Mutter und Sohn - Klaus Steinvorth - E-Book

Mutter und Sohn E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Die eigensinnige Mutter hat ihrem Sohn eine Million vermacht, während ihre Tochter leer ausgeht, da ist Familienstreit vorprogrammiert. Außerdem kann der Sohn sein Erbe nur antreten, wenn er, der eingefleischte Junggeselle, eine Frau findet, die ihm zu einem verantwortungsvolleren Leben verhilft. Das stürzt ihn in Konflikte, weil er nicht weiß, ob oder an wen er sich binden will. Erst als der Sohn auf sein eigenes Leben wie auf das seiner Mutter zurückblickt, kommt es zu einer Lösung. Der Roman spielt im Jahr 2000, in dem es eine Aufbruchstimmung gibt, die aber für die Protagonisten noch von den Folgen des letzten Krieges beeinflusst wird.

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Mutter und Sohn

Section 1Section 2

Section 1

Klaus Steinvorth

Mutter und Sohn

Der 62-jährige Hans Zimmermann wird durch das Testament seiner Mutter zum Millionär. Das krempelt sein Leben um, jetzt könnte er sich all seine Wünsche erfüllen.Seine Mutter ist aber mit seinem bisherigen Leben nicht glücklich gewesen und bittet ihn in ihrem Testament, es in Zukunft mit mehr Ernst und Verantwortung zu führen, und zwar an der Seite einer Frau.Denn bis jetzt hat sich Hans zu keiner Heirat entschließen können. Für seine Mutter ist aber Zufriedenheit im Leben ohne eine Frau nicht möglich.

Also macht sich Hans auf die Suche nach der Frau, die zu ihm passt, was nicht leicht ist, weil er nicht weiß, ob sie ihn nur wegen des Geldes liebt.Erst durch die Rückschau, in der er sowohl seine eigenen Liebesaffären durchlebt wie die seiner Mutter während ihrer Flucht aus dem Osten, gelingt ihm die richtige Wahl. Jetzt kann er sich wie Hans im Glück fühlen.

Klaus SteinvorthhathauptsächlichJugendbücher geschrieben und lange im Ausland gelebt. Er betrachtet das Schreiben als kreatives Hobby, das die Selbsterkenntnis und die Wahrnehmung der Umwelt erleichtert.

Section 2

1. Mutters Tod

Es klingelte in der Nacht, als Hans mitVeraim Bett lag.

„Ihre Mutter ist gestorben. Wir machen sie jetzt zurecht.“

„Sie hatten mir versprochen, vorher Bescheid zu sagen!“

„Es war Schichtwechsel. Dazwischen muss es passiert sein.“

„Ich bin schon auf dem Weg.“

Den Abend war er im Pflegeheim geblieben und mit Beginn der Nachtschicht weggefahren. Er hatte   Frau Wendt gesagt, er würde gern ein wenig ausschlafen und früh am Morgen zurückkehren und sie hatte geantwortet: „Ihre Mutter ist zäh, aber man weiß nie.“

„Rufen Sie mich vorher an?“

„Ich versuch‘s, kann es Ihnen aber nicht versprechen.“

Er war nicht nach Hausegefahren, sondern zuVera,seiner Fußpflegerin,diesich nicht nur um seine Nägel kümmerte, sondern auch um seine sexuellen Bedürfnisse,wofür sie aber nicht bezahlt werden wollte, wenn sie auch nicht gegen seinesporadischenÜberweisungen auf ihr Konto protestierte.Sie kannten sichschon lange, und aus der anfänglichen Dienstleistung war ein freundschaftliches Verhältnisgeworden,wodurch sieKummer und Sorgenaustauschten, dennwenn erein frustrierterJunggeselle war,litt sie alsfrustrierteWitwe. Er besuchte sie in der Regel Freitag Abend, aber jetzt, während des langen Sterbens seiner Mutter, durfte er jede Nacht kommen, vorausgesetzt, er rief vorher an.

Er hatte angerufenund einmüdes„Ja?“gehörtund dann ein „Oh Gott! Ist sie schon tot?“,worauf er „Danke!“, sagte und „Ich komm gleich und erzähl dir alles!“

SiehatteimdünnenNachthemdgeöffnetund ihn im Flur stehengelassen, sie musste sich nur was überziehen. Erwusste, dass er ihre Fortschritte im Kampf gegen überflüssige Pfunde bewundern sollte,was er sofort tat, denn unterließ er das Kompliment, kam ihr Vorwurf, er sollte auch ein wenig abnehmen, es würde ihm guttun. Er antwortete dann, es tat ihm gut, wenn er von ihr Trost und Beistand erhielt, weil ihn der Tod seiner Mutter doch mehr mitnahm, als er gedacht hatte.

