Hass und Härte - Klaus Steinvorth - E-Book

Hass und Härte E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Der Großvater erzählt den zweiten Teil seiner Hitlerjungenzeit, die vom Herbst 1944 in Oberschlesien bis zum Ende des Krieges in Breslau reicht. Zuerst muss er als Flakhelfer Industrieanlagen in Ostoberschlesien gegen alliierte Bombenangriffe verteidigen, die ihn bis in die Nähe von Auschwitz bringen. Dann wird er in die Waffen-SS eingezogen und zusammen mit dem Volkssturm als letztes Aufgebot gegen die Russen aufgestellt, die Anfang Januar 1945 ihren Großangriff gegen Schlesien beginnen. Ihre Einheit wird überrollt und zerschlagen und Hans, der Hitlerjunge, schließt sich dem großen Flüchtlingstreck an, den die Russen vor sich herschieben. Die Militärpolizei ergreift ihn und bringt ihn nach Breslau, das zur Festung erklärt worden ist. In einem sinnlosen Verteidigungskampf gegen die übermächtigen Russen erlebt er die Zerstörung Breslaus. Dank seiner Cousine Marie, die mit einem Offizier der polnischen Armee heimlich verlobt ist, gelingt Hans die Flucht in den Westen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die Hitlerjungen, die sich als Helden gefühlt haben, aber Handlanger von Verbrechern gewesen sind. Aus ihrem tragischen Irrtum sind sie nicht erlöst worden. Was sie verdient haben, ist, dass die Nachwelt ihren tragischen Irrtum erkennt.

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Hass und Härte

Klaus Steinvorth

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Hass und Härte

Der Großvatererzählt vonseinerHitlerjungenzeitimletzten Kriegsjahr in Oberschlesien und Breslau

Für Johanna und Valentin

Hier erzählt derGroßvaterden zweiten Teilseiner Hitlerjungenzeit, die vom Herbst 1944 in Oberschlesien bis zum Ende des Krieges in Breslau reicht.

Zuerst muss er als Flakhelfer Industrieanlagen in Ostoberschlesien gegen alliierte Bombenangriffe verteidigen, die ihn bis in die Nähe von Auschwitz bringen.Dann wird er in die Waffen-SS eingezogen und zusammen mit dem Volkssturm als letztes Aufgebot gegen die Russen aufgestellt, die Anfang Januar 1945 ihren Großangriff gegen Schlesien beginnen.Ihre Einheit wird überrollt und zerschlagen und Hans, der Hitlerjunge, schließt sichdem großen Flüchtlingstreck an, den die Russen vor sich herschieben. Die Militärpolizei ergreift ihn und bringt ihn nach Breslau, das zur Festung erklärt worden ist. In einem sinnlosen Verteidigungskampf gegen die übermächtigen Russen erlebt er die Zerstörung Breslaus.Dank seiner Cousine Marie, die mit einem Offizier der polnischen Armee heimlich verlobt ist, gelingt Hans die Flucht in den Westen.

Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die Hitlerjungen, die sichals Helden gefühlthaben, aberHandlangervon Verbrecherngewesensind.Aus ihrem tragischen Irrtumsind sienicht erlöst worden.Was sie verdient haben, ist, dassdie Nachweltihren tragischen Irrtum erkennt.

Bildnachweis. Cover: WELT

1.Kapitel

Diesmalgebe ichOpasGeschichtevon seiner Hitlerjungenzeit wieder und nicht mein Bruder Valentin,weil es nur gerecht ist,wenn nach der Perspektive eines Jungen auch die eines Mädchens deutlich wird.

Wir hattenin dem JahrSupersommerferien gehabt und freuten uns schon darauf, vonOpazu hören, wie es mit ihm weiterging, nachdem es seineFlakvoll erwischt hatteund auch er umgekommen wäre, hättesichsein Kameradschaftsführer Siegfried nicht im letzten Moment auf ihn geworfen.

Er ließ sich auch nicht lange bitten und legte los, nachdem wir es uns mit Cola und Knabberzeug bequem gemacht hatten.

Ihr erinnert euch, dass ich unter Siegfried gelegen hatte und er von mir herunterrutschte, als ich mich erheben wollte.Ich wusste sofort, dass er tot war, wassichbestätigte,als ich nach seinem Puls fühlte und vergeblich auf einen Atemzug wartete.Er hatte aber, indem sich auf mich warf,mir das Leben gerettet,denn einEisenteiltraf seinen Kopf und nicht meinen.

