Glaube und Gehorsam - Klaus Steinvorth - E-Book

Glaube und Gehorsam E-Book

Klaus Steinvorth

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Beschreibung

Hans Baran feiert am 20.4.1944 seinen 15. Geburtstag und weil der mit dem Geburtstag Hitlers zusammenfällt, fühlt er sich dem Führer verpflichtet und wird in diesem Glauben durch den Vater bestärkt, der ein erfolgreicher Jagdflieger ist. Als sein Vater fällt, schwankt Hans in seinem Glauben, wird aber von Siegfried, dem zwei Jahre älteren Führer seiner Kameraschaft, wieder auf Vordermann gebracht. Hans bewundert die Stärke und Durchsetzungskraft Siegfrieds, wird aber von seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber Schwächeren und seinem mangelnden Mitgefühl abgeschreckt. So muss er sich auf Kämpfe einlassen, die er nur mit Siegfrieds Hilfe gewinnt, muss befreundete Menschen verletzen, um Siegfried Treue und Gehorsam zu beweisen. Der Konflikt zwischen bedingungslosem Gehorsam und Selbstbehauptung verstärkt sich, als sich Siegfried vor seinem mächtigen Onkel in der SS beweisen muss, weil bei seinem Vater, der als Offizier in Russland kämpft, kompromittierende Briefe gefunden werden. Als Siegfried während einer Wehrübung Hans zwingt, die Laterne eines befreundeten Bauern, den Siegfried für einen Verräter hält, zu zerschießen, verweigert Hans ihm den Gehorsam und versucht zu fliehen. Zur Strafe wird er von seinen Kameraden gejagt und kann nur mit Mühe seinem Tod entkommen. Hans wird der Fahnenflucht angeklagt, weil er während der Wehrübung fliehen wollte, Siegfried wird beschuldigt, seine Befehlsgewalt überschritten zu haben, weil er das Gebot der Verdunklung gegen feindliche Luftangriffe eigenwillig auslegte. Zur Strafe werden sie beide zum Flak-Einsatz verurteilt. Dort versucht Siegfried Ruhm zu gewinnen, indem er ein feindliches Aufklärungsflugzeug ohne den Befehl seiner Vorgesetzten abschießt. In dem folgenden Chaos verliert Siegfried durch einen Rohrkrepierer sein Leben, schützt aber Hans vor herumfliegenden tödlichen Eisenteilen, indem er sich auf ihn wirft.

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Glaube und Gehorsam

Section 11.Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7.Kapitel8.Kapitel9.Kapitel10.Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel

Section 1

Klaus Steinvorth

Glaubeund Gehorsam

Der Großvatererzählt von seiner

Hitlerjungenzeit

Einleitung

DerGroßvatererzähltvon seiner Hitlerjungenzeit1944in seiner oberschlesischen Heimatstadt.

Hans Baranfeiertam 20.4.1944 seinen 15. Geburtstagund weil der mit demGeburtstag Hitlers zusammenfällt, fühlt er sichdem Führerverpflichtet und wird in diesem Glauben durch den Vater bestärkt,derein erfolgreicherJagdfliegerist.Als sein Vater fällt, schwankt Hans in seinem Glauben,wird aber von Siegfried, dem zwei Jahre älteren Führer seiner Kameraschaft, wieder auf Vordermann gebracht.Hans bewundert die Stärke und Durchsetzungskraft Siegfrieds,wird aber von seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber Schwächeren und seinem mangelnden Mitgefühl abgeschreckt.So muss er sich auf Kämpfe einlassen, die er nur mit Siegfrieds Hilfe gewinnt, muss befreundete Menschen verletzen, um Siegfried Treue und Gehorsam zu beweisen.

Der Konflikt zwischen bedingungslosem Gehorsam und Selbstbehauptung verstärkt sich, als sich Siegfried vor seinem mächtigen Onkel in der SS beweisen muss, weil bei seinem Vater, der als Offizier in Russland kämpft, kompromittierende Briefe gefunden werden.Als Siegfried während einer Wehrübung Hans zwingt, die Laterne eines befreundeten Bauern, den Siegfried für einen Verräter hält, zu zerschießen,verweigert Hans ihm den Gehorsam und versucht zu fliehen. Zur Strafe wird er von seinen Kameraden gejagt und kann nur mit Mühe seinem Tod entkommen.

Andererseits wird Hans von seiner drei Jahre älteren Cousine Marie angezogen, die in ihrem Mitgefühl für Schwächere die Gegenposition zu Siegfried einnimmt. Erbeginnt sie mehr heimlich als offen zu lieben, weil der Altersunterschied ihn hemmt.Sie schenkt ihm einen Hund, um den er sich kümmert, und auch das führt dazu, dass er sich Siegfried entfremdet.

