammte aus dem Wortschatz meiner Eltern oder Großeltern, die ich nie kennenlernen durfte; allerhöchstens bezeichnete es die Jahre, in denen Vander, Mari und ich Kinder gewesen waren. Aber ich hatte gelernt, dass früher auch einen Bruch bedeuten konnte, dass es eine Zeit im Leben beschrieb, in der vieles anders gewesen war.

Früher war nur Tage her.

Ich fädelte mich auf der Adelaide Street hinter einem Bus ein und gab mich der Illusion hin, von ihm geschützt zu sein, während ich die Häuser musterte mit ihren von Wetter und Dreck verdunkelten Graffiti und halb abgerissenen Plakaten von Veranstaltungen, die längst vorbei waren. Daneben hockte ein Betonmoloch mit zugemauerten Fenstern, auf dessen Dach zwei Bäume Wurzeln schlugen. Der Verfall zeigte mir unumwunden sein Gesicht, und ich starrte zurück.

Auf der Havannah änderte sich der Eindruck; die Hochhäuser mit den grünlichen Balkonfassaden wurden heller, sauberer. Manche von ihnen waren im Erdgeschoss mit Sandsteinmauern verkleidet, als wollte man Natur und Moderne miteinander verbinden. Sogar die Sonne zeigte sich am Himmel. Ich ließ das Wissenschaftsmuseum hinter mir, wurde langsamer, als die Mount Stuart Docks links auftauchten, und hielt kurz darauf an. Mit beiden Händen fuhr ich durch meine kinnlangen Haare und fand vom Fahrwind hineingewebte Knoten. Manche blieben an den fingerlosen Lederhandschuhen hängen. Mit einem genervten Laut riss ich sie raus und beobachtete, wie sie im Wind davontrieben, silbrige Strähnen, an denen man den dunklen Ansatz nicht sah.

Manches zeigte sich erst in der Masse. Wie Verzweiflung.

Oder Geldsorgen.

Ich atmete tief aus. Neben mir ragten Hochhäuser auf, trotzdem waren hier nur wenige Menschen unterwegs. Die Holzplanken unter meinen Füßen glänzten dunkel. Davor schwappte das Wasser gegen die Steinmauer und flüchtete sich irgendwo weiter draußen in den Bristol Channel. Ich starrte auf die graublaue Fläche, die sich kräuselte, wenn der Wind sie streifte. Ein Sog ging davon aus. Ich wünschte mir, ich könnte ihm folgen, die Stadt hinter mir lassen und erst wieder anhalten, wenn ich einen Grund hatte, mich fremd zu fühlen.

Endlich konnte ich tiefer atmen und sog den schwachen Geruch nach Tang sowie die Kühle des Wassers in meine Lunge. Wie so oft in den letzten Tagen dachte ich an den Typen mit der Bomberjacke und die unmögliche Aufgabe, dreißigtausend Pfund zusammenzubekommen. Bis heute fühlte sich das Gespräch mit ihm surreal an. Ein Teil von mir fragte sich permanent, ob man mich auf den Arm nehmen wollte, aber ein anderer, größerer hatte schlicht und einfach Angst. Sie beherrschte nicht jede Stunde eines jeden Tages, sondern war zu einem Teil meines Lebens geworden. Vermutlich eine Schutzfunktion, da ich sonst durchdrehen würde. So oder so, ich glaubte Bomberjacke – dass er unser Leben in eine Hölle verwandeln konnte und dass es diese Summe gab, die man ihm und wem auch immer schuldete. Es lag einfach zu nahe, dass Sean Mist gebaut hatte und nicht auf die Idee kam, seine Pseudofamilie müsste dafür bezahlen. Oder es störte ihn herzlich wenig.

Wie ich es auch betrachtete: Der Unbekannte hatte mir eine unmögliche Aufgabe gestellt. Ich wusste nicht einmal, wie ich ihn erreichen konnte, um ihm genau das zu sagen – dass diese Summe selbst bei gutem Willen unmöglich aufzutreiben war, erst recht nicht, wenn ich niemandem davon erzählen durfte.

Daran hatte ich mich gehalten, denn Mari und Mum waren meine oberste Priorität. Ich musste sie schützen, und das bedeutete in diesem Fall, nach fremden Regeln zu spielen … wenn die Drohungen stimmten und nicht nur aus dem Mund eines Trottels stammten, der zu viele True-Crime-Podcasts gehört hatte.

Selbst Evan konnte ich mich nicht anvertrauen, da war ich mir mittlerweile hundertprozentig sicher. Worte verselbstständigten sich schnell, und ich hatte keine Ahnung, wo sie letztlich landeten.