„Obwohl sie90 ist?“, hatte sie ungläubig gefragt.

Und er hatte gesagt,mit90zeigte sichder physische Verfall seiner immer um Ansehen und Anstand bemühten Mutternur nochjämmerlicher.

Sie hatte mitleidig gelächelt,aber seine Sehnsucht nach einem gesunden Frauenkörper verstanden undseine hungrigen Blicke als Kompliment für den Kampf gegen ihr Gewicht betrachtet.

Jetztkamsiezurück und hatte sich eine Jacke übergeworfen und einen Schal umgewickelt. Die Beine aber blieben frei, und als sie die übereinander schlug, rutschte das Nachthemd über die Knie.

Sie waren schon so eingespielt in ihrem Gespräch über seine Mutter, dass es einem Pingpong glich, wo sie immer stärker angriff und er nur noch weiter ausholte, um sich zu verteidigen.Verawar in der Gegenwart, wo es ihr unnatürlich erschien, dass er eine 90jährige Mutter nicht loslassen konnte, er in der Vergangenheit, die sich nicht einfach abschütteln ließ,worauf sie ihm zurief:„Du musst dich ändern!“

Das war der Schmetterball, der ihn wehrlos machte. Denn er fühlte, dass mitMuttersSterben ein Lebensabschnitt zu Ende ging, den er nicht mehr wie bisher fortführen konnte.

Er gab auf. „Ich bin müde.Kann ich bei dir schlafen?“

„Ichstehedir zu Diensten, wie du weißt.“

„Besser, du liegst!“

In ihremverbalenPingpong hatten ihre Beine das Nachthemd hochgeschoben,waser alsSignal fürihre Dienstbereitschaft verstand. Dabei hatte sie ihr weiches, mütterliches Lächeln aufgesetzt, was ihm oft gefiel. Aber diesmal nicht.Ihnüberfiel die Wut aufalles Weibliche und Mütterliche,das ihm sounbegreiflichschien,ein Vorhang, derdenDurchblick verwehrte.Kaum hatte er sich seiner Kleider erledigt,tratsieaufihnzu,die Große Mutter mit dem schweren Busen und dem überlegenen Lächeln.Das war zu viel!

Seine Hände fuhren nach ihr, hielten sie fest, krallten sich in ihre Haut.Da bissen ihre Zähne in seine Lippen,er spürte ihre Wut. Oderwar esVerachtung? Es stachelte ihn anundließ ihn grob werden. Er riss an ihren Kleidern, während sie an seinem Hemd zerrte. Die Laute, diesie von sich gaben, warendas KnurrendesHundes und das FauchenderKatze. Er hobVera, die leichter war, als er dachte, vielleicht gab ihm die Erregung neue Kräfte, jedenfalls trug er sie, die sich nicht wehrte, in ihr Bett, wo sie übereinander herfielenund kratztenund bissen. Entlud sich auch in ihr eine lang aufgestaute Wut?

Es war wie im amerikanischen Fußball, das er als Austauschstudent gespielt hatte:Alles nach vorn zumTouchdown!Er hatte den Ball in der Hand und brauchte ihn nurüber die Ziellinie zu bringen, die vor ihm lag.Sie hatte ihn ihm zugeworfen und erwartete den letzten Schritt.Er dachte aber: Warum diese Aufregung? Und überließ ihr lächelnd den Ball.

Kurz darauf klingeltesein Handy. Zuerst war Katja dran.Siewolltemit Miakommen, die aus München angereist war.Dannmeldete sichdas Pflegeheim.Alser die Nachricht von Mutters Todhörte,wusste er, dass erbei ihr hätte bleiben sollen.Sein Vergnügen mit Verawar ein Ausweichen gewesen, ein nicht Wahrhabenwollen seiner Pflicht, ihr Sterben zu begleiten.

Er hatteMutterversprochen, im Augenblick des Sterbens ihre Hand zu drücken. Das war ihr wichtig gewesen, denn da gab es so etwas wie eine Familientradition. Sie hatte ihre sterbende Mutter in den Armen gehaltenwie auch die beiihrerMuttergewesen war, als sie starb.

„Kann ich mich auf dich verlassen? “, hatte sie gefragt.

Er hatte tausend Eide auf seine Zuverlässigkeit geschworen. Und wardann dochder erste, der mit der Tradition brach! Eigentlich hätte sie es wissen müssen,denn keiner kannte ihn so gut wie sie.Aber sie gab ihm immer eine Chance. Sie hatte ihm ihr Leben lang vertraut.

