Der Hitlerjunge Hans - Klaus Steinvorth - E-Book

Der Hitlerjunge Hans E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Hans Baran ist 15 Jahre alt und lebt in Oberschlesien, das heute zu Polen gehört. Er kämpft als Hitlerjunge am Ende des Zweiten Weltkrieges für den Endsieg, als der Krieg für Deutschland schon verloren ist. Er glaubt aber an den Endsieg, weil auch sein bester Freund, der Kameradschaftsführer Siegfried, daran glaubt. Sein Vater und sein Bruder sind berühmte Soldaten, sein Vater ist Panzerkommandeur in Russland, sein Bruder ein berühmter Jgdflieger. Ihrem Beispiel will er folgen. Sein Geburtstag fällt mit dem Hitlers zusammen, so dass er glaubt, er muss ein besonders guter Gefolgsmann des Führers sein. Aber er ist nicht sicher, ob er die hohen Erwartungen, die an ihm gestellt werden, erfüllen kann. Er verliebt sich in Gudrun, Siegfrieds Schwester, und erfährt durch sie, dass der Krieg nicht so rosig aussieht, wie er es sich vorstellt. Marie, die Verlobte seines Bruders, sieht den Kieg noch kritischer. Sie ist kaholisch, halb polnisch und weiß, dass der Krieg die beiden Volksgruppen, die in Oberschlesien leben, die Deutschen und die Polen, heillos verfeindet. Marie ist auch sehr hübsch, das beeindruckt Hans. Deshalb folgt er oft ihrem Rat. Der Krieg rückt näher. Die Russen kommen, die Oberschlesier flüchten. Hans und seine Freunde verschlägt es nach Breslau, der Hauptstadt Schlesiens. Sie ist zur Festung erklärt worden, um den Vormarsch der Russen zu stoppen. Aber die Russen lassen sich nicht aufhalten, sie schließen Breslau ein. Keiner der Bewohner Breslaus kann herauskommen. Was wird Hans in dieser ausweglosen Situation tun? Wird er Siegfried folgen, der bis zu letzten Blutstropfen für den Sieg kämpfen will? Oder lässt er sich von Marie überreden, die ihn verstecken will? Hans hat zum Geburtstag eine Mundharmonika geschenkt bekommen und spielt auf ihr, so oft er kann. Er liebt Lieder. Lieder waren aber für den NS-Staat ein Mittel, die Jugendlichen zu beeinflussen. Wer die HJ-Lieder singt, marschiert mit.

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Klaus Steinvorth

Vorwort

Hans Baran ist 15 Jahre und lebt in Oberschlesien, das heute zu Polen gehört. Er kämpft als Hitlerjunge am Ende des Zweiten Weltkrieges für den Endsieg, als der Krieg für Deutschland schon verloren ist. Er glaubt aber an den Endsieg, weil sein bester Freund, sein Kameradschaftsführer Siegfried, daran glaubt. Er glaubt auch, weil sein Bruder, ein berühmter Jagdflieger, ihm ein Vorbild ist. Und weil er denselben Geburtstag wie Hitler hat, will er ein besonders guter Hitlerjunge sein.

Hans verliebt sich in Gudrun, Siegfrieds Schwester, und erfährt durch sie, dass der Krieg nicht gut aussieht. Marie, die Verlobte seines Bruders, sieht den Krieg noch kritischer. Sie ist katholisch, halb polnisch und weiß, dass der Krieg die Deutschen und die Polen in Oberschlesien zu Feinden macht.

Hans und seine Freunde verschlägt es nach Breslau. Die Russen haben die Stadt eingeschlossen, ein Entkommen ist nicht möglich. Was wird Hans in dieser ausweglosen Situation tun? Wird er Siegfried folgen, der bis zum letzten Blutstropfen für den Sieg kämpfen will? Oder lässt er sich von Marie überreden, die ihn verstecken will?

Hans hat zum Geburtstag eine Mundharmonika geschenkt bekommen und spielt auf ihr, so oft er kann. Er liebt Lieder. Lieder waren aber für den NS-Staat ein Mittel, die Jugendlichen zu beeinflussen. Wer die HJ-Lieder singt, marschiert mit.

Zum Autor

Klaus Steinvorth wurde am 24.3.1940 in Neutitschein/Mähren geboren und verlor früh seinen Vater im Krieg. Seine Mutter und Großmutter, in Oberschlesien beheimatet, flohen mit ihm in den Westen und erzogen ihn dort. Sein Onkel, Hans Bunzek, ein bekannter Jagdflieger, fiel mit 21 Jahren. Klaus Steinvorth war Gymnasiallehrer und wohnt jetzt bei Hamburg. Er hat Jugendbücher im Ensslin- und Fischer-Verlag veröffentlicht.

Bildnachweis

Titelbild, Deutsches Historisches Museum. Rückseite: deAcademic

Der 15. Geburtstag

Hans wachte mit einem Ruck auf und wusste, dass es sein Geburtstag war. Aber er freute sich nicht darüber wie früher. Er spürte vielmehr ein würgendes Gefühl im Magen, als ob er sich übergeben müsste. Warum?, fragte er erschrocken.

Man erwartete ihn auf der Parade. Das war für ihn immer das Wichtigste und Schönste gewesen. Die Parade war doch für ihn da! Weil sein Geburtstag auf den Führergeburtstag fiel, feierte die ganze Stadt, das ganze Land seinen Geburtstag mit! Die Fahnen wurden auch für ihn gehisst, die Trommeln auch für ihn geschlagen, die Trompeten auch für ihn geblasen. Was gefiel ihm daran nicht?

Doch es gefiel ihm schon. Aber es wurde ihm jetzt deutlicher bewusst, dass es auch eine Verpflichtung war. Sein Geburtstag machte ihn zum Führerkind. Das bedeutete, treu zum Führer zu stehen, komme, was da wolle. Josel hatte geschrieben, er musste durch äußere und innere Haltung beweisen, dass er es wert war, ein Führerkind zu sein.