Soweit ich mich erinnerte, hatte ich noch nie so sehr mit dem Rücken zur Wand gestanden. Und das mit zu wenig Geld auf dem Konto, nämlich knapp über vierhundert Pfund. Wenn ich mein Rad verkaufte, würde ich mit etwas Glück auf sechshundert kommen, müsste mir allerdings auch einen neuen Job suchen. Auf einen Kredit brauchte ich nicht hoffen – ich war nach meiner Rückkehr im Minus gewesen und verdiente bei Pizza Power nicht genug, um in naher Zukunft viel anzusparen. Ebenso wenig konnte ich mir etwas bei Freunden leihen, denn ich war zu lange aus ihrem Leben verschwunden gewesen, um wiederaufzutauchen und die Hand aufzuhalten. Lediglich Mari könnte ich unter einem Vorwand um Geld bitten, aber dreißig K? Ich befürchtete, dass sie aus mir herauskitzeln würde, was wirklich los war.

Zum millionsten Mal verfluchte ich die Tatsache, dass ich nicht mehr wusste. Ich hasste dieses Dasein auf dem Präsentierteller, bei dem man auf mich zukommen würde. Die drei Wochen, von denen Bomberjacke gesprochen hatte, waren in vierzehn Tagen vorbei. Ich wusste nicht einmal, ob er erneut auftauchen würde oder jemand anderes oder ob plötzlich ein Auto vor mir halten und die nächste Phase einläuten würde: Entführung, Folter, Waterboarding in einer Lagerhalle.

Jetzt dreh nicht durch, Gwen.

Was tat man in einer solchen Situation? Ich hatte versucht zu googeln, wusste jedoch nicht wirklich, wie ich meine Suche formulieren sollte, und landete stets bei Filmen, in denen der Protagonist letztlich für die anderen arbeitete – oder von ihnen verfolgt wurde, bis er sie der Reihe nach umbrachte.

Beides waren keine Optionen für mich. Ich arbeitete ungern unter zu starker Aufsicht und war schätzungsweise eine miese Mörderin.

Ewig an der Bay herumstehen konnte ich aber auch nicht, und trotzdem wollte ich noch nicht nach Hause. Ich musste die ganze Sache von Mari fernhalten, falls diese Typen mich im Auge behielten. Also drehte ich um, schwang mich wieder in den Sattel und machte mich auf den Weg zum Trelai Park. Ich brauchte einen Gesprächspartner, der in seinem Leben viel gesehen und daher wenig Fragen hatte.

Es dämmerte, als ich mein Rad über die Wiese in Richtung Waldrand schob. Die letzten Besucher – Kids, die Fußball spielten – ließen sich vom Wetter verscheuchen. Mit der Dunkelheit wurde es ungemütlich.

Nach dem Trubel der Stadt war ich hier draußen nach einer Weile vollkommen allein.

Die Erkenntnis traf mich, als wäre ich vor eine Wand gelaufen – weil ich begriff, dass ich das schon seit Vanders Tod gewesen war. Ja, ich lebte nach wie vor mit Mari zusammen, doch sie war oft bei Mum, und etwas hatte sich zwischen uns verändert. Zwar redeten wir, manchmal auch über Schmerzhaftes oder Unangenehmes, aber wir öffneten uns nicht mehr vollkommen, sondern spielten zum Teil Rollen. Wir sprachen über uns, über die Lücke in unserem Leben, doch wir hielten uns auch zurück, um der anderen nicht zu viel zuzumuten. In dieser Blase war alles so glatt wie möglich, damit wir weiter funktionierten. Aber wir wurden auch zu Fremden. Und ich hatte die Stille im Park gebraucht, um festzustellen, wie einsam ich wirklich war.

Ich riss mich von dem Gedanken los, schloss das Rad an einem Metallpfeiler an und hielt auf den Wald zu. An einer Stelle leuchtete etwas zwischen den Bäumen auf, und trotz allem musste ich grinsen. Ich konnte nur schätzen, wie oft sich Sandover von der Polizei etwas über Feuer an öffentlichen Orten hatte anhören müssen, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Stahltonne zu benutzen. Bisher hatte er nichts abgefackelt, und Vander hatte mir damals erzählt, dass viele ein Auge zudrückten. Oder zwei. Die Beamten kannten ihn, und ich wusste von Vander, dass sie ihn manchmal für eine Nacht mitnahmen, damit er eine warme Mahlzeit bekam, da er bis auf wenige Male im Jahr, wenn es einfach zu kalt wurde, auf Notunterkünfte oder andere Angebote verzichtete.