AuchFritz, derhinter Siegfriedhergelaufen war, hatte es tödlich getroffen. Erschrienochund schluchzte,als Günther sich über ihn beugte, aber dannröchelteerundließseinen Kopf fallen.Güntherhob ihn zu sichunddrückte ihn an seine Brust und wiegte ihn wie ein Baby.Ich aberweinteüber Siegfried, der mit gezeigt hatte, dass er mein Freund gewesen war,obwohl ich es nicht glauben wollte.

Bald kamen die Sanitäter mit ihren Bahren und stellten den Tod vonSiegfried undFritz fest. Auch der lange Ludwig hatte nicht die Explosion überlebt, die er durch falsches Hantieren der Granaten ausgelöst hatte.Hätte er aber auf Siegfrieds Warnung gehört, wäre es nicht zu dieser tödlichen Explosion gekommen,die drei Menschenleben gekostet hatte.

Wir hatten nicht den Feind bekämpft, sondern uns selbst! Wie sollten wir je den Krieg gewinnen, wenn wir nicht einmal in der Lage waren, geschlossen und gut organisiert zu kämpfen?Was uns auch unsere Führer und Ausbilder vorwarfen: ‚Ihr seid ein loser Haufen, eine Hammelherde, das reinste Kanonenfutter! Nun reißteuch endlich mal an den Riemen!‘

Als ob es unsere Schuld war, dass es mit dem Krieg so schlecht stand!

Andererseits wurde gemunkelt, dass es Materialfehler an der hoch gerühmten Acht-Acht-Flak gab,dass auch einem erfahrenen Kanonier das Missgeschick des armen Ludwig hätte passieren können. Tatsache war, dass unser Material immer schlechter, das des Feindes aber immer besser wurde.

Diese Gedanken gingen mir erst später durch den Kopf, als es uns an allen Ecken und Enden an gutem Material fehlte.Für den Augenblick stand ich unter dem Schock, den Siegfrieds Tod in mir ausgelöst hatte.Er war doch mein Freund gewesen, weil er mir das Leben gerettet hatte, dachte ich immer wieder, und deshalb musste ich in seinem Sinn weiterkämpfen, durfte den Krieg nie für verloren ansehen, musste so tapfer und unerschrocken sein wie er.

Wir,die an der Flaküberlebthatten,das waren Erich,der Klavierspieler,Otto,derdas Bier über Siegfried gekippt hatte,Güntherund ich,kamen mit dem Schrecken und leichteren Verletzungenan Beinen und Armendavon,konnte aber laufen, musste auch sofort laufen, und zwar zum Appellplatz, wo der Major alle Flakhelfer versammeln ließ.

Er schimpfte über die unglaubliche Stümperei in einer Batterie, wo man nicht nur eigenmächtig und ohne Rücksicht auf die Gesamtsituation einen feindlichen Aufklärer abgeschossen hatteund damit die Heimatflak Annahof unnötig in Gefahr brachte, sondern dazu noch den Abschuss so unsachgemäß bewerkstelligte, dass durch einen Rohrkrepierer der ToddreierFlakhelfer zu beklagen war. Eine solche Anmaßung eigenen Handelns, die ohne Auftrag und Vollmacht war, durfte nicht hingenommen werden!

Er richtete seinen Blick auf einen Zettel in seiner Hand und las unsere vier Namen vorundsagte, wir würdenuns dem Zug der älteren Flakhelfer anschließen, deröstlich von Kattowitzeingesetzt werden sollte, umwichtige Industrieanlagen zu schützen, auf die der Ami sein Auge geworfen hatte.

Der Major schwieg, ein leichtes Raunen war zu vernehmen,dieBlickeder jüngeren Flakhelferrichteten sich aufuns in der bangen Hoffnung,nur wir würden bestraft,sieaberblieben verschont, denn es nahte die kalte Jahreszeit und da wären sielieber zu Hause.Zum Glück für sie sprach der Major vom Abtransport der Acht-Achter an die Ostfront, weshalb momentandie jüngeren Flakhelfernicht gebraucht wurden,sodass er sie ihren Familien wiedergeben könne,damit sie gemeinsam Advent und Weihnachten feierten.

Sofort brachen sie in großenJubelausund liefenvom Platz, um ihre Sachen zu packen.Wir aber musstenmitden älteren Flakhelfernauf Armeelaster steigen, von wowirsahen, wieunsere Kameradensich davonmachten, so schnell sie konnten. Siegfried, Fritz undLudwigwurdendagegenin Holzkisten nach Hause gefahren.