Schaffte er das? Man erwartete so viel von ihm. Als Führerkind musste er zu den Besten gehören. Er musste seinem Vater und Josel folgen, die zu den Besten gehörten. Das war nicht leicht, aber er musste es versuchen. Er durfte nicht aufgeben.

Er sprang aus dem Bett. Innere und äußere Haltung! Die äußere Haltung bewies er durch seine Uniform, in die er schlüpfte wie in eine zweite Haut. Er betrachtete sich wohlgefällig im Spiegel: Vom Schiffchen auf dem Kopf bis zu den blank gewienerten Schuhen gab er das Bild eines strammen Hitlerjungen ab. Die innere Haltung bewies er durch Einsatz, Treue und Gehorsam. Er würde es ihnen zeigen, allen in der Welt würde er es zeigen!

Er stürmte aus dem Haus und schloss sich der Parade auf der rot und schwarz geflaggten Krakauer Straße an und sang aus voller Brust zwischen Trompetenstößen und Trommelschlägen ihr Lied: Vorwärts! Vorwärts / schmettern die hellen Fanfaren / Vorwärts! Vorwärts / Jugend kennt keine Gefahren / Deutschland, du wirst leuchtend stehn / Mögen wir auch untergehn.

Sie marschierten unter den wogenden Hakenkreuzfahnen, zwischen den applaudierenden Zuschauern in endlosen Kolonnen, in denen allein die Hitlerjugend mit fünf Fähnlein von je 150 Mann dabei war. Wie hüpfte ihm das Herz vor Freude, weil er eins war mit dem mächtigen deutschen Volk. Jetzt wusste er, wofür er lebte, wofür er gebraucht wurde in dieser schicksalsträchtigen Zeit, wo es auf jeden ankam, auch auf ihn.

Schön war auch, dass die Mädel mitmarschierten, unter denen er Gudrun entdeckte, blond und hell und stramm und schlank. Er durfte sie natürlich nicht anstarren, und er konnte sie ja auch nur von fern gesehen, aber er wünschte, sie würde ihre Augen auf ihn richten, und manchmal hatte er das Gefühl, sie tat es.

Er sah sie noch einmal, als der Kreisleiter zu ihnen redete und von ihrer Pflicht sprach, wie der Führer standzuhalten und nicht zurückzuweichen. Und dann winkte er Gudrun zu sich und sie stieg nach oben und verlas den Gruß an den Führer mit klingender Stimme: „Möge er noch lange zum Segen und Wohl des deutschen Volkes regieren!“

Er klatschte sich die Hände wund und ein gewaltiger Applaus rauschte durch die ganze Stadt und selbst die Fahnen standen starr und die Bäume hoben ihre Äste.

Nach der Parade lief er nach Hause und musste den Geburts- tagskuchen anschneiden und die 15 Kerzen ausblasen. Er schaffte es kaum, weil alle ihn so fest umarmten, als wollten sie ihn erdrücken, und es gefiel ihm nicht, ihre wogenden Busen zu fühlen, wo er doch schon ein Mann war. Bei Marie gefiel es ihm, weil sie hübsch war und nach Veilchen roch. Es machte ihn auch verlegen, sie war Josels Verlobte. Sie aber drückte drauf los, weil sie ihn nicht voll nahm. Er war ihr Hoppek, mit dem sie machen konnte, was sie wollte.

Marie hatte ihren jüngeren Bruder durch einen Unfall verloren, im Schwimmbad, wo der Bademeister auf ihn hätte aufpassen müssen und doch nicht gesehen hatte, dass er auf dem Grund lag. Jeder fragte sich, wie es dazu gekommen war, wo er doch schwimmen konnte. Seitdem glaubte Marie, dass so was auch ihm passieren könnte, und behandelte ihn wie einen kleinen, dummen Hoppek. Wenn er dagegen protestierte, sagte sie: „ Josel hat mich gebeten, ein Auge auf dich zu werfen. Ich weiß, dass du auf Josel hörst und so wird es dir nicht schwerfallen, auf mich zu hören. Oder?“

Er nickte sofort, wie er immer nickte, wenn sie ihn um etwas bat. Nachher ärgerte er sich darüber und wollte das nächste Mal widersprechen, aber wenn sie vor ihm stand, konnte er es nicht, weil sie so hübsch war, so schlank, so geschmeidig. Er dachte, dass sie so hübsch sein musste, weil für Josel nur das hübscheste Mädchen gut genug war, denn sein großer Bruder war ein Held.

Er gehörte mit über 75 Abschüssen zu den berühmtesten und hoffnungsvollsten Jagdfliegern des Reiches. Er hatte in Groß Strehlitz so viele Verehrer, dass Hans immer wieder auf ihn angesprochen wurde, weil man sein Bild, seine Unterschrift, einen Gruß, eine Verabredung haben wollte. Leider war er selten zu Haus, und wenn, dann nur kurz, so dass Hans ihn vermisste, gerade jetzt an seinem Geburtstag, wo er ihn erwartet hatte. Er war im nahen Stubendorf stationiert, aber irgendetwas musste dazwischen gekommen sein, kein Wunder, denn in diesen unruhigen Zeiten, wo das Reich in größter Gefahr war, musste er dauernd in die Maschine steigen.

Marie schenkte ihm eine Mundharmonika und spielte das Geburtstagslied: Viel Glück und viel Segen. Er spielte es nach und merkte, dass es ihm nicht schwer fiel. Marie freute sich und umarmte ihn, musste aber sagen, dass am Anfang ein Instrument leicht war. Dann aber musste man üben, üben und nochmals üben, um es beherrschen zu können.

Seine Mutter hatte es nicht so mit Mahnungen und Ratschlägen. Sie ließ ihn eher laufen, weil sie ihn im Schatten Josels sah, von dem sie die ganze Zeit sprach. Deshalb hatte Hans mehr Freiheiten, was ihm gefiel. Die Taschenlampe gefiel ihm auch, die sie ihm schenkte, denn die war spitzenmäßig verarbeitet, mit Batterien, die gut und gerne 20 Stunden hielten, und einer Leuchtkraft von über hundert Metern. Marie, die natürlich etwas dazu sagen musste, hoffte, die Lampe würde ihm den rechten Weg leuchten, wenn es dunkel um ihn wurde.