Ich erreichte die Waldgrenze, wählte den überwucherten Weg, der nach links abzweigte, und folgte dem rötlichen Schimmer. Dabei hielt ich den Boden im Auge, entdeckte einen dünnen Ast neben dem Weg und trat so fest ich konnte darauf. Ich wollte Sandover nicht erschrecken und zudem verhindern, dass er mich nicht sofort erkannte und mit einem Stock in der Hand begrüßte.

Beides war bereits vorgekommen.

Es funktionierte: Er stand neben der Tonne unter einem hohen, aber dichten Dach aus Rotbuchen, hielt die Hände darüber und blickte mir entgegen. Sandover hatte schon auf den Straßen von Cardiff gelebt, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war. Damals hatte er mich mit seinem wilden braunen Haar, dem unrasierten Kinn und den mehreren Lagen Klamotten an einen Schiffbrüchigen aus einem Film erinnert. An einen Mann, der sich mit jedem Tag auf seiner Insel weiter von der Zivilisation entfernte, aber coole Schnitzereien aus Kokosnüssen herstellen konnte.

Ich hatte ihm als Kind manchmal Geld zugesteckt, das ich von Mum erbettelt hatte; heute kaufte ich ihm hin und wieder etwas zu essen. Er hatte einen scharfen Verstand, und ich mochte unsere Gespräche. Auch wenn sich unsere Situationen nicht vergleichen ließen, waren wir beide Außenseiter.

Mittlerweile wusste ich, dass er durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen aus der Gesellschaft gerutscht war und weder Energie noch die Absicht hatte, dorthin zurückzufinden. Ich kannte nicht seine ganze Geschichte, lediglich, dass er kurz nach dem Tod des Mannes, den er einst geliebt hatte, abgestürzt war. Getröstet hatte er sich mit zu viel Alkohol, bis er erst seine Anstellung und dann nach und nach alles andere verloren hatte. Seitdem lebte er überall und nirgends in Cardiff. Er kannte sich in der Natur aus und wusste, was man essen konnte und was nicht.

»Kleine Gwen … Was treibt dich in der Dämmerung hierher?«

Sein Bart war gewachsen, seitdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, ebenso die von grauen Strähnen durchzogenen Haare, sodass sein Kopf riesig wirkte. Hin und wieder machte er sich die Mühe, beides zu kürzen. Er trug fingerlose Wollhandschuhe an den Händen, die Löcher aufwiesen. Ich erschauerte bei dem Gedanken, dass er die Nächte draußen verbrachte. Er hatte sich weiter hinten im Wald einen Unterstand gezimmert, der aber nur den Wind und nicht die Kälte abhielt.

Ich zeigte ihm die Tüte, die ich unterwegs besorgt hatte. Darauf, ihm einen Tee oder Kaffee mitzubringen, verzichtete ich, seitdem er mir die braune Brühe einmal fast ins Gesicht gespuckt und danach über den Industriemist gewettert hatte. Neben der Feuertonne stand ein verbeulter Topf, in dem irgendwas in dampfendem Wasser schwamm. Zumindest um Sandover musste ich mir keine Sorgen machen. Vielleicht war ich auch deshalb hier.

»Das treibt mich her.« Die Tüte raschelte. »Und die Neugier darauf, wie es mit deinen Umbauarbeiten vorangeht.«

Einige Tage vor Vanders Tod war er an seiner provisorischen Hütte gestolpert und hatte eine der maroden Wände eingerissen. Er hatte sich darüber amüsiert, während ich ihm Holzsplitter aus Wange und Hals gezupft hatte. Die Schatten auf seiner Haut waren noch immer da. Auch jetzt lachte er sein raues Lachen, das so klang, als hätte seine Kehle zu wenig Übung, um die Laute glatt zu schleifen.

Er fing die Tüte mit einer geübten Bewegung, nickte mir zu, zog ein Sandwich heraus und biss ab.

»Hab das von deinem Bruder gehört«, nuschelte er. Mehr nicht. Keine Beileidsbekundung, keine Frage, wie es mir oder meiner Familie ging. Ich atmete auf und schwieg, während Sandover aß. Er kaute jeden Bissen langsam und lange. »Du haust dann wohl bald wieder ab.«

Ich zuckte die Schultern und fragte mich, ob er Bomberjacke kannte. Wenn man am Rande der Gesellschaft lebte, hatte man oft Einblicke in Dinge, die anderen verborgen blieben. Aber obwohl ich Sandover zumindest indirekt auf mein besonderes Problem hatte ansprechen wollen, tat ich es nicht. Weil Vander es weit mehr verdient hatte als Bomberjacke, dass man über ihn redete. »Sieht so aus, ja.«

Sobald die Sache mit dem Geld geklärt ist.

