Ernst Troeltsch - Friedrich Wilhelm Graf - E-Book

Ernst Troeltsch E-Book

Friedrich Wilhelm Graf

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Beschreibung

Ernst Troeltsch (1865 - 1923) ist einer jener Riesen, auf deren Schultern so viele Gelehrte stehen, dass ihr eigenes Bild unscharf wird. Der renommierte Theologe, Historiker und Troeltsch-Experte Friedrich Wilhelm Graf verleiht in seiner meisterhaft geschriebenen Biographie einem Theologen, Soziologen, liberalen Politiker und Zeitdiagnostiker scharfe Konturen, den die Frage umtrieb, wie sich Religion und Moderne – trotz aller Widerstände von beiden Seiten – in ein zeitgemäßes Verhältnis zueinander setzen lassen. Weit über Leben und Werk Ernst Troeltschs hinaus ist seine Biographie ein bestechend klarer Beitrag zu einem bis heute virulenten Problem. Als Religionssoziologe und Historiker steht Ernst Troeltsch im Schatten seines Heidelberger Freundes und Kollegen Max Weber. Konnte er als Theologe überhaupt ein «wertneutraler» Sozialwissenschaftler sein? Oder war er gar kein richtiger Theologe? Beides zusammenzubringen irritiert bis heute und war doch, wie Friedrich Wilhelm Graf zeigt, Troeltschs ureigenes Anliegen, das für ihn politische Bedeutung hatte. Troeltsch erforschte die Kulturbedeutung der Religion, um den Protestantismus aus traditionellen kirchlichen und dogmatischen Bindungen zu befreien. Nach dem Ersten Weltkrieg trat er als liberaler Politiker für die Weimarer Republik ein und rückte in seinen berühmten zeitdiagnostischen Kommentaren die Probleme der Gegenwart in einen «Welthorizont». Graf rekonstruiert die lebens- und werkgeschichtlichen Konstellationen, die den liberalen Protestanten prägten, und erhärtet damit auf brillante Weise Ernst Troeltschs Überzeugung, dass sich die eigentliche Bedeutung einer Person oder Sache erst in ihrer konsequenten Historisierung erschließt.

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Friedrich Wilhelm Graf

Ernst Troeltsch

Theologe im Welthorizont

Eine Biographie

C.H.Beck

Zum Buch

Ernst Troeltsch (1865–1923) ist einer jener Riesen, auf deren Schultern so viele Gelehrte stehen, dass ihr eigenes Bild unscharf wird. Der renommierte Theologe, Historiker und Troeltsch-Experte Friedrich Wilhelm Graf verleiht in seiner meisterhaften Biographie einem Theologen, Soziologen, liberalen Politiker und Zeitdiagnostiker scharfe Konturen, den die Frage umtrieb, wie sich Religion und Moderne – trotz aller Widerstände von beiden Seiten – in ein zeitgemäßes Verhältnis zueinander setzen lassen. Weit über Leben und Werk Ernst Troeltschs hinaus ist seine Biographie ein bestechend klarer Beitrag zu einem bis heute virulenten Problem.

Als Religionssoziologe und Historiker steht Ernst Troeltsch im Schatten seines Heidelberger Freundes und Kollegen Max Weber. Konnte er als Theologe überhaupt ein «wertneutraler» Sozialwissenschaftler sein? Oder war er gar kein richtiger Theologe? Beides – Theologie und historische Sozialwissenschaft – zusammenzubringen irritiert bis heute und war doch, wie Friedrich Wilhelm Graf zeigt, Troeltschs ureigenes Anliegen, das für ihn politische Bedeutung hatte. Troeltsch erforschte die Kulturbedeutung der Religion, um den Protestantismus aus traditionellen kirchlichen und dogmatischen Bindungen zu befreien. Nach dem Ersten Weltkrieg trat er als liberaler Politiker für die Weimarer Republik ein und rückte in seinen berühmten zeitdiagnostischen Kommentaren die Probleme der Gegenwart in einen «Welthorizont». Graf rekonstruiert die lebens- und werkgeschichtlichen Konstellationen, die den liberalen Protestanten prägten, und erhärtet damit auf brillante Weise Ernst Troeltschs Überzeugung, dass sich die eigentliche Bedeutung einer Person oder Sache erst in ihrer konsequenten Historisierung erschließt.

Über den Autor

Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er war Vorsitzender der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft und ist geschäftsführender Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. Kirchendämmerung (3. Aufl. 2013), Götter global (2014) sowie Der Protestantismus (3. Aufl. 2017).

Inhalt

Einleitung: Der Vielspältige

Reden am Sarg

Lebenswelten und Trauergemeinde

Verachtet, vergessen, aber nicht erledigt

1: Jugend in Melanchthons Reichsstadt

Familienbande: Vorfahren und Stämme

Familienleben: Der Vater und die Geschwister

Im Hause eines Arztes und Naturliebhabers

Konkurs als Katastrophe

«Immer besonders verbunden»: Die Mutter

Der Tod des Vaters

2: Lutherischer Neuhumanismus: Das Gymnasium bei St. Anna

Humane Bildung und ihre prägenden Lehrer

Pfarrer Julius Hans und sein Konfirmand

3: Die ersten Anderen: Katholische Patres und «Kinder der Welt»

«Dieser Feind»: Studium bei den Benediktinern

«Ganz kolossale Arbeit»:Vom Einjährigen zum Reserveoffizier

4: Auf dem Weg zur Wahrheit: Das Studium

Erlangen: Theologische Altertümer

In der Uttenruthia: Freiheit, Liebe, Wahrheit

Freundschaftskult und «kitzliche» Themen

Berlin: Der Genuss des immensen wissenschaftlichen Lebens

Göttingen: Ritschls Blickverengung und ein akademischer Preis

Lektüren: Hass auf Hegel, Einkehr bei Homer

«Theoretisch Skeptiker, praktisch ein gewöhnlicher Frommer»

5: Vikar im Glaspalast

Prüfungen: Dem «Vorzüglich» nahe bei mangelnder Einfalt

«Freier Theologe»: Predigerseminar und Vikariat

Moderne Kunst, das Leben und die Religion

6: Die «Kleine Göttinger Fakultät»

Stress für alle: Privatdozenten

Theologische Ideengeschichte:Die Dissertation über Johann Gerhard

Weihestunden für potentielle Gefährder

«Revolution der Geister» und akademisches Abseits

Vorzüglich mit erheblichen Bedenken:Die Anstellungsprüfung

Pietistische Sprache: Troeltschs Examenspredigten

7: Luthers Glaubenswacht am Rhein: Extra-Ordinarius in Bonn

Auf Betreiben des Ministeriums

Christliche Weltanschauung und moderne Ideale

Jenseits der Theologie:Neue Netzwerke und Freundschaften

Grafes Gastfreundschaft und die Bonner Theologen

Zwangloser Gemeingeist: Die Schweiz-Reise

8: Seelische Revolutionen: Jungordinarius in Heidelberg

«Kirchhofsfrieden»: Die Theologische Fakultät

Exzentrisch, wohlhabend, geistreich: Die Freunde

«Ihr Mann ist mir ein geistiges Schicksal»:Marianne und Max Weber

Vorlesungen und Fidulitäten

Utopie vom kirchenfreien Christentum:Die Rothe-Feier

Deutsches Blut und deutscher Geist:Bei den Siebenbürger Sachsen

«Hemmnisse und Schwierigkeiten»: Die Ehe

Den Gemeinsinn steigern:Politische Ethik und Christentum

Vom Wanderprediger Jesus zum Christuskultder Gemeinde

«Eine neue Phase des Christentums»:Modernistische Netzwerke

9: «Es wackelt alles»: Der Neubau der Theologie

Protestantische Theologie im Deutschen Kaiserreich

In Dialog und Streit: Auf dem Wegzu einer historischen Theologie

Die Absolutheit des Christentumsund die Religionsgeschichte

Distanz gewinnen: Religionsphilosophische Skizzen

10: «Meet me at the Fair»: Reise in die Neue Welt

Weltausstellung und wissenschaftliche Leistungsschau

Geld und Ehre

Vorbereitungen, Überfahrt und Ankunftin New York

Ein Stück Heimat unweit der Niagara-Fälle

Überforderung Chicago

Ausstellung und Kongress in St. Louis

Washington, Neuengland und Rückkehr nach Europa

11: Arbeit am Protestantismus

Der «unaustilgbare Pluralismus der historischen Wirklichkeit»

Arbeit am Begriff der Moderne

Gegen protestantische Geschichtsmythen

Protestantismus und Moderne: Zwei Schlüsseltexte

Calvinismus, du hast es besser:Religion und Liberalismus

«Weber-Troeltsch»: Keine gemeinsame Firma

12: Geistesgegenwart im «Weltdorf» Heidelberg

Eranos: Elitäre Geselligkeit

Im Maschinenraum der Ideen:Die Treffen der Eranisten

Vereine, Kränzchen, Zeitschriften

Im Salon der Webers

Bitte wertfrei: Die Deutsche Gesellschaft fürSoziologie

13: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen

Das Christentum und die unteren Klassen

Ein ungeschriebener Verriss und eine Artikelserie

Christliche und weltliche Vergesellschaftungen

«Von der Urzeit bis zum Beginn der modernen Zeit»

Von der Artikelserie zum Buch

Die Erfindung des christlichen Naturrechts

Kirche – Sekte – Mystik

Ein Kultbuch der Jugend

Die Augustin-Studie, viel Beifall und Ruhm

14: Viel Kapital: In Heidelberg ganz oben

Reden, Kränze, Huldigungen: Ein Jahr Prorektor

Peinliche Konkurrenz:In der Philosophischen Fakultät

Der Übergang nach Berlin

Vom Sein zum Sollen: Der Freund Georg Jellinek

Gelehrtenökonomie: Gehälter und Honorare

Frauenrechte und Mission:Kirchenpolitische Positionen

Zu den Waffen für die Freiheit:Troeltschs Kriegsrede vom 2. August 1914

15: Die Dinge aus der Nähe kennengelernt: Im Karlsruher Ständehaus

Konservativer Fortschritt

Die Wirklichkeit ist komplizierter

Netzwerke und Standpunkte

Konfessions- und Kulturkämpfe

Antiklerikale Fakultätspolitik

Von Neckarschiffern und Prostituierten

16: Vom wilhelminischen Mandarin zum Großstadtintellektuellen: Ordinarius in Berlin