Von seiner Großmutter bekam er ein Liederbuch und darin gab es Lieder, die er auf seiner Mundharmonika nachspielte. Aber es gab auch Kirchenlieder, denn sie konnte es nicht lassen, ihm etwas von der Kirche unterzuschieben. Sie schenkte ihm ein zweites Buch von irgendeinem Pater, das den Titel hatte: „Die Starken und die Schwachen“. Für ihn war gleich klar, dass er es nicht lesen würde, denn er hatte keine Lust über die Starken und Schwachen im Glauben zu hören. Doch das konnte er seiner Großmutter nicht sagen, die beleidigt wäre und zurück nach Gleiwitz zu Tante Martha fahren würde. Seine Mutter wollten sie bei sich haben, weil sie das Haus und den Garten machte.

Von seinem Vater bekamen sie keinen Brief, so dass sie nicht wussten, was er mit seinen Panzern an der Ostfront machte. Man meldete Frontbegradigungen und Truppenzusammenziehungen im Radio.

Am Abend traf sich die Jugend der Stadt im Castellschen Park, um dem Führer bei Fackelschein Treue bis ins Grab zu geloben. Als Hans sich in der Nähe des Schwanenteichs aufstellte, roch es schon nach lauem Frühling, so dass er sein Hemd hochkrempelte und sein Halstuch lockerte.

Zuerst sah er Gudrun und erinnerte sich, wie er einmal auf dem Hindenburgplatz vor ihr gestolpert war. Sie half ihm auf und ihre Augen hatten sich zum schönsten Augenblick versenkt, den er sich vorstellen konnte. Dann sah er Marie, die für eine Mädelschaft ihre Fahne weihte. Er dachte, als sie den Arm hob, um dem Führer ewige Treue zu geloben, dass sie die Hübscheste war, und war sehr stolz auf sie.

Er marschierte leicht und frei mit seinen Kameraden und sang aus voller Kehle: Die grauen Nebel hat das Licht durchdrungen und die düstren Tage sind dahin.

Josel

Sein Bruder kam am nächsten Wochenende, worauf alle gehofft hatten, weil er von Stubendorf auf einen Sprung vorbeischauen konnte. Er sah gut aus, dachte Hans, ach, bei ihm war alles gut, er war ja ein Held und schwebte dennoch nicht über den Wolken. Beim Fliegen schon, natürlich, aber nicht, wenn sie zusammen waren, wo er von Mann zu Mann zu ihm sprach, leider nur sehr selten, er hatte ja wenig Zeit, er musste immer etwas erledigen.

Am Abend war er mit Marie weg, um sich Heinz Rühmanns neuesten Film „Die Feuerzangenbowle“ im Lichtspielhaus anzusehen. Dann machte er es sich im Café Niedlich gemütlich, wo zum Tanz aufgespielt wurde, aber darüber sagte er nichts, obwohl Hans gern davon gehört hätte.

Beim Frühstück kamen sie endlich zusammen und da fragte Josel, weil es ihn interessierte, wie er in Sport war. Hans sagte, dass er im Turnen gut war, im Fußball leider nicht und auch nicht im Laufen und Springen, wo er jedenfalls nicht zu den Besten zählte, was er unbedingt wollte. Aber am schlimmsten war das Boxen, wo er ein, zwei empfindliche Niederlagen hinnehmen musste, was ihn ärgerte. Leider waren die anderen größer, hatten mehr Reichweite, obwohl er jeden Morgen seine Arme durch gymnastische Übungen zu strecken versuchte.

Josel war nicht viel größer als er, ähnelte vom Gesicht auch eher ihrer Mutter, bei der alles fein und zierlich war. Aber er hatte den untersetzten und muskulösen Körper von ihrem Vater, auch seine kurzen, festen Schritte und seine blauen Augen. Er lachte, weil Hans die Großen und Starken beneidete, schlug ihm auf die Schulter: „Ach, Hans, wenn du Flieger werden willst, brauchst du nicht Größe und Stärke, vielmehr musst du wendig sein und flink, ein Händchen für die Maschine haben, ein Gespür für Wind und Wetter.“

Hans wollte alles über sein Fliegen hören, über seine Luftkämpfe und Abschüsse, aber darüber redete Josel nicht viel. Er sagte nur, man sollte nie übermütig werden und sich zurückziehen, wenn der Gegner zu stark war.

Josel brauchte nicht zu prahlen, er konnte es sich leisten, bescheiden zu sein, denn jeder wusste doch, dass er ein Held war. Er war auch der Held für die Freunde seines Vaters, die am Nachmittag zu ihnen kamen: Dr. Scholtys, ihr Hausarzt, und Kretschmar, der holzbeinige Lehrer, der auch Hans unterrichtete. Sie wollten hören, wie Josel die Lage beurteilte. Hans wurde zum Glück nicht hinausgeschickt und sah seinen Bruder an, der sagte, es kam auf die Übersicht an.

Sie riefen sofort, dass sie die Übersicht nicht hatten, und Josel antwortete: „Man muss nur hoch genug fliegen, um die Übersicht zu haben.“

Dr. Scholtys wiegte den Kopf, wie es seine Art war, und meinte: „Ikarus ist zu hoch geflogen und abgestürzt!“ Da lachte Kretschmar: „Ikarus ist nicht seinem Führer gefolgt und deshalb abgestürzt!“ Dr. Scholtys wiegte wieder den Kopf: „Es ist nicht so einfach, einem Führer zu folgen, der ein Labyrinth gebaut hat, aus dem keiner herauskommt.“ Kretschmar lachte: „Man muss nur den richtigen Führer haben, dann kommt man aus dem Labyrinth heraus.“

Josel nickte Kretschmar zu und sagte, dass sie den richtigen Führer hatten, und erzählte von seinem Besuch bei ihm in der Wolfsschanze. Er hatte ihm gegenübergestanden und in seine Augen gesehen und wusste, dass er dem Führer vertrauen konnte, weil er noch ein paar Überraschungen hatte, um den Krieg siegreich zu beenden. Da riefen Dr. Scholtys und Kretschmar, sie glaubten auch, dass der Führer noch ein paar Überraschungen hatte.

