Der Schwarze Tod - Klaus Steinvorth - E-Book

Der Schwarze Tod E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Die Geschichte spielt im Mittelalter zur Zeit der Pest. Sie wütet in der Heimatstadt des 13-jährigen Sebastian und nimmt ihm seine Eltern. Der sterbende Vater vertraut ihm die jüngere Anna an, die er im Wald gefunden und als seine Tochter adoptiert hat. Er schickt die Kinder zu Sebastians Großmutter, die von ihrer Halbschwester der Hexerei beschuldigt wird und aus der Stadt fliehen musste. Die Großmutter lebt im Wald und als die Kinder sie finden, ist ihr Haus von Räubern niedergebrannt worden. Sie kam gerade noch mit dem Leben davon. Es beginnt eine abenteuerliche und gefährliche Wanderung durch das pestverseuchte Land. Sie müssen sich hüten, nicht angesteckt zu werden, aber es drohen ihnen auch viele Gefahren, weil man die Großmutter für eine Hexe hält und Anna für ein Zigeunerkind. Und im Wald lauern die Wölfe. Als sie Nachbarn aus ihrer Stadt treffen, scheint sich ihre Lage zu verbessern. Sebastian begegnet Klara und verliebt sich in sie und er findet in ihrem Bruder Georg einen Jagdfreund. Aber mit den Nachbarn ist auch Tante Walburga gekommen, die Halbschwester von Großmutter, die sie wieder mit allen Mitteln als Hexe bekämpft. So sieht sie in Georgs Verwundung durch einen Eber Großmutter am Werk und plant ihren Tod. Sebastian muss sich zwischen Klara und Anna entscheiden, denen er beiden verspricht, sie später zu heiraten. In einer Höhle, die für ihr Heilwasser bekannt ist, freunden sich Klara und Anna an und ihre Freundschaft wird vertieft, als Anna Klara vor einem Bären rettet. Tante Walburga aber scheitert mit ihren bösen Absichten und stirbt selbst dabei. In der trostlosen Zeit der Pest beginnt eine hoffnungsvolle Zukunft für die Kinder.

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Der Schwarze Tod

Section 1

Klaus Steinvorth

Der Schwarze Tod

FürRosa undCharlotte

Vorfast 700Jahren, das war im Mittelalter,herrschte in Europa eine schreckliche Krankheit, das war die Pest.Mehr als ein Drittel der Europäer starben.Man wusste nicht, warum sie starben. Man hatte keine Kenntnis vondenBakterien,die über dieFlöhe von Ratten die Menschen ansteckten. Man sah nur die schwarzen Pestbeulen an den Körpern der Erkrankten, weshalb man der Seuche den Namen „Schwarzer Tod“ gab.

Die Menschen suchten Schutz vor der Seuche, indem sie sich in ihre Häuser einschlossen oder in die Einsamkeit der Wälder flüchteten. Sie beteten und büßten, weil sie glaubten, Gott wollte sie für ihre Sünde strafen. Sie suchten nach Schuldigen für diese Seuche und fanden sie in den Fremden, den Juden,in allen, die anders aussahen, auch in alten Frauen, die sie für Hexen hielten.

In dieser Geschichte lest ihr von dem 13-jährigen Sebastianundder 11-jährigen Anna,die beide ohne Eltern leben müssen.Sie fliehen mit derGroßmutter, die man für eine Hexe hält,aus der Stadt und kämpfen gegen die Gefahren der Pest und die bösen Absichten der Tante Walburga,Großmutters hasserfüllter Halbschwester.Aber Sebastian verliebt sich auch in Klara.Muss er deshalb Anna verlassen,die zu beschützen er seinem sterbenden Vater versprochen hatte?

1.Kapitel

Sebastianhätte am liebsten mitgeweint, weil alle um ihn herum heulten und jammerten. Aber er konnte nicht. Ein Kloß steckte in seiner Kehle und verstopfte die Tränen. Er starrte hilflos auf Mutter, die laut schluchzte.