Wir starrten ins Feuer, und ich dachte nach. Hier draußen schossen mir all die Fragen und Bilder durch den Kopf, für die bislang kein Platz gewesen war.

»Ich komme nicht damit klar, dass er nun in der Erde liegt«, platzte ich nach einer Weile heraus. Auf einmal waren sie da, die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte, weil sie mich verletzlich machten, und das durfte ich nicht sein. Im Wald mit Sandover war das etwas anderes, nichtsdestotrotz ungewohnt, und ich wusste nicht, was mich wütender machte: dass ich weinte oder mich dafür schämte.

In meinem Bauch zog sich etwas zusammen und peitschte dann durch meinen gesamten Körper, und es dauerte, bis mein Schluchzen leiser wurde. »Mum wollte keine Einäscherung«, flüsterte ich, als könnte ich meinen kleinen Zusammenbruch damit erklären.

Sandover pulte einen Krümel aus dem Mundwinkel und betrachtete ihn, ehe er den Finger ableckte.

»Dein Bruder ist eine Welt weiter gewandert. Nach Annwyn.«

Ich wischte mir über die Wangen und hob eine Augenbraue, um ihm zu sagen, was ich davon hielt. Zwar hatte ich keinen Schimmer, was genau ich über den Tod glauben sollte, aber das klang nach Unsinn.

Sein vom Feuer gerötetes Gesicht verzog sich. Vielleicht ein Grinsen. »Du musst nicht dran glauben. Es ändert nichts.«

Ich musterte ihn nachdenklich. Sandover würde mir nicht erzählen, dass alles gut werden würde, damit ich mich besser fühlte – denn gerade er wusste, dass Dinge manchmal schlecht endeten. Er war offensichtlich von einem Leben nach dem Tod überzeugt, und ich grübelte, ob das eine beruhigende Vorstellung war. Wie würde die Existenz dann wohl ablaufen? Saßen die Verstorbenen herum, lachten und waren glücklich? Gab es eine Hölle für Menschen wie Vanders Mörder oder Bomberjacke? Vergaß man sein vorheriges Leben?

Ich schüttelte mich bei der Vorstellung, wie ich mit irgendwelchen Idioten in seliger Eintracht zusammensaß, mit denen ich jetzt nichts zu tun haben wollte. Allerdings kannte ich mich mit der walisischen Mythologie wenig aus. Ich glaubte mich zu erinnern, dass die Verstorbenen in der Nachwelt angeblich glücklich waren, und es gab einen Herrscher, der gern auf die Jagd ging.

Als ich den Kopf hob, begegnete mir Sandovers Blick. Wissend. »Ich hab dich zum Nachdenken gebracht.«

»Schon, ja.« Ich zögerte. »Wie stellst du dir das Totenreich vor?« Er schwieg, aber sein Blick unter den wulstigen Augenbrauen machte etwas mit mir, lockte die Worte hervor, die gerade noch Hoffnungen gewesen waren. »Glaubst du, es ist schön dort und alle feiern eine endlose Party zusammen? Und dass es einen Sternenhimmel gibt, so wie hier? Erinnert man sich an die Menschen, die man zurückgelassen hat?« Trotz allem klang ich zynisch.

Sandover starrte mich weiter an, als wollte er herausfinden, ob ich das wirklich wissen wollte. »Ich kann dir sagen, wie die Nachwelt aussieht, ich hab sie mit eigenen Augen gesehen. Ich war dort.« Etwas geschah mit seinen Augen – sie glänzten, als würde er so viel mehr sehen als ich. »Wenn man stirbt, erwacht man in einem Garten unter einem Himmel, schwarz wie die längste Nacht, aber schöner als alles, was du je gesehen hast. Wenn du die Gärten verlässt, dann wartet er auf dich. Der Palast.« Er schloss die Augen. »Dort werden die Verstorbenen von Aran empfangen. Und dann tanzen sie.«

Meine Schultern sackten nach unten, und ich verbiss mir ein Seufzen. Das klang nach einer Geschichte, die er irgendwann im Pilzrausch erlebt hatte, und darauf hatte ich keine Lust. Also schwieg ich und starrte in die Flammen.