Sie gingen dann, was Hans sehr recht war, denn sie hatten so eine Art zu reden, die ihm nicht gefiel. Wenn Kretschmar lachte, schien es ihm, als wollte er sich lustig machen. Er bewunderte Josel, dass er sich darüber nicht aufregte. Er fragte ihn, wieso er so ruhig war, und Josel sagte: „Sie haben dem Führer nicht in die Augen geschaut wie ich!“

Davon wollte Hans mehr hören, denn wenn man ein Führerkind war, musste man alles über den Führer wissen.

Das Wichtigste war, an den Führer zu glauben. „Hat dir Pfarrer Lange nicht gesagt, dass der Glaube Berge versetzt?“

Hans nickte.

„So fest musst du auch an den Führer glauben. So ein Glaube hilft. Dann bist du zu großen Opfern bereit.“

Er sah ihn mit seinen leuchtend blauen Augen an. „Zum Beispiel Abraham. Er war bereit, seinen einzigen Sohn zu opfern, weil er Gott glaubte. Dieser Glaube rettete Isaak das Leben.“

Es war Hans, als ob Josel ihm ein tiefes Geheimnis anvertraute. Er nahm seine Hand und versprach ihm, an den Führer zu glauben.

Seine Großmutter und Marie traten ein, den Kaffeetisch zu decken, und er nahm sofort Platz. Wenn er aufgeregt war, hatte er Hunger. Was er von Josel gehört hatte, war sehr aufregend. Er stopfte ein Stück Streuselkuchen in sich hinein und Josel rief, es war schön, dass man heutzutage nach Herzenslust Kuchen essen konnte. „Das gab es nicht, als ich klein war!“

Alle schauten ihn verwundert an: Kuchen nach Herzenslust gab es nur, weil er gekommen war. Seine Mutter sagte, sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er als Kind kein Kuchen bekommen hätte, und seine Großmutter meinte, das müsste aber gewesen sein, als er noch ganz klein war.

Die Zeit meinte er, rief Josel. „In Deutschland herrschten Hunger und dumpfe Armut. Opa Karl zum Beispiel arbeitete in lebenslänglicher Abhängigkeit auf dem Rittergut vom Grafen von Renard und ich kann mich erinnern, wie ich als kleines Kind unter der Kuh lag, damit ich ein paar Spritzer Milch abbekam, wenn sie gemolken wurde. Wisst ihr das nicht mehr?“

Keiner antwortete, alle sahen ihn mit großen Augen an und Josel erinnerte an Opa Alfred, der aus Borowno kam, diesem polnischen Kaff ohne Bildung und ohne Aufstieg. „Wir Deutsche waren von jedem gesellschaftlichen Aufstieg ausgeschlossen, bis sich das alles änderte, radikal änderte, und durch wen?“

Josel machte eine Pause und rief triumphierend: „Durch den Führer! Durch ihn ging es uns besser! Durch ihn waren wir wieder wer in der Welt!“

Hans klatschte in die Hände und schaute, als Marie und Josel sich küssten, aus dem Fenster. Er konnte aber sehen, dass seine Mutter zu ihnen eilte und sie beide umarmte.

Sie wünschte, sie würden bald heiraten, denn in diesen unruhigen Zeiten sollte man damit nicht zu lange warten.

Seine Großmutter trank ihre Tasse Kaffee aus und sagte: „Ach, Kinder, wenn ihr heiratet, gibt’s was zu hoffen!“

„Ich hoffe auf Enkel“, lachte seine Mutter.

„Ich hoffe, dass die Barans und die Klischowskis, wieder zusammenkommen!“, sagte seine Großmutter.

Man guckte verlegen auf die Großmutter. Josel sagte auch sofort, er wollte Marie doch nicht heiraten, weil sie eine Klischowski war. Sie war hübsch, das war der Grund! Alle lachten und Marie lachte sehr hell.

Josel setzte sich an das Klavier und sang: In einem Polenstädtchen, da wohnte einst ein Mädchen, das war so schön!

Man lachte, aber Marie lachte nicht. Sie sagte, ihr wäre lieber, sie heirateten bald, denn sie hätte Angst um ihn und jeder Abschied würde ihr das Herz brechen. Jetzt guckte man sie verlegen an und sie sagte, ihr träumte, dass sie Josel hoch oben sah, wo er sich nicht halten konnte und abstürzte. Josel rief, das war ihre Höhenangst, wo ihr schwindlig wurde, und sie gab es zu und alle nickten.

„Als Flieger kann ich mir Höhenangst nicht leisten“, sagte Josel. „Ich lasse andere abstürzen, mich nicht!“

Marie strich über Josels Arm. „Gut, dass du nicht so ängstlich bist!“ Sie gab ihm einen Kuss.

Hans rief: „Josel ist doch ein Held! Er hat keine Angst!“

Sie lachten, aber er hatte das Gefühl, sie lachten ihn aus.

Richtig schön war das Abendessen, weil es Rindsrouladen mit polnischen Klößen und Preiselbeerkompott gab, Josels Leibgericht. Danach wurde Sliwowitz ausgeschenkt und er durfte ein Gläschen trinken. Er schaute auf Josel und Marie und dachte, was für ein vollkommenes Paar sie waren. Er spürte einen Schmerz in seiner Brust. Er würde nie ein so hübsches Mädchen im Arm halten.

Am nächsten Morgen musste Josel früh weg und Hans war stolz auf ihn, wie er in der schmucken Fliegeruniform stramm und schneidig in der Tür stand. Er war auch traurig, weil er nicht wusste, wann er ihn das nächste Mal wiedersah. Als sein Bruder ihn umarmte, wurde ihm das Herz schwer, aber seine Augen flossen über, als er die Tränen von Marie sah, die sich an Josel schmiegte und nicht von ihm lassen wollte.