Hans wird der Fahnenflucht angeklagt, weil er während der Wehrübung fliehen wollte, Siegfried wird beschuldigt, seine Befehlsgewalt überschritten zu haben, weil er das Verdunklungsgebot eigenwilligauslegte. Zur Strafe werden sie beide zum Flak-Einsatzverurteilt.Dortversucht Siegfried Ruhm zu gewinnen, indem er ein feindlichesAufklärungsflugzeug ohne den Befehl seiner Vorgesetzten abschießt. In dem folgenden Chaos verliert Siegfried durch einen Rohrkrepierer sein Leben,schützt aber Hans vor herumfliegendentödlichenEisenteilen, indem er sich auf ihn wirft.

1.Kapitel

Ich erinnere mich,dass ichals Schülerregelmäßig zumeinemOpaging,dermeineHausaufgaben und die meiner Schwester beaufsichtigte, und dabei oft vom letzten Weltkrieg erzählte.Und einmal, daswar vor zwölf Jahren,hattenwirzu Hause einen Fernsehfilm überHitlerjungengesehen, weil Mama und Papa meinten, das gehörte zur Bildung, aber das brauchten sie nicht zu sagen, denn ich sehe gernsolche Filme.In der Schule hatten wir ihn auch besprochen, weil Hancke rote Ohren wie Rücklichter kriegt, wenn er was über Hitler und die Nazis sagen kann. So wollte ich gern von meinem Opa wissen, was er dazu meinte, denn er war dabei gewesen als Hitlerjunge, das hatte ermirschon mehrmals gesagt.

Er sah mich kopfschüttelnd an und seufzte: „Ach Gott, mein Junge! Du hast einen Film gesehen, in einem bequemen Sessel, vermute ich, weit, weit weg vomletztenKrieg, und das ist auch gut so, aber ich war damals mitten drin in der Schei...!“

Er brach ab,sah mich entschuldigend an, ich lachte. „Kannst ruhig Scheiße sagen. So empfindlich sind meine Ohren nicht!“

Er nickte. „Hast Recht! Damals durfte ich zu Hause nicht 'Scheiße' sagen, aber draußen sagten wir es dauernd, weil wir bald merkten, wie es uns stank.Wenn ich daran denke, wird mir heute noch schlecht.“

Das machte mich nur noch neugieriger und ich bat ihn, mir davon zu erzählen.

Er blickte durch das Fenster nach draußen, wo der Frühling ausgebrochen war: Die Vögel machten einen Heidenspektakel und die Bäume grünten und blühten um die Wette. „Was macht Johanna?“, fragte er.

Ich war ziemlich sicher, dass meine Schwesternichts Besonderes tat,höchstensTelefonieren mit ihren Freundinnen,ihre Lieblingsdauerbeschäftigung!

„Rufsie bittean! Dann werde ich euch erzählen, wie ich die Zeit damals erlebt habe. Könnte euch interessieren.“

Ich kam natürlich nicht durch, aber sie hatte eine Anklopffunktion, sodass sie sich herabließ, mich zu hören, und dann kam sie herangerast und stand bald keuchend vor der Tür, denn auch sie mochteOpasGeschichten. Dann machten wir es uns auf dem Sofa bequem und er fing an.)

Ich beginne mit dem 20. April 1944, das warmein 15. Geburtstag, das war aber auchder Führergeburtstag, den wir in meiner Heimatstadt Groß Strehlitz festlich begingen. Die liegt in Oberschlesien, das gehörte damals zu Deutschland, heftig umkämpft zwischen Deutschen und Polen, sollte ewig deutsch bleiben und gehört jetzt zu Polen. Aber wahrscheinlich wisst ihr gar nicht, wo Oberschlesien liegt.

Wir sahen uns verlegen an und sagten lieber nichts.

Jedenfalls versank meine Heimatstadt am Führergeburtstag, also am Geburtstag Adolf Hitlers, von dem ihr sicherlich gehört habt,

So dumm waren wir nun auch wieder nicht!

versank also meine Stadt in einem Meer flatternder Hakenkreuzfahnen und ichhatte dasGefühl,die Fahnen flatterten mir zu Ehren und machten deutlich, dass ich durch meinen Geburtstag der geborene Hitlerjunge war.

Wirmarschiertenin endlosen Kolonnendurch die Straßen. Wir aus der Hitlerjugend stellten allein fünf Fähnlein von je 150 Mann. Ich war stolz wie ein Pfau und schielte nach jedem Spiegel, um mich in meiner tadellos sitzenden Uniform zu bewundern, die frisch geplättet war und keinen Fleck aufwies und vom Halstuch mit dem braunen Lederknoten abgeschlossen wurde, das ein Dreieck abzugeben hatte, das war für mich wichtig. Wichtig war auch, dass man die Siegrune auf dem Koppelschloss sah, wichtig die etwas schiefer, also verwegener gesetzte Schiffchenmütze, und wie hüpfte mir das Herz vor Freude, als wir auf der rot und schwarz geflaggten Krakauer Straßeunter klingendem Spiel in Reih und Glied vorwärts schritten. Es war ein Mordsspaß, da wusste man doch, wofür man lebte!