Diners, Teegesellschaften und Spaziergänge

Mittwochabend: Hans Delbrückspolitisch-militärischer Zirkel

Willkommen im Klub: Die Deutsche Gesellschaft 1914

Gelehrte Gesellschaften und karitative Vereine

Entspanntes Tatchristentumaus dem Geist Rudolf Steiners

Die «Anarchie der Werte» meistern:Vulkanische Vorlesungen

Das Abendland und der Krieg:Die Kaisergeburtstagsrede

Historisierendes Globetrottertum:Die geschichtsphilosophischen Seminare

17: Deutscher Geist und Westeuropa: Im Großen Krieg

Kriegsautor an der Heimatfront

Gegen ein nationales Christentum

Deutsche Freiheit im Konzertder Völkerindividualitäten

Der Primat des Politischen und die Kriegszieldebatte

Deutschland und die «atlantischen Großmächte»

Demobilisierung der Geister:Der Volksbund für Freiheit und Vaterland

18: «Ein Saustall»: Zwei Jahre im preußischen Kultusministerium

Kirchenpolitische Fronten

Als Staatssekretär gegen den Oberkirchenrat

Pragmatismus in Schulfragen

Weitere Pflichten und Erfolge

19: «Die ganze Welt wird anders»: Berliner Spectator

«Mittebildung»: Zeitdiagnostik für die Republik

Kontakte und Informanten

Neue Weltlage und internationale Kämpfe

Gegenrevolution und Bürgerkrieg in Berlin

Verachtung für das Bürgertum, Kritik am System

Die Ordnungskräfte für die Republik versammeln

20: Die zweiten Anderen: Troeltschs Juden

Streit um die Propheten Israels

Kein Sinn für das Substanzielle:Antijüdische Stereotype

«Jüdisches Problem» und «nationale Kultur»

«Ein heißes Würgen in der Kehle»:Der Mord an Walther Rathenau

21: Gelehrtenrepublikanismus: Demokrat in vielfältigen Rollen

Den Wandel gutheißen: Der Demokratische Volksbund

Politik als Nebenberuf: Arbeit in der DDP

Versöhnung mit dem Ausland: Reisen und Besuche

Ämter und Würden

Neue Weste, neue Gedanken: Britische Reisepläne

Westeuropäische und deutsche Ideenwelt:Ein folgenreicher Vortrag

Irdische Sorgen und der Berg der Läuterung

«Befiehl du deine Wege»:Ehekrise, Erschöpfung, Tod

22: Dies tat man zu seinem Gedächtnis

«Das war ein Mann!»

Christian Gentleman:England und Amerika trauern

Das Schicksal des Grabes

Epilog: Troeltschs Gott als Individualitätsgarant

Anhang

Dank

Anmerkungen

Einleitung: Der Vielspältige

1 Jugend in Melanchthons Reichsstadt

2 Lutherischer Neuhumanismus: Das Gymnasium bei St. Anna

3 Die ersten Anderen: Katholische Patres und «Kinder der Welt»

4 Auf dem Weg zur Wahrheit: Das Studium

5 Vikar im Glaspalast

6 Die «Kleine Göttinger Fakultät»

7 Luthers Glaubenswacht am Rhein: Extra-Ordinarius in Bonn

8 Seelische Revolutionen: Jungordinarius in Heidelberg

9 «Es wackelt alles»: Der Neubau der Theologie

10 «Meet me at the Fair»: Reise in die Neue Welt

11 Arbeit am Protestantismus

12 Geistesgegenwart im «Weltdorf» Heidelberg

13 Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen

14 Viel Kapital: In Heidelberg ganz oben

15 Die Dinge aus der Nähe kennengelernt: Im Karlsruher Ständehaus

16 Vom wilhelminischen Mandarin zum Großstadtintellektuellen: Ordinarius in Berlin

17 Deutscher Geist und Westeuropa: Im Großen Krieg

18 «Ein Saustall»: Zwei Jahre im preußischen Kultusministerium

19 «Die ganze Welt wird anders»: Berliner Spectator

20 Die zweiten Anderen: Troeltschs Juden

21 Gelehrtenrepublikanismus: Demokrat in vielfältigen Rollen

22 Dies tat man zu seinem Gedächtnis

Epilog: Troeltschs Gott als Individualitätsgarant

Bildnachweis

Personenregister

Tafel 1: Ernst Troeltschs Eltern (wohl um 1905 oder 1906)

Tafel 2a: Ernst Troeltsch mit etwa zwei Jahren

Tafel 2b: Der junge Ernst spielt Soldat.

Tafel 3: Eugenie Troeltsch mit Tochter Mina und Sohn Ernst, um 1869

Tafel 4: Familie des Hofrats Dr. Ernst Troeltsch senior (wohl um 1883 oder 1884)

Tafel 5: Ernst Troeltsch im Juli 1883 mit Abiturientenmütze

Tafel 6: Wilhelm Weber mit seiner Verlobten Wilhelmine Troeltsch und deren Geschwistern (wohl 1888 oder 1889)

Tafel 7: Ernst Troeltsch (Mitte) mit zwei Kameraden 1885 als Vizefeldwebel

Tafel 8: Uttenreuther Verbindungsbrüder, Ernst Troeltsch im Zentrum sitzend

Tafel 9: Ernst Troeltsch zu Beginn seines Göttinger Studiums im Wintersemester 1886/87

Tafel 10: Ernst Troeltsch mit etwa 25 Jahren

Tafel 11: Aus dem Handexemplar von «Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon»

Tafel 12: Ernst Troeltsch als Göttinger Privatdozent 1891/92

Tafel 13: Monarchen von Gottes Gnaden brauchen Ordinarien für Systematische Theologie – Heidelberger Ernennungsurkunde für den damals jüngsten deutschen Ordinarius

Tafel 14a: Ernst Troeltsch, während seiner Reise nach Siebenbürgen, August 1899

Tafel 14b: Marta Troeltsch, wohl 1902

Tafel 15: Ernst und Marta Troeltsch, Hochzeitsphoto, 31. Mai 1901

Tafel 16: Ernst Troeltsch mit der Amtskette des Prorektors während einer Feier in der Alten Aula der Universität Heidelberg im akademischen Jahr 1906/07

Tafel 17a: Besuch des Großherzogspaares zur Einweihung des Heidelberger Instituts für experimentelle Krebsforschung. Ernst Troeltsch und Oberbürgermeister Karl Wilckens empfangen Friedrich I. und seine Gattin Luise am 25. September 1906 am Bahnsteig.

Tafel 17b: Ernst Troeltsch begrüßt den Großherzog am 16. Oktober 1906.

Tafel 18a: Ernst Troeltsch im Festzug Heidelberger Ordinarien

Tafel 18b: Als Prorektor der Universität Heidelberg in einer Kutsche, 6. Oktober 1906

Tafel 19: Taufe Ernst Eberhard Troeltschs am 25. Oktober 1913

Tafel 20: Werbeplakat für Troeltschs Vortragszyklus «Der Geist der neueren Philosophie» an der Handelshochschule Mannheim

Tafel 21: Der Heidelberger Ordinarius

Tafel 22: Ernst und Eberhard Troeltsch, 1914

Tafel 23a: Von Troeltsch verschickte Ansichtskarte der Ziegelhäuser Landstraße 17

Tafel 23b: Aus dem Handexemplar der «Soziallehren»

Tafel 24: Berliner Bestallungsurkunde Ernst Troeltschs, ausgestellt von Kaiser Wilhelm II. als König von Preußen am 6. August 1914, ergänzende Unterschrift des preußischen Ministers der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten August von Trott zu Solz

Tafel 25: Ernst Troeltsch hält am 27. Januar 1916 die Kaiser-Geburtstagsrede in der Großen Aula der Friedrich-Wilhelms-Universität.

Tafel 26: Ende August 1917 besucht Gertrud von le Fort die Troeltschs in Warnemünde.

Tafel 27: Wahlflugblatt der Deutschen Demokratischen Partei für die Wahl zur verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 26. Januar 1919 im Wahlkreis Stadt Berlin, Vorderseite

Tafel 28: Ernst Troeltsch wird auf die Weimarer Reichsverfassung vereidigt.

Tafel 29: Das bekannteste Portrait des Berliner Gelehrten wurde für die 1915 gegründete halbamtliche deutsche Nachrichtenagentur Transocean GmbH aufgenommen. Fotograf und Entstehungsdatum sind nicht überliefert.

Tafel 30: Ernst Troeltsch als «Führer der Demokratie», mit Kohle gezeichnet von dem Berliner Künstler Ernst Pickardt für die DDP-nahe Zeitschrift «Das demokratische Deutschland. Erste demokratische Wochenschrift», erschienen in der Ausgabe vom 17. Mai 1919, S. 532. In früheren Ausgaben der Zeitschrift waren in gleicher Weise Bernhard Dernburg, Eugen Schiffer und Minna Cauer als «Führer der Demokratie» präsentiert worden. Auf Troeltsch folgte Friedrich Naumann.

Tafel 31: Das Grab auf dem Invalidenfriedhof

Tafel 32: Werbeblatt des Verlags für die Gesammelten Schriften

Einleitung: Der Vielspältige

Reden am Sarg

Berlin-Wilmersdorf, Samstag, der 3. Februar 1923, mittags um 12.00 Uhr. Die große Haupthalle des erst neun Monate zuvor, am 11. Mai 1922, eröffneten Krematoriums ist überfüllt. Bedeutende Gelehrte und Künstler, einflussreiche Politiker und Journalisten, junge Wissenschaftler und zahlreiche Studierende sitzen und stehen dicht gedrängt auf engem Raum, um von Ernst Troeltsch Abschied zu nehmen – einem der damals bekanntesten, heute nur noch von wenigen erinnerten deutschen Intellektuellen. Seine Frau Marta, sein neunjähriger Sohn Ernst Eberhard und sein Bruder Rudolf sind im Wagen Paul von Hindenburgs, des einstigen Generalfeldmarschalls und künftigen Reichspräsidenten, zum Krematorium gefahren worden. Sie müssen durch die dicht gedrängte Menge der im Giebelbau der Vorhalle und auf dem Vorplatz Wartenden gehen, die keinen Einlass mehr finden können und der durch Lautsprecher übertragenen Trauerfeier draußen unter tief hängenden grauen Wolken folgen. Sie frösteln bei knapp acht Grad, starken Windböen und mehreren heftigen Regenschauern. Aber in der Halle ist es kaum wärmer.