Bald darauf guckte sich auch Hans „Die Feuerzangenbowle“ an, um herauszufinden, was Josel und Marie wohl gefühlt hatten, als sie den Film sahen. Zuerst kam die Wochenschau und die war ein Knaller! Jagdflugzuge rauschten durch den Himmel, geschleuderten Pfeilen gleich, wo jeder Flieger seinen Abstand hielt und darauf brannte, den Feind zu finden. Man sah einen Piloten in Großaufnahme von hinten, in der einen Hand den Steuerknüppel, in der anderen das Maschinengewehr. Das musste Josel sein, der von hinten genau so aussah.

Er wartete nur darauf zu schießen, und da kam schon der Feind, ein dunkler Punkt noch, rasend auf ihn zu, aber Josel nagelte ihn über Kimme und Korn fest und zog durch. Feuer! Treffer! Das getroffene Flugzeug trudelte in die Tiefe und zog eine schwarze Rauchwolke hinter sich her. Schon schraubte sich Josel wieder hoch, die Sonne im Rücken, so dass er wie ein blendender Blitz in die feindliche Rotte fuhr. Feuer! und Treffer! und Rauch! Was für ein Held!

Jetzt konnte er „Die Feuerzangenbowle“ genießen und lachte über die Lehrer und lachte mit Hans Pfeiffer und freute sich, dass er seine Eva bekam. Als er das Lichtspielhaus verließ, fühlte er sich viel besser und beschloss, auch ein Held zu werden, und wollte sich auf jeden Fall nicht mehr alles gefallen lassen.

Wehrübung

Hans fuhr am Wochenende mit der Kameradschaft auf den Annaberg, nicht zur Klosterkirche, die seine Großmutter aufsuchte, sondern zur Thingstätte, wo alles weit und groß war. Da gab es nichts Dunkles und Enges wie in einer Kirche, sondern man schaute in die Landschaft und fühlte sich wie ein Flieger, der das Land unter ihm mit Leib und Seele verteidigte. Vor den in Stein gehauenen tapferen Kämpfern des ewig deutschen Schlesien standen sie und hörten, wie Ernst Beier mit erhobenem Arm ihren Schwur wollte: „Wir geben keinen Zentimeter unserer heiligen Heimat preis. Wir schlagen diesmal den Strom mongolischer Horden zurück!“

Ernst senkte aber nicht den Arm, sondern starrte in den Himmel und schrie: „Fliegeralarm! Volle Deckung!“

Sie mussten, obwohl sie keinen Flieger sahen, in die Pfütze vor ihren Füßen fallen. Als Hans nur eine Sekunde zögerte, spürte er im Nacken die Faust von Ernst, der ihn in den Dreck drückte. Dann brüllte er, dass sie wie Scheißkerle aussahen, die sofort die Klamotten zu wechseln hatten.

Sie zogen sich bis auf die Unterwäsche aus, nahmen ihre Ersatzklamotten, fuhren in frische Hemden und Hosen, säuberten das dreckige Zeug so gut sie konnten und packten es in die Tornister zurück. Nichts durfte schmutzig werden, alles musste ordentlich aussehen. Packen war aber etwas, was Hans hasste, und Ernst wusste es und beobachtete grinsend seine Mühen und schrie, als Hans fertig sein wollte: „Du packst wie ein Pollacke, aber nicht wie ein Deutscher!“

Er gab ihm einen Stoß, dass Hans taumelte, und höhnte, dass er von ihm, dem Bruder des berühmten Josef Baran, mehr erwartet hatte und riss ihm den Tornister aus den Händen und schüttete den Inhalt über der Pfütze aus. Die meisten lachten, aber Hans knirschte mit den Zähnen, denn er sah sein Zeug wie Josels Namen im Schmutz liegen. Er fragte Ernst, warum er ihn und seinen Bruder beleidigte, wo beide doch das Beste für den Führer gaben, sein Bruder als Kampfflieger, er als Führerkind.

Ernst brach in schallendes Gelächter aus, winkte die Kameraden zu sich und rief mit dem Finger auf Hans zeigend, dass dieser Kerl sich erdreistete, ungehorsam zu sein, weil er ein Geburtstagskind des Führers sein wollte.

„Wenn der Führer das wüsste, schickte er dich wegen Wehrkraftzersetzung ins KZ und da nützt dir dein Geburtsdatum ein Scheißdreck!“

Er zwang Hans, den Tornister so lange zu packen, bis jeder Handgriff saß, und befahl ihm, mit dem vollen Tornister um die Thingstätte zu laufen. Jetzt wusste Hans, warum sie den Tornister Affen nannten, denn er drückte immer schwerer auf seine Schultern.

Er wusste aber auch, dass er allein gegen Ernst nichts ausrichten konnte, dass es besser war, nicht unangenehm aufzufallen, um von den erzieherische Maßnahmen, auf die Ernst so stolz war, verschont zu bleiben. Also ertrug er geduldig das Programm, das schonungslos durchgezogen wurde. Zuerst kam das Marschieren mit schwerem Gepäck, das sie für die Übernachtung mitschleppen mussten. Das waren das große Zelt, die Zeltstangen, der Proviant und das Kochgeschirr, sogar das Feuerholz, weil der Wald noch feucht war. Dann kam das Schwimmen in einem kalten Teich, was ihm nicht leicht fiel, da er schnell fror, zuletzt aber, und das war das Schlimmsten, kam das Boxen. Darin war er sowieso schon schlecht, nun aber bekam er durch das Los Erwin zum Gegner, der noch nie einen Kampf verloren hatte und für seine harten Schläge bekannt war.

Es hieß zwar, dass gelost wurde, aber Hans war sicher, dass Ernst seine Hand im Spiel hatte, der ihn von Anfang an nicht mochte. Er hielt ihn für einen Poussierstängel, der den Kopf nach den Mädeln drehte, und nannte ihn einen Scheißkerl, weil er glaubte, wegen seines Geburtsdatums und seines Bruders Sonderrechte zu beanspruchen. Deshalb musste er gegen Erwin antreten.

