Die Trennung - Klaus Steinvorth - E-Book

Die Trennung E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Im Winter 1945 muss der 12-jährige Ich-Erzähler Karl Kroll zusammen mit Mutter, Großmutter und kleiner Schwester seine Heimatstadt im Sudetenland verlassen. Es gelingt ihnen die Flucht im letzten Zug nach dem Westen, aber der wird von russischen Fliegern getroffen. In dem Tumult geht die Mutter verloren. Die Großmutter ist gezwungen, mit ihren beiden Enkeln die Flucht fortzusetzen, wodurch es fast unmöglich wird, die Mutter wiederzufinden. Aber Karl gibt die Hoffnung nicht auf, und als sich ihnen im Riesengebirge die Möglichkeit bietet, das Kriegsende abzuwarten, macht er sich eigenmächtig auf die Suche. Die 14-jährige Ida, die in ihm ihren jüngeren, im Krieg getöteten Bruder sieht, will ihn nicht allein ziehen lassen und begleitet ihn. Mit ihrer Hilfe findet er seine schwer verletzte Mutter im Krankenhaus von Görlitz und wird Zeuge ihres Heilungsprozesses. Dadurch festigt sich seine Beziehung zu seiner Mutter, aber auch die zu Ida. Karl wird reifer, verlässt seine Kindheit.Die Geschichte hat sich aus den Erinnerungen des Autors weiterentwickelt, der als Kind von fünf und sechs Jahren aus dem Osten flüchten musste und dabei den Trennungsschmerz von seiner Mutter erlebte.

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Klaus Steinvorth

Für die Kinder, die flüchten müssen

Die Geschichte geht auf meine Kindheitserinnerung zurück, die mir die Flucht aus dem Osten hinterlassen hat. Es war eine lange, abenteuerliche Flucht, die im Winter 1945 begann und im Herbst 1946 endete, als wir Westdeutschland erreichten. Da war ich fünf und sechs Jahre alt. Die Angst, von meiner Mutter getrennt zu werden, habe ich nicht vergessen, denn tatsächlich hatte sie sich eine Zeitlang von uns trennen müssen.

Was ich ebenfalls nicht vergessen habe, ist die Furcht vor den Russen, den Hunger und die Strapazen der Flucht, die Sehnsucht nach dem Westen, den Zwischenstopp im Riesengebirge, aber auch das Erahnen der Spannung zwischen den Geschlechtern, die sich im Krieg zwischen Angst und Zuneigung bewegt.

Aus diesen Erinnerungsfetzen hat sich eine Geschichte entwickelt, die ihre eigene Dynamik gewonnen hat. Sie hat nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem biografischen Geschehen und noch weniger ähnelt der Ich-Erzähler dem biografischen Ich. Er ist mit 12 Jahren deutlich älter, weil er in der Lage sein soll, Ängste, Wünsche und Ahnungen bei sich und anderen zu erkennen und wiederzugeben, die für die Geschichte notwendig sind. Er fühlt die Anziehungskraft des anderen Geschlechts, auch weil er Ersatz für seine verlorene Mutter sucht. Er reagiert nicht nur, er handelt auch, sodass er sich über Verbote hinwegsetzen kann.

1

Ich sehe, wie die Dampflokomotive vor dem langen Zug steht und keucht, und genau so keuchen wir. Wir sind schnell gelaufen, als die Nachricht kam, dass noch ein Zug fährt, und jetzt haben wir keine Luft mehr und wissen nicht weiter. Die Menschen drängen sich vor dem Zug und laufen hin und her und greifen nach Türen, die sich nicht mehr öffnen. Aus den Fenstern schreien sie und ziehen mit ausgestreckten Armen dick gepolsterte Frauen hoch oder wollen Kinder annehmen, die man ihnen reicht. Es ist so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten möchte. Aber das kann ich nicht, weil ich mich mit der einen Hand an Mama festhalte und mit der anderen die Tasche trage.

