Hölle und Himmel - Klaus Steinvorth - E-Book

Hölle und Himmel E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Die Geschichte spielt 1952. Ein schrecklicher Krieg war vor kurzem zu Ende gegangen. Viele Väter kamne erst jetzt aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, viele Familien waren aus ihrer alten Heimat vertrieben worden. Und viele Kinder, die sich noch an den Schrecken des Krieges erinnern konnten, glaubten an die Hölle. Sie brauchten nur die Augen zu schließen, schon sahen sie die Hölle und den Teufel. Was aber, wenn ein Junge glaubt, seinen Stiefvater in der Hölle zu sehen? Er meint, von ihm vergiftet worden zu sein, und will, dass sein Tod gerächt wird. Sein Freund verspricht ihm die Rache, aber auch er sieht den Stiefvater in der Hölle. Warum? Die Schwester des toten Freundes könnte helfen, aber sie will nicht. Warum nicht? Müssen sie sich noch rächen, wenn der Stiefvater in die Hölle kommen soll? Aber er lebt noch. Die Antwort auf diese Fragen kommt als faustdicke Überraschung.

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Klaus Steinvorth

Hölle und Himmel

Hölle und Himmel

Klaus Steinvorth

Copyright: © 2012 Klaus Steinvorth

Alle Rechte vorbehalten

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

E-Book-Produktion: epub-ebooks.de

ISBN 978-3-8442-3104-5

Lieber jugendlicher Leser!

 

Die Geschichte spielt 1952, als Eure Großeltern Kinder waren. Ein schrecklicher Krieg war vor kurzem zu Ende gegangen, viele Väter kamen erst jetzt aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, viel Deutsche waren aus ihrer alten Heimat vertrieben worden. Und viele Kinder, die sich an den Schrecken des Krieges noch erinnern konnten, glaubten an die Hölle. Sie brauchten nur die Augen zu schließen, schon sahen sie die Hölle und den Teufel. Was aber, wenn ein Junge glaubt, seinen Stiefvater in der Hölle zu sehen? Er meint, von ihm vergiftet worden zu sein, und will sich rächen. Sein Freund verspricht ihm die Rache, aber auch er sieht den Stiefvater in der Hölle. Warum? Die Schwester des toten Freundes könnte helfen, aber sie will nicht. Warum nicht? Müssen sie sich noch rächen, wenn der Stiefvater in die Hölle kommen soll? Aber er lebt noch. Wenn Ihr wissen wollt, wie die Geschichte diese Fragen beantwortet, müsst Ihr sie lesen.

 

Viel Spaß wünscht Euch dabei,

Euer Klaus Steinvorth

1. Karl

Unter Schmerzen geboren, unter Schmerzen verloren, da fragt man sich, ob sich das Ganze überhaupt lohnt. Doch! Weil so eben das Leben ist. Das immer etwas hat, was unvergesslich ist. Wovon man gern erzählen möchte.

Bei mir begannen die Schmerzen nach einem Fußballspiel. Wir hatten knapp gewonnen und tranken auf unseren Sieg. Einer von uns, Volker Wiese, spendete einen Kaste Sinalco. Sein Vater hatte genug Geld. Und danach machten wir, was ganz natürlich ist: Wir stellten uns in die Büsche und erleichterten uns. Doch bei mir war es nicht natürlich, und schon gar nicht eine Erleichterung. Ich bekam nur ein paar Tropfen heraus und die auch nur mit höllischen Schmerzen. Wenn ich drücken wollte, fuhr es siedend heiß hoch, und dabei musste ich so dringend. „Oh Gott, ich kann nicht!“, rutschte es mir heraus und ich biss mir auf die Zunge. Ich wollte nicht, dass es die anderen mitbekamen.

Volker Wiese, der neben mir stand, hörte es. „Was kannst du nicht?“

„Das nicht!“ Ich zeigte auf das, was er gerade machte.

„Warum nicht?“

Wie konnte man nur so dumm fragen? Aber so ist es immer: Wenn man richtig schlimme Schmerzen hat, versteht das keiner. Weil man sie nur allein hat. Schmerzen machen einen schrecklich allein. Darum hatte es keinen Zweck, darauf zu antworten. Ich knöpfte schnell den Hosenschlitz zu und wollte mich auf mein Fahrrad setzen, als ich merkte, dass es nicht ging. Es hätte meine Blase zum Platzen gebracht. Die war schwer wie das pralle Euter einer Kuh. Ich schob das Rad. Wie lange konnte ich das noch aushalten?