Der Major verabschiedeteunsmit einem grimmigen Lächeln und hoffte,wirbewährtenuns so gut, dass wir auch zu Weihnachten zu Hause sein konnten. Kaum war er außer Sichtweiteverfluchten wir ihn, denn er war es doch, der durch falsche Befehle und Versprechungenden Tod unserer drei Kameraden auf dem Gewissen hatte.

Weil Opa eine Pause machte,sagte ich, dass ich nicht verstand, warum der Major sich so über den Abschuss des feindlichenFlugzeugs aufgeregt hatte, wenn es vorher dafür noch eine Belohnung geben sollte.

Opa seufzte. „Weil es schlechte Planung war, was der Majorwusste. Deshalb suchte er einen Sündenbock, den er in Siegfried fand. Denn die Lage unserer Heimatflak in Annahof war strategisch gesehen völligverfehlt.Das Ziel der amerikanischen Bomber war das Industriegebiet um Kattowitz. Das hätten wir mit unserer Flak schützen müssen. Das erkannte der Major, deshalb befahl er den Abtransport der Acht-Achter, freilich zu spät.

Es zeigte die Misere des letzten Kriegsjahres,wo jederSoldateigentlich wusste, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, aber nicht wagte, die Befehle von oben zu verweigern. Dann kannst du einen Krieg nur noch halbherzig führen. Dann schleichen sich Fehler ein, in der Planung, in der Ausbildung,denn wir Flakhelfer wurden zuletzt viel zu schnell und oberflächlich ausgebildet.

Dazu kommt der Mangel an Ressourcen, ein wichtiger Grund für einen verlorenen Krieg. Das Material wurde knapper und schlechter, und so häuften sich Rohrkrepierer.“

„Was genau ist ein Rohrkrepierer?“, fragte ich.

„Dann wird das Geschoss nicht hinausgefeuert, sondern explodiert schon im Rohr. Das ist dannso, als ob eine Bombe einschlägt.“

Opa seufzte wieder. „Ich habe mit meinen 15 Jahren nicht über Strategie und Ressourcen nachgedacht, aber die Schrecken des Krieges am eignen Leib erfahrenund begonnen, am Sinn des Krieges zu zweifeln, vor allem als noch eins dazukam: das Gefühl der Schuld. Das war schon lange in mir, auch weil ich katholisch aufgewachsen bin,trat aber deutlich in mein Bewusstsein, als ich das erlebte, wovon ich jetzt berichten will.“

Zuerst kam esmirso vor, als hätte manunszu einem erneuten Räumeinsatz geschickt, denn die Wälder, durch diewirfuhren, sahen so aus, als wäre dahinter der Hof vonMariesGroßeltern.Aberich wusste, dasses nicht sowarund es machte mich traurig, dass ich mich mit jedem Kilometer weiter von ihr entfernte und noch nicht einmal sicher war, ob ich sie wiedersah. Es trieb mirdie Tränenin dieAugen,aber ich wollte nicht weich sein undichbiss die Zähne zusammen unddachte an Siegfried. Sein Opfertod durfte nicht umsonst gewesen sein. Er war für Deutschland und für mich gefallen, genau so wie der Tatschick für Deutschland und für mich gefallenwar.Ich musste für ihr Vermächtnis weiterkämpfen.

Der Kopf wurdemirschwer undichlegte ihn auf die Arme und hörte im Halbschlaf Otto über sein Gut sprechen, dasin der Nähe lag, undimmer wieder sagen: „In der einen Hand den Pflug, in der anderen das Gewehr!“Und ich dachte, wir hatten nur noch das Gewehr.

Schließlich schreckte ichhoch, dennwirwaren angekommen und es war dunkel geworden. Zwei Soldaten holtenunsab undwirmarschierten durch den schwarzen Wald und wieder war esmir, als hätteichschon alles gesehen, als würdeichmit Siegfried zum alten Skowronek gehen.Tatsächlich war das Haus, daswirschließlich erreichten, dunkel, nur von einer schwachen Laterne beleuchtet, dieichaber nichtkaputtzu schießen brauchte.

Der Schlafraum war so groß, dass jeder sein Bett aussuchen konnte, undichsuchtemirdas neben Erich aus,denn er gefiel mir in seiner ruhigen, auch ein bisschen traurigen Art.Er war das Gegenteil vonSiegfriedund schon bekam ich wiederein schlechtes Gewissen,weil ich an seinen Opfertod dachte. Danndachteich an Gerda, Siegfrieds schöne Seite, undfragtemich,wiesiewohl seinen Tod aufgenommen hatte.Mich hatte sie bestimmtvergessen,denn es gab in Breslau viele Soldaten,dieAusschau nachhübschenMädchen hielten,und Gerdawürde sich das gefallen lassen.