Als es vor mir raschelte, blickte ich wieder auf. Sandover machte sich an seinen Klamotten zu schaffen, vielmehr nestelte er an dem dicken Tuch um seinen Hals. »Es ist nicht schlimm, dass du mir nicht glaubst, Mädchen. Das würde ich an deiner Stelle auch nicht tun. Du bist in Ordnung. Gehörst ebenso wenig hierher wie ich und hast gute Ideen.« Er hob vielsagend den Rest seines Sandwiches und stopfte ihn sich in den Mund.

Es erstaunte mich nicht, dass er mich durchschaute. Vielleicht erkannten Menschen wie wir einander. Solche, die auf der Suche waren, ohne zu wissen, wonach, aber feststeckten, aus welchen Gründen auch immer. Wobei ich nicht begriff, warum er blieb. Vielleicht, um seinen Erinnerungen nah zu sein.

Sandover zog etwas unter seiner Kleidung hervor. Eine Kette. Ich erinnerte mich nicht daran, ihn schon einmal mit Schmuck gesehen zu haben, aber das war bei dem wandelnden Kleiderberg auch kaum möglich.

Es dauerte, bis er sie über den Kopf gezogen hatte. Er betrachtete sie eine Weile, dann deutete er auf mich. »Dein Halstuch.«

»Was?«

»Gib mir dein Halstuch. Meins ist nicht gewaschen.«

Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, sagte mir, dass ich den Verlust des Stücks Stoff verschmerzen konnte, und warf es ihm zu. Er legte die Kette hinein, trat um die Feuertonne herum und reichte sie mir.

»Berühr sie nicht.«

»Warum das?« Er antwortete nicht, also starrte ich auf den Anhänger. Er war detailreich gearbeitet. Der dunkle Stein in der Mitte war glatt und glänzte, als hätte man ihn frisch poliert. Um ihn herum spann sich eine Silberfassung aus zahlreichen Fäden, Schnörkeln und Rundungen. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen.

»Was ist das?« Fasziniert hielt ich den Anhänger näher an die Flammen. Sie spiegelten sich auf der Silberfassung, aber der Stein im Innern blieb tiefschwarz.

Sandover rieb sich über den Bart. »Er stammt aus dem Palast. Hab ihn bekommen, als ich dort war. Von Aran höchstpersönlich. Ich war tot, kurz nur, dann hat mich das Leben zurückgerissen, um weiter mit mir zu spielen. Mein Herz hat wieder geschlagen.« Er berührte seine Brust. »Mit dem Siegel hat mich Arans Torwächterin vorbeigelassen. Es ist ein Passierschein.« Bei den letzten Worten war seine Stimme noch rauer geworden, leiser, als vertraute er mir ein Geheimnis an.

Ich blickte auf. »Torwächterin?«

Sein Lächeln verriet, dass er wusste, wie wenig ich ihm glaubte. Was hatte er auch erwartet?

Ich dachte an Vander und ertappte mich dabei, mir diesen Palast vorzustellen. Groß, pompös, mit vielen Zinnen und Erkern, aber auch skurril, weil dort keine schicken Höflinge, sondern Tote herumliefen. Es war albern. Vor allem würde sich mein Bruder von Dingen wie Reichtum ohnehin nicht beeindrucken lassen, sondern Aran fragen, ob er irgendwo in gut gelaunter Runde ein Bier trinken könne. Noch einmal betrachtete ich das Amulett. Die Vorstellung, dass ich einen Gegenstand aus dem Totenreich in den Händen hielt, war absurd. Ich wartete, dass Sandover mit seiner Geschichte fortfuhr, und hob den Kopf, als er schwieg.

Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Da war Milde, aber auch Verständnis.

»Die Frau mit dem Totengesicht bewacht den Palast«, sagte er.

Okay, ich würde mitspielen. Zumindest für eine Weile. »Wozu braucht der Totenherrscher einen Palast? Das erscheint mir doch recht irdisch.« Warum besagter Palast bewacht werden musste, war mir ebenfalls schleierhaft.

Ein listiges Blinzeln war die erste Antwort, die zweite ein leises Lachen. »Warum sollte er keinen haben? Was stellst du dir denn vor, wo er die Verstorbenen empfängt? In einem Schuppen?«

»Also sitzt er in seinem Palast und … was? Begrüßt jeden einzeln? Das stelle ich mir äußerst langweilig vor.«

»Das Totenreich spielt nach anderen Regeln als unsere Welt.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Wir kennen nur einen winzigen Teil der Magie der Götter. Bin sicher, es gehört viel dazu, ein Reich zu beschützen. Denn es ist groß, Mädchen. So groß, dass wir es uns nicht vorstellen können.«

Beschützen.

Der Gedanke hatte etwas Tröstliches, und vermutlich glaubten Menschen deshalb daran.