„Heilige Jungfrau!“,betetesieund zerrte an ihren Haaren, sodass die Haube herunterrutschte. „Ein Wunder, oh Gnadenreiche, hilf uns, wir bitten dich!“

Großmutter legte eine Hand um Mutters Schulter, während die andere sacht überdasGesichtdes Säuglingsstrich. „Komm schon Kleine, öffne deine Augen!“

Vater, der mit einem Schlag einen Baum fällen konnte, saß zusammengesunken auf der anderen Seite der Wiege, sein Gesicht in den Händen vergraben, die spitzen Schulterblätter wie abwehrende Stacheln ausgefahren. Onkel Konrad, dereinen Schrankauf den Schultern tragen konnte, lag auf den Knien und ließ seinen Kopf wie eine Glocke hin und herpendeln. HugoderSchmied, der eine Eisenstange bog,sahso gekrümmtaus, dass man nur seinen gebogenen Rücken sah. Allein TanteWalburgawar auf den Beinen, machte sich durch das Klappern ihrer Pantoffeln hörbar und vor allem durch das würgende Husten, das sie mit einem Tuch zu dämpfen versuchte.

Sebastian sah Anna an, die aber nicht seinen Blick erwiderte.Sie hielt ihre Ente fest, damit sie nicht flatterte,und schauteängstlich aufdenSäugling. Erwar es aber leid,seineneugeboreneSchwesterdie ganze Zeit im Augen zu behalten. Würde sich dennetwas ändern?Siehatte die ganze Zeit gewimmert und gejammert, gezuckt und gespuckt. Das war schrecklich, ohne Zweifel, aber durch das bloße Zuschauen konnte man ihrauch nicht helfen.

Großmutterträufelteihreine Flüssigkeit ein, einen Tee aus ihren Kräutern, unddieKleine wurderuhiger,ihrAtem ging nicht mehr pfeifend und rasselnd,ihrekleine Brust hob und senkte sich gleichmäßig.

Tante Walburga trat an dieKleine heran.Siefing wieder an zu wimmern undzogsichfest zusammen, alswolltesiedieTantenicht sehen.

Die zog das Tuch auseinander, in demdieKleine lag, und rief: „Seht!“

Alle beugten sich vor und erschraken. AndenAchseln und Leistender Kleinenzeigten sich schwarzeMale. Der Schwarze Tod hatte ihr seinen Stempel aufgedrückt.

Tante Walburga zeigte mitdemFinger auf Großmutter und rief: „Nicht jeder, der heilen will, sollteheilen!“

Jetztschauten alle bestürzt auf Großmutter, die aber nicht ihre Blicke erwiderte, sondern mit ihren großen, grünen Augen durch das Fenster sah, wo noch etwas Himmelblau schimmerte.

Da schriedieKleine.Es warein schriller, heiserer, gurgelnder Schrei,derihr Leben hinausschrie.Erwurde von den dunklen Wänden hin und her geworfen, bis er einem Vogel gleich durch daskleineFenster floh.

Mutterbeugte sich über dieKleine, hülltesiemit zitternden Fingern wieder in das Tuch, hobsiehoch,hieltdasOhr anihrenkleinen Mund und legtesiewieder zurück in die Wiege. Dann fiel sie auf die Knie und murmelte: „Herr, erbarme dich unser!“

Großmutter richtete ihre gekrümmte Gestalt auf und sagte: „Lasst die Mutter mit ihrem Kind allein!“

Ihr Ton war so gebieterisch, dass jeder aus dem Raum drängte.Tante Walburga aber warf ihr einen giftigen Blick zu: „Der Herr weiß zu lohnen, der Herr weiß zu strafen!“

Sie war Großmutters jüngere Halbschwester und jeder wusste um die Feindschaft der beiden Schwestern.Großmutter war schon durch das Alter gekrümmt und weil viele Menschen vom äußeren Anblick her urteilen, galt sie mit ihrem Buckel und ihrer schwarzen Katze als Hexe. Walburga war aber noch jung und schön. Sie war eine reiche Witwe, die sich vornehm kleidete. Deshalb glaubte keiner, dass sie eine Hexe war.