Das Schönste war, dass die Mädchen uns nachguckten, unter denen ich Gerda Emmler und Waltraud Waletzke entdeckte, die eine blond, die andere rot, Schneeweißchen und Rosenrot, die ich natürlich nicht anstarren durfte und sie marschierten ja auch in ihren Mädelschaften mit dem Blick nach vorn, aber ich merkte doch, dass sie mich sahen, oder besser, ich fühlte es! Ich hatte sie einmal auf dem Hindenburgplatz gesehen und war gestolpert und vor ihnen wie ein Idiot gelegen, aber als sie mir aufhalfen, hatten sich unsere Augen ineinander zum schönsten Augenblick versenkt, den ich mir vorstellen konnte.

„Opa!“, rief Johanna und musste kichern.

Er lächelte. „Ich weiß, dass es euch komisch vorkommt, aber ich fühlte mich damals so romantisch, und in der Stimmung lässt man sich leicht verführen,auch von solchen militärischen Paraden. Hört nur weiter zu!“

Ich sah Gerda Emmler noch einmal, als der Kreisleiter in seiner Rede über den Führer immer langweiliger wurde, je länger er sprach. Aber am Ende winkte er sie zu sich und sie stieg nach oben und verlas den Gruß an den Führer und gratulierte ihm zu seinem 55. Geburtstag und rief mit klingender Stimme: „Möge er noch lange zum Segen und Wohl des deutschen Volkes regieren!“ Ich klatschte mir die Hände wund und ein gewaltiger Applaus rauschte durch die ganze Stadt und selbst die Fahnen standen starr und die Bäume hoben ihre Äste.

Nach der Parade lief ich nach Hause, wo Tante Edith denGeburtstagskuchenfür michgebacken hatte, mit15 Kerzen oben auf, dieichausblasen durfte, um dannvon allenumarmt zu werden. Die Umarmungen von Muttel, Omi und den Tanten waren mir egal, aber als Marie, Tante Ediths Tochter, mich drückte, die mit ihren 18 Jahren schoneine junge Frauwar, fühlte ich mich ganz mau und hoffte, dass ich nicht rot anlief.

Johanna kicherte wieder und fragte Opa, ob er in seine Cousine verliebt war.

„Ach, ich glaube, ich fand esals Jungegroßartig, wenn ich den Beifall der Mädel bekam. Wisst ihr, ich kannte die Mädel ja nur von weitem. Ich lebte in einer reinen Jungenwelt.Schule, Kirche, HJ: Ich war nur von Jungen umringt. Und zu Hause gab es die Mütter, Omas und Tanten. Die Väter und Onkel waren ja im Krieg. Da war Marie mit ihren 18 Jahren schon etwas Besonderes. Und sie war hübsch, das kam noch dazu.

Johanna nickte mit leuchtenden Augen. Sie ist erst 13, das merkt man immer wieder, aber ich, der schon 15 bin, also so alt wie Opa damals, fand es leicht abgedreht, dass er bei seiner älteren Cousine rot anlief. Er fand doch diese beiden Mädel von der Führerparade schonklasse, warum dann bei einer Cousine ausflippen? Aber ich sagte lieber nichts. Er sollte ruhig weitererzählen.

Marie spielte sich aber auch als meine große Schwester auf. Sie hatte nämlich ihren jüngeren Bruder durch einen Unfall verloren, im Schwimmbad, wo der Bademeister auf ihn hätte aufpassen müssen.Aber der Trottel hattenicht gesehen, dassihr Bruderauf dem Grund lag, und keiner wusste, wie es dazu gekommen war, wo er doch schwimmen konnte. Seitdem glaubte sie, dass mir so was auch passieren könnte, weshalb sie nie mit Mahnungen und Ratschlägen sparte und dann, wenn ich dagegen protestierte, mir unsere Verwandtschaft vor Augen führte, weil ihr Opa und meinOpaBrüder gewesen waren.

Sieschenkte mirzu meinem Geburtstagdie Feldflascheihres VerlobtenJorgusch, derim Osten vermisstwar, was ich nicht annehmen wollte, weil es mir nicht richtig schien. Aber sie bestand darauf und sagte: „Es gibt immer lange Durststrecken und dann wirst du froh sein über jeden Schluck!“

Von Muttel, wie ich meine Mutter nannte, bekam ich eine Taschenlampe, und das war ein bombiges Stück, spitzenmäßig verarbeitet, leuchtete über hundert Meter weit und die Batterien hielten gut und gerne 20 Stunden. Aber Marie musste dazu sagen, sie hoffte, die Lampe würde mir den rechten Weg leuchten, wenn es dunkel um uns wurde.