Als wir denSpeisesaalbetraten, saßen in einer Ecke einpaar Kameraden, dienicht zu uns schauten, sondern dieKöpfe über die Teller gebeugthielten. Wirsahen, dass es viel und gut zu essen gab: mehrere Brotsorten und aufgehäufte Wurst-wieKäsescheiben, weder abgezählt noch karg bemessen, doch die größte Überraschung war, dass man Bier zu trinken bekam, dünnes Bier zwar, wie Erich bemerkte, aber immerhin!

Jetztwachten wir auf undließen esunsgut gehen und langten zu und trankenunszu und merkten erst nach einiger Zeit, dass die Kameraden in der Ecke immer noch schwiegen und die gute Laune, diewirnach dem Bier bekommen hatten, nicht teilten.AufunsereFragen, wie es ihnen hier gefiel und wie der Dienst war,schüttelten sienur den Kopf bis einer, der wohl der Älteste war, sagte: „Ihr werden schon sehen!“

Wirlegtenunserstaunt, aber auch ein wenig beunruhigt indieBetten. Ichkonnte nicht schlafen und wolltedasFenster öffnen, weil die Luft zum Schneiden dick war, fand es aber verschlossen und dachte, wegen der Kälte.Bisicheinenbeißenden, süßlichen Geruch wahrnahm, der von draußen kommen musste und denichvon Heydebreck kannte, sodassichglaubte, in der Nähe eines Arbeitslagers zu sein.

Da standeiner der schweigsamen Kameradenplötzlich nebenmirund sagte, dass draußen ein KZ war, wo sie jede Nacht aus Gründen der Hygiene die Leichen ins Feuer warfen.Ich sollte mirkeine Gedanken darüber machen, weil es sich nicht lohnte, sondern lieber anmeinen Schlaf denken.Ich starrte ihn erstaunt und verärgert an. Wieso maßte er sich an, mir vorschreiben zu wollen, was ich zu tun hätte?

Ertrat noch näher an mich heran und hauchte mir seinen Bieratem ins Gesichtunddarin war nur ein Wort eingehüllt: Juden!

Ich fuhr zurück, aber er sah mich nicht mehr an, sondern lief schnell und lautlos zu seinem Bett zurück.Ich aber zweifelte nicht daran, dass er mir die Wahrheit gesagt hatte, obwohl sie verboten war.

Dass die Juden in KZs eingesperrt und sogar vergast wurden war Feindpropaganda und durfte nicht ausgesprochen werden. Es genügte für eine polizeiliche Vorladung.Und doch hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass mit den Juden etwas Schlimmes passierte.

Es gab ja viele Arbeitslager in unserer Heimat, von dem in Heydebreck habe ich schon erzählt. Nur zehn Kilometer von meiner Heimatstadt Groß Strehlitz entfernt,lag auch eins,und wenn der Wind ungünstig stand, roch es nach Leichen. Selbstwennwir Fenster und Türen schlossen, blieb der Geruch.Dann hieß es, man verbrannte sie wegen der Ansteckungsgefahr.Omi hatte nur gesagt: „Leuteschinder, Teufelskinder!“ Mehr nicht.DerTatschickglaubte nicht, dass die Juden, die unsere Stadt verlassen hatten, in solche Lager kamen. Auch für ihn war das Feindpropaganda.

In der Schule hatten wir einen Juden gehabt,Simon Seidmann. Er konnte unheimlich gut Klavier spielen und einmal in der Hofpause, als wir beide in der Klasse blieben, weil wir Tafeldienst hatten, spielte er das Horst-Wessel-Lied auf eine ganz andere Weise, fröhlich und lustig, sodass wir lachen mussten. Ich wollte es noch einmal hören, aber er schloss den Klavierdeckel. Es war verboten!

Darüber wunderte ich mich und er sagte, es warverboten,weil eraus dem Horst-Wessel-Lied Negermusik gemachthatte. „Und weißt du, was das bedeutet? Dass uns Juden nichts heilig ist!“, hatte er gesagt.

Eines Tages kam er nicht mehr in die Schule. Es hieß, dass er mit seiner Familie nach Amerika gefahren war. Sein Vater war Bankdirektor, da konnten sie sich die Reise nach Amerika leisten.Volker Wiese, der bei dem Luftangriff der Amis ums Leben gekommen war, ihr erinnert euch, kannte Simon näher. Er sagte, dass es ihnen wieder sehr gutging, wie es ihnen auch in Deutschland gut gegangen war. Sie hatten überall ihre Leute sitzen. Die halfen sich.