Auf den ersten Blick sah ihr Zimmer aus wie immer: weiß, weit, licht.Dader Schrank,dortdie Ablage,an der Wanddie modernen Bilder,am Bettdie neuesten Lampen,es wardie Luxussuite einer vermögenden Patientin. Nur war es merklich kühler geworden, weil das Fenster offen war,das er wieder schloss, weil ihnfröstelte.Auch hatten sie den Fernseher ausgeschaltet, der sonst pausenlos flimmerte. Und mitten auf ihrem Bett, ohne Schläuche und Flaschen, war sieaufgebahrt, stocksteif, mit geschlossenen Lidern und gefalteten Händen.Er sah keine aufgerissenen Augenmehr,er hörtekein Rasseln und Röcheln, kein Schnappen und Saugen nach Luft. Wie eine alte Maschine hatte sie gequietscht, die trotz erschreckend langer Pausen immerwiederansprang. Sie hatte am Leben gehangen, das sie nicht loslassen wollte.

Diesmal herrschteTotenstillewieTodeskälte, als er sich über sie beugte und auf die Stirn küsste. Die war immer warm gewesen, manchmal heiß und schweißig,meist angenehm temperiert,jetztaberabstoßend kalt. Er war zu spät gekommen. Sie war ohne Abschiedvon ihmgegangen.

Seine Schwester Mia wäre nicht zu spät gekommen. Sie war pünktlich, zuverlässig und hielt, was sie versprach. Aber Mutter wollte sie nicht an ihrem Bett sehen. Als er angedeutethatte, es wäre doch Zeit für eine Versöhnung, hatte ihr gesundes Auge ihn fixiert, leicht spöttisch, wie ihm schien.Sie machte missbilligende Schnalzgeräusche. „Du, du...“, begann sie. Er beugte sich über sie. „Duweißt doch, wie sie ist!“

Er nickte schnell.

Sie hauchte und schniefte. Ihr Mühen war erkennbar. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. „Sie will es nicht!“

EigentlichhättesiemitMiazufrieden seinsollen,diesie mitdreiEnkelkindern zur Großmutter gemachthatte,abersie war es nichtgewesen, konnte eswohlnicht sein.Mutter und Tochterwarensich zu ähnlich, um nachgeben zu können. Eshatteschon in ihrer Kindheit angefangen, dass er Mutters Anweisungen viel bereitwilliger gehorchte als Mia,die,drei Jahreälter als er, ihn als Muttersöhnchen verachtete.Siewarschnell ihre eigenen Wegegegangenundhatteihn undMutterverlasen,als sie 16gewesenwar.

Es hätte mit den drei Enkelkindern eine Annäherungzwischen Mutter und Tochtergeben können, denn Mutter mochte die Kleinen undlud sie regelmäßig in den Ferien zu sich nach Hause ein,aber Mia kam nie mit und lud Mutter auch nicht nachMünchenein, wosiewohnte, selbstdann nicht,wennsieFamilienfeste gab.

Als die Enkelkinder ihre eigenen Familien gründeten,zogen sie alle in die Nähe ihrer Großmutter, Mia aber blieb in München.

Jetzt im Tod strahlte Mutters Gesicht eine ruhige Zufriedenheit aus. Man konnte glauben, dass sie sich mit ihrer Tochter versöhnt hätte. Ihr Mund war still und friedlich, verzog sich nicht mehr aus Protest gegen Mia.Ihr einesAugebrauchte nichtunruhig zu flackern,wenn von ihrer Tochter die Redewar, eswarwiedas andere Auge für immergeschlossen. Alles an ihr zeigte, dass sie sich ergeben hatte und nicht mehr kämpfen wollte.Sie schien ihren Frieden gefunden zu haben.

Frau Wendt, die Nachtpflegerin, öffnete die Tür und schaute ihn an. Links unten die Zahnlücke, rechts oben das Schlupflid.Steckte körperlicher Verfallim Altersheim an?Warum tat sie nichts dagegen? Oder trug ihre Krankenkasse die Kosten nicht? In dem Augenblick klopfte sein Backenzahn. Wann war er das letzte Mal beim Zahnarzt gewesen? Außerdem brauchte er dringend eine neue Brille. Er sah beim Autofahren deutlich schlechter, nachts war es eine Katastrophe.

Als ob sein Körper ihn mahnte, mehr an die Vergänglichkeit des Lebens zu denken, die Mutter vor ihm doch gerade bewies.

„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen. Der Tod einer Mutter ist immer etwas Besonderes“,sagte Frau Wendt.

„Sie wollten mich rechtzeitig benachrichtigen. Sie wissen doch, wie wichtig es für mich war.“

Er versuchte sich zu rechtfertigen,wussteaber, dass es nicht ihre Schuld war, sondern seine.