Sebastian aber glaubte es. Er sah doch mit seinen eigenen Augen, wie sie mit allen Mitteln Großmutterschadenwollte.Und jetzt wollte sie Großmutter die Schuld andemTodder Kleinengeben! Denn er zweifelte nicht am Tod seinerkleinen Schwester. In seiner Nachbarschaft waren schon dreiSäuglingegestorben. Sie waren zu schwach, um dem Schwarzen Tod zu widerstehen.

Wenn ihr einer hätte helfen können, dann Großmutter! Sie hatte ihm auch geholfen, als sein Husten begann und alle schon dachten, der Schwarze Tod hätte ihn berührt.Und sie hatte Anna von ihrer rätselhaften Müdigkeit befreit.Sie hattetagelangim Bett gelegenund kein Wortgesagt. Deshalb hatte Mutter nach Großmutter geschickt,als der neugeborene Säugling nicht aufwachen wollte.

Großmutter wohnteim Wald, weil sie ihres Lebens in der Stadt nicht mehr sicher war. Tante Walburgahattedas Gerücht verbreitet, dass Großmutter einen Pakt mit demTeufelgeschlossen hatte. Er verschonte sie, wenn sie ihm dafürdieKinder überließ.

Sebastianging aus derSterbekammer und suchte Großmutter. Er musste mit ihr sprechen, bevor sie sich in ihren Wald zurückzog.

Draußen schien die Sonne aus blauem Himmel, sogar die Vögel zwitscherten. Aber Sebastian wollte nicht sehen noch hören. Wenn Gott die Menschen für ihre Sünden strafen wollte, wieder Pfarrer gesagt hatte, dann sollteGottes lieber blitzen und donnern lassen. Wenn aber der Teufel dahinter stand, was er eher annahm, dann gönnte er ihm nicht die Schadenfreude!

Er fand Anna in der Küche, wo sie der alten Camilla half, die schon seit einiger Zeitohne ihre beiden Mägdeklar kommen musste. Auch der Knecht erschien nicht mehr zur Arbeit. Der Dachdecker, der die Schindeln ersetzen sollte, ließ sich nicht blicken, ebenso wenig wie der Küfer, bei dem sie Holzfässer bestellt hatten. Selbst die Kesselflicker und Besenbinder zogen nicht mehr durch die Stadt. Ruhig war es in der Küchegeworden, nur die Ente watschelte herum, was die Mägde nie erlaubt hätten, aber die alte Camilla mochte Annaundließihr alles durchgehen.

„Wo ist Großmutter?“, fragte er. „Hoffentlich ist sie nicht schon weg, weilTanteWalburga mal wieder Stimmung gegen sie macht.“

„Eure Großmutter wird vorher mit euch sprechen“, sagte Camilla. „Sie weiß, dass ihr in Gefahr seid.“

„Weiß sie, dass ichjetztin Gefahr bin?“, fragte Anna.

Die alte Camillaund Sebastian sahen sie erstaunt an. „Wieso jetzt?“

„Als Mutter schlief, wollte Tante Walburga dieKleine in dem Heilwasser baden, das sie in einem Krug mitgebracht hatte. Ich kam zufällig in das Zimmer, was die Tante nicht gern sah. Aber sie sagte, ich sollte ihr helfen.Da sah ich die schwarzen Fleckenan derKleinen.Die Tante schrie, das wäreWaltrauds schwarze Magie! Ich sollte bezeugen, dass Großmutter dieKleine verhext hätte. Aber ich sagte, Großmutter wollte dieKleine heilen, nicht verderben.Da schrie Tante Walburga, ich wäre eine Hexe wie ihre Schwester Waltraud und würde ihr Schicksal teilen!“

Anna zitterte, als sie das sagte. Dann fing sie an, leise zu weinen. Ihre Ente hatte aufgehört zu schnattern und den Kopf eingezogen.