Volker, der sonst immer still war, sagte das laut und deutlich. Simongehörte wie er zu den Klassenbesten. Vielleicht warVolkerfroh, einen Rivalen loszuwerden.

RudiMalcherek, den ich zusammenschlagen musste, ihr erinnert euch, hatte ein loses Mundwerk. Erglaubte nicht, dass Simon in Amerika war. Die Juden kamen in Lager, aus denen sie nie zurückkehrten. „Konzertlager“ nannte er sie. Dann erzählte er einen Witz. Zwei Juden verabschieden sich. „Also auf Wiedersehen in der Seifenschublade.“ Viele lachten, aber ich verstand nicht den Witz.Volkerverzog das Gesicht. Als ich ihn später fragte, sagte er, dassdie Judenzwar Volksfeinde waren, aber das hieß nicht, dass man siein Lager sperrte odertötete oder gar zu Seife verarbeitete.

Tatsache war aber, dass es viele solcher Lager gab, in denen die Volksfeinde eingesperrt waren und so hart arbeiten mussten, dass sie starben und ihre Leichen verbrannt wurden.Und das Gerücht hielt sich, dassvieleJuden darunter waren.

Und jetzt schlief ich direkt vor so einem Lager! Ich schlief unruhig und wachtemitten in der Nacht auf und war sicher, schreckliche Schreie gehört zu haben.Ichwartete auf neue Schreie, doch hörte nichts und hoffte, nur geträumt zu haben.

Es erinnerte mich an die drei Galgen, die ich mit Marie gesehen hatte, undjetzt glaubte ich, dass Juden gehangen hatten, unddas alte Grauen kam wieder, das deshalb so unheimlich war, weil darüber nie offen und ehrlich gesprochen wurde, sondern immer der Ton mitklang, man kümmerte sich lieber nicht darum, sonst würde es für einen selbst gefährlich.

„Ich verstehe das mit den Juden nicht!", riefichaus. „Warum waren sie Volksfeinde?Warum mussten sie in Lager eingesperrt und getötet und vergast werden?Was war denn bloß so schlimm an ihnen?“

Valentinverstand es auch nicht und sagte, dass selbst die schlimmsten Verbrecher bei uns nicht getötet wurden, die Nazis aber schickten unschuldige Kinder und Frauen in die Gaskammer!

Opariebdie Stirnmit der Hand und schaute uns traurig an.„Ach, Kinder,es ist auch schwer zuverstehen,weil es soeinschlimmes Verbrechen gewesenist. Man kannsich nicht vorstellen, dass die Deutschen, immerhin ein großes Kulturvolk, dazu fähig waren. Es wird immer wieder gesagt, dass die meisten Deutschen davon nichts wussten oder nichts wissen durften, weil es streng verboten war, darüber zu reden und man mit harten Strafen rechnen musste.Aber es erklärt nicht den Hass oder den Widerwillen oder die Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber den Juden, die schon vor dem Krieg tagtäglich drangsaliert wurden.Sie verloren ihre Berufe, ihr Hab und Gut, ihre Freunde und Familien, ihre Anerkennung, ihre Würde und schließlich ihr Leben. Warum das so war?“

Man konntesehen, wie er überlegte, es uns zu erklären.

„Ich habe euch ja gesagt, dass der Major für seineschlechte Planung einen Sündenbocksuchte und ihnin Siegfried fand.Ihr erinnert euch?“

Wir nickten.

„Es istleider so, dass der Mensch die Schuld eher bei anderen sucht als bei sich selbst,besonders wenn er sich in einer Krise befindet, wo er nicht mehr weiter weiß. Dann ist es sehr bequem, die Schuld auf einen Sündenbock abzuwälzen.Für die Sündenböcke hat man sich meist Personen ausgesucht, die anders waren in Sitten, Gebräuchen, Sprache und Religion. Und die Juden, denen man auch noch den Mord am Gottessohn anhängte, eigneten sich dafür besonders gut.Die Nazismachtendaraus ein bösartiges System. Sie gaben den Juden die Schuld für die Krise, in der die Deutschen sich damals befanden.Ob es der verloreneerste Weltkriegwar,diehartenBedingungen der Sieger, die Arbeitslosigkeit,dieGeldentwertung,immer steckten die Juden dahinter.Unddie Deutschen machten mit, weil die Nazis ihnen das Gefühl gaben:Wir sind die Guten und die da, die Juden, sind die Schlechten.So was schafft Gemeinschaftsbewusstsein,so was lenkt von den eigenen Fehlern ab.