„Kommen Sie! Kommen Sie!“ Ein Mann in der Uniform des Eisenbahners steht vor Mama und rudert mit den Armen. Er bahnt uns einen Weg zum Zug und schiebt die Menschen beiseite, als hätten sie nichts zu sagen. Mama zieht so heftig meine Hand, dass ich stolpere, weil die schwere Tasche gegen meine Beine schlägt. Aber ich lasse nicht los und sehe, wie auch Annie von Mama mitgerissen wird und fast fällt, so schlenkern Rucksack und Tasche um ihren Körper. Ich habe gar nicht gewusst, dass Mama so stark ziehen kann.

Der Eisenbahner kann auch die Wagentür ohne große Mühe öffnen. Ein Griff genügt und die Tür geht auf und ein dicker Mann mit rotem Gesicht starrt uns an. Aber bevor er etwas sagen kann, zieht der Eisenbahner ihn aus der Tür  und stößt ihn zurück in das Menschengewimmel vor dem Zug und ruft: „Frauen und Kinder kommen zuerst!“

Er schlägt die Tür hinter uns zu und ich sehe nichts mehr vom roten Gesicht, denn jetzt werde ich durch einen Wald von Menschen gezogen. Sie sind wie Bäume und ihre Arme wie Zweige und sie schlagen mir ins Gesicht. Der Eisenbahner will, dass wir einen Sitzplatz finden, sagt Mama und ihr Gesicht ist so gespannt, dass es schmal wirkt, als könnte sie damit besser vorwärtskommen. Die Aussicht auf einen Sitzplatz ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann, und ich klammere mich an Mamas Hand und will sie nie wieder loslassen.

Hinter mir keucht Oma und zieht Annie hinter sich her und so geht es mal vorwärts, mal rückwärts, aber meist seitwärts, denn wir werden im engen Gang hin und her geschüttelt, obwohl der Zug noch gar nicht fährt. Die Bäume wollen uns nicht durchlassen, sie sind dick und fest, aber der Eisenbahner ist so stark, dass er sie beiseite schiebt. Er stampft und keucht wie eine Dampflok. Vielleicht ist er ja Lokführer.

Schließlich verschafft er uns den versprochenen Sitzplatz. Wieder will es sich ein Mann nicht gefallen lassen und steht auf und hat die Arme vor der Brust, aber da zieht der Eisenbahner plötzlich eine Pistole und der Mann sagt nichts mehr und verschwindet.

Der Platz reicht für uns, weil Mama mich auf den Schoß nimmt und Oma Annie zu sich zieht, und als wir hochgucken, steht der freundliche Eisenbahner nicht mehr vor uns. Einfach weg, ohne dass wir ihm Danke sagen konnten! Mama schiebt mich beiseite und will dem Eisenbahner hinterher laufen, aber sie lässt es bleiben, zu viele Menschen stehen um uns herum und starren neidisch auf unseren Sitzplatz. Mama sinkt in sich zusammen und nimmt mich wieder auf ihren Schoß und presst ihr Gesicht in mein Haar und murmelt: „Was muss er von uns denken?“

Ich wundere mich, dass er so freundlich zu uns war. Ich habe noch nie freundliche Eisenbahner erlebt. Ich kenne nur ihre strengen Gesichter und dröhnenden Stimmen.

Mama sagt, dass er Papa gekannt hat.

Papa? Ich bin ganz Ohr. Von ihm will ich mehr wissen.

Papa war sehr beliebt.

Ja, das sagen alle Leute, und dann muss es stimmen, aber ich selbst habe von ihm wenig gehabt, weil er immer unterwegs war, irgendwo an der Front. Wenn er nach Hause kam, blieb er nur kurze Zeit und dann musste er mit allen Leuten reden, und wenn er mal mit mir redete, fragte er nur, ob ich brav war und alles tat, was Mama wollte. Dann schaute er von seiner Zeitung hoch und sah mich freundlich an und las schon weiter. Kein Blick auf das Klavier, wo ich mich richtig verbessert hatte. Aber das interessierte Papa nicht. Er fragte nicht einmal nach dem Stück im Notenheft auf dem Klavier. Ich hätte es ihm gern vorgespielt, weil mir Musik mehr liegt als Sport. Das sagt auch Mama.