Der war groß und schob seinen mächtigen Oberkörper nach vorn und ließ die Arme hängen, damit er wie ein Gorilla aussah, der schon durch seinen Anblick Angst einjagte.

Hans wollte keine Angst zeigen und stellte sich mit breiter Brust vor ihm auf. Der Gorilla nannte ihn grinsend den kleinen Gernegroß, machte einen raschen Ausfallschritt, tänzelte erstaunlich beweglich herum und holte zum ersten Schlag aus. Den konnte Hans parieren, nicht aber den zweiten, der viel stärker war und ihn erwischte, so dass er auf dem Boden lag und nach Luft schnappte.

Das war für alle normal und keiner sagte was zu seiner Niederlage, weil Erwin eben der beste Boxer war, und jeder sich freute, dass es ihn nicht erwischt hatte. Aber Ernst Beier musste seinen Senf dazugeben und mit einem Blick voller Verachtung auf Hans verkünden: „Es genügt nicht, auf gewisse Sonderrechte zu pochen. Man muss sich schon aus eigener Kraft behaupten!“

Er liebte es, große Sprüche zu klopfen, und hörte damit auch nicht auf, als es inzwischen dunkel geworden war und sie das Zelt aufschlugen und Feuer machten und die Erbsensuppe herumrührten. Ernst war nicht müde, er hatte kein Stück getragen, kein Stück mitgearbeitet, er konnte nur hin und her rennen und wie ein scharfer Hund knurren, während bei ihnen der Magen vor Hunger knurrte.

Er sprach von dem ewigen Gesetz, nach dem nur der Starke überlebte. „Deshalb dulde ich keine Schlappschwänze, keine Nörgler, denn der Nörgler stellt sich außerhalb der Gemeinschaft! Der ewige Nörgler ist der Jude, der bar jedes gesunden Instinkts an allem etwas auszusetzen hat!“

Er stand am Lagerfeuer und aus seinen Augen blitzte es und er schlug die Klampfe und sie sangen mit: Wir tragen stolz des Führers Namen/ Wir wollen seine Besten sein/und keiner fragt, woher wir kamen / bei uns gilt nur der Kerl allein!

Dann durften sie essen, aber Hans mochte die fade Erbsensuppe nicht, in der es kaum Erbsen und noch weniger Speck gab. Den anderen erging es ähnlich und sie legten bald die Löffel beiseite und hofften auf das Ende des Essens, weil sie nach dem Abwasch in ihr Zelt konnten, wo sie unter sich waren. Ernst hatte sein eigenes Zelt, weil ein Führer auch nachts seine hervorgehobene Position deutlich machen musste, wie er sagte. Sehr hervorgehoben fand Rudi Malcherek und zeigte zwischen die Beine und sie kicherten und lachten erst richtig los, als Ernst in seinem Zelt verschwunden war und sie unter sich waren und mit dem Lästern anfangen konnten.

„Ernst Scheiß!“, sagte Rudi, „Ernst Scheißkerl!“, sagte Hans und Karl Mader fragte, ob sie wussten, dass Ernst Scheißkerl bei der Rassenprüfung durchgefallen war, und erzählte, was er von seinem Bruder gehört hatte, der in der Napola war. „Da musst du mit nacktem Oberkörper und Turnhose vor den Ärzten stehen und die vermessen dir den Schädel und sagen dir, was du rassisch für ein Typ bist. Mein Bruder war überwiegend nordisch mit kleinen Anteilen von fälisch und westisch, was gut ist. Ernst Scheißkerl aber war ostisch, so dass er nicht in die Napola durfte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihn nicht als rassisch unrein einstuften. Ein Arzt sagte, fast ein Ostjude!“

Sie gackerten los, man hätte gleich wissen müssen, dass er ein Scheißjude war. Rudi schrie, er wäre gern dabei gewesen, um dem Scheißkerl die Hose herunterzuziehen und herauszufinden, ob es ostisch zwischen den Beinen hing!

Jetzt brach lautes Prusten aus und es begann das Austauschen schweinischer Witze, die Hans nicht hören wollte, weil er nicht vergessen konnte, wie Rudi ihm die Turnhose heruntergezogen hatte. Aber er konnte auch nicht seine Rassenprüfung für die Napola in Loben vergessen.

Das war überhaupt etwas, was ihm zu schaffen machte, weil viele Kameraden an ihm herumzupften und herumdrücken und beim Ringen und Rangeln ihm zwischen die Beine fuhren. Aber er konnte mit keinem darüber reden.

Am nächsten Morgen weckte sie Ernst Scheißkerl viel zu früh auf, als ob er gehört hätte, was über ihn gesagt wurde. Er stand gestiefelt und gespornt vor ihnen und laberte über die kerngesunden Frühaufsteher und die verweichlichten Langschläfer. Sie hörten gar nicht hin, machten sich über das Frühstück her, das ihnen besser schmeckte als das Abendessen, weil Erwins Mutter selbst gemachte Erdbeermarmelade mitgegeben hatte.

Es war aber eklig anzusehen, wie er mit der Zunge die Marmelade sich aus den Mundwinkeln holte. Hans musste darauf gucken und Ernst Scheißkerls Aussprüche über die germanischen Eroberer und slawischen Untermenschen hören. Aber weil er wusste, dass er die Rassenprüfung nicht bestanden hatte, nahm er ihn nicht ernst.

Doch konnte er nichts machen, weil er sein Führer war. Er packte schnell, schulterte, stand stramm und schmetterte das Lied, das Ernst Scheißkerl am meisten gefiel:Die Welt gehört den Führenden / sie gehen der Sonne Lauf / Und wir sind die Marschierenden / und keiner hält uns auf / Das Alte wankt, das Morsche fällt/ wir sind der junge Sturm / Wir sind der Sieg / Sprung auf marsch, marsch / Die Fahne auf den Turm!