Die alte Camilla setzte sich zu ihr und strich ihr über das Haar. „Beruhige dich, mein Kind! Bei uns bist du sicher und Großmutter wird dir immer helfen.“

Anna schüttelte traurig den Kopf. „Nicht nur Tante Walburga glaubt, ichwäreeine Hexe. So glauben viele.“

„Ach, hör doch auf!“, sagtedie alte Camilla ärgerlich.

Anna hob die Ente auf und presste sie an sich. „Weil ich ein Findelkind bin. Weil ich nicht zu euch gehöre. DerSatanhat mich wie ein Kuckucksei in euer Nest gelegt.“

Sebastianstarrte sie erschrocken an.Mansprachnie vomSatan!Man sprach manchmal vom Teufel, wenn es nicht anders ging. Aber der Satan war der Herr aller Teufel. Seine Macht war ungeheuer groß.Wenn man seinen Namen nannte, konnte er kommen!

Die alte Camillawurde noch ärgerlicher. „Sprich nicht so, mein Kind!Der böse Feind wartet nur darauf, dass man seinen Namen nennt, damit er zu uns kommt und seine Schlingen um uns legt.“

Sie füllte eine Schale mit dem Tee, den sieaus ihren Kräutern zusammengebraut hatte. „Trink, mein Kind! Es wird dir gut tun!“

Anna trank langsam und bedächtig. Ihre Züge glätteten sich, ein friedlicher Ausdruck kam in ihr Gesicht. Dann streckte sie sich, ihr Kopf rutschte nach hinten, sie wareingeschlafen.Auch die Ente machte es sich bequem und steckte den Kopf in ihr Gefieder.

Sebastian betrachtete Anna und war froh, dass Gott sie ihm zur Schwester gegeben hatte.DieneueSchwester, die Mutter wollte, hatte Gott wieder zu sich genommen.Vielleicht war das besser so.

Denn er hatte bei Mutter auch das gesehen, was Anna beiderKleinenentdeckt hatte: die schrecklichen Male des Schwarzen Todes!Er wollte nicht darüber sprechen, weil er dann an Mutters Tod denken musste.Er hatte auch Angst vor Tante Walburga, die dann sagen würde, aucher undGroßmutter hätten Mutter verhext!

Aber für dieKleine wäre es nicht gut gewesen, ohne Mutter aufzuwachsen.

Jetzt musste er doch an Mutters Tod denken und er biss die Zähne zusammen. Es half ja nichts: Wer die schwarzenMalehatte, wurde nicht wieder gesund.Wer die schwarzenMalehatte, konnte sie aber auch schnell weitergeben! Großmutter sagte: „Siehst du die Male des Schwarzen Todes, lauf schnellwegvon ihm, damit erdich nicht auch anmalt!“

Er musste sichan denGedankengewöhnen, die Stadt zu verlassen, in der Vater und Mutter wohnten.Vater selbst hatte so etwas angedeutet und gemeint, er sollte mit Großmutter darüber sprechen. Deshalb war das Gespräch mit ihr so wichtig.

Er würde die Stadt nur mit Anna verlassen.Er konnte sie nicht allein lassen, sie war seine Schwester.Sie warzwar klein, besaß aber eine Kraft, die auch Großmutter hatte. Wiesiekam sie nicht aus der Stadt.Vater hatte sie vor vielen Jahren im Wald gefunden, als er noch für den Bischof Bäume schlug. Sie redete in einer fremden Sprache, die der Schneider als ungarisch erkannte, weil sein Großvater aus dem Landkam.

Es stellte sich heraus, dass Räuber sie überfallen und ihre Eltern getötet hatten, währendsieselbstfliehen konnte. Tagelang, vielleicht auch wochenlang, hatte sie sich im Wald von Beeren und Vogeleiern ernährt, bis sein Vater auf sie gestoßen war und sie mit Brot und Käse locken konnte. Er gab ihr mit Wein vermischtes Wasser zu trinken, worauf sie einschlief. Er brachte sie nach Hause und sie nahmen sie in ihrerFamilie auf,weil Mutter sie als Gottesgeschenk ansah. Der kleine Clemens war in den Fluss gefallen und ertrunken, seinenviertenGeburtstag hatte er gerade am Tag zuvor gefeiert.