Einmal sollte ich um das Haus laufen, damit er sah, wie schnell ich war. Er stoppte die Zeit auf seiner Uhr, aber er war nicht zufrieden. „Da ist mehr drin. Nur wer sich anstrengt, wird besser!“

Und dann sagte Mama, er ist vermisst! Er ist mit seinem Panzer nicht zurückgekommen und jetzt warten alle auf ihn. Mama glaubt, dass er zurückkommt. Er hat schon einmal den Anschluss an seine Kompanie verloren und doch den Weg zurückgefunden. Damals hieß es auch: Er ist vermisst! Er ist wie Unkraut, hat Mama gesagt. Das vergeht nicht!

Jetzt sagt Annie von Omas Schoß, sie hat gleich gewusst, dass der Eisenbahner Papa kennt. Alle kennen Papa!

Sie hat mehr Glück bei Papa, sie bekommt alles, was sie will. Sie setzt sich auf seinen Schoß und dann ist Papa ganz anders als bei mir. Er legt die Zeitung beiseite und sie schmust mit ihm und er küsst sie. Bei mir legt er nie die Zeitung beiseite und ich würde nicht wagen, auf seinen Schoß zu klettern. Ich kann auch keinen Kuss erwarten, nur beim Abschied berührt sein Mund meine Stirn.

Mama sagt, ein Mann küsst keinen Mann.

Bin ich denn ein Mann? Ich kann doch noch gar nichts und muss aufpassen, dass ich nicht auf die Nase falle. Das sagt Papa und seine Augen zeigen, dass er es so meint.

Ich will ja gar nicht, dass Papa mich küsst. Ich finde es nur schade, dass er so wenig Zeit für mich hat. Seine Gedanken sind immer woanders, wenn er mit mir spricht.

Es ist gut, dass ich Mama habe. Sie hat immer Zeit für mich. Und wenn sie mich anguckt, ist sie bei mir, nicht woanders. Es ist nur schade, dass sie auf Papa warten muss und nicht weiß, wann er kommt. Sie ist oft traurig und kriegt schnell Tränen, wenn sie von ihm spricht.

Jetzt sitze ich auf ihrem Schoß und fühle mich sicher. Ich schaue hoch und gucke, ob sie traurig ist. Sie beugt sich zu mir und ihre großen, grünen Augen schimmern. Sie sehen nicht mehr besorgt aus wie vorher, als wir noch nicht im Zug waren, sondern kommen mir warm und sanft entgegen, so dass ich am liebsten in sie eintauchen möchte. Mama!, ruft es in mir. Mama!

Durch das Fenster fällt ein Lichtstrahl auf ihr Gesicht, das aufleuchtet und wieder dunkel wird, weil eine Wolke über die Sonne zieht. Aber es ist noch zu erkennen, wie fest und glatt es ist. Sie sieht jünger aus als die anderen Mütter. Ja, ich habe schon gehört, dass sie meine große Schwester sein könnte. Das finde ich gut, dann fühle ich mich ihr näher, dann gehören wir noch mehr zusammen. Sie ist ja auch nicht so wie andere Mütter. Wir können Verstecken spielen und Fangen und Ball werfen und uns kitzeln und lachen und kichern und Grimassen ziehen. 

Wenn aber Annie mitmacht, muss sie im Mittelpunkt stehen und dann wird es kindisch, geradezu blödsinnig. Sie will der kleine Hund Bello sein, den man an der Leine führt, oder sie will selbst die Leine halten und ich soll der Hund sein! Das ist doch total beschränkt! Noch dämlicher wird es, wenn Mama den Hund spielen soll! Wie kann man nur auf so eine strohdumme Idee kommen?! Leider macht Mama manchmal mit und knurrt und winselt und jault dabei. Es ist nicht auszuhalten. Ich kann es nicht mitansehen und laufe hinaus. Aber Annie hüpft und gackert wie ein Huhn!

Mama und Annie sind sich doch ähnlicher, als er mir recht ist. Wenn wir zum Beispiel Besuch haben, wenn ein Kamerad von Papa vorbeikommt, dann begrüßt er zuerst Mama. Er küsst ihr die Hand und schaut sie an. Sehr lange! Er kommt von ihrem Blick nicht los. Erst wenn Mama lächelt und eine kleine Handbewegung macht, nickt er und wendet sich Annie zu und spricht mit hoher Stimme wie ein Kind, bis er sie auf seinen Schoß holt und mit seinen dicken Fingern durch ihr Haar fährt. Und Annie, die dumme Pute, lässt es sich gefallen und öffnet ihre großen blauen Augen ganz weit und plinkert ihn an wie eine Puppe. Ich aber sitze daneben und keiner beachtet mich! Es ist nicht auszuhalten und ich laufe hinaus.