Viele der Trauernden sind tief bewegt. «Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass kein Tod seit Jahren das geistige Deutschland mehr erschüttert hat als der von Ernst Troeltsch, dies geistige Deutschland, das doch immer noch der Kern Deutschlands ist und die Hoffnung künftiger Erneuerung», wird der konservative Politikwissenschaftler und Publizist Adolf Grabowsky im Märzheft der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Das neue Deutschland schreiben.[1] In der Presse ist von einer «vielhundertköpfigen Trauerversammlung»[2] zu lesen.

Troeltschs plötzlicher Tod am frühen Morgen des 1. Februar hat selbst nahe Freunde völlig überrascht und auch manche seiner akademischen Kontrahenten und politischen Gegner stark bewegt. Sichtlich schockiert ist auch der um 1920 weltweit bekannteste deutsche Geisteswissenschaftler Adolf von Harnack. Nicht als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Direktor der Preußischen Staatsbibliothek und Ordinarius für Kirchengeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, sondern im schwarzen Talar mit Beffchen des evangelischen Pfarrers hält er seine Rede am Sarge Ernst Troeltschs weithin frei, gestützt nur auf ein Stichwortmanuskript von vier Seiten. Die meisten Anwesenden empfinden sie als ergreifend, berührend, überaus einfühlsam. «Bei der Beisetzung im Krematorium hielt Harnack die Leichenrede, und er, dem man so oft eine kühle Zurückhaltung nachsagte, fand Worte, die tief ins Herz griffen»,[3] erinnerte sich viele Jahre später der Kunsthistoriker Werner Weisbach, ein Freund Troeltschs, der Mitte der 1890er Jahre vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war.

Nachdem als Präludium «O Ewigkeit, du Donnerwort» von Johann Sebastian Bach auf der Orgel erklungen ist, hält Harnack seine Gedenkrede auf den vierzehn Jahre jüngeren Freund. Er beginnt seine Ansprache mit dem Kanzelgruß «Der Friede des Herrn sei mit uns!» und liest zunächst den Predigttext aus Jesaja 40,1–2a und 6–8 vor, den die Gemeinde mit einem Amen bekräftigt. Dann spricht er die Trauergemeinde an: «Andächtig Leidtragende!» Seine Aussagen unterstreicht er, indem er seine Predigt mit dem Zitat eines Chorals Gerhard Teerstegens abschließt. Danach betet er mit der Gemeinde das Vaterunser. Darauf folgt erneut ein Orgelstück. Harnack ist bemüht, den von ihm gestalteten gottesdienstlichen Teil der Trauerfeier klar von den folgenden akademischen und politischen Gedenkreden abzusetzen.

Die von Harnack ausgewählten Texte lassen eine intime Vertrautheit mit Troeltschs Theologie und Herzensglauben erkennen. «O Ewigkeit, du Donnerwort» ist ein Kirchenlied von Johann Rist, das 1642 im vierten Teil seiner Himmlischen Lieder als «Ernstliche Betrachtung der unendlichen Ewigkeit» publiziert wurde. Die Trauergemeinde muss es als eine Anspielung auf die Lebensarbeit des Toten gehört haben, denn Rists Lied stellt eine Bearbeitung der 50. Meditation von Johann Gerhards 1606 erschienenen Meditationes sacrae dar, die den Titel «De poenarum infernalium aeternitate. Tormenta aeterna malorum» trägt. Johann Gerhard, der führende Dogmatiker der altlutherischen Orthodoxie um 1700, nahm hier zentrale Motive aus Dantes «Inferno» auf. Mit der Lesung der ersten Strophe von Rists Lied spielte Harnack also nicht nur auf Johann Gerhard an, über den Troeltsch seine Dissertation geschrieben hatte, sondern zugleich auf Dante. Viele Teilnehmer der Trauerfeier dürften daran gedacht haben, dass Harnack gemeinsam mit Troeltsch am 3. Juli 1921 die große Deutsche Dante-Feier gestaltet hatte; Troeltsch hatte damals nach Harnack über den Berg der Läuterung gesprochen.[4]

Auch die Wahl des Predigttextes verdient Beachtung. Mit Jesaja 40,1–2a.6–8 wählte Harnack einen Prophetentext des Alten Testaments, der in der protestantischen Funeralkultur hohen Rang gewonnen hatte. «Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich […] Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.» Die Zitation des «Redet zu Jerusalem freundlich» mag als Versuch zu lesen sein, die vielen anwesenden Juden anzusprechen. Entscheidender dürften die über den Text sich erschließenden Chancen sein, mit der unaufhebbaren Spannung von Zeit und Ewigkeit ein zentrales Lebensthema Troeltschs ins Zentrum der religiösen Reflexion zu rücken. Auch bot der Text Harnack die Möglichkeit, die eigene Rolle zu thematisieren: «Was soll ich predigen?» Mit dem unvergänglichen, ewiglich bleibenden Wort Gottes war zudem der identitätskonstitutive Topos protestantischer Überlieferung bezeichnet, so dass Harnack auch das philosophische Werk des Freundes in seiner implizit protestantisch-theologischen Struktur transparent machen konnte. Außerdem enthielt der Text das für jede Trauerfeier grundlegende Motiv des Trostes. So griff der Prediger die klassischen Elemente christlicher Funeralrhetorik auf: laudatio (Lob), lamentatio (Klage) und consolatio (Trost).

Wohl allen Anwesenden war bewusst, dass der Prediger und der Verstorbene einander in enger Freundschaft verbunden gewesen waren. Harnack meisterte das in dieser biographischen Nähe liegende Problem, indem er zunächst souverän in professionsspezifischer Rollendistanz verharrte. Erst im Schlussteil seiner Predigt kam er auf viele Gespräche mit Troeltsch zu sprechen. Nach dem ausführlichen Zitat der Schlusssätze des Historismus-Bandes, die er zum «wissenschaftlichen Testament» des Freundes stilisierte, ließ er ihn gesprächsweise zu Wort kommen, bevor er dessen schwierige, schnell verletzende und leicht verletzliche «Persönlichkeit» charakterisierte. Folgt man dem letzten Absatz der im Berliner Tageblatt veröffentlichten Ansprache, dürfte sich der Prediger daraufhin dem Sarg zugewandt haben; Harnack sprach den Toten nun direkt als «Lieber, teurer Freund» an, um erneut zu klagen: «Wir werden dich nicht mehr sehen und deine Stimme nicht mehr hören; o, wie bitter ist das, und wie schwer fällt es, Herr zu werden über die Gefühle der Natur.»[5]

Mit dieser direkten Anrede des Toten – die sich im Entwurf seiner Predigt nicht findet! – verstieß Harnack gegen elementare Grundregeln protestantischer Homiletik oder Predigtlehre. In der evangelischen Tradition galt es seit den Wittenberger Reformatoren als ausgemacht, dass die Leichenpredigt keiner fiktionalen Kommunikation mit dem Verstorbenen Vorschub leisten darf – er kann ja nicht mehr hören. Die Predigt am Sarg oder Grab hat strikt der religiösen Repräsentation der nun definitiv abgeschlossenen individuellen Lebensgeschichte des Toten vor der klagenden, trauernden Gemeinde zu dienen, um ihre Verzweiflung sprachfähig zu machen und Trost zu vermitteln. So kann Harnacks rhetorische Strategie, den Freund vor der repräsentativen Öffentlichkeit der Trauernden (oder zumindest: vor den Feuilleton-Lesern des Berliner Tageblatts) direkt anzusprechen, nur überraschen. Wollte Harnack der Trauergemeinde deutlich machen, wie sehr ihn Troeltschs Tod persönlich, als engen Freund, getroffen hatte? Oder diente die direkte Anrede des Toten primär als ein Mittel, um dem trostvollen Evangelium vom «Gott der Lebendigen» Geltung zu verschaffen? «Aber Gott, zu dem du gegangen, ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen, und seine Toten leben bei ihm», schrieb Harnack in der Nachschrift fürs Berliner Tageblatt. Auch dieser Satz ist im Konzept der Predigt nirgends angedeutet.

Sieht man von dieser ganz unprotestantischen Anrede des Freundes ab, folgte Harnack souverän und äußerst kunstvoll den überkommenen homiletischen Grundregeln protestantischer Funeralkultur, die individuelle Lebensgeschichte des Verstorbenen, seinen Denkweg und Frömmigkeitskosmos so zu deuten, dass im Einzigartigen Elemente des Allgemeinen, der Endlichkeit des Lebens jedes Einzelnen, transparent werden. Das Konzept seiner Predigt lässt erkennen, dass sich der Prediger mit faszinierender Präzision der Grenze seines Tuns bewusst blieb: Er thematisierte Troeltschs intellektuelle Biographie ohne den Gestus, irgendein abschließendes, gar letztgültiges Urteil fällen zu können; und er markierte subtil religiöse Grenzen unserer deutenden Vernunft: «Er ist scheinbar herausgerissen aus seiner Arbeit, die noch so viele Früchte versprach. Aber wer darf urteilen, ob ein Leben innerlich bewahrt war!» Warum kein Fragezeichen? Warum notierte sich der Prediger in seinem Konzept hier ein affirmierendes Ausrufezeichen? Die Zeichen im Konzept waren ja nur für ihn selbst, gleichsam als rhetorische Regieanweisungen gedacht. Sie sind gerade darin interpretationsfähig.

