Der Protestantismus - Friedrich Wilhelm Graf - E-Book

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Friedrich Wilhelm Graf

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Beschreibung

Der Protestantismus hat Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in Europa und Nordamerika zutiefst geprägt. Friedrich Wilhelm Graf bietet einen anschaulichen Überblick über die Geschichte des Protestantismus von Luther bis heute. Er fragt nach seiner kulturellen Bedeutung und beschreibt die großen Kirchenfamilien von den Lutheranern, die inzwischen nur noch eine kleine Minderheit darstellen, über die Baptisten und Methodisten bis hin zu den schnell wachsenden Pfingstkirchen. Ein Ausblick auf die Zukunft des Protestantischen beschließt den Band.

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Friedrich Wilhelm Graf

DERPROTESTANTISMUS

Geschichte und Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 

 

Zum Buch

Friedrich Wilhelm Graf bietet einen ebenso knappen wie anschaulichen Überblick über die Geschichte des Protestantismus und beschreibt die großen Konfessionsfamilien von den Lutheranern über die Anglikaner und Methodisten bis hin zu den Pfingstlern. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Frage, wie der Protestantismus in Neuzeit und Moderne seit 1800 weit über die Kirchen- und Theologiegeschichte hinaus Kultur, Gesellschaft, Politik – und nicht zuletzt die Wirtschaft – in Europa und Nordamerika zutiefst geprägt hat. Ein Ausblick auf die Zukunft des Protestantischen beschließt den Band.

Über den Autor

Friedrich Wilhelm Graf, geboren 1948, ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und nimmt daneben zahlreiche weitere Aufgaben wahr, u.a. als Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenpräsident der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft. Als erster Theologe wurde er 1999 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Die Wiederkehr der Götter» (Paperback 2007), «Moses Vermächtnis» (3. Aufl. 2006), «Missbrauchte Götter» (2009) sowie «Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird» (2014).

Inhalt

1. Einleitung

Was ist protestantisch?

Was heißt «Protestantismus»?

2. Eine Konfession geht um die Welt

Mitgliederzahlen und Wachstumsraten

Volkskirchen und Minderheiten in Europa

Protestantischer Pluralismus in der Neuen Welt

3. Die Konfessionsfamilien

Lutheraner

Reformierte

Anglikaner

Baptisten

Methodisten

Pfingstler

4. Protestantismus und Kultur

Die Suche nach dem «Wesen» des Protestantischen

Vom Rechtsbegriff zum Kulturkonzept

Die Erfindung der Innerlichkeit

Die Aufwertung der Individualität

Die religiöse Verweltlichung der Welt

Die Moralisierung des Politischen

Der Protestantismus als Bildungsmacht

5. Die Zukunft des Protestantischen

Nachweis der Zitate

Literaturhinweise

Personenregister

1. Einleitung

Was ist protestantisch?