Nachher ist Mama besonders freundlich zu mir und ich und Annie dürfen in ihrem Bett schlafen, ich aber auf der rechten Seite, wo sie besser mit mir sprechen kann.

Ich weiß ja, dass Mama die Hilfe von Papas Kameraden braucht, und es ist gut, dass wir unser Haus mit dem großen Garten haben, das Kindermädchen für Annie, den Chauffeur mit dem Wagen, und ich verstehe, dass sie nett und freundlich zu ihnen ist. Aber was ich nicht verstehe, ist, dass sie plötzlich verschwinden, als wir ihre Hilfe wirklich brauchen. Sie nehmen sogar noch den Chauffeur mit dem Dienstwagen mit. Mama sagt, es gab in der Nacht einen Befehl zum Abmarsch. Ein Offizier ist zu ihr gekommen und hat mit ihr geredet, aber ich durfte nicht dabei sein. Als er wieder weg war, hat Mama geweint, aber sie wollte nicht sagen, warum.

Wenn Mama nicht reden will, hat es keinen Zweck zu fragen. Aber ich glaube jetzt, dass der Offizier den Eisenbahner geschickt hat, um uns zu helfen.

Ich höre, wie Oma strickt. Sie hat ihr Strickzeug herausgeholt, obwohl Annie auf ihrem Schoß sitzt, die dafür aufpassen muss, dass ihr Wollknäuel nicht runterfällt. Ich sehe auf Omas graues, straff nach hinten gezogenes Haar, das in einem großen Dutt endet. Sie lässt sich vom Lärm um sie herum nicht stören. Das beruhigt mich. Solange sie strickt, brauche ich keine Angst zu haben. Mama hat Recht: Es wird alles wieder gut!

Endlich setzt sich der Zug in Bewegung. Es beginnt mit einem lang gezogenen Pfiff, einem Fauchen und einem Ruck, der mich nach vorn stößt und nach hinten drückt, während Annie lacht und Mama erleichtert seufzt und sich zu mir beugt und mich küsst. Ihr festes Gesicht wird weicher. 

Der Zug nimmt Fahrt auf, ich schaue durch das Fenster und sehe die letzten Häuser unserer Stadt im Schnee versinken. Wie eine große Decke liegt er über den Dächern. Kein Mensch ist zu sehen. Vielleicht liegen sie alle unter der Decke und schlafen. Wer weiß, wann sie aufwachen? Die Drähte zwischen den Masten summen ein Lied, es ist eine ganz einfache Melodie, die nur auf und ab geht, hoch und runter, aber sanft und leise. Dazu säuselt der Wind paar Töne hinterher. Es macht müde, ich kann die Augen nicht offen halten.

2

Plötzlich gibt es einen ohrenbetäubenden Knall und ich stürze in einen schwarzen Abgrund und versuche mich festzuhalten, finde aber nichts und falle und falle, bis ich Annies helle Stimme hört: „Mama! Mama!“

Da merke ich, dass etwas Schreckliches im Zug passiert ist und alle raus wollen und auch ich werde mitgerissen und weiß nicht mehr, wo ich bin. Ich höre nur „Die Russen, die Russen!“ und dann heulen Flugzeuge auf und Schüsse krachen und Scheiben splittern. Ich werde nach unten gedrückt und kriege keine Luft und will schreien und kann nicht und  falle wieder in den schwarzen Abgrund.

Als ich aufwache, zittere ich wie verrückt, es ist eiskalt und stockdunkel! Ich höre Schreien, Weinen, Hilferufe, aber sehe nichts in der Nacht. Wo bin ich? Ich war doch eben noch im Zug mit Mama, Oma und Annie! Da schreit meine Schwester, es ist ihre Stimme: „Mama! Mama!“

Wo ist sie? Mal höre ich sie lauter, mal leiser, dann gar nicht. Ich falle, rappele mich auf, laufe weiter und schreie immer wieder: „Hier bin ich! Hier bin ich!“ Bis ich Annie sehe, sie sitzt auf dem Boden und weint. Ich umarme sie, sie klammert sich an mich und schluchzt nach Mama und Oma.