Wer aber Juden persönlich kannte oder sie zu seinen Freunden zählte, wusste, dass sie gar nicht so anders waren oder gar dergroßen Weltfeind,zu dem die Nazis sie machten.Und doch regte sich kein Widerstand, als die Juden abgeholt wurdenoder sich auf Sammelplätzen einfinden mussten.Die Angst war zu groß, aber unter der Nazi-Propaganda regte sichdas schlechte Gewissen.

Als 15-Jähriger hatte ich so ein schlechte Gewissen, ohne es begründen zu können wie jetzt. Es war das Gefühl des Grauens, das so unheimlich war, weil man nicht genau wusste, was es bedeutete.“

Opa seufzte und schaute uns wieder traurig an. „Habt ihr ungefähr verstanden, was ich euchsagen wollte?“

Wir nicktenzwar, weil ich auch nicht wusste, was man mehr darüber sagen konnte, aber eigentlich verstand ich immernoch nicht,warum meine Vorfahren unschuldige Juden, also auch Kinder undFrauen, in die Gaskammern schickten.Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man so brutal sein konnte.

Opasagte: „Das war heute ein schweres Kapitel. Da machen wir lieber Schluss.“

2.Kapitel

Eswar knalle heiß und ich schwitzte mir das Wasser ins Gesicht.

Opa guckte aus dem Fenster und sagte: „In meiner Geschichte wird es eiskalt sein. Hört zu!“

Am Morgen schneite es stark undwirmusstenunsauf dem Appellplatz versammeln, wo ein SS-Scharführer zuunsredete.Es war einervon der Totenkopf-SS,wieErichmir nachher erklärte. Man erkannte esam rechten Kragenspiegel und an der Mütze,aber ich hatte wegen des Schnees nichts gesehen.Icherschrakgewaltig,denn diese Truppe der SS war wie der Tod und der Teufel.

Dochder Scharführer war sehr freundlich und sagte, dass er sich freute, neue Flakhelfer begrüßen zu können und dass ihm um das Wohl des deutschen Volkes nicht bange war, solange er die Jugend auf seiner Seite wusste.Denn die Jugend war die Zukunft, die in diesem Vernichtungskampf wie der Phönix aus der Asche steigen würde,sagte er. Und wenn umunsherum das Feuer loderte und Brandgeruch in die Nase stieg, solltenwirnicht vergessen, dass aus der Asche etwas wundervoll Neues entstand.

Ich aber dachte an die letzte Nacht,als mir das Wort „Juden“ zugeflüstert wurde.Sollten sie die Asche sein, aus der so ein Naziadleremporstieg?

Dann führte erunsüber das Gelände und redete ganz sachlich überGeschütze und Geschützattrappen, über Funkmess-, Kommando- und Kommandohilfsgeräten und ließeinen Teil der Flakhelfer, unter denen sichOtto und Güntherbefanden,bei den Flakscheinwerfern, während erdie andere Gruppe mitErich undmirzu den Munitionskanonieren brachte.Dort trafen wirdenschweigsamen Kameraden,der mir das Wort „Juden“ zugeflüsterthatte, und erbefahluns,Maschinenteilevon einem LKW zur Batterie zu schleppen.

Er redete mit dem harten Akzent der Volksdeutschen, und als Erich ihm sagte, dass seine Mutter aus dem Wartheland kam, stand er stramm und schnurrte herunter, dass er zu den Deutschstämmigen gehörte, Gruppe C, polnische Wurzeln, aber großdeutsche Krone.Dabeigrinsteerbreit, wasichihm gar nicht zugetraut hatte,weil ervorherso ernstgewesen war. Ichwundertemich noch mehr, als Erich in lautes Lachen ausbrach und dem Volksdeutschen auf die Schulter schlug.

„Was bedeutet Volksdeutsche und Gruppe C?“, fragteich.

Opa nickte.„Hitler war ja von der Idee besessen, dass die Deutschen Lebensraum im Osten brauchten, was bedeutete, dass er die Polen vernichten oder versklaven wollte oder sie einzudeutschen plante, wenn sie deutsche Wurzeln hatten.Die wurden Volksdeutsche genannt und nach fünf Gruppen eingeteilt, A bis E, je nachdem, wie gut sie sich eindeutschen ließen.A waren also stramme Nazis, E wollten lieber Polen bleiben.Jakob, wie der schweigsame Kamerad hieß, war mit C in der Mitte,hatte also polnische Wurzeln, war dem Deutschtum aber aufgeschlossen.“

„Hatten viele deiner Verwandten nicht auch polnische Wurzeln?“, fragteValentin.