«Protestantismus» ist ein Kollektivsingular für all jene christlichen Kirchen, Gruppen und Bewegungen, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind und sich selbst als Erben des reformatorischen Protests verstehen. Allerdings: Den Protestantismus gibt es nicht. Schon die reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts waren durch große Vielfalt gekennzeichnet. Die Historiker streiten inzwischen darüber, ob es sinnvoll ist, von der Reformation zu sprechen, und bevorzugen vielfach die Rede von den Reformationen des 16. Jahrhunderts. Denn die großen Reformatoren Martin Luther, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli und Philipp Melanchthon waren in Theologie, Frömmigkeitspraxis, christlicher Ethik und politischer Grundhaltung keineswegs einer Meinung. In den komplexen Wirkungsgeschichten ihres Protestes gegen die spätmittelalterliche Papstkirche hat sich die theologische, religiöse und ethische Vielfalt des Protestantischen später immer neu verstärkt. Die bald fünfhundertjährige Geschichte der Protestantismen ist durch bleibende Bekenntnisunterschiede zwischen Lutheranern, Reformierten, Anglikanern, Baptisten und Angehörigen der vielen protestantischen Denominationen, Freikirchen und Sekten geprägt. Für die Geschichte der Protestantismen kennzeichnend sind darüber hinaus Erneuerungs- und Reformprogramme, wie sie im Pietismus, im Methodismus und in den diversen Erweckungsbewegungen bzw. Revivals und Awakenings wirkmächtig Gestalt gewannen und teils die religionskulturelle Vielfalt in den einzelnen protestantischen Konfessionskirchen verstärkten, teils neue evangelische Kirchen oder kirchliche Gruppen entstehen ließen. Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bewirkten die in den großen protestantischen Kirchen heftig geführten Auseinandersetzungen um das Verhältnis des christlichen Glaubens zur Aufklärung und speziell zu modernen politisch-sozialen Freiheitsidealen schließlich neue interne Differenzierungsprozesse. Mit der Entstehung des modernen Bürgertums formierte sich, gerade auch in Deutschland, ein bürgerlich-liberaler Kulturprotestantismus, der zwischen überkommenen Glaubenswahrheiten und modernem Bildungskult vermitteln und einen christlichen Humanismus zur Leitkultur der Gesellschaft machen wollte. Im entschiedenen Kampf gegen die politischen Revolutionen seit 1789, die Auflösung der alten feudal-ständischen Gemeinwesen und die äußerst krisenhafte Durchsetzung der modernen industriekapitalistischen Produktionsweise entstanden in Europa um 1800 aber auch konservative Moralprotestantismen, für die der christliche Glaube notwendig an alte Gemeinschaftswerte gebunden war. Die weitere soziale Differenzierung der Gesellschaft in Klassen und Schichten führte schließlich dazu, dass sich innerhalb der großen Kirchen neue protestantische Sozialmilieus und Lebenswelten etablierten. Gerade «kleinen Leuten» wie Arbeitern, Handwerkern, Tagelöhnern und Kleinbauern verhalf ihr intensiv gelebter christlicher Glaube dazu, die vielen Risiken zu bewältigen, mit denen sie angesichts des schnellen sozialen Wandels konfrontiert waren. Noch deutlichere Züge eines Übergangsphänomens zeigen im Rückblick die diversen Bürgerprotestantismen, die sich in vielen europäischen Gesellschaften gleichfalls im 19. Jahrhundert formierten. In schleichenden Prozessen sozialstruktureller Entbürgerlichung und der «kulturellen Enteignung» (Dieter Langewiesche) ihrer Trägerschicht lösten sie sich im Verlauf weniger Generationen allmählich auf. Ähnliches gilt für die protestantischen Adelswelten Europas, auch wenn hier, allen Erfahrungen des Abbaus alter ständischer Privilegien und demokratischer Nivellierung zum Trotz, vielfach noch immer ein gotteselitärer Protestantismus mit stilvollem Distinktionsbewusstsein gepflegt wird.

Die Erscheinungsformen des Protestantischen sind seit 1800 zunehmend bunt, vielfältig und widersprüchlich geworden. Der Oberbegriff «Protestantismus» umfasst heute unterschiedliche Konfessionskirchen und Denominationen mit je besonderen Bekenntnistraditionen und theologischen Überlieferungen. Er schließt äußerst heterogene religiöse Lebenswelten ein und stellt sich auch in ethischen Fragen und politischen Bezügen als überaus disparat dar.