„Wo willst du hin?“ Das war wieder Volker Wiese!

Ich will nicht, ich muss, dachte ich, konnte aber schon nichts mehr sagen. Der Schmerz verlangte meine ganze Kraft. Ihn bloß nicht größer werden lassen, war mein einziger Gedanke. Zu Hause im Bett liegen, nichts tun, dachte ich weiter. Dann schlafen und am nächsten Morgen würde alles vorbei sein.

Zu Hause sah Omi mit einem Blick, dass etwas nicht stimmte. „Jessas! Jedutmaria!“ schrie sie entsetzt. Sie sprach so, weil wir aus Oberschlesien kamen. „Was haste denn?“

„Ich kann nicht!“ Ich zeigte zwischen meine beiden Beine.

„Jeschinna! Du meenst, du kannst nech pullen?“

Ich nickte schnell. „Dabei muss ich so nötig!“

Sie sah mich mitleidig an. „Jedutmaria!“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Nee, nee! Jo, jo! Es ies aso!“ Das sagte sie immer, wenn sie überlegte. „Bee der Blase helft n heeßer Weckel. Du leechst dech hin, uff’n Rücken un zählst de Fliegen uff de Wand!“

Das war mir sehr recht. Bloß Ruhe und keine Aufregung! Ich legte mich auf das Bett, merkte aber, dass es keine Erleichterung brachte. Ich hörte, wie in der Küche das Wasser kochte und Schranktüren klappten. Dann kam Omi mit einer heißen Tuchrolle, die noch feucht war. Die sollte ich an die Stelle legen, wo es mir weh tat. „Du saachst mer, ob es besser werd.“

Es wurde nicht besser. Zuerst dachte ich, ich müsste nur länger warten, wie eine Medizin am Anfang ja auch bitter schmeckt, aber es nützte nichts. Es wurde unten noch heißer und praller, es war wie ein Ballon, der sich aufblähte und platzen würde. Jetzt tat jede Bewegung weh. Ich rief Omi. „Es wird schlimmer!“

Sie rang die Hände: „Jedutmaria! Was machn mer da?“ Sie schlug sich an den Kopf. „Ich Trampa!“ Sie rannte aus unserer Haustür in die nächste, die auch auf unserem Stock lag. Dort wohnte die alte Frau Cholewa, die Krankenschwester gewesen war. Die kam nach einigen Minuten angeschlurft, warf einen kurzen, eher mürrischen Blick auf mich. „Zeig mal deinen Pimmel!“

Ich nestelte ihn heraus, der bläulich angeschwollen war. So groß hatte ich ihn noch nie gesehen.

„Sie haben einen heißen Wickel gelegt?!“, rief Frau Cholewa entsetzt. „Da haben Sie die ganze Sache nur verschlimmert! Wissen Sie nicht, dass heiße Wickel eine Gefäßerweiterung bewirken und die Durchblutung verstärken?!“

Omas Gesicht rötete sich. „Bei mer helft es emmer!“

„Bei einer Blasenentzündung, ja. Aber das hier ist eine Phimose!“

Omi wich erschreckt zurück, als hörte sie ein gefährliches Wort.

„Eine Verengung der Vorhaut, die bei uns Frauen freilich nicht vorkommt.“

Omi warf sich in die Brust. „Ich hab vier Kinder großgezogn, darunter een Junge. Se bruchn mech nech zu belehrn!“

Frau Cholewa nickte nur und sagte dann besorgt: „Der Junge braucht einen Arzt. Welchen haben Sie?“

„Dukter Lautermann.“

„Den müssen wir anrufen.“

Wir hatten zu Hause kein Telefon, es war zu teuer und außerdem wollte Omi so was nicht. Sie konnte nicht mehr gut hören und schrie in die Sprechmuschel, als sollte man sie auch ohne Telefon verstehen. Wenn man sie darauf ansprach, war sie beleidigt. Man durfte nicht einmal das Wort „Telefon“ in ihrer Gegenwart nennen.