Sein Vater

An einem Morgen, kaum war Hans aufgestanden, kam seine Mutter ihm entgegen und sah ihn mit flackernden Augen an. Sie sagte, dass sie seinen Vater gesehen hatte, der mitten in der Nacht vor ihrem Bett stand.

Seine Großmutter rief „Jesusmaria!“ und bekreuzigte sich und ihm wurde ganz mau, weil es nach Geist und Gespenst klang. Sie musste geträumt haben, sagte er, denn sein Vater kämpfte mit seinen Panzern an der Ostfront, weit weg von ihnen in den Steppen der russischen Horden. Aber sie bestand darauf, dass er leibhaftig bei ihr gewesen war, ganz ruhig und friedlich, fast fröhlich und er sagte, sie sollte sich keine Sorgen machen, er hätte seine Pflicht getan.

„Kommst du nach Hause?“, hatte sie ihn gefragt und er hatte lächelnd mit Ja geantwortet. „Wann?“, wollte sie wissen. „Bald“, antwortete er und beugte sich über ihr Bett und sie wollte ihn an sich ziehen, aber da war er verschwunden. Seine Mutter hatte ein gutes Gefühl, weil sie sicher war, dass er bald zurückkam, aber seine Großmutter schüttelte den Kopf und begann zu beten. Sie sagte, sie sollten in den nächsten Tagen zum Annaberg hoch pilgern, denn hier konnte nur die heilige Anna helfen.

Zuerst wollte seine Mutter nicht, weil sie keine große Kirchgängerin war. Sie wusste, dass auch sein Vater und Josel einen weiten Bogen um die Kirche machten und sie nur zu Familienfeiern betraten, also zur Taufe, Hochzeit und Beerdigung. Aber als seine Großmutter von Frau Ribnik redete, die zur Heiligen gefahren war und danach Post von ihrem Sohn bekommen hatte, gab seine Mutter nach.

Sie seufzte, dass man ja nie wusste, was sie oft sagte. Dann wollte auch noch Marie mit und bat Hans, mitzukommen, und er konnte nicht Nein sagen, denn wenn Marie ihn um etwas bat, gab er nach. Obwohl er sich oft darüber ärgerte.

Er ging also mit, wenn auch zögernd und unschlüssig, denn die heilige Anna verkörperte für ihn das Polnisch-Katholische, das von der Seite seiner Großmutter kam, auch von Maries Seite, die beide polnisch konnten. Aber er wollte nicht das Polnische verstehen, denn wenn sie es sprachen, zischten sie fortwährend und hatten feuchte Augen.

Die heilige Anna hatte früher ein Kloster auf dem Annaberg gehabt, das aufgegeben worden war für ein Soldatenheim und ein Kriegsgefangenenlager, vor dem SS-Soldaten standen. Die guckten nicht gerade freundlich, als sie vorbeikamen, so dass sie sich beeilten und in ein Gartenlokal gingen, von dem man eine schöne Aussicht hatte. Von dort sah man den Turm der alten Wallfahrtskirche, auf dem ein schwarzer Klotz lag, von dem Hans immer glaubte, er könnte jeden Moment herunterfallen. Im Lokal arbeitete eine Kellnerin, der die Großmutter etwas Geld gab, weil sie den Schlüssel zur Kapelle der heiligen Anna hatte. Sie schloss ihnen den dunklen Raum auf und zündete eine Kerze an.

Jetzt leuchtete die Holzfigur der heiligen Anna auf, die als Gottes Großmutter die heilige Jungfrau und das Jesuskind in ihren Armen hielt, alt und ehrwürdig, aber doch nicht so fremd. Hans hatte manchmal das Gefühl, dass es die Großmutter war, die seine Mutter und ihn in der Hand hielt. Ihn schauderte bei dem Gedanken, dass er dann das Jesuskind wäre, und wünschte sich zugleich, auch so beschützt und verehrt zu werden.

Die Großmutter und seine Mutter hatten sich inzwischen niedergekniet und Marie legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn nach unten, damit er der Heiligen seinen Respekt erwies. Er wäre gefallen, hätte sie ihn nicht gehalten, und weil er immer noch schwankte, ließ sie ihn nicht los, was er mochte, denn er roch ihr Parfüm, das Josel aus Paris mitgebracht hatte. Er merkte, dass sie zu weinen begann, leise zwar, dass es keiner mitbekommen sollte, doch er hörte es. Dabei betete sie sehr schnell und nannte Josels Namen und er wusste, dass sie nicht wegen seines Vaters mitgekommen war, sondern wegen Josel.

Weil ihr Gesicht so nah an seinem war, tropften ihre Tränen auf ihn und er musste auch weinen und zitterte wie Espenlaub. Da drückte sie ihn an sich. Jetzt betete er auch für Josel, nicht für seinen Vater, wie er es vorgehabt hatte. Er dachte sogar: Was geht mich mein Vater an? Wenn ich einen Wunsch frei habe, soll der für Josel sein. Die heilige Anna kann sich nicht um alle Soldaten kümmern, die in Lebensgefahr sind. Dann soll sie ihr Augenmerk auf Josel richten, das genügt mir.

Sofort hatte er ein schlechtes Gewissen. Er zeigte der heiligen Anna, dass ihm sein Vater nicht wichtig war. Sie würde ihn nicht auf ihrer Wunschliste haben, die sie Gott vortrug.

Es war ihm ein böses Vorzeichen, dass er, kaum war er aus der Kapelle getreten, den alten Kirchturm schwanken sah. Der schleuderte den schwarzen Klotz direkt auf ihn. Er konnte einen Schrei nicht unterdrücken, worauf sie ihn verwundert anguckten und er sofort abwinkte. Es war natürlich eine Sinnestäuschung, denn der Kirchturm stand ja immer noch, aber er wusste, dass sie vergeblich auf Vaters Rückkehr hofften.

Seine Großmutter und Mutter und Marie sangen: Sankt Anna voll der Gnaden/ du Bild der Herrlichkeit/ gepriesen sei dein Name/ jetzt und in Ewigkeit!