„Glauben Sie mir, HerrZimmermann, wenn Sie dabei gewesen wären, hätte sie nicht losgelassen.“

Sie musstees, weil er nicht da war, dachte er, aber inden AugenFrau Wendtshatte sie es getan, um ihn zu schonen.Vielleicht hatte sie Recht.Mutternahm immer Rücksicht auf ihn, während er es ihr viel zu wenig vergalt.

Diese Einsicht müsste ihn schmerzen, seine Trauer um sie stärker werden lassen, aber eineträgeGleichgültigkeit legte sich auf ihn.Es fehlte ihm der Ernst, hatte sie oft gesagt.

Es klingelte. Der Ton fuhr gellend durch das Heim und hätte alle Bewohner geweckt, wärensie nicht halb oder völlig taub gewesen. Es war das Haus der Grimassenschneiderund Fuchtler, ein Übungsplatz für Pantomimen. Frau Wendt entschuldigte sich und eilte nach unten. Sie kam mit dem Arzt zurück, der Mutters Tod amtlich beglaubigteundvon einerjungen undhübschen Assistentin begleitetwurde.So wie sieden Arztanblickte,schien sie ihm mehr als beruflich verbunden. Auf jeden Fall stach ihre frische Jugend schmerzlich vom steifen Leichnam seiner armen Mutter ab. Nichts verklärtedie Jugend so sehr wie ihr Erscheinen im Altersheim. Er folgte fasziniert ihren Bewegungen, ihr kurzes Lächeln ließ ihn sentimental werden.

Es waren diese Gefühle, die ihn in die ArmeVerastrieben. Je zäher Mutter mit dem Tod kämpfte,desto stärker wurde sein sexuelles Begehren. Einen nackten Frauenkörper wollte er sehen, der nicht vom Tod gezeichnet war. Zugleichwusste er, dass er bei Mutter sein sollte. Und tröstete sich, dass sie es tolerieren würde. Wie sie alle seine Frauengeschichten toleriert hatte.

„So, das ist erledigt!“, posaunte der Arzt und reichte ihm die Urkunde, die er für das Beerdigungsinstitut brauchte. Frau Wendt sah ihn an. Ob er schon eins benachrichtigt hätte?

Oh ja. Möller, der UlliWirthbeerdigt hatte, würde sich auch um Mutter kümmern. Nun ging es schon um ihre Beerdigung, das war der endgültige Tod.

Der Arzt verabschiedete sich von ihm mitleichtemLächeln. Dasermutigte ihnzu seiner Frage,ob seine Mutter seinen Händedruck gemerkt hätte, beim letzten Atemzug, bevor sie starb.

Die Augen des Arztes verengten sich. „Tut es Ihnen leid, dass Sie nicht dabei waren?“

Er nickte.

„Hat sie Ihre Anwesenheit bemerkt, als Sie das letzte Mal bei ihr waren?“

Das glaubte er nicht. Vor vier Tagen hatte sie ihn erkannt und etwas Unverständliches gemurmelt, vor drei Tagen meinte er ihren Händedruck gespürt zu haben, aber dann nichts mehr.

Sie war nicht mehr bei Bewusstseingewesen, sie hätte ihn nicht erkannt, urteilte der Arzt. Er ging und nahm seine Assistentin mit, die sich mit einem flüchtigen Lächeln verabschiedete, das Frau Wendt oder ihm gelten konnte.

Frau Wendt räusperte sich, bevor sie hinausging, und wies auf sein Handy. Er sollte das Beerdigungsinstitut anrufen. Es wäre gut, wenn seine Mutter in der Nacht hinausgetragen würde. Am Tag, das könnte er sich ja vorstellen, sorgte das für Unruhe.

Möller, der rund um die Uhr zu erreichen war, wollte umgehend seine Leute vorbeischicken.Ermusste sie benachrichtigen, aber das waren sie gewohnt. Na ja, eine Stunde würde es dauern.

In der Zwischenzeit würde er Totenwache halten. Es wardie letzte Stunde, in der er nochihren Leibsah.Was er von ihm sah, war, dassmanihnzurechtgemacht hatte. In den Händen steckte eine Rose, das Gesicht schien geschminkt, die Haut wirkte heller, die Lippen röter. Die Haare waren so gekämmt, dass sie den talerrunden Fleck bedeckten, den ein entferntes Geschwür hinterlassen hatte. Das weiße Nachthemd, das sie fest verhüllte, sah wie ein Brautkleid aus.Für dieHochzeitmit dem Tod?

Sieerschien ihm fremd und unwirklich. Das war nicht Mutter, das war nur ihre sterbliche Hülle, die für eine knappe Stunde schön gemachtworden war,bis die Leute vomBestattungsinstitut kamen und sie mitnahmen.