Ich stelle sie erschrocken auf den Boden. Weiß sie nicht, wo sie sind?

Sie schüttelt den Kopf und fängt wieder an zu weinen. Ich will mehr wissen, rüttele sie an den Schultern, jetzt kommt es drauf an, Mama und Oma zu finden, bevor sie verloren gehen! Aber sie heult nur noch lauter.

Eine Frau taucht auf und glaubt, dass sie unsere Oma gesehen hat, und führt uns zu einem Platz neben der Lokomotive, der ein Treffpunkt ist, weil so viele Menschen da stehen.

„Oma! Oma!“, schreit Annie und da kommt sie uns mit ausgebreiteten Armen entgegen und umarmt uns und schluchzt: „Meine Kinder! Meine Kinder!“

Ich zerre an ihrem Ärmel. „Wo ist Mama?“

Oma sieht mich erschrocken an. „Ist sie nicht bei euch?“

Annie schreit wieder nach Mama.

Die findet sie gleich, beruhigt Oma. Wir sollen warten. Sie kommt gleich mit ihr zurück.

Aber Annie heult noch stärker und Oma nimmt sie hoch und hält meine Hand und so ziehen wir zu Dritt los. „Maria!“, ruft Oma. „Maria!“ Aber wir bekommen keine Antwort.

Oma fragt viele Leute nach Mama und beschreibt sie und zeigt auf mich und Annie, aber alle schütteln den Kopf und sehen uns traurig an. Bis eine Frau uns sagt, sie war in unserem Abteil gewesen und kann sich gut an Mama erinnern. Sie glaubt, dass Mama durch das Fenster gestiegen ist. Durch den Angriff sind die Scheiben kaputt gegangen. Viele Leute sind so rausgekommen.

Oma schüttelt den Kopf. Sie glaubt nicht, dass Mama ohne uns den Zug verlassen hat.

„Vielleicht ist sie noch im Zug“, sagt die Frau. „Meine Tochter ist auch im Zug geblieben.“

Das Mädchen sagt, die Leute haben sie nicht durchgelassen.

Oma sagt, unsere Mama kommt immer durch, weil sie sich nicht von uns nicht trennen will.

Aber Oma will mit uns auf die andere Seite des Zuges. Vielleicht ist Mama aus dem Fenster gefallen und hat sich verletzt und kann nicht zu uns.

Annie weint wieder los und ich muss sie beruhigen. „Was wird Mama sagen, wenn du so heulst?“ Da hört sie auf.

Wir gehen um die Lokomotive und müssen über den hohen Bahndamm, als wieder die Flugzeuge aus dem Himmel heulen. Es ist schrecklich, wie von oben aus dem Nachthimmel das Feuer fällt. Die Erde zittert und ich hätte gern ein Loch vor mir gehabt, in das ich springen könnte. Dann sind die Flugzeuge nicht mehr da, aber wieder schreien alle, denn der Zug fährt weiter! Und die Lokomotive pfeift dazu, als hätten wir selbst Schuld, dass wir ausgestiegen sind!

Aber er kann doch nicht einfach wegfahren und uns zurücklassen!

Einige springen noch auf die Trittbretter, aber die meisten liegen auf dem Boden und weinen und jammern. Doch der Zug keucht davon. Und pfeift noch mal zum Abschied!

Die Frau, die Mama im Zug gesehen hat, ist mit uns gekommen und schimpft auf den Lokführer, weil er uns zurückgelassen hat. Denkt er denn gar nicht an die Frauen und Kinder? Wahrscheinlich hat er keine Frau und keine Kinder!

Das Mädchen sagt, der Führer pfeift auf die Frauen und Kinder.

Die Mutter schimpft mit ihr. Sie soll nicht so vorlaut sein.

Das Mädchen zuckt nur die Achseln.