Vor einigen Wochen wäre ich jetzt gegangen. Aber diese Geschichte, so seltsam sie auch war, band mich an Vander. Zwar glaubte ich Sandover nicht, doch er bot mir die Möglichkeit, mir einzureden, dass es meinem Bruder gut ging.

»Warum sollte das so kompliziert sein?« Ich hob das Halstuch mit dem Amulett. »Warum sagt Aran seiner Torwächterin nicht einfach, dass man wieder gehen darf?«

Sandover verengte die Augen. »Es ist nicht an ihm, jemanden zurückzubegleiten, dessen Herz plötzlich wieder schlägt.«

»Hm. Und er hatte nichts dagegen, dass du das hier mit nach Cardiff genommen hast und von deinem kleinen Ausflug erzählst?« Ich erwischte mich dabei, auf den schwarzen Stein zu starren. Diese endlose Tiefe, in der sich nicht einmal das Feuer spiegeln wollte, machte mich unruhig.

Sandovers Antwort war ein fast lautloses Lachen. »Hätte sie an den Palasttoren zurückgeben sollen, die kleine Kostbarkeit, aber ich wusste zu viel. Damit hatte ich mich so viele Jahre beschäftigt, weißt du? Unsere Geschichten. Unsere Herkunft. All die Mythen.« Er deutete auf den Boden zu seinen Füßen. Redete er von seiner Zeit als Lehrer? Hatte er den Kids damals von Göttern und alten Legenden erzählt? »Seit dem Moment, in dem ich in den Gärten erwachte, hab ich es immer wieder vor mich hin gemurmelt, weil ich Angst hatte, alles zu vergessen.«

»Alles?«

Er starrte mich an. »Wer ich bin. Und was ich glaube. Hab mich nicht von dem Glitter ablenken lassen. Oder davon, dass ich tot war. Spielte damals eh keine Rolle für mich.« Er winkte ab. »Trotzdem, irgendwas hat mich zurückgezogen. Hab einen Moment abgewartet, in dem das Gedränge groß und die Wächterin beschäftigt war. Damals war ich jünger und schneller. Ich bin davongelaufen, als Aran mir das Amulett überreicht und ehe er mir die Erinnerung genommen hat. Bin einfach zwischen den anderen verschwunden und habe sie nicht gerade höflich angerempelt. Und als ich zurückgekommen bin, war hier erst eine Stunde vergangen.« Er trat zum Feuer und hielt die Hände darüber. »Daher hab ich noch alles. Mein Wissen. Und meinen hübschen Passierschein. Ich wollte ihn behalten, weißt du? Wenn Aran mich noch einmal zu sich holt, hätte ich eine zweite Chance. Auch wenn ich sie vielleicht gar nicht will«, fügte er nachdenklich an.

Die Worte hallten in meinem Kopf wider. Zweite Chancen waren nicht gerade mein Spezialgebiet. »Du glaubst also, du kannst dem Tod entkommen?«

»Das war mein Plan, ja. Mittlerweile denk ich anders darüber.« Er breitete die Arme aus. »Ich hab lang gelebt, und heute bin ich dankbar für jeden Tag. Aber unser Dasein hier ist endlich, und das ist gut so, da sonst vieles an Bedeutung verliert, und dann wird es leer. Hier.« Er legte eine Hand auf seinen Bauch. »Wenn ich noch einmal Arans Hallen betrete, werd ich dortbleiben und ihm das Amulett zurückgeben.«

Aus einem unerfindlichen Grund machten seine Worte mich traurig. Vielleicht, weil er mir so unverblümt sagte, dass er den Tod beim nächsten Mal akzeptieren würde. Oder weil ich mir wünschte, dass all diese Dinge real wären und mein Bruder nicht ganz gegangen war. Aber im Grunde wusste ich, dass Sandover mir ein Märchen erzählt hatte. Wenn auch ein schönes.

In der Ferne setzte ein Grollen ein, und die Baumwipfel über uns rauschten.

»Ich mache mich auf den Weg«, sagte ich, nahm das Amulett, um es Sandover zurückzugeben – und ließ es augenblicklich wieder los. Meinen Schrei konnte ich nur unterdrücken, weil ich die Zähne zusammenbiss. Ungläubig starrte ich auf das Metall.

Es war so kalt, dass sich die kurze Berührung angefühlt hatte, als würde sich etwas durch meine Haut fressen. »Was zum Teufel …?« Der Anhänger hatte nicht einfach nur die Außentemperatur angenommen. Selbst wenn ich ihn in ein Tiefkühlfach gelegt hätte, wäre der Effekt nicht so intensiv gewesen.