Insgesamt finden sich in Harnacks Stichworten für seine Rede am Sarge 62 Ausrufezeichen. Einige bekräftigen Aussagen über den akademischen Lehrer und Theologenintellektuellen Troeltsch, die Harnack besonders wichtig zu sein schienen: «Ungeheure Konsumptionskraft (was hat er gelesen!) aus aller Literatur des Altertums und d. Neuzeit.» «Aber das war ein andrer Dogmatiker! Das spürten d. Studenten und Kollegen bald!» Andere Ausrufezeichen scheinen dem Prediger zur Klage über den unaussprechlichen Verlust zu dienen: «Er glaubte an einen Sinn d. Lebens u. an d. Sinn d. Gesch. fest!» An einigen Stellen notierte sich Harnack gar zwei oder drei Ausrufezeichen: «der Mensch!!» «Süddeutscher! Sanguiniker! Ihm färbte sich d. Wange!!» «Würde des Moralischen!!» «Uns ans Ewige gewöhnen!!» Manche Aussagen waren ihm so wichtig, dass er sich drei Ausrufezeichen aufschrieb: «Vorlesung u. Seminar!!!» «Sein Lachen!!!» «Schlacken genug!!! aber nur weil d. Strom des in ihm glühenden Metalls so groß war». Ein Wort erhielt gar vier Ausrufezeichen: «Freiheit!!!!»[6]

Mit den Bildern des Jesaja-Textes suchte Harnack im verdorrenden Gras dieses unverwechselbaren, fragmentarischen Lebens das unvergängliche Gotteswort, den zeittranszendenten Gehalt sichtbar zu machen. Er wollte die Trauergemeinde an theologische Grundeinsichten des Freundes erinnern. Die Aussage des Propheten, dass der depressiv stimmende Blick aus dem Leben in den Tod transzendiert werden müsse zugunsten des Blicks aus dem Tod in die Ewigkeit, diente ihm dazu, Troeltschs unruhige, rastlose Suche nach übergeschichtlicher Verbindlichkeit im Strom der Geschichte in einen protestantischen Reflexionshorizont einzuzeichnen. Harnack agierte gleichsam als Universitätsprediger. Er adressierte seine Ansprache an eine Gemeinde, deren Lebenswelten weithin durch Universität, Forschungsinstitute und Akademie bestimmt waren. Der Prediger setzte ein mit dem Allgemeinen: den schmerzlichen Verlusten, die die Berliner Universität und die Preußische Akademie in den letzten zwei Jahren erlitten hatten. Nach dem Zitat der ersten beiden Strophen von Eichendorffs Es wandelt, was wir schauen – Alban Berg hatte es 1904 neu vertont! – würdigte er Troeltsch als einen Theologen, der um das ewige, göttliche Wort gerungen habe. Die Darstellung der intellektuellen Biographie läuft auf eine Beschreibung der individuellen Frömmigkeit Troeltschs zu: Auch der Berliner Geschichtsphilosoph habe sich «den Kern unsrer evangel. christl. Überlieferung» und das Wissen um die Notwendigkeit der «Vergebung» bewahrt.

Im Mai 1905 hatte Ernst Troeltsch im Goldenen Saal des Rathauses seiner Heimatstadt die Festrede zur Augsburger Schillerfeier gehalten.[7] Auch darauf spielte Harnack an. «Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke, und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort», stammt aus Schillers Gedicht Die Huldigung der Künste von 1804. Harnack setzte es aus dem Gedächtnis zitierend leicht abgewandelt ein, um Troeltschs besondere Bestimmung philosophischer Reflexion zu charakterisieren: die gegebene Welt von Erscheinungen durch Reflexion als einen Kosmos von Gedanken zu durchdringen.

Vor dem Schlussgebet zitierte Harnack die letzte Strophe von Gerhard Tersteegens 1745 entstandenem Choral Nun sich der Tag geendet. «Ein Tag der sagt dem andern,/mein Leben sei ein Wandern/zur großen Ewigkeit./O Ewigkeit, so schöne,/mein Herz an dich gewöhne,/mein Heim ist nicht in dieser Zeit.» Auch dieser Tersteegen-Bezug lässt die hohe Sensibilität des Predigers für Troeltschs theologisches Programm und die in ihm sich spiegelnde Frömmigkeit erkennen. Tersteegen galt Troeltsch als der bedeutendste Mystiker der deutschen reformierten Kirche und neben Joachim Neander als ihr einflussreichster Liederdichter. In seinen historischen Arbeiten über die Kulturbedeutung des Protestantismus hatte er mehrfach den «innigen Poeten Tersteegen» erwähnt, «der seine Stellung völlig über den Konfessionen nahm und als erwählter Seelenführer Gottesfreunde um sich sammelte».[8] So thematisierte Harnack implizit auch Troeltschs Hochschätzung einer mystischen Gottunmittelbarkeit jenseits aller Konfessionalität.

Leider brachten nach dem zweiten Orgelchoral noch zahlreiche andere Redner ihre Trauer zum Ausdruck. So wurde die Feier trotz Harnacks beeindruckender Rede bald zu einer depressiv stimmenden Veranstaltung. Theodor Heuss erinnerte sich noch vierzig Jahre später an «die Qualen, die wir wohl alle außer den Rednern bei der Beisetzung von Ernst Troeltsch erlitten hatten».[9]

Als Sekretär der Physikalisch-mathematischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften würdigte der Berliner Physiologe Max Rubner Troeltsch, der erst kurz vor seinem Tod, am 30. November 1922, als ordentliches Mitglied in die Akademie gewählt worden war, deren Räume aber nicht mehr hatte betreten können. Für die Friedrich-Wilhelms-Universität sprach deren Rektor Arthur Heffter, ein Mediziner, und für die Philosophische Fakultät der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Der mit dem Gestorbenen schon aus gemeinsamer Heidelberger Zeit gut bekannte, seit 1922 in Berlin lehrende Historiker Erich Marcks, der 1914 Troeltschs Aufnahme in die Bayerische Akademie der Wissenschaften betrieben hatte, bekundete die Trauer der Universität Heidelberg über den Verlust ihres einstigen Rektors und Vertreters in der Badischen Ersten Kammer. Eher peinlich war der Auftritt Albert Dietrichs, eines Schülers Troeltschs, der in seiner viel zu langen Rede hohles Pathos nicht zu vermeiden wusste. Der Reichsfinanz- und Reichsjustizminister Eugen Schiffer, ein führender Politiker der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und enger Freund des Ehepaars Troeltsch, klagte darüber, dass die Partei und überhaupt die Republik nach Friedrich Naumann und Max Weber schon wieder einen ihrer prägenden Vordenker verloren hätten. Zeitungsberichte legen die Vermutung nahe, dass danach noch weitere Repräsentanten politischer Institutionen und der Studentenschaft das Wort ergriffen. «Vertreter deutscher Universitäten nahmen in ergreifenden Worten von ihrem großen Lehrer Abschied. Abordnungen der Studentenschaft gaben dem Schmerz über den Verlust ihres großen Führers Ausdruck. Persönliche Freunde des Verstorbenen gaben dem Sarge ihren letzten Gruß mit. Die ‹Deutsche Demokratische Partei›, Vertreter der Regierung und andere offizielle Persönlichkeiten feierten zum letztenmal die Persönlichkeit Troeltschs.»[10]

Der Berliner Nationalökonom Ludwig Bernhard empfand diese Reden als Banalisierung. Noch am Tag der Trauerfeier schrieb er an Harnack: «Ihre Rede für Tröltsch hat mich so erschüttert, daß ich Ihnen meine Bewegung zum Ausdruck bringen muß. Die Gewalt und Schönheit Ihrer Worte waren so groß, daß ich mir immer sagte: so kann nur Einer in Deutschland sprechen. Es ist Ihre eigenste Kunst, durch ganz einfache Worte hindurch Unausgesprochenes ahnen zu lassen, die Hörer dadurch zum Mitweben zu zwingen und so über alle Ihren Bann zu werfen. Daher berührte es mich so hart, daß nach Ihnen in allen banalen Tonarten geredet werden durfte».[11]

Lebenswelten und Trauergemeinde

Die illustre Versammlung von Trauernden spiegelte die komplexe Vielfalt der Lebenswelten, die Ernst Troeltsch geprägt hatten und die er selbst mehr oder minder entscheidend mitbestimmt hatte. Ernst Troeltsch war seit Sommer 1922 Dekan der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität; er hatte seine Wahl zum Dekan als ein Zeichen wachsender Akzeptanz auch bei jenen politisch rechten, radikal nationalistischen und antidemokratischen Ordinarien der Fakultät gedeutet, die seine prorepublikanische Haltung und speziell sein Engagement für die DDP vehement kritisiert hatten. Stirbt der amtierende Dekan, kann es nicht überraschen, dass viele Professoren seiner Fakultät sich verpflichtet fühlen, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Gewiss werden nicht alle der 58 Ordinarien der Philosophischen Fakultät gekommen sein, zu der damals noch die mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrstühle der Friedrich-Wilhelms-Universität gehörten. Aber es waren überraschend viele präsent, auch Gegner Troeltschs.

Zu nennen sind zunächst enge Freunde und gute Bekannte aus dem Kreis der Fakultätskollegen, insbesondere der spätestens seit 1901 mit Troeltsch sich austauschende Historiker Friedrich Meinecke und der Nationalökonom Heinrich Herkner, die mit ihren Frauen gekommen waren. Die brillante, 1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Deutschland vertriebene Historikerin der Französischen Revolution Hedwig Hintze, die seit dem Wintersemester 1916/17 intensiv an Seminaren Troeltschs teilgenommen hatte, kam gemeinsam mit ihrem von Troeltsch geschätzten Mann Otto Hintze, dem Inhaber des Lehrstuhls für Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschaftsgeschichte und Politik; man hatte viele Abende miteinander verbracht. Zu den intensiv Trauernden zählte auch der Osteuropahistoriker Karl Stählin, der einst mit Troeltsch am St.-Anna-Gymnasium in Augsburg die Schulbank gedrückt hatte. Anwesend waren zudem der Militärhistoriker Hans Delbrück, ein Schwager Harnacks, für dessen Preußische Jahrbücher der Verstorbene mehrfach geschrieben hatte, und der durch Troeltschs Protektion auf eine Professur beförderte sozialdemokratische Historiker der Arbeiterbewegung Gustav Mayer, der den liberalprotestantischen Gelehrtenpolitiker wegen seines politischen Mutes bewunderte. Der Sozialwissenschaftler Werner Sombart, ein viel gelesener Theoretiker des modernen Kapitalismus, wusste, dass er seine Berufung an die Berliner Universität entscheidend einem Gutachten Ernst Troeltschs verdankte. Gekommen waren auch der Agrarhistoriker Max Sering, der mit Troeltsch gut bekannte Germanist und Literaturwissenschaftler Konrad Burdach, der Romanist und Danteforscher Eduard Wechssler, der Psychologe Wolfgang Köhler, der neukantianische Philosoph Alois Riehl und der medizinisch gebildete Psychologe und Philosoph Max Dessoir, in dessen Seminaren Stefan George bisweilen Gedichte vorgetragen hatte. Auch Albert Einstein hatte sich eingefunden.