„Ja, das ist richtig“, sagte Opa. „Aber sie lebten in Oberschlesien und das gehörte zum Deutschen Reich. Nur die Deutschen in Polen wurden von A bis E einsortiert.“

Opa seufzte. „Dann fahre ich fort, wenn es euch recht ist.“

Es war uns recht.

Jakob war ungemein kräftig, sodass er schwereTeile von Maschinenwie Spielzeug auf seine Schulter packte, währendichsie nur zusammen mit Erich tragen konnte, und alswireinmal wegen des Schnees stolperten, blieb Jakob sofort stehen, legte seinTeilab und halfuns. Erwollte aber von Dank nichts wissen,wirsollten nur durchhalten, sagte er, und dichthalten.Ich dachte gleich an die Juden, aber Erich verstand es nichtundJakob druckste herum,bisAdam, sein älterer Freund, zuunstrat undauf den Stacheldraht zeigte, derdurch dendickenSchneenicht so abstoßend wie sonst wirkte.

„Dichthalten wie Stacheldraht!“, flüsterte er.

Das verstand Erich immer noch nicht, aber Adamsagtenurwie am Abend zuvor:„Ihr werden schon sehen!“

Dann wandte er sich von uns ab und ging, währendJakob „Asche“flüsterteund den Finger auf die Lippenlegte, bevor erihmfolgte.

„Asche“, wiederholte Erich langsam und schüttelte den Kopf undicherzählte ihm, was Jakob mir gesagt hatte, als ich das Fenster öffnen wollte.

„Juden!“, flüsterte Erich. Das hatte er sich schon gedacht,denn sonst würden sie nicht so ein Geheimnis daraus machen. Man durfte ja nicht fragen, wer in den Baracken wohnte.Aber für ihn war klar, dass es einenZusammenhanggab zwischen den Juden undder Verbrennung der Leichen.

Ich erschrak undhatte wieder das Gefühl des Grauens, das in mir hochstieg, wenn ich von Juden und Verbrennung hörte.

Erichachtetegar nicht auf mich, sondern sagte,er würde noch in dieser Nacht diesem üblen Verbrennungsgeruch, der einem ja nie aus der Nase ging, so weit wie möglich folgen.Tagsüber war es zu gefährlich, aber bei Dunkelheit und Schneetreiben würde man ihn nicht so leicht sehen. Er glaubte, dass er aus den Baracken hinter dem hohen Stacheldrahtzaun kam, und hoffte, auf einen der vielen Bäume am Zaun zu steigen, um mehr zu sehen.

Das war ja genau so wie bei den drei Galgen!, dachte ich bestürzt und schüttelte mich bei dem Gedanken, mich noch einmal so einer Gefahr auszusetzen.Aber als Erich mich ansah und sagte: „Du kommst dochmit?“, konnte ich nur nicken,obwohlmirdas Nein auf der Zungelag.

Wirmusstelangewarten, bisalleeingeschlafen waren, und als das Schnarchkonzert begann, schlichenwiraus dem Saal und öffneten vorsichtig die Haustür und waren draußen in der Nacht und blieben stehen undichmerkte, wiemir dasHerz pochte.Wirhatten keine Taschenlampe mitgenommen, um nicht aufzufallen, und hofften, die Augen würden sich an die Dunkelheit gewöhnen, und so war es auch: Bald ließen sich Häuser und Hütten unterscheiden undwirkonnten ohne Mühe dem jetzt noch intensiveren Geruch, der von Verbrennung und Verwesung herrührte, folgen.WirfandeneinenTrampelpfad, der zu dem Zaun führte, hinter dem die Baracken lagen.

Ich kam mir wie in einem Traum vor oder in die Zeit mit Marie zurückgerutscht, als wir auchzueinem Metallzaungingen. Nur war es diesmal nicht der Regen, sondern der Schnee, der uns dichte Flocken ins Gesicht trieb.Aber auch Asche war aufgewirbelt und schlugunsund knirschte zwischen den Zähnen, sodassichhoffte,Erichwürde aufgeben und zurückgehen.Abererdachteso wenigdaranwie damals Marie, sondern stapfte vorwärts mit gebeugtem Oberkörper. Plötzlich stand der Stacheldrahtzaun voruns, düster und drohend, wie eine Falle, die nur darauf wartete, zuzuschnappen.Ich hatte so eine Angst, dass ich nur noch weglaufen wollte, aber ich konnte nicht, weil mir die Beine schlotterten.