Ich betrachtete meine Fingerspitzen. Sie pochten, nur war nichts zu sehen. Unsicher rieb ich sie aneinander.

Sandover griff seelenruhig nach der Kette, hängte sie sich wieder um den Hals und ließ sie verschwinden. Dabei achtete er darauf, dass der Anhänger seine Haut nicht berührte. Vermutlich trug er ihn zwischen mehreren Oberteilen. »Hab dir gesagt, dass du ihn besser nicht anfasst, Mädchen«, sagte er leise. »Deinem Bruder geht es gut. Wenn du mir nicht viel von dem glaubst, was ich dir heute erzählt habe, dann glaub mir zumindest das.«

Ich war noch immer durcheinander wegen der Sache mit dem Anhänger, aber vermutlich hatte Sandover mich mit seiner Geschichte einfach nur verrückt gemacht, und meine strapazierten Nerven hatten den Rest erledigt.

»Also dann«, sagte ich und räusperte mich, weil ich auf einmal klang, als wäre ich sechs Jahre alt. »Hast du etwas Trockenes für heute Nacht?«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Und denk nicht zu viel darüber nach, was ich dir erzählt habe. Das ist meine Geschichte. Deine ist eine andere. Und die deines Bruders auch.«

Ich hatte keine Ahnung, was er mir damit sagen wollte, machte mich aber auf den Weg – und wunderte mich darüber, wie schwer sich meine Beine anfühlten, obwohl ich lediglich mich selbst zurück nach Hause schleppte.

3

Den Folgetag brachte ich hinter mich, da ich weitgehend funktionierte – bis ich nach der Arbeit in Maris Straße einbog und eine leider mir bekannte Gestalt entdeckte. Mir wurde heiß, meine Hände waren dagegen urplötzlich eiskalt, sodass ich Probleme hatte, vom Rad zu steigen.

Bomberjacke stieß sich von der Wand ab und kam auf mich zu, bis er nur zwei Schritte von mir entfernt war, die Hände in den Hosentaschen versenkt und das Haar fast so ölig wie sein Grinsen.

»Hey«, sagte er, als wären wir alte Freunde. »Ich wollte dich nur an unseren Deal erinnern, Gwen Clarke.« Den unschuldigen Tonfall hatte er nicht drauf. Womöglich, weil er selten mit Unschuld zu tun hatte. Ich warf einen raschen Blick zum Fenster, doch von Mari war nichts zu sehen. In meinem Kopf herrschte schlagartig Chaos, und ich erinnerte mich nicht an ihren Dienstplan. Sie durfte ihm nicht begegnen.

Ich hatte ihr die ganze Geschichte verschwiegen, weil ich gehofft hatte, das Problem irgendwie zu lösen. Mari konnte nach ihrer Trennung und Vanders Tod keine weiteren schlimmen Nachrichten gebrauchen. Ich war ihre große Schwester, und jetzt war es meine Aufgabe, Dunkles und Düsteres von ihr fernzuhalten. Und Mum war ohnehin eine völlig andere Geschichte.

»Die Frist ist noch nicht vorbei«, stieß ich hervor und sah mich um, doch abgesehen von uns war die Straße leer, lediglich am anderen Ende kramte jemand im Kofferraum seines Wagens herum.

Bomberjacke trug dieselben Klamotten wie auf dem Friedhof und kaute auf einem Stück Trockenfleisch herum. Der Geruch verursachte mir Übelkeit.

»Das stimmt«, sagte er nachdenklich. »Ich will nur sichergehen, dass du die Sache auch ernst nimmst.« Er sah hoch, direkt zu Maris Schlafzimmerfenster. »Sonst hätte das unangenehme Folgen. Für mich, für dich«, er deutete zum Fenster, »für deine süße kleine Schwester. Stell dir vor, wie erschrocken die Nachbarn wären, wenn die jüngste Clarke plötzlich blutend vor ihnen steht.« Er presste beide Hände auf seinen Bauch, krümmte sich und verzog in gespieltem Schmerz das Gesicht, ehe er sich wieder aufrichtete. Erneut grinsend.

Ich musste meine Hände hinter dem Rücken verschränken, weil sie plötzlich so sehr zitterten, dass ich sie kaum unter Kontrolle bekam. Liebend gern hätte ich sie um seinen Hals gelegt. Ich spürte regelrecht, wie sich Wut in den Schock mischte und durch meine Adern peitschte. Doch ich spielte sein Spiel mit, sagte ihm, dass ich große Angst um meine Familie hätte – was der Wahrheit entsprach – und dass ich verstand, wie ernst er es meinte, aber noch einige Tage hätte und auch bräuchte, um die Summe zusammenzubekommen, da ich mich in Gesprächen mit der Bank befand. Zuletzt bat ich ihn, mich zu kontaktieren und niemanden sonst – und betonte, dass weder meine Schwester noch meine Mutter das Geld auch nur ansatzweise zusammenbekämen.