Von Omi bekam ich zwei Bücher, ein Liederbuch, feine Lieder drin, zweifellos, aber auch Kirchenlieder, denn sie konnte es nicht lassen, mir immer was von der Kirche unterzujubeln, und dann ein zweitesBuch von irgendeinem Pater, das den Titel hatte: „Glaube und Gehorsam“. Für mich war gleich klar, dass ich es nicht lesen würde, denn ich wusste, wo ich zu glauben und zu gehorchen hatte, und das war nicht in der Kirche.Doch das konnte ich Omi nicht sagen, die beleidigt wäre und zurück nach Gleiwitz zu Tante Martha fahren würde, aber wir wollten sie bei uns haben, weil sie das Haus und den Garten machte.

Aber das größte Geschenk kam noch, denn als die Tanten gegangen waren, klingelte es, und wer stand vor der Tür? Der Tatschick! So nannten wir meinen Vater. Er warim Fliegerhorst Stubendorf stationiert und konnte auf einen Sprung vorbeischauen.

Jetzt müsst ihr wissen, dass mein Vater, euer Urgroßvater, ein berühmter Jagdflieger war, ein Fliegerass, der stand damals so hoch im Kurs wie heute die Fußballspieler in der Nationalmannschaft. Wie beim Fußball die Bundesligatabelle so gab es damals die Abschussliste, wo die Zahlen der abgeschossenen Flugzeuge gedruckt waren, die sich natürlich mit jedem Tag änderten. Mit seinen 70 Abschüssen gehörte er nicht zu den Großen, sondern lag im Mittelfeld, aber für unsere Kreisstadt Groß Strehlitz war er einHeld. Und ich fühlte mich wie ein kleiner Held, weil etwas von seinem Ruhm auf mich fiel. Unbekannte Leute blieben auf der Straße stehen und fragten, ob ich der Sohn des berühmten Fliegers wäre. Meine Mitschüler liefen mir nach, weil sie sich ein Bild oder die Unterschrift von meinem Vater wünschten. Ein Lehrer bat sogar um seinen Auftritt in der Schule.

Aber der Tatschick hatte wenig Zeit. Wenn er kam, dann nur für kurze Zeit, und selbst dann war er ständig unterwegs, weil er so viel erledigen musste. Wenn ich früh aufstand, war er schon beim Frühstück, hinter seiner Zeitung verborgen, die er zum Glück beiseite legte, um mit mir zu sprechen. Wir sprachen über alles, von der Schule, den Lehrern, den Freunden, von Fußball und Turnen. Im Turnen war ich gut, im Fußball nicht. Auch nicht im Laufen, Springen und Werfen, jedenfalls zählte ich nicht zu den Besten, was ich unbedingt wollte. Und im Boxen hatte ich ein, zwei empfindliche Niederlagen hinnehmen müssen, was mich ärgerte. Dieanderen waren größer, hatten es leichter, obwohl ich selbst jeden Morgen meine Liegestütz und Kniebeugen machte.

Der Tatschick nickte, schlug mir aufmunternd auf die Schulter. Er war ja auch eher klein, kaum größer als Muttel. Alles an ihm war fein und zierlich und sein Gesicht hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Muttels. Wartet mal, ich hab das Hochzeitsbild von meinen Eltern!

Opa holte aus dem Schrank sein altes Fotoalbum und ich war erstaunt, wie jung meine Urgroßeltern aussahen. Sie standen als Brautpaar vor der Kirche und machten ein Gesicht, als ob sie selbst nicht wussten, was sie da eigentlich sollten. Sie waren eher wie die Schüler unserer Theatergruppe, die ein Hochzeitsspiel einübten.

„Die sehen aus wie Geschwister!“, rief Johanna.

Opa nickte. „Sie sind auch über viele Ecken verwandt, weil sie aus demselben Dorf kamen. Und ihr seht, wie jung sie sind. Mein Vater ist hier 18 und Muttel 20. Sie mussten heiraten, weil ich unterwegs war.“

„Das sieht man aber nicht“, sagte Johanna.

Opa lächelte. „Das sollte man auch nicht. Deshalb hieß es immer, dass ich eine Frühgeburt war.“

„Bist du denn ein Frühchen?“, fragte Johanna.