Und dabei hatte sie sich zeit ihres Lebens so viel Mühe gegeben, ihre Hülle zu verschönern! Sie wollte den Männern gefallen,zu denen er auch zählte,und er warunterihnen, dieanihrhingen, als einziger übrig geblieben,dereinen letzten Blick auf sie werfenkonnte.Die Männer mühten sich um ihre Gunst, er bekam sie überreichlich geschenkt.Auch das sollte ein Grund für mehr Trauer sein, für mehr Schmerz und Scham. Aber wiederumhüllteihn dieWatteder Gleichgültigkeit. Oder war es Gefühlslosigkeit, die er bei den Frauenüberwinden wollte?

Frauenbetrachtete Mutterals Rivalinnen,siehätten den Zug zu Neid, Missgunst, Schadenfreude, sagte sie. Sie hatte nie eine richtige Freundin gehabt.Busenfreundinwar für sie ein Schimpfwort. Sie hatte es einmal verächtlich ausgespuckt. Hatte sie in ihrer Tochter eine Bestätigung ihrer Vorurteile gesehen?

Aber mit ihrer Enkeltochter Katjakamsiegut aus.Die schmeichelte ihr, wo immer sie konnte, lobte ihr Aussehen und ihr finanzielles Geschick. Sie wurde mit Geschenken belohnt, die sie sich selbst aussuchen durfte. Ihre Hochzeit in der Kirche war ein Event, mit Brautschleier und Blumen streuenden Mädchen, für ihn aber eine Zeit der erzwungenen Lächeln und Lippenbekenntnisse. Denn man wusste doch, dass er sich von der katholischen Kirche nicht gütlich getrennt hatte.WeilMiaderManndavongelaufen war, was ihn nicht verwunderte,hatte Katja ihn gebeten, die Rolle des Brauvaters zu übernehmen, denn sie wusste, dass ihre Großmutter es erfreuen und belohnen würde.Die Fotos, die ihnin dieser Funktionzeigten, waren grauenhaft, die Rede, die er zu halten hatte, peinlich. Zum Glück war sie kurz, der Beifall glich einem Aufatmen.Mutteraberhatte ihmbeigestanden undkeinen Hehl darausgemacht, dass sie die Hochzeit kitschig fand. Man ließ es ihr durchgehen, dafür sorgte der Scheck, den sie Katja übergab.

Katja wohntein der Nähe, in Eppendorf, wo ihr JochenseineZahnarztpraxis hatte. Es war ihrimmerwichtig gewesen,vonGroßmutternicht vergessen zu werden.Sie liebte sie ohne Zweifel, sie liebte aber auch ihren Reichtum, und man würde ihr nicht nahetreten, wenn man sagte, sie erhoffte sich etwas von ihrem Testament.Sie war nach München gefahren, um ihre Mutter an dasSterbebettvonGroßmutterzu bringen, denn siehatte sich ihreVersöhnunggewünscht.Jetzt war es freilich zu spät. Mia würde ihre Mutter nicht mehr am Leben sehen.

Sie hätte sich eher darum bemühen müssen.Siehatteimmereine Ausrede gefunden.

Katja hatte ihn vom Flughafen angerufen, als er noch in Veras Bett lag.Sie musstenalsojeden Augenblick eintreffenund erbegannnervöszu werden. Da gab es die ewige Spannung wegen Mutter, weshalberMiaaus dem Weg ging, und jetzt hatte Katja ihm vorgeschlagen,dass siesich zudrittin Mutters Hausaussprachen, das er zur Zeit bewohnte.

Er wusste nicht genau, was sie unter Aussprache verstand.Er konnte sich aber nicht vorstellen, dass Mia so leicht zu versöhnen war. Er hatte es jahrelang vergeblich versucht. Er glaubte vielmehr, dass es Katja um das Testament ging. Sie fürchtete, dass ihre Mutter schlecht wegkam, sogar enterbt wurde,was angesichts der Dauerfehde der beiden Frauen nicht auszuschließen war.

Doch was erwarteten sie von ihm? Sollte er, konnte er das Testament anfechten, wenn Mia leer ausging?Mutter hatte sich nie reinreden lassen, wenn es um ihr Verhältnis zu Mia ging.