Ich aber denke, dass Mama nicht aus dem Zug konnte. Und jetzt ist sie weg! Das ist so schrecklich, dass ich mich nicht mehr halten kann und auf den Boden falle.

Annie lässt sich auch fallen. Sie schreit nicht, sie wimmert.

Oma nimmt sie wieder auf den Arm. Sie ist sicher, dass Mama im nächsten Bahnhof auf uns wartet und fragt die Frau, ob sie den nächsten Bahnhof kennt.

Sie sagt, es ist Waldenburg. Dahin will sie.

„Wir auch!“, ruft Oma und freut sich, nicht richtig, ein bisschen nur,  aber es macht mich nicht mehr so ängstlich. Denn ich erinnere mich, dass Tante Hanna in Waldenburg wohnt. Zu ihr wollten wir, dann wird Mama schon vorgefahren sein.

Auch Annie hört auf zu wimmern. Oma erklärt es ihr ruhig und langsam: „Mama konnte nicht aus dem Zug raus und ist zu Tante Hanna weitergefahren und wartet auf uns.“

„Warum konnte sie nicht raus?“, fragt Annie.

„Weil die Tür zu war. Du hast doch gesehen, wie die Russen den Zug kaputt gemacht haben.“

„Meine Tür war auf!“, sagt Annie.

„Nur kurz!“, sagt die Frau und beugt sich zu ihr. Sie hat ein feines Gesicht, aber man sieht, dass sie leicht geschminkt ist. Das macht auch Mama, wenn Papas Kameraden kommen. Aber das macht man doch nicht jetzt, wo Krieg ist! Sie sagt, wir hatten Glück hatten, dass wir rauskamen. Dann waren die Türen zu, weil die Russen aus den Flugzeugen schossen.

Sie schlägt mit der Faust in die Hand: Klatsch, Bums!

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich glaube, sie sagt es nur, damit Annie nicht nach Mama heult. Gut, dass ich mehr als Annie weiß! Aber ich heule ja auch nicht so schnell wie sie! 

Das Mädchen geht zu Annie und streicht ihr über das Haar: „Du kriegst deine Mama wieder! Hab keine Angst!“

Annie schaut sie mit ihren großen Augen an.

„Du musst aber warten und nicht weinen!“

Annie wendet den Kopf von ihr ab. Sie ist enttäuscht. Sie will nicht warten.

Das Mädchen sagt zu mir, dass ich mir auch keine Sorgen machen soll. Es wird schon alles wieder gut werden.

Ich bin ganz erschrocken darüber. Warum sagt sie mir das? Hält sie mich auch so klein wie Annie, dass ich gleich losheule? Aber ich mag ihre Augen. Sie sind fröhlich wie manchmal bei Mama. Dennoch! Sie soll mich nicht wie einen kleinen Jungen behandeln!

Ich gehe zurück zu Oma und fasse ihre Hand an, die sie mir entgegenhält. Dann wandern wir am Bahndamm entlang wie die vielen anderen, die dem Zug folgen, der ohne uns gefahren ist. Einige gehen auf den Schienen, aber das ist Oma zu gefährlich. Sie glaubt, dass die Flieger wiederkommen. Wer oben ist, wird schneller getroffen.

Ich will etwas sagen und merke, wie der Wind mir die Worte aus dem Mund nimmt. Er zwickt mit seiner scharfen Zange überall dorthin, wo noch etwas Haut frei ist. Ich ziehe über das Gesicht den Schal, den Oma mir gestrickt hat.

Gut, dass wir sie noch haben! Und wie stark sie ist! Sie trägt Annie auf dem Arm und über der Schulter eine schwere Tasche, die gegen ihren Körper schlägt, und zieht mich mit ihrer Hand, dass ich kaum nachkomme. Ich würde mich am liebsten auf den Boden werfen und schlafen, aber weiß, dass es nicht geht. Erst müssen wir Mama finden.

Ich nehme mir vor, erst zu schlafen, wenn ich bei ihr bin.