Vor uns schienenLichter,diedurch die Schneewandwie riesige Augen uns direkt anstarrten. „Kommt nur näher!“, zischten sie. „Noch ein paar Schritte und ich hab euch!“

Daerhob sich eine Aschenwolke und fiel aufunsund zugleich bellten wild und wütend Hunde und es erhob sich ein schriller, spitzer Schrei, brach ab und ging in Gurgeln und Geröchel über und wurden von Pfeifen und heiseren Befehlen übertönt.Wirwaren starr vor Entsetzen undich sah, wieErichsich umdrehte, aber da rannte ich schon undhörte die Hundemeute nachmirschnappen und war froh, dasswirden Schlafsaal erreichten, woichmich schwer atmend aufmein Bett legte.

Aber im Traum bliebicham Zaun und bestieg den Baumwieder mit Marieundblickte auf einen Hof, der unter einer hohen Schicht von schwarzem Schnee lag, und in einer Eckestandein Galgen und an ihm hing ein Häftling, der sich langsam drehte undsein schwarzes, schräg vom Strick abstehendes Gesicht zeigte.

Ichhörte hintermir„Heilige Anna!“ keuchen und es warMarie, von Asche bedeckt, undicherschrak und hoffte, sie lebte noch.Wie zur Antwort umschlang und küsstesie michund hauchte: „Komm zu mir!“ und drücktemichso stark in die Zweige, dassichmich mit beiden Händen festhalten musste, um nicht vom Baum zu fallen. Abersielagso schweraufmir, dass ich mich nicht halten konnte. Ichließ los und fiel – und wachte auf.

„Gut, dass du Marie nicht vergessen hast!“,sagte ich.

Darüber ärgertesichValentin. „Lass doch Opa einfach weitererzählen!“

Als ob man nicht unterbrechen durfte! Das war doch das Schönste an der Geschichte!

Am Morgen schneite es kaum noch, aber Asche lag überall herum und der Scharführer sagte, dass manunsam Bahnhof brauchte.Erfuhr mitunszum nahen Bahnhof, wowirhelfen sollten, drei neue Acht-Achter zu ihren Stellungen zu bringen.

Sie sahentop aus, allererste Sahne,besser als die von Annahof,begeisterte sich Otto, der Bescheid wusste, und lobte ihre größere Schusshöhe und Feuer- wie Mündungsgeschwindigkeit. Günther, der schon dabei war, Teile der Geschütze auf einen Lastwagen zu laden, wollte ihm nicht nachstehen und schrie: „Damit holen wir die Amis vom Himmel runter!“Aberichdachte, daswollte auchSiegfriedundeshattemit einem schrecklichen Rohrkrepierer geendet.

Der Scharführer trieb zur Eile an, denn der Güterzug, der die Geschütze gebracht hatte, musste weiter, aber es war nicht so einfach, die schweren Teile zu entladen, was schließlich nur mit Hilfe von Flaschenzügen gelang. Dadurch konnte der Zug nicht rechtzeitig den Bahnhof verlassen und musste warten, bis ein neuer unter quietschenden Gleisen angedampft kam.

Jetzt wurde der Scharführer fuchsteufelswild und schnauzteunsan und scheuchteunsauf die LKWs, wowirneben den Geschützen einen Platz finden mussten.Dann befahl erdem Fahrer, abzuhauen, der auf dasGaspedal drückte undnach vorn schoss, sodasswirbeinahe samt der Ladung hinuntergerutscht wären.

Wirkonnten aber deutlich erkennen, wie Wachmannschaften und bellende Hunde den einfahrenden Zug umringten,der schließlich hielt.Es war ein Güterzug, aber als die Türen aufgeschoben wurden, taumeltenMänner heraus, Häftlinge, nach ihrer Kleidung zu schließen. Siewaren wohl für das Arbeitslager gedacht, obwohl die meisten alt und krank aussahen und mich an die Krüppelgestalten erinnerten, die für die Straßenarbeiten eingesetzt wurden.

Nach einer Weile flüsterte Erich, er glaubte, die Häftlinge kamen aus den östlichen Lagern, von der SS geholt, weil der Russe vorwärts rückte.

„Umverteilung der Kräfte!“, flüsterte Jakob.

„ImUmverteilensind wir Weltmeister. Darum gewinnen wir den Krieg!“, flüsterte Adam.

Das flüsterte Simon, der dritte Volksdeutsche: „Hinter dem U kommt gleich das Weh. Das ist die Ordnung im ABC!“

Wir