Von draußenhörte erStimmenundKatja trat als erste ein, wie immer in Eile. Sie beugte sich sofort über das Bett ihrer Großmutter, küsste ihre Stirn, während ein kurzes Schluchzen zu hören war. „Wann ist sie gestorben?“, klang es gepresst, sie drehte sich nicht um. „Du hast doch am Telefon gesagt, dass sie noch lebt!“

„Sie istkurz daraufgestorben.“

Jetzt sah sie ihn an, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Aber du weißt doch, wie wichtig es für uns war, sie noch am Leben zu sehen!“Sietratauf ihn zu. „Hast du ihr nicht gesagt, dass wir kommen?!“Dann eilte sie zu ihrer Mutter und warf sich ihr in die Arme. „Es tut mir so leid!“

Mia schob sie sanft von sich. „Es braucht dir nicht leid zu tun! Ich habe mein Leben lang den richtigen Moment mit Mama verpasst!“

Er schaute sie erstaunt an. Das klang nach Selbstkritik, den er bei ihr noch nie gehört hatte. Wäre es doch zu einer Versöhnung gekommen, hätte sie Mutternoch am Lebengesehen?

Sie sah schmal und blass aus, fast zerbrechlich.Als er sie das letzte Mal vor vielen Jahren gesehen hatte, war sie noch das Energiebündel gewesen, wie er sie seit seiner Kindheit kannte, rastlos und ungeduldig, den Spott in den Augen, den ironischen Zug um das Gesicht. Davon war wenig übrig geblieben.Ob jetzt die Zeit gekommen war, sich mit ihr zu versöhnen?

Katja stellte sich wieder an das Totenbett. „Wer hat ihr denn die Rose in die Hand gedrückt? Du?!“

Ihr Blick war blau und strahlte, selbst wenn er als Vorwurf gedacht war. Er schüttelte den Kopf. Er hatte sie so vorgefunden, jeder wusste, dass sie Rosen liebte.

„Aber nicht so eine kümmerliche, halb verwelkte!“ Das Blau funkelte. „Heißt das, du kamst später? Du warst nicht bei ihr, als sie starb?! Aber du hattest es ihr doch versprochen!“

Erseufzte. Wie ihre Mutter schon gesagt hatte, es war nie einfach gewesen, den richtigen Moment bei ihrer Großmutter abzupassen!

Katja strich überdasNachthemdihrer Großmutter, als wollte sie es glätten. Miakamauf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte, sie wollte ihm fürseineMühen danken, die er auf sich genommen hatte, umMamazu pflegen.

„Danke“, murmelte er erstaunt.Es schien, dass ihre Versöhnung leichter wurde, als er gedacht hatte.

„Wie geht es weiter?“, fragte Katja vom Totenbett. „Hast du dich mit dem Bestattungsinstitut in Verbindung gesetzt?“

Er sagte, dass Möllers Leute schon unterwegs waren.Deshalbsollten sie noch einenletztenBlick auf die Tote werfen.

„Und die Trauerfeier? Wer soll alles eingeladen werden?“

Was er sich vorstellte, war eine kleine Feier im Familienkreis,eine kurze Rede, etwas von der Musik, die Mutter liebte.Er sah Katja an: „Können Rosi und Roland nicht Klavier und Flöte spielen?“

Sie nickte. „Gab es denn ein Klavier?“

Dafür würde er sorgen.

„Wer soll die Rede halten?“

Er dachte, er übernahm das. Er wusste nicht, wer sonst.

„Du?!“ Katjas blaue Augen blitzten.

„Warum nicht?“, sagte Mia. „Keiner stand so weit oben in MamasWertschätzung!“

Sie könntedas nicht, sagte Katja.

Er zuckte die Achseln.Mutter wollte keinen Pfarrer.Solltedannein Berufsprediger die Rede halten? Dem müsste er sowieso alles vorschreiben. Dann konnte er es auch selbst machen.

„Wie du meinst. Aber mach es nicht so lang!“, sagte Katja.

Es war eine gute Idee, sagte Mia. Ein Sohn, der seiner Mutter den letzten Dienst erwies. Das würde sie sich auch wünschen.

„Alsoich nicht! Wer dann? Jan oder Jörg?“,fragte Katja pikiert.

Siemeinte „Kind“, wehrte ihre Mutter ab.

Katja lief zu ihr, umarmte sie. „Dass du schon daran denkst! Aber ich weiß, Tote erinnern an den eigenen Tod. Ist das nicht furchtbar bedrückend?“

Sie riss sich von ihr los, öffnete das Fenster, warf ihm einen Blick zu, hartes Blau. „Hättest du vorher nicht mal lüften können? Es ist ja nicht auszuhalten. Ich hab das Gefühl, ich kann nicht mehr atmen!“

Sie betrachtete vorsichtig die Tote, wandte sich an ihn. „Können Leichen einen gefährlichen Geruch ausströmen?“

Roch sie denn etwas?