So alt war auch Anna, die mit den Fingern einer Hand antwortete, als man sie fragte. Mutter hättealso zufrieden sein können, dass sie statt Clemens Anna hatte. Und doch wollte sie unbedingt eine eigene Tochter gebären. Aber das war nicht Gottes Wille!

„Die Kleine ist gestorben, weil ich ihren Platz habe“, sagte Anna ganz unvermutet.

Sebastian schrak auf. „Ich denke, du schläfst!“

„Im Schlaf sehe ich, was ich sonst nicht sehe“, sagte sie.

„Und dann siehst du meine Gedanken?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, ob es deine Gedanken sind.“

Da war sie, ihre rätselhafte Kraft, die er nicht verstand!

Er war froh, dass Großmutter eintrat. Er wollte sie bitten, ihm zu helfen, weil er nicht weiter wusste, aber sie achtete nicht auf ihn, sondern setzte sich neben Anna.

„Armes Kind!“, sagte sie in ihrem eigenartigen Singsang, den sie von ihrem langen Aufenthalt im Süden mitgebracht hatte. „So jung und sie wollen dich schon zur Hexe machen. Und ich dachte, nur alte Frauen trifftihrFluch!“

Sie kicherte, aber ihre Augen blieben ernst. „Sie wissen nicht mehr weiter in der Stadt und da muss ja einer Schuld haben. Und da sie es selbst nicht sein können, sind es die Anderen, die Fremden und zu denen gehören wir beide, du und ich.“

Jetzt sah sie Sebastian an. „Du wirst mit Anna die Stadt verlassen und ihr beide werdet aufeinander aufpassen! Du wirst vorher mit deinem Vater sprechen und hören, was er dir zu sagen hat. Ich aber muss mich sofort auf den Weg machen, weil Walburga Böses gegen mich sinnt.“

Dann wandte sie sich wieder an Anna und erklärte ihr anhand eines Zettels, wie sie den Weg zu ihr fanden. Denn Großmutter wollte siebeideaufnehmen, solange der Schwarze Tod wütete.

Es gefiel Sebastian nicht, dass Großmutter sich so viel mehr um Anna kümmerte als um ihn.

Deshalb rief er: „Ach, Großmutter, sagmirdoch, warum der Schwarze Tod über uns gekommen ist!“

Großmutter seufzte. „Ach, Kind,die Frage nach dem Warum kann nur Gott beantworten. Die Frage nach dem Wie ist einfacher, weil Gott uns den Verstand gegeben hat, darüber nachzudenken.Mir scheint, dass die Menschen in allem, was sie tun und sagen, viel sauberer sein müssen. Zu viel Schmutz liegt in der Luft. Und wennder Menschdiesen Schmutzeinatmet, verdirbt sein Blut, er wird krank und stirbt.Die Stadt tut zu wenig gegen diesen Schmutz. Böse Menschen dürfen ihren Schmutz ausatmen und aussprechen.Deshalb müsst ihr die Stadt verlassen.“

2.Kapitel

Es wurde der Befehl gegeben,die Tore der Stadt zu schließen,sodass keiner sie verlassen oder betreten durfte.Wachen wurden aufgestellt, die darauf achteten,alle Menschen zu fangen, diesich ohneErlaubnis aus der Stadt schleichenwollten. Hatten sie die gefasst, mussten sie ihrganzes Geld oder ihr Leben hergeben.

DieFolge war, dass die zurückgebliebenen Bewohner ihre Häuser verriegeltenunddie Stadt in viele Inseln zerfiel, die kaum noch Kontakt untereinander hatten. Nur wer ein vorher vereinbartes Losungswort kannte, wurde eingelassen. Jeder musste sehen, wie er sich selbst half. Auf einen Arzt oder Pfarrer, der Leib oder Seele versorgte, war nicht mehr zu hoffen. Sie hatten sich davon gemacht, wenn sie nicht vorher gestorben waren.