Das wusste Frau Cholewa, die auch kein Telefon hatte. „Ich laufe zu Frau Kreut und rufe Dr. Lautermann an.“

Frau Kreut hatte einen Tabakladen um die Ecke und ein Telefon.

Nach kurzer Zeit kam Dr. Lautermann. Er sagte nicht Pimmel, sondern Organ. „Dann werfen wir mal einen Blick auf dein schmerzendes Organ!“

Sein Gesicht wurde ernst, und er wiederholte das Wort „Phimose“. „Zuerst musst du wieder Wasser lassen können.“

Das hätte ich gern.

„Jetzt machst du die Augen zu und hältst die Luft an!“

Weil er Omi ein Zeichen machte, mich von hinten festzuhalten, riss ich die Augen auf. Eigentlich konnte ich mich auf Omi verlassen, weil sie auf meiner Seite stand, wenn es Streit mit Muttel gab. Aber hier hatten sie etwas vor, was gefährlich für mich war. Dr. Lautermann versteckte etwas hinter seinem Rücken, mit der anderen Hand hob er mein wehrloses Organ. Plötzlich blitzte die Spritze auf und stach mitten hinein. Ich war vor Wut und Enttäuschung gelähmt. Wie konnte er so gemein sein und mich so reinlegen! Jetzt würden die Schmerzen mich zerreißen. Als ich schreien wollte, merkte ich überrascht, dass es so schlimm gar nicht war. Dr. Lautermann tätschelte mir die Wange. „Brav, mein Junge! Aber du musst ins Krankenhaus.“

Der Krankenwagen kam erst spät in der Nacht. Muttel war inzwischen von der Arbeit zurückgekehrt und hielt mir die Hand und wollte sich nicht beruhigen. Omi lief wie eine aufgescheuchte Henne durch die Wohnung. Sie waren so um mich bemüht, dass es lästig wurde. Denn ich hatte kaum mehr Schmerzen. Ich konnte wieder das, was Omi „pullen“ nannte. Das Wort mochte Muttel nicht und schimpfte jedesmal, wenn sie es hörte. Bei ihr hieß es: „Aufs Klo gehen.“

Ich war froh, als der Krankenwagen kam. Er brachte mich mit Muttel in das St. Georg-Krankenhaus, wo sie mich zum Schlafsaal der Jungen begleitete. Es war schon dunkel, nur das Notlicht flimmerte rot, aus allen Ecken stieg Schnarchen und Stöhnen hoch. Ich legte mich in das einzige freie Bett und Muttel wollte neben mir sein. Sie hatte Angst, mich allein zu lassen. Die hatte ich nun wirklich nicht. Ich hatte höchstens Angst, dass man von den benachbarten Betten sehen würde, wie ich bemuttert wurde. Weil ich keinen Vater hatte und einziges Kind war, glaubte alle Welt, dass ich ein Muttersöhnchen wäre.

„Schlaf schön!“, sagte sie schließlich. „Wenn du Angst hast, denk an uns. Wir sind immer bei dir!“

Es wäre ihr nicht recht gewesen, hätte sie gewusst, dass ich keinen Gedanken an sie oder Omi verschwendete. Denn ich schlief sofort ein. Allerdings hatte man mir bei der Aufnahme ins Krankenhaus gleich eine Spritze gegeben.

Als ich morgens aufwachte, keuchte und hustete es neben mir. Ich sah wirre Haare und eine geballte Faust, die gegen das Bettgerüst schlug, so dass es schepperte. Er lag mit dem Rücken zu mir und knirschte manchmal mit den Zähne. Dann sprach er wütend in das Kissen, was ich aber nicht verstand. Über dem Kopfende las man auf einem Schild, wie er hieß und wie alt er war: „Karl Zimmermann, geboren am 18.1.1940.“ Dann war er zwölf und ein Jahr jünger als ich.

Als uns das Frühstück auf dem Tablett gebracht wurde, sah Karl mich an. Die großen Augen leuchteten unruhig aus dem blassen Gesicht. Als ob sie mich abtasten wollten. „Warum bist du hier?“, krächzte er.