Bald kam ein Paket mit dem persönlichen Besitz des Oberleutnants Paul Baran, das ihnen schrecklich in die Glieder fuhr, so dass keiner es öffnen wollte. Die Augen seiner Mutter hatten sich mit Tränen gefüllt, Seine Großmutter bekreuzigte sich, Hans riss vorsichtig das Papier auf und las den beiliegenden Brief.

Im Felde, den 8.5.1944. Sehr geehrte Frau Baran! Ihr Gemahl, Herr Oberleutnant Paul Baran, ist von einem Einsatz auf feindlichem Gelände westlich von Odessa am 20.4. nicht zurückgekehrt. Wir sind gezwungen, anzunehmen, dass Ihr Gemahl im Kampf um die Freiheit Deutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland, gefallen ist. Die Gewissheit, dass Ihr Gemahl für die Größe und Zukunft unseres ewigen Deutschen Volkes sein Leben hingab, möge Ihnen in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat, Kraft geben und Ihnen ein Trost sein. In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie mit Heil Hitler.

An seinem Geburtstag, am Führergeburtstag war sein Vater gefallen, im russischen Schlamm versunken. An dem Tag hatte er gefeiert, an der Parade teilgenommen, aber nicht an ihn gedacht. An Josel dachte er jeden Tag, betete für seine sichere Rückkehr, auch auf dem Annaberg, aber für seinen Vater hatte er nicht beten wollen.

Es war nicht richtig. Die heilige Anna hatte es ihm übel genommen und ein Zeichen gegeben. Der Kirchturm hatte seinen Klotz auf ihn geschleudert.

Er erinnerte sich, wie ihm am Morgen seines Geburtstages unwohl gewesen war. Wenn gerade in dem Augenblick sein Vater gestorben war und an ihn gedacht hatte?

Er hatte es seinem Vater nie recht machen können. Er hatte ihn immer wieder enttäuscht. Er war nicht so hart und zäh wie Josel, sondern in seinen Augen weich und wehleidig und durch die Frauen verwöhnt, so er ihn Bübchen nannte. Er hatte große Hoffnungen auf ihn gesetzt, als er am Führergeburtstag geboren wurde, weil es auch für ihn ein Wink des Schicksals war, dass man von ihm viel erwarten durfte.

Er hatte ihn, kaum konnte er laufen, auf ein Pferd gesetzt, denn das Reiten lag ihnen im Blut, wie sein Vater sagte. Er saß zeit seines Lebens am liebsten im Sattel wie auch Josel schon als kleines Kind vom Pferd nicht mehr herunter wollte. Hans aber wollte sofort herunter und fiel und verletzte sich am Arm und schrie wie am Spieß. Sein Vater rammte ihm in seiner Wut die Spritze in den Arm, so dass die Nadel abbrach. Jetzt schrie seine Großmutter und zog mit sicherer Hand die Nadel. Sein Vater war gegangen.

Er zwang ihn weiterhin zum Reiten, für ihn eine Frage des Willens, der schon früh einzuüben war. Aber weil er als Offizier selten zu Hause war, konnte er sich kaum um ihn kümmern. Es wurde sowieso immer schwieriger, einen Reitlehrer zu finden, und seine Mutter und Großmutter hatten nicht die Zeit, sich damit abzugeben.

Seine größte Enttäuschung aber war, dass Hans nicht auf der Napola blieb, für die er ihn angemeldet hatte, weil er gut in der Schule war, besser sogar als Josel. Er war hoch erfreut, als Hans die Rassenprüfung mit Bravour bestand und der Arzt ihm sagte, er wäre ein guter deutscher Junge von echtem Schrot und Korn. Was er aber nicht wusste, war, dass der Arzt dem Bübchen die Turnhose heruntergezogen hatte und mit der Hand ihm zwischen die Beine fuhr. Er sagte, das gehörte zur Prüfung, aber Hans durfte nicht darüber sprechen, sonst würde er von der Schule fliegen.

Hans versuchte sein Bestes in der neuen Schule, bekam aber bald einen Husten, der immer schlimmer wurde, obwohl er ihn unterdrücken wollte. Harald Kaluza, sein zwei Jahre älterer Zugführer, hielt ihn für einen Schlappschwanz und ein Muttersöhnchen, und als herauskam, dass er nachts vor Heimweh weinte und sogar das Bett nass machte, glaubte Harald, ihn erziehen zu müssen. Er schickte ihm den heiligen Geist, was bedeutete, dass sie nachts über ihn herfielen und ihm den Hintern mit Schuhcreme einschmierten. Weil sie aber nicht nur sein Bett, sondern auch Zimmer und Bad verschmutzten, kam es zu einer Untersuchung. Das Ergebnis war, dass Harald Kaluza die Schule verlassen musste und Hans aus gesundheitlichen Gründen nach Hause geschickt wurde.

Sein Vater erfuhr davon erst später, weil er zu der Zeit schon in Russland war, aber als er es in seinem Heimaturlaub hörte, musste Hans ihm vor die Augen treten. Er sah ihn mit einem Achselzucken an, als ob er es immer schon gewusst hatte, und wandte sich von ihm ab, ohne ein Wort zu sagen. Das war das letzte Bild, das Hans von ihm hatte.

Polly

Wenn Vater gefallen war, konnte auch Josel fallen! Man hatte seit seinem letzten Besuch nichts mehr von ihm gehört. Man sprach lieber nicht von ihm, denn wenn sein Name fiel, starrte einem der Schrecken ins Gesicht: Seine Großmutter bekreuzigte sich, seine Mutter wurde totenblass und Marie ließ eine Tasse fallen, und keiner sagte, dass Scherben Glück brachten.

Hans vermisste Josel, weil er seinen Rat brauchte, denn er hatte zu nichts mehr Lust, weder zu den HJ-Nachmittagen am Mittwoch und am Sonnabend, wo Ernst Scheißkerl ihn triezte, noch zu der Schule, wo man ihn ebenfalls schikanierte, nur dass sein Peiniger nicht Harald Kaluza hieß, sondern Rudi Malcherek.