Protestanten waren nicht nur die Meisterdenker der deutschen Philosophie wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Protestanten prägten entscheidend auch den klassischen nationalen Literaturkanon der Deutschen: Von Gryphius über Lessing, Wieland, Mörike bis hin zu Hermann Hesse, Thomas Mann und Gottfried Benn haben große Autoren als Pfarrerssöhne oder skeptische Erben protestantischer Milieutraditionen ein Dichterleben lang immer auch die Wirkungsgeschichten einer spezifischen religiösen Sozialisation fortgeschrieben. Protestantische Profile konnten staatsnahe Züge tragen oder als subversiv denunziert werden, protestantische Wege im 20. Jahrhundert, wie Martin Niemöllers Beispiel zeigt, «vom U-Boot zur Kanzel» und von dort ins KZ führen, ehe sie im Amtssitz des Kirchenpräsidenten und auf den Podien der Friedensbewegung endeten. Machtpolitiker, Magnaten und Märtyrer lebten auf je eigene Weise ihre protestantischen Biographien: Dietrich Bonhoeffer und Wilhelm II., Otto von Bismarck und Dorothee Sölle, Rudi Dutschke und Theodor Heuss, aber auch – mit Ausnahme Heinrich Lübkes und Christian Wulffs – alle Bundespräsidenten seither, bis zum bibelfest-frommen Johannes Rau, zu Horst Köhler und dem Rostocker Pfarrer Joachim Gauck. Protestanten sind die Pfarrerstochter Angela Merkel und der Ordnungsexperte Wolfgang Schäuble, der Liberale Otto Graf Lambsdorff und der Verantwortungsethiker Helmut Schmidt, die ökosensible Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt und der christsoziale Ordnungsexperte Günther Beckstein – was ist das protestantisch Verbindende, Gemeinsame dieser Christenmenschen?

In den USA präsentieren sich protestantische Temperamente und Geistesfärbungen ähnlich facettenreich irisierend – und auf den ersten Blick irritierend widersprüchlich: Billy Graham und Martin Luther King verstanden sich ebenso als Protestanten wie George Bush und Jimmy Carter, Elvis Presley und Johnny Cash, ein «born-again Christian» mit einer pfingstlerischen Mutter, und der Raumfahrer Buzz Aldrin, ein Episcopalian. Mit grellen Schreihalspredigten sammeln Fernsehprediger wie Pat Robertson und Jerry Falwell viel Geld ein bei den Frommen einer hochorganisierten Christian Right, die die Bibel ganz wörtlich, buchstabengetreu zu lesen verlangt und in Mega Churches zum heiligen Kulturkampf gegen den verhassten liberalen Säkularismus aufruft: gegen die Legalisierung von same sex partnerships oder ein Recht auf Abtreibung, für Schulgebet und die Ablösung der Darwin’schen Evolutionslehre durch einen biblizistisch inspirierten Kreationismus im Biologieunterricht staatlicher Schulen. Aber in den USA, einem Land mit knapp 150 Millionen Protestanten, sind protestantische Überlieferungen zugleich so tief und fest in die symbolische Ordnung von God’s own country und die Vergesellschaftungsmuster der civil society integriert, dass etwa das Social Gospel, eine im späten 19. Jahrhundert entstandene Reformbewegung, die evangelikale Frömmigkeit in «sozialer Solidarität» mit Arbeitern und anderen Marginalisierten konkretisiert, tiefgreifenden Einfluss auf die politischen Ideale der Demokratischen Partei ausüben konnte.

Rigorose calvinistische Sittenwächter mit asketisch scharfen, von schmalen Lippen und harten Blicken geprägten Gesichtern sind ebenso Protestanten wie ekstatisch tanzende schwarze Gospel-Sänger in New York City oder lutherische Bauern im Süden Brasiliens, die im Schöpfergott primär den Garanten von Zucht und Ordnung sehen. Schwedische und finnische lutherische Pfarrer, die in alten katholischen Messgewändern Hochämter singend zelebrieren, markieren den einen, bewusst romnahen Pol des Protestantischen – Waldenser mit ihrem radikalen «Bergpredigtchristentum» in den Tälern Piemonts, aber seit den Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts auch am Rio de la Plata, den dezidiert hierarchiekritischen, basisgemeindlichen Gegenpol. Protestanten feiern ihre Gottesdienste in byzantisierend reich geschmückten wilhelminischen Kathedralen wie etwa dem Berliner Dom, aber auch in ästhetisch faszinierend kargen, allein durch ein Kreuz bestimmten Gotteshäusern, aus denen frommer Furor einst bilderstürmerisch alle visuellen Fixierungen des Absoluten entfernt hat. Protestantismus ist arrogante Elitenreligion und einfacher Kleine-Leute-Glaube zugleich, abstrakte, vernunftfromme Intellektuellenreflexivität ebenso wie naives Urvertrauen in einen gnädigen Schöpfergott, der in seinem Regimente machet alles wohl. Protestantismus – das sind Johann Sebastian Bach und die Lieder Paul Gerhardts und des Pfarrerssohns Matthias Claudius, das ist aber auch anbiederndseichter Sakralpop, der selbst auf Kirchentagen nur noch peinlich wirkt. Ist es trotz solcher Vielfalt überhaupt sinnvoll, von dem Protestantismus zu reden?