Ich wollte es nicht sagen, ich konnte es nicht sagen. Bei den Ärzten ging es nicht anders. Sie fragten und ich musste antworten. Aber freiwillig darüber reden? Nie! Und hier war ein fremder Junge. Was sollte er von mir denken? So sagte ich, weil er auf meine Antwort wartete, dass ich einen Leistenbruch hatte. Der kam vom Gewichtheben. Oh ja, versicherte ich, das tat ich regelmäßig und hatte schon ein paar Pokale gewonnen. Keiner würde es mir zutrauen, ich wusste ja selbst, dass ich nicht danach aussah, aber dann wunderten sich alle, dass ich die schweren Hanteln schaffte.

Ich hatte noch nie Hanteln gestemmt, wenn ich auch gerne stark und muskulös gewesen wäre, aber ich sah, wie Karl mir gespannt zuhörte. Leicht kam man in eine Geschichte rein, aber schwer wieder raus, das hatte ich schon oft gemerkt. Jetzt forderte er mich auf, meine Muskeln zu zeigen. Ich winkte ab. Es kam nicht auf die Muskeln an, sondern auf das Knochengerüst. Das musste das schwere Gewicht tragen. Jetzt wäre ich natürlich im Trainingsrückstand, aber das holte ich nach. Und ich redete weiter von meinem Trainer und den Übungseinheiten, bis ich es selbst halb glaubte. Karl glaubte es ganz, das war deutlich. Seine Augen leuchteten mild, beinahe zufrieden. Dann schloss er sie und schlief ein. Wobei er wieder ächzte und stöhnte und sich von einer Seite auf die andere warf.

Er hatte etwas mit dem Herzen und war schon mehrmals operiert worden, sagte die Schwester. Es wäre nicht leicht mit ihm, weil er immer das Schlimmste befürchtete. Ich sollte ihm gut zureden.

Nach dem Essen fragte mich Karl, ob ich Angst vor dem Sterben hätte.

Ich erschrak. Daran wollte ich nicht denken. Ich war doch hier, damit ich bald gesund nach Hause kam.

„Denk nicht daran!“, sagte ich. „Du bist im Krankenhaus und wirst gesund.“

„Bei mir ist es anders!“, stöhnte er. „Mit mir geht es zu Ende!“

„Du musst dir das nicht einbilden“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Es wird schon alles gut werden.“

„Ich bilde es mir nicht ein!“ Er hob den Kopf, der rot geworden war. „Es kommt über mich. Ich kann nichts dagegen machen.“

„Es wird sich schon geben“, sagte ich lahm. Etwas anderes fiel mir nicht ein.

Er sah mich enttäuscht an. „Du glaubst mir auch nicht. Keiner glaubt mir!“

Damit drehte er mir den Rücken zu und vergrub sein Gesicht in das Kopfkissen. Ich sah, dass ein Zucken durch seinen Körper lief und dann schluchzte er. Er tat mir leid.

„Doch!“, rief ich. „Ich glaube dir!“

Aber er hörte nicht auf mich. Er wollte nicht sein Gesicht aus dem Kopfkissen ziehen.

Als die Schwester uns Brei und Früchtetee brachte, drehte er sich zu mir um.

„Glaubst du mir?“

Ich nickte.

„Hast du Angst vor der Hölle?“

Hölle?! Warum fragte er das denn? Natürlich hatte ich Angst vor der Hölle. Nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, hütete ich mich, die Augen auch nur einen Spalt weit zu öffnen. Denn ich war sicher, dass einer der vielen Teufel aus der Hölle nach mir greifen würde. Tagsüber hatte ich jede Menge von Sünden angesammelt. So konnte ich zum Beispiel nicht bei der Wahrheit bleiben. Immer musste ich alles aufbauschen, damit ich im besten Licht dastand. Naschen war auch meine Schwäche. Völlig unmöglich, an der Speisekammer vorbeizugehen! Wobei ich Omis schwache Augen ausnutzte. Leider! Aber am schlimmsten war meine Unkeuschheit. Ich mochte gar nicht daran denken und wusste nicht, wie ich es je beichten würde. Ich konnte ja noch nicht beichten. Ich war zwar schon in der Klasse von Pfarrer Hawighaus, wo wir auf die Erstbeichte und die Erstkommunion vorbereitet wurden, aber das würde noch etwas dauern, weil wir erst am Weißen Sonntag zum ersten Mal zur Kommunion geführt wurden. Es war jedenfalls sicher, das Gott mich dafür bestraft hatte. Er bestrafte mich mit unerträglichen Schmerzen am Pimmel, mit dem ich so oft gespielt hatte. Obwohl ich genau wusste, dass ich es nicht durfte. Und wenn ich das tat, musste ich die Augen zusammenpressen. Ich hätte sonst den Teufel aus der dunklen Ecke auf mich zuspringen sehen.