Opa lachte. „Nein! Aber damals galt es als anständig, wenn das Kind erst neun Monate nach der Hochzeit auf die Welt kam, jedenfalls bei uns in Oberschlesien, wo die Katholische Kirche bestimmte, was anständig war. Versteht ihr?“

Johanna trompetete sofort, dass sie es verstand. Aber mir war es egal. So was interessiertemich nicht.

Ich sah den Tatschick jedenfalls eher als älteren Freund, als großen Bruder, mit dem ich über alles sprechen konnte. Er war zwar eher klein, aber dafür schnell und drahtig, bewegte sich mit kurzen, festen Schritten, hatte lebhafte Augen. Er lachte, wenn ich dieGroßen und Starken beneidete. „Wenn du Flieger werden willst“, sagte er, „nutzt es dir nicht, groß und stark zu sein. Dann musst du klein und flink sein, ein Händchen für deine Maschine haben, ein Gespür für Wind und Wetter.“

Ich wollte alles über sein Fliegen hören, über seine Luftkämpfe und Abschüsse, aber gerade da war er schweigsam. „Darüber kann man nicht reden, mein Junge. Es sind harte Kämpfe, Mann gegen Mann, aber man ist froh, wenn man es überstanden hat, froh und dankbar, dass man noch am Leben ist.“

Ja, der Tatschick war für mich ein Held und ein Held brauchte nicht über seine Taten zu sprechen, die sprachen für sich selbst. In der Wochenschau sah man immer wieder, wie Jagdflugzuge über den Himmel zogen und ich war sicher, dass der Tatschick mitflog. Wie geschleuderte Pfeile rauschten sie durch die Luft, jeder Pilot hielt seinen Abstand ein, alle brannten darauf, Feuer und Verderben zu bringen. Da saß der Tatschick an Bord, ich sah ihn so deutlich!, in der einen Hand den Steuerknüppel, in der anderen das Maschinengewehr. Da, der Feind, ein dunkler Punkt noch, der rasend auf ihn zukam, aber jetzt über Kimme und Korn festgenagelt wurde. Feuer! Schon schraubte sich der Tatschick wieder hoch, die Sonne im Rücken, sodass er wie der blendende Blitz in die feindliche Rotte fuhr. So schützten die deutschen Flieger das Reich, schallte es laut durch den ganzen Himmel.

Opa stieß einen tiefen Seufzer aus und schaute uns traurig an: „Oh Gott, Kinder, was ist man als Jugendlicher aber auch leicht verführbar!Wenn du glaubst, du kannst ein Held sein, weil du für eine große Sache kämpfst, bist du zu allem bereit!“

„Ich nicht!“, sagte Johanna. „Ich mag keinen Krieg!“

‚Typisch Mädchen!‘, dachte ich. Aber ich konnte mir schon vorstellen, wie ein Teufel durch die Wolken zu fetzen, um feindliche Flieger vom Himmel zu holen! Musste voll krass sein, so einen Bombenknaller in den Händen zu haben!

Opa schüttelte seufzend den Kopf. „Dann hört weiter!“

Der Tatschick kam also am Abend des Führergeburtstags zu uns und Omi lief gleich in die Küche, um Rinderrouladen mit polnischen Klößen und Preiselbeeren zu machen, denn es war sein Leibgericht. Muttel hängte sichgleichin den Arm des Tatschick, wie sieesgerne tat, und sagte, sie hätte Angst, dassersichoben nicht halten könnte und abstürzte, und erzählte von ihrem Traum, wo sie auf dem Annaberg stand, als es plötzlich grollte und der Boden sich vor ihr auftat und ein gewaltiges Feuer herausschoss.Als sie aufwachte, war ihr immer noch ganz heiß vom Feuer gewesen.

Der Tatschick rief lachend, dass Träume nur Schäume waren, wenn aus dem ruhigen Annaberg ein wilder Vulkan wurde. Er konnte sich solche Träume nicht leisten, wenn er über den Wolken Jagd auf Feinde machte, und hatte Gott sei Dank auch nie das Gefühl gehabt, dass unter ihm der Boden sich auftat.

Muttel strich über seinen Arm und sagte, sie hatte Angst und dachte Tag und Nacht an ihn. Er drehte sich zu ihr und sie küssten sich, etwas zu lange, wie ich fand, sodass ich schnellrief: „Der Tatschickbraucht keine Angst zu haben, erwird mit allen fertig!“

Sie lachten, aber ich hatte das Gefühl, sie lachten mich aus.

Omi kam mit dem Leibgericht des Tatschick und wir, die schon gegessen hatten, sahen zu, wie er alles verschlang.Dann wurde die Flasche mit dem Kräuterschnaps auf den Tisch gestellt und mehrmals sein Gläschen nachgefüllt.Bis er sich den Mund sauberwischte, Muttelzu sichzog undsiewiederküsste, sodass ich lieber aus dem Fenster guckte.