Troeltschs Tod war weit mehr als nur ein lokales oder regionales akademisches Ereignis. Eine ganze Reihe mit ihm gut bekannter, auch befreundeter Professorenkollegen nahmen lange Reisen auf sich, um den Verstorbenen zu ehren. Aus München kam der Romanist Karl Vossler, und aus Heidelberg reisten der brillante Neutestamentler Martin Dibelius und der vom Judentum zur evangelischen Kirche konvertierte Philosoph und Theologe Hans Ehrenberg an. Aus Erlangen waren der Philosoph Paul Hensel, ein enger Freund, und der Unternehmer Rolf Hoffmann gekommen, für dessen 1922 gegründete Philosophische Akademie auf dem Burgberg Troeltsch als Präsident Verantwortung übernommen hatte.

Troeltsch hatte erfolgreich auf Platz 1 der Berliner Liste der linksliberalen «Deutschen Demokratischen Partei» für die Wahl zur Preußischen Nationalversammlung kandidiert und sich auch als Redner auf Parteitagen für die DDP engagiert. So kann es nicht überraschen, dass viel DDP-Establishment zu sehen war. Neben Eugen Schiffer kamen der (ebenfalls vom Judentum zur evangelischen Kirche konvertierte) Reichstagsabgeordnete Georg Gothein, seit 1921 Vorsitzender des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, die in der bürgerlichen Frauenbewegung engagierte Reichstagsabgeordnete Gertrud Bäumer, die Sozialpolitikerin Marie Baum und Harnacks Tochter Agnes von Zahn-Harnack, die sich als erste Frau – 1908 – an der Friedrich-Wilhelms-Universität hatte immatrikulieren können. Und natürlich war gemeinsam mit ihrem Mann Theodor auch Elly Heuss-Knapp präsent, die mit Troeltsch mehrfach Wahlveranstaltungen für die DDP bestritten hatte. Zu den Studenten aus dem von Troeltsch geförderten Demokratischen Studentenbund, die gekommen waren, zählten sein Hörer Ernst Lemmer und der Geschichtsstudent Wilhelm Mommsen, ein Enkel Theodor Mommsens. Ihrem akademischen Lehrer bekundeten auch einige junge jüdische Gelehrte wie Erich Auerbach, Hans Baron, Gerhard Masur, Hans Jonas und Julie Braun-Vogelstein ihre Treue.

Als Unterstaatssekretär und dann Parlamentarischer Staatssekretär im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung war Troeltsch von März 1919 bis April 1921 Mitglied der Preußischen Staatsregierung gewesen. Bei der Trauerfeier war diese durch den von November 1921 bis Januar 1925 amtierenden preußischen Kultusminister Otto Boelitz von der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) und den einstigen preußischen Staatssekretär und 1921 Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Carl Heinrich Becker vertreten, einem prominenten Orientalisten, der, elf Jahre jünger als Troeltsch, von dem Theologen schon in den gemeinsamen Heidelberger Jahren von 1902 bis 1908 gefördert worden war.

Im Ersten Weltkrieg war Troeltsch ein wichtiger politischer Ratgeber des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg gewesen. Auch zum letzten Kanzler des Kaiserreichs Prinz Max von Baden, den er schon aus seiner parlamentarischen Tätigkeit als Mitglied der Ersten Kammer des Großherzogtums Baden gut kannte, hatte Troeltsch vergleichsweise enge Beziehungen unterhalten; nach seinem Wechsel nach Berlin informierte er ihn in langen Briefen mehrfach über die militärische und allgemeine politische Lage sowie die kontrovers geführten Kriegszieldebatten in der politischen Klasse und akademischen Elite der Reichshauptstadt. So kann es nicht überraschen, dass auch die Reichsregierung bei der Trauerfeier offiziell vertreten sein wollte. Für sie legte der damalige Reichsverkehrsminister Wilhelm Groener, ein enger Freund der Troeltschs, der mit seiner ersten Frau Helene gekommen war, einen Kranz mit schwarz-rot-goldenen Schleifen am Sarg nieder. In seiner Nähe stand der sozialdemokratische Verfassungsrechtler Gustav Radbruch.

Mit dem Wechsel von Heidelberg nach Berlin war Troeltsch – diese konfliktreiche Geschichte wird noch zu erzählen sein – aus der Theologischen Fakultät in die Philosophische Fakultät übergegangen. Dennoch blieb er im theologischen Diskurs weiter stark präsent. So fühlten sich selbst entschiedene Kritiker seiner vielfältig angefeindeten postkonventionellen «modernen Theologie» innerlich verpflichtet, dem so plötzlich aus dem Leben Gerissenen trotz aller gelehrten Dissense einen letzten Respekt zu erweisen. Die in Berliner Universitätskreisen als ebenso schön wie brillant umschwärmte Theologiestudentin Margot Hahl, die Troeltsch für den besten Redner der Friedrich-Wilhelms-Universität hielt, hat in langen Gesprächen darauf insistiert, dass neben dem Systematischen Theologen Arthur Titius selbst der Kirchenhistoriker Karl Holl, einer der härtesten theologischen Antipoden Troeltschs unter den Berliner Theologen, an der Trauerfeier teilnahm. Die Pfarrerstochter Hahl war selbst in Begleitung ihres damaligen Freundes, des Privatdozenten für Systematische Theologie und Salonsozialisten Paul Tillich, erschienen, der am Abend des Tages einen Nachruf in der Vossischen Zeitung publizieren konnte. Als Tillich während Harnacks Trauerrede weinte, konnte auch Ludwig Marcuse, einer von Troeltschs letzten Assistenten, seine Tränen nicht mehr unterdrücken.

Manche langjährige enge Freunde Troeltschs brachten nicht die Kraft auf, zur Trauerfeier nach Wilmersdorf zu kommen. Martin Rade, der Schwager Friedrich Naumanns und Herausgeber der führenden liberalprotestantischen Wochenzeitschrift Die Christliche Welt, der schon den avantgardistisch radikalen jungen Systematiker Troeltsch gefördert hatte und ihn auch aus der gemeinsamen politischen Arbeit in der DDP-Fraktion der Preußischen Nationalversammlung sehr gut kannte, zog sich am 3. Februar an seinen Marburger Gelehrtenschreibtisch zurück, um noch einmal Texte des bewunderten Freundes zu lesen. Deutlich dramatischer ist die Geschichte des intimen Duz-Freundes Carl Neumann. Der aus einer reichen Mannheimer jüdischen Familie stammende Heidelberger Kunsthistoriker, ein Schüler und Vertrauter Jacob Burckhardts und schwärmerischer Verehrer Troeltschs, erlitt, nach zwei vergeblichen Suizidversuchen in den Monaten zuvor, einen schweren Zusammenbruch, als er vom Tod des Freundes erfuhr; er musste in die Psychiatrische Klinik der Universität Heidelberg eingeliefert werden. Nach seiner Entlassung aus der Klinik schrieb er einen faszinierend einfühlsamen Nachruf auf Troeltsch, für den er bei dessen Wechsel nach Berlin einen Abschiedsabend organisiert hatte, an dem zahlreiche Repräsentanten der Heidelberger städtischen Elite teilgenommen hatten.

Der Theologe Otto Frommel, einer der Lieblingsschüler Troeltschs, der schon dessen erste Vorlesungen in Heidelberg gehört und mehrere Semester lang an einem abendlichen Privatissimum zum Thema «Kunst und Religion» teilgenommen hatte, entschied sich als Heidelberger Stadtpfarrer dafür, nicht nach Berlin zu reisen; er zog sich in der Stunde der Trauerfeier in sein Arbeitszimmer zurück, um einen Nachruf auf den väterlichen Freund zu schreiben.

Verachtet, vergessen, aber nicht erledigt

In den Tagen und Wochen nach Troeltschs Tod erschienen in europäischen Zeitungen und Zeitschriften sowie in einigen Zeitschriften der USA über 140 Nachrufe. Die große Trauergemeinde und die außergewöhnlich hohe Zahl an Nekrologen unterstreichen: Ernst Troeltsch war auf der Höhe seines Ruhmes gestorben. Doch anders als in der englischsprachigen Welt und in Japan wurde er in Deutschland schon bald nach seinem Tod als ein Liberaler verfemt und seit 1933 weithin vergessen. Seit den späten 1920er Jahren ging der Absatz seiner Bücher deutlich zurück.[12] Dies hat zunächst mit der, so Troeltsch 1921 selbst, «geistigen Revolution in der Wissenschaft» zu tun: dem Aufstand von antiliberalen Intellektuellen der Frontgeneration gegen den als bürgerlich und relativistisch verachteten modernen Historismus.

Die jugendlichen Protagonisten der antihistoristischen Revolution in der protestantischen Theologie der Zwischenkriegszeit verstanden sich als Avantgarde einer Erneuerung der Theologie im Geiste des wahren Christusglaubens und der reformatorischen Theologie. So sahen Theologen wie Karl Barth und Friedrich Gogarten in Troeltsch nur den Repräsentanten eines bürgerlichen Kulturprotestantismus, der mit seinem historistisch relativierenden Denkstil die Substanz existentiell ernsthaften Glaubens ins normativ Unverbindliche aufgelöst habe – ein insoweit absurder Vorwurf, als gerade der Berliner Troeltsch einen Großteil seiner intellektuellen Energien in die Begründung überindividuell verbindlicher Normativität unter den Bedingungen der historistischen Einsicht in die geschichtlich-kulturelle Relativität aller «Kulturwerte» investiert hatte.