Ich sagte aber Karl, dass ich mich vor der Hölle nicht fürchtete. Ich nicht! Mir konnte der Teufel nichts anhaben.

„Warum nicht?“ Er sah mich voller Interesse an.

„Weil ich einen Schutzengel habe!“, sagte ich voller Inbrunst.

„Du hast es gut!“, nickte er. „Der kann dich vor der Hölle retten?“

„Und ob! Es ist nämlich meine Schwester, die schon gestorben ist. Die war immer so gut zu mir. Und jetzt ist sie im Himmel und sieht auf mich herab und passt auf, dass mir nichts passiert.“

Er seufzte. Er hatte auch eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Die war auch sehr gut zu ihm, aber nicht im Himmel, weil sie noch nicht tot war. Nein, er hatte keinen, der ihn richtig beschützen konnte. Für ihn sah es sehr schlecht aus.

„Du kommst nicht in die Hölle!“, rief ich aus. „Wie kommst du denn darauf?“

„Weil ich sterben muss“, flüsterte er. Und dann begann er mit seiner Geschichte. Zuerst dachte ich, er wäre wie ich und müsste immer etwas übertreiben, aber dann erzählte er etwas, da konnte man nicht übertreiben, weil es zu ernst war und traurig und gruselig. Ich konnte gar nicht hinhören. Es ging um seinen Stiefvater, den er für einen Mörder hielt. Oh ja, der hatte als Apotheker alle Mittel der Welt, um einen Menschen kaltzumachen, ohne dass die Polizei es merkte. Der perfekte Mord! Wenn er es einem Menschen zutraute, dann ihm. So freundlich war der, konnte lächeln und loben und streicheln. Aber wenn ihm etwas nicht passte, brüllte er los, mit Schlitzaugen wie von einem Chinesen. Ein Herz aus Stein, das hatte er.

Karl fasste sich an die Brust und stöhnte. Der hatte ihn vergiftet und darum war sein Herz so kalt. Genau so wie bei seinem Vater. Der war auch am Herzen gestorben. Weil der Apotheker ihn beseitigt hatte. Nur um seine Mama zu kriegen. Die es nicht einmal mitbekam. Aber eines Tages würde sie es herausfinden.

Seine Augen glühten und sein Gesicht brannte. Hinter ihm griff der Baum mit langen Fingern durch das Fenster. Gleich würde er sie ihm auf den Mund legen, damit er nichts mehr sagte. Wer so log, durfte nicht weiterreden! Er sprach schlecht über die Eltern, das war eine Sünde, selbst wenn es der Stiefvater war. Hoffentlich drehte sich Karl nicht um und sah, was der Baum mit ihm machen wollte! Hoffentlich schwieg er und schlief wieder ein. Aber es flackerte lichterloh in seinen Augen. „Die Rache kommt!“, drohte er. „Wohin er auch flieht, es wird ihn erwischen!“

Ich hielt es nicht aus und hustete und keuchte. Er sollte nicht denken, ich hätte keine schwere Krankheit.

Schließlich beruhigte er sich und fragte, ob ich auch so einen schrecklichen Stiefvater hätte?

Ich könnte einen bekommen, sagte ich. Vater war im Krieg gefallen und Muttel nicht wiederverheiratet. „Aber morgen schon kann sie einen nach Hause bringen, der mein Stiefvater wird.“

Das glaubte ich zwar nicht, hielt es sogar für unmöglich, weil Muttel auf die Männer schimpfte und immer wieder sagte, wie froh sie war, keinen zu haben. Aber Karl sollte nicht glauben, dass ich es besser hätte.

„Aber noch hast du keinen, das allein zählt. Was morgen passiert, wissen wir nicht. Morgen kann ich schon tot sein“, sagte Karl düster.

So was durfte man nicht sagen!