Helles Blau wurde dunkel. Sie merkte wohl selbst, dass ihre Frage unpassend war. Da klopfte es so laut, dass sie zusammenfuhr. Drei alte Herren traten ein und nahmen gleichzeitig ihre schwarzen Mützen ab. Ihre dunklen Umhänge verdeckten nur notdürftig die ärmliche Kleidung, die Schuhe waren ausgetreten oder zu groß, über ihnen schlotterten dünne Hosen. Der erste trat auf ihn zu, während die beiden anderen mit dem Sarg an der Tür stehen blieben. „Wir sind gekommen, um FrauWirthzu holen.“ Er sagte es ruhig und zugleich demütig.

„Ja, in Ordnung.“

„Können wir behilflich sein?“, fragte Katja.

„Nicht nötig. Wollen Sie noch einen letzten Blick auf die Verstorbene werfen?“

Katja schüttelten den Kopf. „Das haben wir schon gemacht.“

Der erste alte Herr winkte seinen beiden Begleitern zu und sie stellten den Sarg an das Bett. Noch ein Wink und der eine hob Mutter aus dem Bett, während der andere ihm den Sarg entgegenhielt. Wie eine große Puppe mit schlenkernden Beinen und baumelnden Armen war sie kurz in der Luft, dann kam noch einmal der Kopf hoch, bis auch der in die Kiste hinunterrutschte. Der Deckel schloss sich. Katja schluchzte. Jetzt war es endgültig vorbei.So vieleshatte sie erlebt, so viele überlebt, jetzt zählte es nicht mehr.

Als sie hinausgehen wollten, hielt sie der erste der drei alten Herren zurück. „Es ist bei uns so üblich, dass wir uns auch von diesem Haus verabschieden wollen.“ Er senkte den Kopf und begann feierlich zu sprechen:Gute Nacht, oh liebes Haus / Ich muss nun von dir hinaus / Schönen Dank, dass du mich beherbergt hast / Ich bin gewest bei dir ein Gast / Jetzt bin ich raus aus dieser Welt / Das Grab für mich ist schon bestellt.

Katja funkelte in Blau. Warum der Spruch? Hatte ihn die Heimleitung durchgesetzt, um auf ihren Service aufmerksam zu machen, den sie entsprechend gewürdigt sehen wollte?

Er sagte, er würdeMöller bitten, etwas Passenderes für solche Gelegenheiten auszusuchen oder am besten ganz zu schweigen. Warum immer zu allem etwas sagen?

Mia aber sagte, dass mit dem Haus der Körper gemeint war. Und weil Mama auf ihren Körper immer so viel Wert gelegt hatte,passte der Spruch ihrer Meinung nach sehr gut.

Er gab ihr Recht und Katja sagte, dass sie auf ihren Körper auch viel Wert legte, aber den Spruch nicht mochte.

Sie gingen dendrei alten Herren mit dem schwankenden Sarghinterher und er dachte, dass sie mit ihrem Spruchauchein Trinkgeld erwarteten. Und es angesichtsihrer Kleidungauch verdienten!

In dem Moment, als sie den Sarg über die Türschwelle des Heims trugen, erklang Glockengeläut, das von einer Kirche zu kommen schien. Aber es gab keine in der Nähe und im Heim war es dunkel und still wie immer zu dieser Zeit. Da merkte er, dass die große Pendeluhr in der Vorhalle schlug, Big Ben für die Besucher, zwölf tönende Schläge, es war Mitternacht, als sie Mutter hinaustrugen, Geisterstunde und neuer Tag. Auch für sie?

Die drei alten Herren waren nicht stehengeblieben, sie gingen gleichmütig zum schwarzen Leichenwagen, schoben den Sarg hinein, zogen noch einmal ihre Mützen und fuhren davon. Nicht über den Totenfluss Styx, sondern über ausgestorbene Straßen. Aber in die Unterwelt ging es auch, in die tiefgekühlte Leichenhalle, wo der Sarg seinen reservierten Platz bekam. Und er hatte den Fährlohn für Charon und seine Gehilfen vergessen!

Er wandte sich anKatja.Also würden sie jetzt nach ihrem Vorschlag zu ihm fahren?

Natürlich, das war doch abgesprochen. Oder?

Auch Mia nickte.

Er wollte sich nur vergewissern. Er hatte auch zu Hause etwas vorbereiten lassen.

Sie wollte nichts essen, sagte Mia sofort.Sie hatten wasim Flugzeugbekommen, das genügte ihr.

Auch Katja hatte keinen Hunger.

„Wie ihr wollt!“

Sie stiegen in sein Autound er fragte sich, ob sie keinen Hunger hatten, weil sie das Essen von Fatima nicht wollten.Mutter hatte in den letzten Jahren, als sie noch in ihrem Haus wohnte,eine Flüchtlingsfrau aus dem Irakeingestellt, dieschonpassabelDeutschkonnte.Erübernahm sie, als Mutter ins Pflegeheim musste, undüberließ ihrgernHaus und Küche, weil sie praktisch war und gewissenhaft und vor allem seiner Bequemlichkeit Vorschub leistete. Er konnte tagelang weg seinund das beruhigende Gefühl haben, dass sie das Haus in Ordnung hielt.