Alle Protestantismen beziehen sich auf die Reformationen des 16. Jahrhunderts und die damals formulierte Fundamentalkritik an der spätmittelalterlichen katholischen Kirche. Eine starke kollektive Identität gewannen die Protestanten traditionell durch ihren konfessorischen Antikatholizismus. Im Zeitalter der ökumenischen Konsenssuche gilt die alte Konfessionspolemik als religionspolitisch inkorrekt. Gleichwohl bleiben alle Protestantismen in Theologie, Frömmigkeitskultur und Ethik durch bleibende, zum Teil sehr tiefe Gegensätze zum römischen Katholizismus geprägt. Elementare religionskulturelle wie theologische Verschiedenheit bestimmt auch das spannungsreiche Verhältnis zu den diversen östlich-orthodoxen Christentümern.

Was heißt «Protestantismus»?

Von «Protestantismus» ist im Deutschen erst seit dem 18. Jahrhundert die Rede. Auch die zahlreichen Komposita sind relativ jung, etwa die erstmals im frühen 19. Jahrhundert nachweisbaren Begriffe «Altprotestantismus», «Neuprotestantismus» und «Bildungsprotestantismus», die gegen Ende dieses Jahrhunderts geprägten Neologismen «Kulturprotestantismus», «Kirchenprotestantismus», «Sozialprotestantismus», «Moralprotestantismus», «Bildungsprotestantismus», «Nationalprotestantismus», «Weltprotestantismus» und «Staatsprotestantismus», aber auch Formeln wie «politischer Protestantismus», «polizeilicher Protestantismus», «literarischer Protestantismus», «moderner Protestantismus», «liberaler Protestantismus», «freier Protestantismus», «kirchlicher Protestantismus» und «positiver Protestantismus». All diese Prägungen spiegeln, oft als polemisch pointierte Abbreviatur komplexer Konfliktlagen, die tiefe innere Spaltung des deutschen Protestantismus in einen liberal-bürgerlichen, relativ modernitätsoffenen Kulturprotestantismus und einen konservativen, zumeist von alten Eliten und vom Kleinbürgertum getragenen neupietistischen oder lutherischkonfessionellen Kirchenprotestantismus. Sie wurden zumeist in den innerprotestantischen Kulturkämpfen seit Restaurationszeit und Vormärz lanciert, in denen das Verhältnis der reformatorischen Überlieferung zu den krisenhaften Prozessen ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Modernisierung der deutschen Gesellschaft umstritten war. Einzelne Formeln lassen sich aber bereits in den Konfessionsdebatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts nachweisen. So gebrauchte ein anonymer Übersetzer Pierre Bayles 1779 die Wendung «die neuen Protestanten»; und der in Pest lehrende katholische Germanist Leopold Alois Hoffmann sprach 1787 davon, dass «der moderne deutsche Protestantismus so intolerant wie der ehemalige» sei. Andere Komposita des Protestantismusbegriffs wie «Jungprotestantismus» wurden dagegen erst während des Ersten Weltkriegs geprägt.