Er wollte so was nicht sagen, widersprach er. Es kam aus ihm heraus! Aber wenn es soweit war, würden alle in Trauer an sein Grab kommen. Und dann wussten sie erst, was sie an ihm hatten. „Kommst du auch zu meinem Grab?“

Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.

„Du hast es gut“, seufzte er. „Du denkst nicht an Tod und Trauer. Aber vielleicht vergisst du mich trotzdem nicht!“

„Auf keinen Fall!“, rief ich. Ich trauerte ja immer noch um meine Schwester, die ich nie vergessen würde.

Er sah mich genauer an. Er wollte von meiner Schwester hören.

„Ja, es war mitten in der Nacht, wir wurden überfallen, und Hanna lief weg so schnell sie konnte, aber die Russen waren hinter ihr her und da sprang sie in den eisigen Fluss.“

Ich sollte weiter erzählen.

Ich dachte, wenn ich mit keinem Stiefvater angeben konnte, dann wenigstens mit einer Schwester! Mit einem Faustschlag hatte sie einen Angreifer zu Boden gestreckt, einen anderen mit einem Fußtritt in die Flucht gejagt, erzählte ich begeistert. Aber die Übermacht war zu groß gewesen, sie sprang ins Wasser, auf dem noch Eis schwamm. Gegen die Kälte hatte sie keine Chance.

„So eine starke Schwester hätte ich auch gern“, seufzte Karl. „Aber meine ist noch zu klein.“

Meine war auch zu klein gewesen, neun Jahre alt, als sie uns verloren ging. Sie konnte sich gar nicht wehren! Aber es war ja alles von mir so gelogen, dass sich die Balken hätten biegen müssen. Wir waren von den Russen überfallen worden, das stimmte, aber Hanna verschwand erst später aus meinem Leben. Als die Russen kamen, waren wir weggelaufen. Sie hatte mich hinter einen Busch gezogen und den Mund zugehalten. Ich hatte mir vor Angst in die Hosen gemacht.

Karls Schwester hieß Karin. Die wusste über alles Bescheid. Aber allein würde sie es nicht schaffen.

„Was?“, fragte ich, weil er eine Pause machte und mich bedeutungsvoll ansah.

„Die Rache!“

„Was für eine Rache?“, rief ich erschrocken.

Er nickte nur, aber schien mich nicht zu hören. Dann drehte er sich um und der Baum warf seinen Schatten auf ihn, als hätte er ihn zum Schweigen gebracht. Mir grauste es. Was er von Hölle, Mord und Rache sagte, war mir unheimlich. Er hatte etwas an sich, was mir einen Gänseschauer über den Rücken jagte. Wenn man vom Teufel sprach, dann kam der Leibhaftige, das sagte Omi immer wieder. Nein, ich wollte mit ihm nichts zu tun haben.

Ich wandte mich von ihm ab und sah im Spiegel des Fensters, wie der Baum mit seinen langen Fingern nach mir griff. Warum hatte ich ihm so lange zugehört und dabei selbst so faustdick gelogen? Hätte er bloß nicht von seinem Stiefvater angefangen! Dann hätte ich auch nicht über Hanna gelogen. Das war eine Sünde, sogar eine schwere, denn der Teufel wurde nicht umsonst Vater der Lüge genannt. Gott würde mich dafür bestrafen, sagte Omi, wie, wusste man nie, aber es würde kommen, Gott vergaß nie. Außer man bereute und beichtete! Aber ich konnte ja noch nicht beichten.

Wahrscheinlich war Karl gar nicht katholisch. Wer so von Hölle, Mord und Rache sprach, konnte gar nicht katholisch sein. Doch er war es zu meinem Erstaunen! Er selbst fragte mich danach, weil er glaubte, mich in der St. Marien-Gemeinde gesehen zu haben. Es war eine große Kirche, deshalb hatte ich ihn nicht gesehen. Und wir waren spät aus dem Osten gekommen, deshalb kannten wir noch nicht viele Leute.

Plötzlich fing er an zu weinen. Ich war erschrocken, versuchte, ihn zu beruhigen. Er hörte aber gar nicht hin, tat so, als ob ich gar nicht da war. Sein Bett wurde vom Deckenlicht nur halb beleuchtet, er hatte sich in die dunkle Stelle verkrochen. Die Krankenschwester sagte, dass er noch einmal operiert wurde. Es war nicht schlimm, aber er hatte natürlich Angst.