Auch die neuen philosophischen Seinsdenker der Zeit wie der protestantismuskritische Martin Heidegger, ein intensiver Troeltsch-Leser, und Carl Schmitt (der ebenfalls Troeltsch mit großer Aufmerksamkeit las) gingen zum Freund Walther Rathenaus und Lehrer zahlreicher jüdischer Studierender entschieden auf Distanz. Konservative Gegner der Republik und völkische Radikalnationalisten brauchten keinen Theoretiker einer «europäischen Kultursynthese», der die Traditionen deutschen politischen Denkens für die freiheitlichen und demokratischen Leitideen der westeuropäischen politischen Theorie zu öffnen versucht hatte. Erst recht die Nationalsozialisten hatten keinerlei Interesse an einem Intellektuellen, der in vielfältiger Gebrochenheit als republiktreuer Meisterdenker einer freiheitlichen, auf Toleranz, Respekt gegenüber Andersdenkenden und Bereitschaft zum Kompromiss beruhenden Ordnung des Zusammenlebens der vielen Verschiedenen galt. In ihrer aggressiven Gedächtnispolitik gelang es ihnen, die Erinnerung an Ernst Troeltsch erfolgreich auszulöschen, auch wenn sein Schüler Walther Köhler als Heidelberger Ordinarius für Kirchengeschichte in einer Art innerer Emigration 1941 eine bis heute lesenswerte erste biographisch grundierte größere Monographie über Ernst Troeltsch veröffentlichte.[13]

«Eine Troeltschrenaissance wird sicher einmal kommen. Sein Problem ist abgebrochen, aber nicht erledigt worden», prognostizierte Eduard Spranger 1951 in einem Brief an Friedrich Meinecke.[14] Doch im philosophischen Diskurs ist Troeltsch noch immer weithin vergessen. In der protestantischen Universitätstheologie konstatierte der in Harvard lehrende Unitarier James Luther Adams 1974 hingegen ein «Troeltsch revival»[15] – allerdings bezogen auf die USA und Großbritannien. Erst unter dem Druck der dortigen Diskurse fand seit den späten 1970er Jahren Troeltsch auch im deutschen Sprachraum wieder verstärkt Interesse – zunächst bei Historikern und römisch-katholischen Theologen. Der Münchner katholische Theologe Karl-Ernst Apfelbacher schrieb im Vorwort seiner 1978 publizierten Dissertation: «Das hohe Ansehen, das Ernst Troeltschs Lebenswerk außerhalb der Theologie, vor allem in der Religionssoziologie und der Geschichtswissenschaft gewonnen hat, steht in einem seltsamen Kontrast zu der weitverbreiteten ‹Troeltsch-Vergessenheit› innerhalb der fachtheologischen Diskussion. Erst in jüngster Zeit wurde man sich deutlicher bewußt, in welchem Maße sich die Fragen, die Troeltsch bewegten, von neuem als theologische Grundprobleme wieder anmelden.»[16] In der Tat hat sich seitdem die Diskussionslage grundlegend geändert. Auf der Basis einer Bibliographie, in der zahlreiche bis dahin unbekannte Publikationen Troeltschs nachgewiesen werden konnten, erscheint seit 1998 eine auf 27 Bände angelegte Kritische Gesamtausgabe (Troeltsch KGA). Der «moderne Theologe» und Kulturtheoretiker Troeltsch ist gerade in einer polyethnischen und multireligiösen Gesellschaft wieder interessant.

Das Leben des protestantischen Theologen, Historikers, Sozialtheoretikers, Kulturphilosophen, zeitweiligen Politikers und öffentlichen Intellektuellen Ernst Wilhelm Troeltsch soll hier in vierfacher Weise erzählt werden: erstens als Geschichte eines sehr widersprüchlichen gottgläubigen, auf ganz eigene Weise frommen Mystikers, der sich in harten Seelenkämpfen an den kognitiven Dissonanzen zwischen überkommenem Glauben und moderner Wissenschaft abarbeitete; zweitens als Geschichte eines faszinierend produktiven Gelehrten, der die engen disziplinären Grenzen der Theologie vielfältig überschritt und in ganz unterschiedlichen Diskursen präsent war; drittens als Geschichte eines Gelehrtenpolitikers und politischen Intellektuellen, der im Alter von fünf Jahren die Begeisterung seines Vaters für die Gründung des deutschen Kaiserreichs miterlebte und nach dessen Ende 1918 ein sozialmoralisches Fundament für die von links wie rechts bedrohte Republik zu legen versuchte; und schließlich viertens als Geschichte eines Menschen, der wohl mehr und intensiver, jedenfalls reflektierter als andere unter seiner elementaren Widersprüchlichkeit litt. In seinen Texten zur Ethik spielt der Begriff des «Vielspältigen» eine zentrale Rolle. Das mag auch ein nachdenkliches Zeichen dauernder Unsicherheit über sich selbst sein. Carl Neumann schrieb nach dem Tod seines engsten, fünf Jahre jüngeren Freundes: «Er rang auf wechselnder Szene und mit wechselnden Gegnern; vor allem, er rang mit sich selber. Wir streben zur Ganzheit und zur Einheit der Persönlichkeit. Aber das vielgestaltige und viel sich wandelnde Leben rüttelt und reißt an uns und so sind Widersprüche unser Los.»[17]

1

Jugend in Melanchthons Reichsstadt

Familienbande: Vorfahren und Stämme

Ernst Troeltsch wurde am 17. Februar 1865 in Haunstetten bei Augsburg geboren. Er war ein Familienmensch. Der früheste überlieferte Text aus seiner Feder ist ein kleines Gedicht des damals Zehneinhalbjährigen, mit dem er seinem Vater, Dr. med. Ernst Wilhelm Ludwig Troeltsch, zu dessen dreiundvierzigstem Geburtstag am 9. Dezember 1875 gratulierte; der erstgeborene Sohn dürfte es bei der Geburtstagsfeier im Kreise der Familie vorgetragen haben. Neun Jahre später schickte der Erlanger Theologiestudent seinem Vater zum zweiundfünfzigsten Geburtstag ein Gedicht Der grade Weg bzw. Weg zur Wahrheit, das elementare Frömmigkeit bezeugt. Der Neunzehnjährige verband hier ein hochgradig schwärmerisches Sendungsbewusstsein, das mit idealistischer Emphase zur Lebens- und Weltgestaltung drängte, mit einer Rhetorik der Ratlosigkeit und schließlich demütig-beschwörenden Anrufung des gnädigen Gottes der Liebe, der den verzweifelt Scheiternden aufhebe: «Hat alles Hoffen mir gelogen,/Ist jeder Jugendnerv erschlafft,/Hat um mein Wissen mich betrogen/Mein kleines Bischen Wissenschaft:/Dann schreit durch das Gewirr der Triebe,/Durch Scham u. Zweifelsucht u. Spott/Die Seele laut: Du bist die Liebe,/Du bist die Liebe Herr mein Gott.»[1] Auch andere frühe Texte zeigen elementares Gottvertrauen und eine starke, religiös grundierte emotionale Verbundenheit mit den Eltern und den vier Geschwistern.

Die Familien Troeltsch führten sich auf den 1644 in Reichenbach im Vogtland geborenen Georg Troeltsch zurück, der 1663 oder 1669 «wahrscheinlich wegen Religionsverfolgung»[2] nach Weißenburg am Sand ging und hier als Tuchhandelskaufmann, leitender Forstbeamter und Stadtgerichtsassessor reüssierte.[3] Auch drei seiner Brüder waren als Kaufleute erfolgreich und kamen zu großem Wohlstand. Nach seinem Tod am 7. Mai 1710 betrieben Sohn und Enkel den Tuchhandel erfolgreich weiter.[4] Der fünfte Sohn Georg Troeltschs, Walfried Daniel Troeltsch (1692–1766), ging als Stadtamtmann nach Nördlingen. Er gilt als Ahnherr der Nördlinger Linie. Einige seiner Nachkommen wurden in den erblichen Adelsstand erhoben.

Georg Troeltschs Enkel Johann Ludwig Troeltsch, geboren am 16. Februar 1758 in Windsfeld, kam nach Augsburg, wo er Johanna Barbara Schumm heiratete. Nach seinem Tod am 15. März 1829 verfügte die Witwe über ein erhebliches Vermögen, aus dem 1873 die Johanna Barbara Troeltsch’sche Familienstiftung gegründet wurde.[5] In ihrem Testament hatte die 1843 verstorbene Stifterin erklärt: «Ihren lieben Abkömmlingen, soweit es in ihren Kräften steht, für immer ein treuer Freund in der Not zu bleiben, ihnen auch in fernen Tagen wohl zu tun und einen Vereinigungspunkt zu gründen, welcher noch in späteren Zeiten den Bund der Liebe erhalte, der sie jetzt in der Mitte ihrer lieben Kinder und Enkel so glücklich mache».[6] Es ging, wie die Verwalter der Familienstiftung 1893 schrieben, um den «Sinn für Zugehörigkeit und Zusammenhalt aller Glieder der Familie auch bei deren weitester Verbreitung».[7]

Johanna Barbara und Johann Ludwig Troeltsch hatten acht Kinder, aus denen sechs «Stämme» der Familie hervorgingen. Ernst Troeltsch war ein Enkel des zweitgeborenen Christoph Ludwig Troeltsch und gehörte zum «Stamm B». Christoph Ludwig Troeltsch (1792–1840) hatte am 18. Mai 1820 in Augsburg die Tochter des Schertel’schen Oberamtmannes Barthel in Burtenbach, Wilhelmine Barthel, geboren am 24. August 1794, gestorben in Augsburg am 26. Oktober 1865, geheiratet. Das Ehepaar hatte sechs Kinder: Ludwig August, Carl, Louise, Euphrosyne, Emma und als jüngstes Kind Ernst Wilhelm Ludwig – der Vater von Ernst Troeltsch junior. Dieser war acht Jahre alt, als sein Vater Christoph Ludwig im März 1840 starb. Ernst Troeltsch junior wurde fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod seines väterlichen Großvaters geboren. Und die Augsburger Großmutter starb schon acht Monate nach seiner Geburt. Umso intensiver war seine Bindung zu den Nürnberger Großeltern, den Eltern seiner Mutter.

Da die Geschwister von Ernst Troeltsch senior mit Ausnahme Emma Troeltschs – sie blieb unverheiratet – Kinder hatten, wuchs der junge Ernst mit einer großen Zahl von Cousinen und Vettern ersten Grades auf. Seine Geschwister und er hatten vierzehn Cousinen bzw. Vettern ersten Grades. Über fünf Geschwister des Großvaters väterlicherseits kamen vierundzwanzig Cousinen und Vettern zweiten Grades hinzu. Auch sie spielten in Kindheit und Jugend Ernst Troeltschs eine wichtige Rolle. Einer seiner Cousins war Walter Troeltsch, der nach Professuren in Tübingen und Karlsruhe 1902 Ordinarius für Staatswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg wurde.

Ernst Troeltschs Großvater Christoph Ludwig Troeltsch verdiente viel Geld als Kaufmann in Augsburg. Seine Nachkommen übten Berufe aus wie Buchdrucker, Fabrikant, Lehrer, Kaufmann, Oberregierungsrat, Kirchenrat, Prokurist, Generaldirektor, Universitätsprofessor, praktischer Arzt, Architekt, Diplomingenieur und Chemiker.