Ich sehe, wie Annie eingeschlafen ist. Ihr Kopf rutscht auf Omas Schulter hin und her, aber sie wacht nicht auf. Wenn ich doch auch wie Annie ein kleines Mädchen wäre und auf den Arm könnte! Ich muss immer nur gehen und gehen und weiter gehen, obwohl jeder Schritt weh tut. Aber ich will nicht zurückbleiben und beuge mich nach vorn und merke kaum, dass ich gezogen werde. Dafür tut sich ein schwarzes Loch auf, in das ich nicht fallen darf.

Ich bleibe stehen, weil Oma an meiner Hand zieht. „Du bist im Gehen eingeschlafen!“

Ich bin zu müde, um mich zu wundern.

Oma lacht. Aber ich will nicht, dass sie lacht. Lachen tut weh! Ich will, dass sie ein Bett für mich findet. Meine Füße können doch nicht ewig weiterlaufen! Bin ich je so lange gelaufen? Irgendwann muss Schluss sein.

Und dann ist Schluss, weil Oma einsieht, dass wir nicht weiter können. Wir setzen uns irgendwo hin, ich weiß nicht, wo, denn ich bin sofort weg. Dann höre ich Pferde schnauben und öffne die Augen und ein Wagen taucht auf und Oma ruft und winkt. Eine Stimme sagt etwas, aber da greift Oma schon nach meinem Arm und schubst mich hoch, während sie mit Annie folgt.

Ich mag den Mann nicht und rücke zu Oma, die zum Glück ihren Arm um mich legt. Jetzt ist es gut, jetzt kann ich mich ausstrecken.

3

Ich wache in einem Zimmer auf, das nur von einer Kerze beleuchtet wird. Es ist entsetzlich kalt, meine Zähne klappern wie eine Nähmaschine. Ich liege in einem Eisbett, aus dem ich kriechen will, aber Oma steht vor meinem Bett und hat zwei Ziegelsteine in ein Tuch gewickelt, die sie unter meine Decke schiebt. Was soll das? Ich berühre sie mit den Füßen. Sie sind heiß! Ich verstehe: Sie sollen mein Bett wärmen! Aber es ist schwer, ihre Wärme einzufangen. Komme ich zu nahe, verbrenne ich meine Füße, ziehe ich sie zurück, wird mir kalt.

Ich sehe, wie Annie neben mir schläft. Sie hat ihre Puppe aus dem Rucksack geholt und hält sie fest an die Brust. Es ist die Puppe, die Mama ihr zum Geburtstag geschenkt hat.

Mama! Wo ist sie? Warum ist sie nicht bei uns? Sind wir schon bei Tante Hanna? Es kommt mir alles so fremd und fürchterlich vor. Ich würde am liebsten unter die Decke kriechen, aber sie ist dünn und kratzt und stinkt.

Oma liegt auf der anderen Seite von Annie und ich beuge mich zu ihr und frage leise, wo Mama ist und wo wir sind. Und sie sagt mir, dass wir noch nicht in Waldenburg sind bei Tante Hanna, sondern beim Kutscher, der auch müde ist und schlafen muss und uns ein Bett gegeben hat, weil er so freundlich ist. Und morgen nimmt er uns nach Waldenburg mit und morgen werden wir Mama sehen.

Ich bin so froh, dass mir gleich wärmer wird, und mein Blick fällt auf Annie und sie schläft so schön und ich sage mir, so will ich auch schlafen, und krieche unter die Decke.

Am nächsten Morgen fahren wir nach Waldenburg. Oma und Annie sitzen hinten und ich sitze vorn auf der Bank und sehe, wie der alte Mann die Pferde lenkt. Er braucht nicht viel zu tun, die beiden Pferde wissen es selbst.

Ihre mächtigen Hinterteile stampfen und dampfen. Sie lassen nicht nur aus ihren Mäulern und Nüstern Dampf raus, er kommt auch aus ihrer Haut. Schwitzen sie trotz der Kälte so  sehr? Ich weiß, dass nur noch die alten Pferde auf den Höfen bleiben, alle anderen müssen in den Krieg. Die vor mir sind also sehr alt und haben sicherlich etwas Besseres verdient, als in der Kälte einen Wagen zu ziehen. Ich würde gern Oma fragen, wie alt sie sind, aber sie hat die Augen geschlossen und Annie schläft auch. Ich mag sie nicht wecken.