Auch Sebastians Vater hatte sein Haus verschlossen,aber es half nichts, derSchwarzeTod trat dennoch ein.Erholtedie alte Camilla,die nach wenigen Tagen zusammenbrachundnicht mehr aufstehen konnteund so laut keuchte und hustete, dass sie durch die verschlossene Tür zu hören war.

Tante Walburgaverfluchte Großmutter, die durch ihr Bündnis mit dem Teufel sich selbst rettete, dafür aber alle, diean ihre Wundermittel glaubten, sterben ließ.

Zum Glück befand sich Großmutter nicht mehr in der Stadt. Sonst hätte Tante Walburga sie in Ketten legen lassen. Sie kannte genug Leute, die auf sie hörten.

BaldverließsiemitOnkel Konrad und Hugodem Schmieddas Haus.Sie hatten es sehr eilig und fuhren vor Sonnenaufgang davon. Die Kinder von Tante Elisabeth und Onkel Konrad, Georg und Klara, waren Sebastians beste Freunde, aber er konnte sich von ihnen nicht verabschieden. Als er Vater fragen wollte, wie sie durch die Wachen kämen, schüttelte der nur den Kopf und streckte die Arme gegen ihn aus. Er durfte ihm nicht mehr nahe kommen.

Das war ein böses Zeichen. Der Schwarze Tod hatte nicht nur Mutter, sondern auch Vater berührt. Jetzt war es Zeit, dachte Sebastian, dass er mit Anna die Stadt verließ. Er musste nur noch auf das Gespräch mit Vater warten, wo ihm hoffentlich mitgeteilt wurde, wie sie an den Wachen vorbeikamen.

Aber Vater hatte keine Zeit für ihn.Alsermerkte, dassdie alte Camillasich nicht mehr rührte,schob ersie miteinerStange auf die Straße.Die Pestknechte kamenin der Nacht,legtensie in einen Karren undwarfen siemit den anderen Leichen in eine Grube vor der Stadtmauer. Kaum wardiealte Camillaaus dem Haus, verbrannteVateralles, was ihr gehörte.

Dann verrammelte er die Haustür, schlosssichalsodadurch von jeder Hilfe aus. Und als ob das nicht genug wäre, schlug er Bretter um Mutters Krankenzimmer, sodass sie wie in einem Kasten gefangenwar. Dann und wann besuchte er sie, indem er ein Brett beiseite schob und unter das andere hindurch kletterte. Keiner durfte ihn begleiten, er warschweigsam und mürrisch.

DasahSebastian zu seinem großen Entsetzen, dassVaterzweiSärge zimmerte, einen für Mutter, einen für sich!Er ging in seiner Arbeit immer sehr gründlich vor.Alsostand es für ihn fest, dass es keine Rettung mehr für ihn und Mutter gab. Dann wollte er für den Tod bereit sein.

Nachdem er die Särge fertiggestellt hatte, rief er Sebastian zu sich.Er musste zwei Schritte vor ihm stehen bleiben.

„Höre, mein Sohn,ich spreche jetzt erst mit dir, weil ich lange glaubte, der Schwarze Tod würde mich verschonen. Aber dem ist nicht so. Er hat nicht nur deine Mutter, sondern auch mich berührt!“

Er zeigte auf die beiden Särge, die hinter ihm standen.

„Du und Anna, ihr solltdem Schwarzen Todnichtzum Opfer fallen. Großmutter hat mir versichert, dass ihr unter ihrem Schutz steht. Deshalb werde ich euch zu ihr schicken.“

Er machte eine Pause und fasste Sebastian schärfer ins Auge. „Weißt du, warum ich dir deinen Namen gegeben habe?“

Sebastian schaute auf seinen Vaterund erschrak. Erstjetzt erkannteer,wie dürr und klapprig er gewordenwar. Er sah ja schon wie der Tod aus, den sie in der Kirche gemalt hatten!