Omi abersagte, sie wünschte uns die Friedenszeiten zurück, wo Mann und Frau wieder mehr Zeit für einander hätten. Muttel lachte leise, nahm die Hand des Tatschick und lief mit ihm aus dem Zimmer.

Am nächsten Morgen musste er früh weg und als er mich zum Abschied umarmte, flossen mir die Tränen, die er aber nicht sah, weil er Muttel küsste, die an ihm wie Efeu hing.

Opa seufzte und fragte uns, ob wir noch weiter an seiner Geschichte interessiert wären. Das waren wir und so vereinbarten wir, montags, mittwochs und freitags zu kommen, weil ich dann keinen Nachmittagsunterricht hatte.

2. Kapitel

Opa machte sich seinen Tee und ich holte mir Orangensaft und Johanna Apfelsaft aus seinem Kühlschrank. Dann fing er an.

Wir fuhren am Wochenende mit der Kameradschaft auf den Annaberg, natürlich nicht zur Klosterkirche, die Omi ständig aufsuchte, sondern zur Thingstätte, wo alles weit und groß war, wo es nichts Dunkles und Enges wie in einer Kirche gab. Man guckte in die Landschaft und fühlte sich wie ein Flieger, der das Land untersichmit Leib und Seele verteidigte.

Die Thingstätte war ein großes Amphitheater, wo die Partei viele Veranstaltungen abhielt. Man guckte auf ein riesiges Denkmal, in Stein gehauene tapfere Kämpfer des ewig deutschen Schlesien. Davor standen wir und hörten, wie Ernst Weiß mit erhobenem Arm uns zum Schwur aufforderte, keinen Zentimeter unserer heiligen Heimat preiszugeben und schwoll der Strom der mongolischen Horden noch so stark an. Wir schworen es.

Ernst ließ aber nicht den Arm fallen, starrte in den Himmel, riss die Augen auf und schrie: „Fliegeralarm! Volle Deckung!“

Wir konnten keinen Flieger sehen, dafür aber eine große Pfütze, die sich vor unseren Füßen ausbreitete und vom letzten Regen übrig geblieben war. Wir mussten uns sofort in sie schmeißen, denn unbedingter Gehorsam war der Sinn solcher Geländeübungen. Ich zögerte nur eine Sekunde und hatte prompt die Faust von Ernst im Nacken, der mich nach unten drückte. Dann rief er triumphierend: „Wie seht ihr Kerle aus? Macht euch sauber, wechselt die Klamotten!“

Wir hatten Ersatzklamotten in unseren Tornistern, denn die Wehrübung auf dem Thingplatz schloss die Nacht ein. Wir zogen uns also bis auf die Unterwäsche aus, fuhrenin frische Hemden und Hosen, säuberten das schmutzige Zeug so gut wir konnten und packten es zurück in die Tornister, wo alles seinen Platz hatte und ordentlich aussehen musste. Packen war meine Schwachstelle, was Ernst wusste, der mich grinsend beobachte und schrie, als ich fertig sein wollte: „Weißt du, was das ist? Polnische Wirtschaft! So packt kein Deutscher!“

Er gab mir einen Stoß, dass ich taumelte, und höhnte, dass er von mir, dem Sohn des berühmten Paul Baran, mehr erwartete und nur sehen konnte, dass ich ihn blamierte, und damit schüttete er den Inhalt meines Tornisters aus, wobei viele Sachen in die Pfütze fielen.

Die meisten lachten, ich knirschte mit den Zähnen. Ich sah den Tatschick wie meine Sachen im Schmutz liegen. „Mein Vater hat damit nichts zu tun!“, rief ich.

„Das wollen wir hoffen“, grinste Ernst. „Du willst doch kein Pole sein!“

Das war zu viel! Ich sprang ihn an, versuchte ihn zu würgen, doch wurde mit einem Schlag zurückgestoßen, ein zweiter folgte, dem ich nicht ausweichen konnte, sodass ich in die Pfütze fiel. Die anderen brachen in brüllendes Gelächter aus. Ernst baute sich vor mir auf. „Du packst so lange, bis es nichts mehr zu beanstanden gibt.“

Das wollte ich nicht. Er hatte den Tatschick beleidigt. Er war nicht mehr mein Führer.

Er grinste nur, wenn er auch nicht zuschlug. Aberer zog mit den anderen ab und ließ mich allein zurück.Doch ich wollte nicht ausgeschlossen sein undpackteso lange, bis jeder Handgriff saß.Dannmussteich eine Runde nach der anderen mit dem schweren Tornisterrennen, den wir Affen nannten, und ich wusste, warum, denn er drückte mit jeder Runde schwerer auf meinen Schultern.