Katja betrachteten sie aber mit einem gewissen Misstrauen,vielleichthattesieAngst, dass Mutter sie in ihrem Testament zu großmütig bedachte.Es war ihr aber auch nicht recht,dassFatimaim Hausmachen konnte, was sie wollte. Das Haus gehörte schließlich zur Erbmasse!

Fatima, die wusste, dass er Gäste erwartete, hatte zwei Zimmer zurechtgemacht,und er fragte im Auto, ob sie getrennt oder zusammen schlafen wollten oder obKatja lieber zu Hause übernachtete, es war ja nicht weit bis Eppendorf.

Nein, sagte Katja. Sie hatte sich für die Nacht frei genommenund sie wollte auch mit ihrer Mutter zusammen in einem Zimmer sein, denn es gab so viel zu besprechen, nicht wahr, Mami?

Mia nickte nur, aber sagte nichts und er dachte, ob sie wohl auch gern mit ihm viel besprechen würde. Denn wenn ihr nur an einem Gespräch mit Katja lag, hätte sie auch bei ihr in Eppendorf übernachten können.Aber sie warensicherhier wegen desTestaments und konnten untereinander und mit ihm darüber sprechen, ohne von Jochen oder den Kindern abgelenkt zu werden.

Bevor er den Wagen in die Garage fuhr, gab er Katja den Hausschlüssel.Sie konnten ja sehen, wo und sie sie übernachten wollten.

Fatima hatte Mezze gemacht, was ihn nicht verwunderte, denn er mochte sie zu gern. Da gab es gebackene Feigen mit Schafskäse,Teigrollen mit Lammfüllung und Joghurt, Petersiliensalat und eingelegte Oliven. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.Aber auchKatjavergaß, dass sie keinen Hunger hatte, und lief gleich in die Küche, um die Mezze in den Backofen zu stellen, dieaufzuwärmen waren.

Miahatte sich inzwischen die Zimmer angesehen. Wenn er nichts dagegen hätte, würdensie dasobereZimmer nehmen.

Natürlich hatte er nichts dagegen.

Sie warf einen Blick auf den Tisch, den Katja schon gedeckt hatte. Überall lagen Tellerchen und Schüsselchen und viele von ihnen waren schon gefüllt.

„Das wollt ihr alles essen?“, rief sie.

„Fang erst an und du wirst nicht aufhören!“, sagte Katjaund holte die Teigrollen aus dem Backofen. Mias Gesichterhellte sich,als der Geruch in ihre Nase stieg.Jetzt kam ihr das Essen zu dieser Zeit doch nicht so absonderlich vor, denn sie fragte nach Getränken.

Fatimahatte für ihn den nächtlichen Melissentee zubereitet, aber natürlich konnten sie jetzt etwas anderes trinken.

Sie tranken doch keinen Melissentee! So schwach war ihr Magen noch nicht!, rief Mia verächtlich. „Was, Katja?“

Katja nickte zerstreut. Sie war in dem Arrangement der vielen Geschirrteileauf dem Tischvertieft.

Mia wollte Wein. Wenn sie schon gut aßen, sollten sie auch gut trinken! Sie ließ sich erklären, wo er im Keller lag, undholte ihre Wahl.

Sie war esdann, die am eifrigsten zulangte und am meisten lobte. Nein, sie hatte gar nicht gewusst, dass Mezze so gut schmeckte! Dagegen war ihrIrakerein armes Würstchen!

Katja lachte. Das sollteihrAbdullah aber nicht hören!

Erhörte sowieso schlechtund Deutsch konnte er auch nicht!

Sie wandte sich an ihn: „Kann Fatima gut Deutsch?“

„So gut, dass ich mich aufsie verlassenkann!“

Mia seufzte. „Das ist gut! Ich weiß gar nicht, auf wen ich mich verlassen kann.“

„Auf mich!“, sagte Katja prompt.

„Ich weiß, mein Töchterchen!“ Sie streichelte ihr den Arm.

Sie hatte dem Wein schon kräftig zugesprochen und wirkte weinerlich. „Heutzutage ist es so schwer, einen verlässlichen Menschen zu finden. Gerade wenn du glaubst, du hast einen, lässt er dich schmählich im Stich!“

Sie ließ den Kopf hängen und er wie Katja wussten, dass sie Anton Leiser meinte, den Maler und Galeristen, an dem sie hängen geblieben war. Nach der Scheidung von Helmuthatte Miawieder