„Ich habe dich nach dem Heiligen Sebastian genannt, weil er die Menschen vor demSchwarzen Todschützt“,sagte Vater. „Ich hatte bei deiner Geburt das Gefühl, dass Gottdir wohlgesonnen ist, weil duunsnach den vielen Fehlgeburten geblieben bist.“

Er sah ihn noch einmal an und nickte.

„Das Kind, das ich gefundenhabeund als mein eigenes annahm,nannte ichAnna. Auch diese Heilige schützt vor dem Schwarzen Tod. Ich glaube, dass diese beiden Heiligen euer Leben erhalten werden. Ihr müsst aber sofort die Stadt verlassen.“

Er zog einen Beutel hervor, den er ihm reichte. „Das ist mein erspartes Geld. Du gehst jetzt zuJohannes, der im Südtor Wache hält,und gibst es ihm. Er wird euch helfen, weil er mich gut kennt. Leb wohl, mein Sohn! Komm mir nicht zu nahe, dennderSchwarzeTod hat mich schon angefasst. Pass immergutauf Anna auf, du weißt, dass sie es nicht leicht hat.“

Damit wandte er sich von ihm ab,schlurfte langsam von ihm fort, bückte sich, schob das Brett beiseite, um in das dunkle Loch zu steigen,in dem Mutter lag. Sebastian wollte ihm folgen,etwas sagen, ihn aufhalten. Das konnte doch nicht schon der Abschied gewesen sein!Aber Vater schlossdas Brett hinter sich.

Er lief wie betäubt zu Anna, die mit einem Bündel in der Hand und der Ente auf dem Armschon aufihn wartete.Er holtedie letztenReste vonBrot und Käseaus der Küche undzog aus der Kleiderkiste seine Winterjacke heraus.Jetzt verließen sie das Hausunderwäredabeifast über einen Graben gestolpert, den es vorher nicht gab.

„Wo kommt der her? Hast du ihn gegraben?“

Anna nickte. Darüber kämennichtdie bösenGeister.

„Was soll das? Wir bleiben nicht hier.“

„Abersie dürfen uns nicht folgen!“

Sie hatte Recht! Er sah sie dankbar an. „Das hast du gut gemacht!“

Sie fanden Johannes, der sie freundlich begrüßte,als ob er sie schon erwartet hätte.Ernahm gern das Geldundführte sie in einen kleinen Raum, wo sie sich ausruhen sollten,denn ihnen stand eine anstrengende Reise bevor.Bald würde er zurückkommen.

Aber er kam nicht. Die Tür war zugeschlagen und nicht zu öffnen, das einzige Fenster vergittert. Sie waren gefangen, wahrscheinlich in eine Falle gelaufen. Johannes würde sich nicht mehr um sie kümmern, er hatte ja schon sein Geld. Sie aßen die Hälftevon dem Brot und dem Käseund waren immer noch hungrig. Aber das war ein Gefühl, das sie kannten. Wann waren sie das letzte Mal satt geworden?

Schließlich kam Johannes doch noch und brachte geröstete Kartoffeln und Zwiebeln mit. Zwiebeln waren wichtig, erklärte er, sieschützten gegen denHauchdes Schwarzen Todes. Es war ihnen egal, ob die Zwiebeln wichtig waren oder die Kartoffeln schon kalt. Sie schlangen alles in sich hinein und wurden schläfrig und suchten schon nach einem Platz im Raum, wo sie schlafen konnten.

Da erklärte ihnen Johannes, dass er sie in der Nacht, wenn er allein war und seine KameradenWache hielten, durch die Mauer schleusen würde. Sie sollten sich bereit halten. Er ließ sie allein und jetzt mussten sie warten, bis es dunkel wurde.