Ich hatte auch Angst vor meiner Operation, obwohl ich es nicht zugeben wollte. Als sie mich holten und zum Operationssaal rollten, drehte ich mich zu Karl um und machte ihm das Siegeszeichen, indem ich Zeige- und Mittelfinger zu einem V ausstreckte. Ich hatte es im Wochenschau-Kino gesehen. Dann legten sie mir ein Tuch über das Gesicht, ich musste tief atmen, und schon war ich weg.

Als ich aufwachte, lag ich wieder neben Karl. Der sah mich traurig an. „Ich weiß, dass du denkst, ich lüge, aber ich spreche die Wahrheit, die reine Wahrheit. Ich sage dir das, weil ich einen Freund brauche, einen guten Freund, auf den ich mich verlassen kann. Hundertprozentig! Karin wird dir helfen, aber allein schafft sie es nicht. Willst du mein Freund sein?“

Ich nickte. Ich war noch ziemlich benommen von der Operation. Ich wunderte mich, dass er so hastig sprach.

Gut. Er würde mir noch mehr sagen. Erst mal sollte ich seinen Stiefvater beobachten, wenn er ihn besuchen kam.

Am nächsten Morgen kam sein Stiefvater zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester. Sein Stiefvater hatte ein Gesicht, das auf der einen Seite schwarz und schrumplig war, als hätte er es verbrannt. Er sah mich sofort und sein Blick war wie glühende Kohle. Ich konnte ihn nicht aushalten und hatte sofort Angst vor ihm und verstand Karl. Ich schaute erst wieder hoch, als ich das Gefühl hatte, er guckte mich nicht mehr an. Ich sah, dass er mit dem Rücken zu mir stand und auf Karl einredete. Der hatte den Kopf weggedreht, er wollte nichts hören. Sein Stiefvater regte sich deshalb nicht auf. Er brüllte nicht los, sondern redete sehr freundlich weiter. Und doch sah er selbst von hinten gefährlich aus. Als ob eine schreckliche Macht von ihm ausging. Ich drehte mich lieber auf die andere Seite. Ich wollte mit ihm nichts zu tun haben.

Aber ich war doch zu neugierig und konnte so nicht lange liegenbleiben. Ich wandte mich wieder zu ihrer Seite und sah in die Augen seiner Schwester Karin, die gleich zu mir kam. Sie wollte von meiner Krankheit wissen. Darüber konnte ich natürlich nicht reden. Ich zog die Decke hoch, damit sie nicht Schlauch und Beutel sah. In der Operation hatten sie an meinem Organ einen Schlauch befestigt, der in einen Beutel endete. Dorthin floss mein Urin (so hieß es und nicht Pipi!). Ich musste nur aufpassen, dass sich der Schlauch nicht verhedderte und unten kniff, das tat weh. Weil also Karin davon nichts wissen durfte, wiederholte ich die Sache mit dem Leistenbruch und dem Gewichtheben. Das gefiel ihr, sie starrte mich mit offenem Mund an. Sie war Karl sehr ähnlich, hatte dieselben dunklen Augen, die aber leicht schielten, wenn sie länger guckte. Dann sah sie so aus, dass man ihr nicht Nein sagen konnte.

Und das tat ich auch nicht, als sie fragte, ob sie mir beim Hanteltraining zuschauen konnte. Da blickte mich ihr Stiefvater an und ich erstarrte. Ich merkte, dass er mein Lügen durchschaut hatte. Karin redete mit ihm, als ob sie keine Angst vor ihm hatte. Sie sagte Papi zu ihm und schlang sogar ihre Arme um seinen Hals, als sie seine Erlaubnis haben wollte, mir beim Hanteltraining zuzugucken. Aber er winkte ab. Das wäre jetzt nicht wichtig. Darüber könnte man später reden.

Kaum waren sie gegangen, wandte sich Karl an mich. Jetzt, wo ich seinen Stiefvater gesehen hatte, würde ich verstehen, dass er mich brauchte.

Ich verstand ihn, sagte ich. Ich hatte auch Angst vor ihm.

„Willst du mir helfen?“, fragte er. Seine Augen flehten fast.

„Wie?“, fragte ich.