Die Augsburger Troeltschs stellten mit ihren Familien wichtige Akteure im protestantischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum der einstigen, stark vom konfessionskulturellen Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten geprägten Reichsstadt dar. Hinzu kam als eine dritte Konfession die kleine, aber seit 1861 schnell wachsende jüdische Minderheit. Harte soziale Gegensätze in der Stadt spiegelten sich auch in der konfessionellen Versäulung. Der junge Ernst Troeltsch und seine Geschwister wuchsen in einer bürgerlichen Lebenswelt auf, in der eine unfanatische protestantische Christlichkeit tradiert wurde. Ihr Familiensinn war auch geprägt von Gefühlen religiöser Verpflichtung. Keiner und keine der bürgerlichen Augsburger Troeltschs ging mit einer Katholikin oder einem Katholiken die Ehe ein. Auch waren die Ehen der Troeltschs bemerkenswert stabil.

Aus dem Besitz von Ernst Troeltsch junior ist ein von seinem Großvater gemaltes kleines «Troeltsch’sches Wappen» überliefert, das er sehr sorgsam und stolz hütete. Dies zeigt seine Verbundenheit mit der Familie ebenso wie sein Interesse an deren Geschichte, die er in einem Brief an den österreichisch-britischen katholischen Laientheologen Friedrich von Hügel allerdings fehlerhaft skizzierte: «Meine Familie ist, in Folge des 30jährigen Krieges, aus der Lausitz nach Schwaben eingewandert und hatte lange in Nördlingen ihren Sitz. Dann ist sie, seit etwa 200 Jahren, in Augsburg eine Großkaufmannsfamilie, die im 18ten Jahrhundert eine ziemliche Rolle spielte, in den Napoleonischen Kriegen ihren Reichtum verlor, aber dann wieder sich hob, heute aber, infolge vielfacher Teilungen und geschäftlicher Missgeschicke keine besondere finanzielle Bedeutung mehr hat. Die jüngeren Söhne pflegten zu studieren, meistens Jura. Ein Theologe ist nicht in der Familie. Dagegen waren verschiedentlich Töchter an Pfarrer verheiratet.»[8]

Drei der sechs Linien der Augsburger Großfamilie kamen am 10. und 11. Oktober 1891 im Hotel Drei Mohren – 2020 umbenannt in Maximilian’s –, dem seit 1495 bestehenden führenden Haus der Stadt, zu einem großen Familientag zusammen. Adolf Walch, der 1854 in Augsburg geborene Sohn von Regina Walch, geb. Troeltsch, ließ für diesen Familientag eigens ein mehrfarbiges Erinnerungsblatt mit einem Stammbaum der Nachkommen Georg Troeltschs und zwei Wappen drucken. Auch Carl Troeltsch senior erstellte zu diesem Anlass ein Verzeichnis von Nachkommen des «gemeinschaftlichen Stammvaters derjenigen drei Linien der Troeltsch’schen Familien, welche zur Teilnahme am Familientage vom 11. Oktober d. J. aufgerufen wurden».[9] Mit seinen Eltern und Geschwistern nahm auch Ernst Troeltsch als Göttinger Privatdozent an dieser großen Zusammenkunft teil.

Nicht zuletzt dürfte die Familienstiftung Johanna Barbara Troeltschs den Familiensinn der Troeltschs gefördert haben. Troeltsch selbst sah es 1913 jedenfalls so: «Die Familie ist durch eine grosse Familienstiftung zusammengehalten, die für Fälle der Not alle Mitglieder sichern soll und die natürlich überdiess einen engeren Zusammenhang der Familie mit sich bringt.»[10] Allerdings klagte die Administration der Familienstiftung, darunter auch Ernst Troeltsch senior, im Oktober 1904 über die «Nichtbeachtung des § 11 der Statuten der Familienstiftung von Seite vieler Abkömmlinge».[11] Er lautete: «Jedes Familienglied hat die Verpflichtung, am Schlusse eines jeden Kalenderjahres einen genauen Beschrieb seiner Familie der Stiftungs-Administration zu übermitteln und der letzteren alle durch Geburt, Heirat oder Todesfall sich ergebenden Änderungen des Familienstandes sofort anzuzeigen.»[12] Diese Berichte sind nicht überliefert. Dennoch lässt sich ein Bild von Troeltschs Vater sehr viel klarer zeichnen als von seiner Mutter.

Familienleben: Der Vater und die Geschwister

Ernst Troeltsch senior wurde am 9. Dezember 1832 in Augsburg im Haus C 251 Am Perlachberge geboren. Getauft wurde er am 18. Dezember 1832 «bei den Barfüßern» in Augsburg, also in der einstigen Predigtkirche des Franziskanerklosters. Wie später seine beiden Söhne besuchte Troeltsch senior das Humanistische Gymnasium bei St. Anna als ein überdurchschnittlich guter, erfolgreicher Schüler. Seit dem Wintersemester 1850/51 studierte er an den Universitäten Erlangen, Zürich und Würzburg Medizin. 1857 legte er das Staatsexamen ab, erhielt am 20. März 1857 seine Approbation[13] und wurde noch im selben Jahr mit der Arbeit Ein Fall von Cancer Melanodes zum Dr. med. promoviert; es ging um die Diagnose und Therapie von Hautkrebs bei einem zweiundsechzigjährigen Pfarrer. Einer ersten Zeit als Assistenzarzt an einer Klinik in Nürnberg folgten Tätigkeiten an Kliniken in Prag und Wien sowie vom März 1858 bis April 1861 als Assistenzarzt in der protestantischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses seiner Heimatstadt. Als praktischer Arzt mit eigener Praxis in Füssen bewarb er sich im September 1862 darum, eine Praxis in Haunstetten zu übernehmen, wohin er am 20. Oktober des Jahres von der Königlichen Regierung berufen wurde.

Eineinhalb Jahre später, am 24. April 1864, genehmigte ihm der Augsburger Magistrat die «Verehelichung» und «Ansäßigmachung» mit seiner Verlobten Friederike Maria Antonie Eugenie Köppel, einer aus Nürnberg stammenden, am 5. März 1841 geborenen Tochter des praktischen Arztes Dr. med. Peter Koeppel und seiner Frau Mathilde Marie Antonie Koeppel, geborene Schleußner. Voraussetzung dieser Bewilligung war vor allem der Nachweis, dass der «Nahrungsstand einer Familie durch das Einkommen des Bittstellers als praktischer Arzt und das Vermögen desselben zu 13,000 M herreichend gesichert erscheint», um künftige Unterstützungsbedürftigkeit durch die städtische Armenpflege unwahrscheinlich zu machen.[14] Ernst Troeltsch senior mietete eine Vier-Zimmer-Wohnung in der Tattenbachstraße 21, der damaligen Bräusölde, dem späteren Gasthof zur Linde. «Die Mutter hatte mit großer Liebe ihm die Wohnung behaglich ausstaffiert, manches neue gekauft und viel vom eigenen dazu gegeben. Und in der Krankenhausmagd Rieke hatte sie ihm auch eine tüchtige Haushälterin bestellt», berichtete Rudolf Troeltsch in seiner Familienchronik.

Ernst Troeltsch senior und Eugenie Köppel heirateten am 17. Mai 1864 ohne Trauzeugen in der Nürnberger Kirche St. Ulrich.[15] Neun Monate später, am 17. Februar 1865 wurde ihr erster Sohn Ernst Peter Wilhelm geboren. Bei der nachmittags um 15 Uhr stattfindenden Haustaufe durch den Vikar Johann August Arndt aus Königsbrunn waren als Taufpaten der Nürnberger Großvater Peter Koeppel, der Augsburger Kaufmann und ältere Bruder Ernst Troeltschs senior Karl Troeltsch und Louise Bischoff, geborene Troeltsch, die Ehefrau des Dekans Moritz Bischoff, zugegen. Am 9. Mai 1865 siedelte die Familie nach Augsburg um, in eine allerdings wenig komfortable und zu enge Wohnung im dritten Stock des Hauses G 332, heute: Oberer Graben 11.

Zum 1. Januar 1868 übernahm Ernst Troeltsch senior als einer von dreiunddreißig in Augsburg niedergelassenen Ärzten neben seiner Praxis, die er in einem separaten Zimmer in der Wohnung der Familie eingerichtet hatte, das Amt des Armenarztes der Stadt. So war er für die Bewohner der «Pfründenanstalt» zuständig, die in Augsburg beheimatete «ganz oder theilweise erwerbsunfähige Personen» aufnahm, «welche sich außerhalb einer Versorgungs-Anstalt nicht fortzubringen vermögen, im Hospital oder in einer anderen hiesigen Wohlthätigkeits-Anstalt aber nicht Aufnahme finden können».[16] Für diese Patienten gründete er später eine kleine Stiftung, aus deren Mitteln «sämmtliche Anstaltsinsassen einmal im Jahr – am Dreikönigstag – mit Bier, Cigarren, Würsten, Chocolade u. s. w. regulirt» wurden. Zwar sind von Ernst Troeltsch senior, dem am 16. November 1872 das Bürgerrecht seiner Heimatstadt Augsburg verliehen wurde,[17] keinerlei Berichte über seine Tätigkeit als Armenarzt überliefert, aber man geht gewiss nicht fehl in der Annahme, dass er in diesem Amt mit den sozialen Nöten der Unterschichten intensiv konfrontiert war. Im Kaiserreich wuchs die Stadt dank ökonomischer Prosperität und starker Industrialisierung schnell. Zwischen 1870 und 1910 verdoppelte sich die Einwohnerzahl von 51.220 auf 102.487.