Als er wiederkam, hielt er den Finger vor die Lippen und führte sie durch eine Tür in einen kleinen Hof, wo ein Karrenstand. Ein Pestkarren, dachte Sebastian mit Grauen, denn man sah die Leichen, die in seltsamen Verrenkungen übereinander lagen. Zum Glück war es so dunkel, dass man sie nicht genau erkennen konnte.In so einem Karren hatte auchdie alte Camillagelegen!

Eine tiefe Trauer durchfuhr ihn. So würden auch Vater und Mutter zum letzten Mal aus der Stadt fahren und kein Mensch würde sie verabschieden! Er biss die Zähne zusammen, um nicht loszuheulen. Nur fort!, dachte er.Nur fort, um dem Schwarzen Tod zu entkommen!

Johannesgab ihnen ein Zeichenund sie folgtenin großem AbstanddemKarren,der mit einem dumpfen Geräusch davonfuhr. Sie hatten um die Räder Lumpen gebunden, damit sie nicht so heftig auf den Boden schlugen, denn nichts hassten die Menschen so sehr, wie in der Nacht den Pestkarren zu hören.

Der bliebvor dem Tor stehen. EinWachmannhob den Arm und öffnete das Tor und ließ den Karren hinaus.In dem Augenblick gab ihnen Johannes einen Wink und sieduckten sich undliefen auf deranderen Seite des Karrens durchdas Tor,damit der Wachmann sie nicht sah. Er tat so, als hätte er sie nicht gesehen,aber es war klar, dass alles mit Johannes abgesprochen war.Der Fahrer des Karrens hatte sie auf jeden Fall nicht gesehen.Er war so betrunken, dass er nicht nach rechts oder links guckte.Ohne Bier und Schnapstat er nicht seine Arbeit.

Dann liefendieKinderso schnell sie konnten in die Nacht hinein.Wie gut es tat, die frischeLuft zu fühlen!Weit hinter sich hörten sie den Fahrer ein Lied grölen.Er war in seinem Rausch und fühlte sich vor dem SchwarzenTod sicher.Aber es dauerte nicht lange, da hatte es ihn auch erwischt. Und doch fand sich ein neuerPestknechtund war bereit, seineArbeitfür Bier undSchnapszu tun.

Der Vollmondstieg hinter dem Wald auf und breitete einen silberner Mantel über die Erdeausundhüllte siein eine feierliche Stille.Sebastianhörte nur noch Annas Atem und ein leises Gurren, das von der Ente kommen musste.Er drehte sich unwillkürlich um und sah die Stadtwieeine riesige schwarze Krötesitzen. Siewürde nicht freigeben, was unter ihr begraben lag.

„Lass uns den Weg zu Großmutter finden!Wir müssen durch den Wald“,sagte Anna und zeigte mit einer Hand nach vorn, während die andere den Zettel trug, auf den sie schaute.

Sieverdoppelten ihre Schritte und Sebastian sah sichimmer wieder um, weil er das Gefühlhatte, man verfolgtesie. Im Licht des Mondeskonnteman sie gut erkennen. Aber es ließ sich weder Mensch noch Tier blicken, sie schienen die einzigen Lebenden auf der ganzen Welt zu sein.

Dennochwar erfroh, als sie den Wald betraten.Jetzt waren sie endgültig den Blicken der Wachen entzogen, die auf der Stadtmauerstanden.Aber das Gefühl, in Sicherheit zu sein, hielt nicht lange vor.

Denn der Wald wurde ihnen unheimlich. Unerklärliche Geräusche schreckten sie auf. Da gab es immer wieder ein Kichern, das sie verspottete. Sogar die Ente sträubte die Federn. Jetzt vermissten sie das Mondlicht, das ihnen so deutlich den Weg gezeigt hatte. Die Zweige, die sie streiften, waren wie Finger, die sie festhielten, die Wurzeln, über die sie stolperten, wie Füße, die sie traten. Als sie auf einmal ein lautes Knurren und Fauchen hörten, war es mit ihrer Fassung vorbei. Anna schrie auf, Sebastian drückte sie an sich, die Ente flatterte aufgeregt. Was war das?