Ich merkte, dass ich allein gegen Ernst nichts ausrichten konnte, dass es besser war, nicht unangenehm aufzufallen. So hoffte ich, von seinen erzieherische Maßnahmen, auf die er stolz war, verschont zu bleiben, sodass ich geduldig sein Programm ertrug, das er gnadenlos durchzog. Zuerst kam das Marschieren mit schwerem Gepäck, das wir für die Übernachtung mitschleppen mussten, und das waren das große Zelt, die Zeltstangen, der Proviant und das Kochgeschirr, sogar das Feuerholz, weil der Wald noch zu feucht war. Dann kam das Schwimmen in einem kalten Teich, was mir nicht leicht fiel, da ich schnell fror. Zuletzt aber, und das war das Schlimmsten, kam das Boxen, wo ich sowieso schon schlecht war, nun jedoch durch das Los Erwin zum Gegner kriegte, der noch nie einen Kampf verloren hatte und für seine harten Schläge bekannt war.

Der Tatschick hatte zwar gesagt, dass es für einen Jagdflieger kein Nachteil war, kleiner als die anderen zu sein, für einen Boxer war es aber ein Handicap. Erwin war groß und schob seinen mächtigen Oberkörper nach vorn und ließ die Arme hängen, damit er wie ein Gorilla aussah, der schon durch seinen Anblick Angst einjagte. Ich sagte mir, ich durfte bloß nicht meine Angst zeigen. Keiner sollte mich als Feigling verspotten. Erwin sollte nicht glauben, dass er leichtes Spiel hätte. Also stellte ich mich mit breiter Brust vor ihm auf. Er grinste nur: „Du bist Luft für mich, Kleiner!“ Er machte einen raschen Ausfallschritt, tänzelteerstaunlich schnell um mich herum und schlug zu. Der erste Schlag war schwach, der zweite aber stark und der traf. Ich lag auf dem Boden und rang nach Luft.

Opa wischte sich den Schweiß von der Stirn und Johanna rief, dass sie es schrecklich fand, wenn die Jungen sich immer schlagen mussten. Ich aber sagte, Kämpfen war okay, es musste nur fair sein, das war es aber nicht, weil Opa so einen fiesen Typ von Führer hatte.

„Wir kannten nicht das Wort 'fair'“, seufzte er. „Stattdessen hieß es: 'Gelobt sei, was hart macht!' und Hitler wollte die Jugend hart wie Kruppstahl haben und all die vielen Führer unter ihm waren froh und stolz, auch befehlen zu dürfen. Und so bekam ein Ernst Weiß, der kaum älter war als ich, Macht in den Händen, und die nutzte er aus.“

„Und warum hat es dieser Ernst Weiß gerade auf dich abgesehen, wo du doch einen berühmten Vater hattest?“, fragte ich.

„Neid, vermute ich. Wahrscheinlich hätte er auch gern einen berühmten Vater gehabt. Und dann gehörte Ernst Weiß zu den Typen, die bei anderen schnell die Schwächen erkennen, und das nutzen sie gnadenlos aus.“

Johanna fing sofort mit einer Liste von Typen an, die auch so waren. Ich kannte auch jede Menge, wollte aber lieber zuhören.

Die anderen fanden meine Niederlage normal, weil Erwin eben der beste Boxer war, und jeder sich freute, dass es ihn nicht erwischt hatte. Aber Ernst Weiß musste seinen Senf dazugeben und mit einem Blick voller Verachtung auf mich verkünden, dass ein Hitlerjunge im Prinzip zu siegen hatte, wenn er aber verlor, diese Scharte auswetzen musste. Es bedeutete, dass ich, als wir schließlich das Zelt aufschlugen, das Feuerholz aufschichtete und die Gurkensuppe im großen Topf herumrührte. Wir alle waren müde und wollten schlafen, er aber war nicht müde, er hatte kein Stück getragen, kein Stück mitgearbeitet, er rannte hin und her, schnauzte uns an und ließ seine Sprüche los.

Er sprach von dem ewigen Gesetz, nach dem der Starke den Schwachen besiegte, weshalb wir stark sein mussten, was hieß, dass wir unsere Schwächen zu überwinden hatten, die da wären Faulheit, Feigheit, Ungehorsam und Herum-nörgeln, worunter ihm das Nörgeln am wenigsten gefiel, denn der Nörgler stellte sich außerhalb der Gemeinschaft. So wollte doch keiner von uns werden. Oder?

Er stand am Lagerfeuer und aus seinen Augen blitzte es und er befahl, als keiner sich rührte, dass wir stramm standen und das Führerliedsangen.Dann durften wir essen, aber ich mochte die fade Gurkensuppe nicht, und den anderen erging es ähnlich und wir legten bald die Löffel beiseite und hofften auf das Ende des Essens, weil wir nach dem Abwasch in unser Zelt konnten, wo wir unter uns waren. Ernst hatte sein eigenes Zelt,seineKapitänskajüte, wie er sagte.