Die am 9. Januar 1866 geborenen Zwillinge Karl und Wilhelm Troeltsch starben schon nach vier Stunden bzw. drei Tagen[18] – wegen Schwäche als Folge einer zu frühen Geburt. Am 13. August 1867 wurde die Schwester Wilhelmine Auguste Dorothea geboren; ihre Taufe fand am 1. September nachmittags in der Barfüßerkirche statt. Am 18. März 1870 kam der Bruder Rudolf Josef Wilhelm Troeltsch zur Welt; er wurde ebenfalls von Pfarrer Schoenwetter in der Kirche «bei den Barfüssern» getauft. Es folgten weitere Schwestern: Eugenie Troeltsch, in der Familie später «Mokka» genannt, wurde am 30. August 1871 geboren. Vier Jahre später, am 30. Dezember 1875, folgte Mathilde Emilie, benannt «nach der mütterlichen Großmutter», die schon in ihrem zweiten Lebensjahr, am 13. März 1877, starb. Euphrosine Friederike Elise Troeltsch kam am 25. Juli 1879 zur Welt. Sie und Eugenie blieben unverheiratet und wohnten bis zu dessen Tod bei ihrem Vater. Über beide Schwestern ist nur wenig bekannt. Eugenie wurde im «Kuenzerschen Institut» in Freiburg als Hauswirtschafterin ausgebildet und gehörte dem erweiterten Ausschuss der Kriegsfürsorge Augsburg an. Elise, genannt Lili oder auch Lily, war nach ihrem Lehrerinnenexamen wohl seit 1898 Lehrerin an einer Volksschule in Augsburg. Rudolf, der als junger Mann die Propaganda zur Aufrüstung der deutschen Flotte unterstützte und in einem Flottenverein aktiv war, studierte Jura und machte in der bayerischen Justiz Karriere. Er starb im Alter von achtzig Jahren im Chiemgau.

Troeltsch war zwölf Jahre alt, als seine zweijährige Schwester Mathilde Emilie starb. Wie er darauf reagierte, ist nicht überliefert. Er muss aber wahrgenommen haben, dass seine Mutter nach der Geburt dieser Schwester 1875 einige Wochen lang in Lebensgefahr schwebte. Den jungen Ernst Troeltsch scheint dies stark bewegt zu haben. Zu den wenigen Erinnerungsstücken aus seiner Kindheit, die sich erhalten haben, gehört ein auf der Innenseite mit zwei Stickereien verziertes Lederetui mit einem vom Vater am 30. Januar 1876 aufgezeichneten Bittgebet der Mutter. Ernst Troeltsch senior schrieb hier: «Zur Erinnerung an die schweren Prüfungstage, die mit Emiliens Geburt über uns hereingebrochen, an den Schmerz, der bei dem Gedanken an eine mögliche Trennung meine Seele zum Erdrücken beschwerte, auch zum Gedenken der vielen reichen Liebe, die die Deinen nah und ferne dir in schweren Stunden bewiesen; und nie zu vergessen die Freude, die, nichts vergleichbar, durch deine fortschreitende Genesung, mich durchdrang und noch durchdringt, trag diese Uhr; ihr Zeiger möge in sicherem Gange dir mit mir verbunden viele viele Stunden zeigen, es werden gute und schlimme sein, mögen die letzteren nicht allzu viele sein und mögest du sie dann durchleben so tapfer und fromm wie die eben verflossenen. Und hast du die Frage auf dem Herzen ‹Hast du mich lieb›, der Zeiger sage dir auf jeder Stelle die gewünschte Antwort ‹Ja freilich lieb ich dich›. 30/I 1876». Dann folgt der «Stoßseufzer» seiner Frau: «Es ist umsonst, Ihr werdet hie nicht Meister/Des Fiebers und des Todes wirre Geister/Und was nur Eure Lieb’ und Kunst erfunden,/Bannt ihre Macht nur noch auf wenige Stunden./So hab ich Dir denn ganz mich übergeben;/Du bist der Herr ja über Tod und Leben./Und ob ich vielfach fehlte, vielfach irrte,/Sey mir ein gnädiger, ein guter Hirte./Nimm mich zu Dir, Du starker Herr und Meister,/Hinauf in’s Heim der früh verklärten Geister,/Streif ab von mir den Staub von Schuld und Fehle,/Herr Gott, in Deine Hand bestell ich meine Seele.» Ernst Troeltsch senior schrieb dazu: «Stoßseufzer von meiner lieben Frau Eugenie in ihrer schweren Wochenbetterkrankung im Januar 1876 gedichtet und mir am ersten fieberfreien Abende 13. Jan. 1876 diktirt.» Nach der mündlichen Überlieferung innerhalb der Familie hat Ernst Troeltsch das Etui mit einem Portraitfoto seiner Mutter, mit der Liebeserklärung des Vaters an seine Frau und dem Gebet der Mutter noch in der Schublade seines Berliner Schreibtischs gehütet.

Über weitere wichtige Ereignisse im Leben der Arztfamilie gibt eine fragmentarisch überlieferte Chronik Auskunft, die Ernst Troeltsch senior seit dem 29. Oktober 1891 – also bald nach dem großen Familientag – zu schreiben begann. Sie reicht vom Jahr 1832 bis 1890. Eine zweite Familienchronik, die die erste mit vielen weiteren Mitteilungen und Auszügen aus Briefen und eingeklebten Zeitungsausschnitten ergänzt und bis in den Ersten Weltkrieg hinein von Rudolf Troeltsch fortgeführt wurde, stützt sich vor allem auf die im Nachlass seines Vaters gefundenen Briefe und Briefabschriften. Er berichtet hier über Besuche seines älteren Bruders bei dem mystisch erweckten Onkel Louis in Aislingen, der der im Bergischen Land und in Württemberg verbreiteten protestantischen Sekte der Nazarener angehörte. Louis Troeltsch hatte einst ein Theologiestudium abgebrochen, dann als selbständiger Kaufmann in Barmen einiges Geld verdient und daraufhin als Privatier erfolgreich archäologische Ausgrabungen vorangetrieben. 1888 fand er in der Gegend von Aislingen zahlreiche römische Münzen sowie «Thon- und Broncearbeiten». Auch erwähnt die Chronik mehrere Ferienaufenthalte des Bruders bei Verwandten in München, wo «der alte Junggesellenonkel Fritz de Barry» den elfjährigen Ernst in die Museen und staatlichen Sammlungen geführt habe.

Die Chronik zeigt auch: Das in der Literatur zum Kaiserreich oft gezeichnete Bild vom Mann, der weithin bloß den Beruf kennt, und der Frau, die primär nur für die Familie da ist, stimmt im Fall der Augsburger Arztfamilie nicht. Ernst Troeltsch senior war ein naturbegeisterter Mensch, der immer wieder in den Bergen wanderte. Die Familienchronik berichtet von einer Wanderung von Augsburg über Innsbruck nach Salzburg im August 1871 und anstrengenden Bergbesteigungen in den Dolomiten 1885 und 1887. Oft nahm der ausgezeichnete Reiter seine Söhne mit in die Berge. Handwerklich sehr geschickt, stellte er für seine Kinder mehrfach Spielzeug her. In den Sommerferien 1869, die die Arztfamilie auf einem Bauernhof im mittelfränkischen Westheim verbrachte, baute er für den vierjährigen Ernst das sogenannte Westheimer Haus: «Diese Perle allen Spielzeugs war vom Vater dem Sohne Ernst zugedacht, ergötzte dann in gleichem Maße die nachfolgenden Geschwister. Es ist das getreue Abbild, auch in der zerlegbaren Inneneinrichtung, des bäuerlichen Wohnhauses in der Sommerfrische samt Stall und Ökonomiegebäude, eine naturnahe Wiedergabe des Gartens mit seinen Bäumen und ausgestattet mit dem ganzen Inventar eines Bauerngutes. Der größte Tisch ist gerade groß genug, all den Herrlichkeiten Raum zur Aufstellung zu bieten. Wie viele Festtage und Feierstunden wurden uns Kindern durch die Beschäftigung mit diesem Spiel, zu dem sich später noch eine Wiedergabe des Kobelhügels mit Bierkeller und Waldanlage gesellte, verschönt! Wenn uns Kindern des Vaters Freude an Ländlichkeit und schöner Natur in Fleisch und Blut übergegangen ist, mag es diesem einzigartigen, durch die reichen Kombinationsmöglichkeiten seiner Aufstellung die kindliche Phantasie immer neu erregenden Spielzeug zu danken sein», heißt es in der Familienchronik.

Gut fünf Jahre später, im Frühjahr 1875, baute Ernst Troeltsch senior in Pappe «eine 1/2 m hohe getreue Wiedergabe des hiesigen Elias Holl’schen Rathauses, das Vater aus der Erinnerung und unterstützt von den Angaben der Seinen schuf, die er immer wieder an Ort und Stelle schickte, um diese oder jene Einzelheit des Baus zu besehen und ihn anzuleiten». Und zu Weihnachten 1878 suchte er seinen Erstgeborenen durch ein «besonders sinniges, nach Plänen des Vaters von einem Schreiner hergestelltes Geschenk» zu erfreuen: «zwei große Kisten mit sorgfältig gearbeiteten Bausteinen, Rundbögen und Säulen, die die Nachbildung der schwierigsten klassischen Architekturwerke und Bauten bis zur Höhe von 1/2 m gestatteten und den Formsinn dauernd befruchteten».

Im deutschen protestantischen Bürgertum des Kaiserreichs finden sich zahlreiche Söhne, die Gedichte schrieben und an Theateraufführungen mitwirkten. Belegt ist dies etwa für Werner Sombart, der als Gymnasiast gleichaltrigen Freunden seine Gedichte schickte,[19] und Alfred Weber. Auch Ernst Troeltsch übernahm als Gymnasiast und Student gern Rollen auf der Bühne – davon zeugen einige Fotografien. Über seine poetischen Interessen und Talente wird in der Chronik des Vaters berichtet: Die Nürnberger Großeltern Peter und Mathilde Koeppel, geborene Schleußner, priesen 1881 «den tiefen Eindruck, den ein deutsches und ein griechisches Festgedicht wegen ihrer edlen klassischen Form und ihres hohen Gedankenfluges gemacht haben». Diese Festgedichte sind nicht überliefert. Auch von einem Theaterstück Heimliche Liebe von der niemand was weiss hat sich nur ein Plakat finden lassen;[20] der Untertitel lautet: Fragmente einer aristophanischen Komödie, die durch alexandrinische Kritiker verstümmelt und beschnitten und nun von einem Lustspieldichter neueren Datums nach besten Kräften verwässert und wieder zusammengeleimt worden ist. Das Ganze wurde aufgeführt: insceniret, produziret und ad oculos demonstriret von der Confuxia 1884/85. Mehr als zwanzig Rollen waren vorgesehen. «Noch nie dagewesen!», pries Ernst Troeltsch seine dichterische Phantasie. Rudolf berichtet: «Es waren umfangreiche philosophische Dichtungen entstanden, die unter den Freunden des Hauses von Hand zu Hand gingen und Staunen über den früh entwickelten Geist weckten.»

Im Hause eines Arztes und Naturliebhabers