Mein Ton schien ihm zu gefallen. Dass er mir glaubte, einfach so dreißigtausend Pfund aus dem Ärmel schütteln zu können, war eine andere Sache, doch ich hatte ihm die zweite Währung geboten, mit der Leute wie er arbeiteten: Furcht.

Nachdem ich allein war, brauchte ich ein Glas Wein, um mich zu beruhigen. Ich stand am Fenster, ließ die Straße nicht aus den Augen und wartete auf Mari. Ich musste verhindern, dass sie Bomberjacke begegnete, aber vor allem brauchte ich eine Lösung. Gut möglich, dass es eine schlechte Idee war, alles für mich zu behalten, doch ich konnte an nichts anderes denken als daran, meine Familie zu schützen. Ich übernahm nun Vanders Job. Ich war verantwortlich.

Diese Kerle würden nicht lockerlassen, das lag auf der Hand, und allein die Vorstellung, dass einer von ihnen ihr auflauern könnte, sorgte für Übelkeit. Mir blieb nichts anderes übrig, ich würde mir irgendeine wilde Geschichte ausdenken und meine Schwester anpumpen müssen. Natürlich hatte sie nicht so viel Geld, also würde ich mit Bomberjacke und seiner Crew kleinere Raten vereinbaren. Meinen guten Willen zeigen, etwas in der Art.

Und Mum … ich biss mir auf die Zunge. Mum war raus, wenn es um Geld ging. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass ein gemeinsames Konto mit Sean eine dumme Idee war. Wir sprachen nicht darüber, aber ich war sicher, dass sie für ihn bis heute abbezahlte.

Ich atmete auf, als Maris klappriger Wagen endlich in die Straße einbog, und verließ meinen Posten erst, als ich hörte, wie der Schlüssel in der Tür herumgedreht wurde.

Kurz darauf drang ihre fröhliche Stimme durch die Räume. »Sorry, ich bin zu spät! Ist das Essen schon kalt?«

Zwei, drei Sekunden lang hatte ich Probleme, in die Normalität zurückzukehren, in die Welt aus Arbeit, gemeinsamen Mahlzeiten und Alltäglichkeit. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass ich versprochen hatte zu kochen, und ich warf einen Blick auf die Uhr. Seit meiner Ankunft waren vier Stunden vergangen, und ich hatte nichts getan, außer am Fenster zu stehen und zu keiner Lösung zu kommen. Verdammter Mist.

Ich rieb mir über das Gesicht, probte ein Lächeln und ging Mari entgegen, die in der Diele Jacke und Tasche aufhängte. »Hey.«

Sie drehte sich um und musterte mich erstaunt. »Ist alles okay?«

»Nicht wirklich. Es gab … Probleme. Auf der Arbeit. Ich hab deshalb nicht gekocht, ich bestell uns schnell was.«

Maris Augen weiteten sich. »Bitte sag jetzt nicht, dass du deinen Job verloren hast.« Ihre Stimme klang höher als sonst. Angespannter.

»Nein. Wie kommst du darauf?«

Mari schien zu überlegen, dann holte sie Luft. »Wir müssen reden, Gwen. Eigentlich habe ich gedacht, das Problem löst sich von allein, aber es sieht nicht danach aus.«

Noch ein Problem. Als hätten wir momentan nicht genug davon. »Okay?«

»Es geht um Mum.«

»Was ist mit ihr?«

Sie runzelte die Stirn, und erst da bemerkte ich, wie atemlos ich geklungen hatte. Ja, Mum und ich hatten uns nur wenig zu sagen, das bedeutete jedoch nicht, dass ich sie nicht liebte. Sie wollte es bloß nicht hören. »Nichts. Genau das ist es ja. Mum verlässt das Bett kaum noch. Sie geht ins Bad und holt sich was zu essen, aber das war es dann. Ich komme so spät, weil ich noch bei ihr vorbeigesehen habe.«

»Und ihr Job? Hat sie Urlaub?«

»Den ist sie los. Sie ist eine Woche lang nicht aufgetaucht, ohne sich abzumelden.«

Darum hatte sie mich nach meiner eigenen Arbeit gefragt! Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Warum hatte ich das nicht gewusst? Warum hatte Mum mich nicht angerufen?