„Hoffentlich verlässt er auch als letzter das Schiff, wenn alles untergeht“, flüsterte Volker Wiese und wir glucksten und lachten erst richtig los, als Ernst in seinem Zelt verschwunden war. Dann waren wir unter uns und konnten mit dem Lästern anfangen.„Ernst Scheiß!“, sagte Günther, „Ernst Scheißkerl!“, sagte Rudi und fragte, ob wir wussten, dass Ernst Scheißkerl bei der Rassenprüfung durchgefallen war. Keiner wusste es und er erzählte, dass der Scheißkerl sich für die Napola in Loben beworben hatte, wo nur rassisch reine Jungen aufgenommen wurden. Die Ärzte vermaßen die Schädel und befanden, dass der Scheißkerl zu dreiviertel ostisch war, weshalb er nicht in die Schule der Herrenmenschen durfte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihn nicht als rassisch unrein einstuften, und ein Arzt wollte ihn sogar zu den Ostjuden schicken, so eine fatale Ähnlichkeit hätte er mit ihnen.Wir lachten, bis uns der Bauch wehtat.

Ich verstand nur Bahnhof und bat Opa uns zu erklären, was das alles bedeutete.

„Napola war die Nationalpolitische Lehranstalt, ein Internat der Nazis, zu dem nur zugelassen wurde, wer die richtige Rasse hatte. Was bedeutete, dass man einen nordischen Schädel haben musste.Wenn man den nicht hatte, war man schon ein halber Untermensch!

Johanna wackelte mit ihrem Kopf und wollte doch tatsächlich wissen, welchen Schädel sie hätte.

Opa sagte ihr die Meinung. „Das ist doch alles Quatsch! Die Naziführer selbst waren ja keine nordischen Typen. Sie träumtenabervon einer germanischen Kriegerrasse,weil man immer das gern sein möchte, was man nicht ist!“

Am nächsten Morgen wurden wir von unserem Führer viel zu früh geweckt, als ob er gehört hätte, was über ihn gesagt wurde. Er stand gestiefelt und gespornt vor uns und musste wieder über die starken Frühaufsteher und die schwachen Langschläfer labern. Wir hörten gar nicht hin, machten uns über das Frühstück her, das uns besser schmeckte als das Abendessen, weil Erwins Mutter Erdbeermarmelade mitgegeben hatte. Aber er hörte nicht auf, uns mit seinen Morgensprüchenzutriezen,doch er merkte nicht, dass ihmdie Marmeladein denMundwinkelnklebte. So konnten wir ihn nicht ernst nehmen, obwohl er so hieß.

Opa lächelte und wir lächelten mit.

3. Kapitel

Opasahschon am Anfangtraurigaus.Er musste uns von seinem Vater erzählen, dem Tatschick,denerüber alles geliebt hatte. Deshalb war er ja auch ein begeisterter Hitlerjunge geworden.

Wir holten uns wieder was zum Trinken und er begann:

An einem Morgen, kaum war ich aufgestanden, kam Muttel mir entgegen und sah mich mit unheimlich flackernden Augen an. Sie sagte, dass sie den Tatschick gesehen hatte, der mitten in der Nacht vor ihrem Bett stand. Omi rief „Jesusmaria!“ und bekreuzigte sich und mir wurde ganz mau, so unheimlich war das. Es musste ein Traum gewesen sein, der nichts Gutes verhieß.

Aber Muttel sagte ganz ruhig, dass der Tatschick friedlich, fast fröhlich ausgesehen hatteund ihr so nahe gewesen war, dass sie ihn spüren konnte. Sie hörte von ihm, sie sollte sich keine Sorgen machen, es wäre alles gut. Ob er nach Haus kam, fragte sie und er antwortete lächelnd Ja, und als sie wissen wollte, wann, sagte er, wenn es Zeit war, und beugte sich über das Bett und sie wollte ihn an sich ziehen, aber da war er verschwunden.

Muttel hatte ein gutes Gefühl, weil sie sicher war, dass er einer schweren Gefahr entkommen war und bald zurückkehrte, aber Omi schüttelte den Kopf und begann zu beten. Sie beschloss, in den nächsten Tagen zum Annaberg hoch zu pilgern, denn hier konnte nur die heilige Anna helfen.

In den nächsten Tagenkam ein Paket mit dem persönlichen Besitz eines Oberleutnants Otto Baran, das uns schrecklich in die Glieder fuhr, sodass keiner es öffnen wollte, bis Muttel rief, dass der Tatschick nicht Otto hieß, sondern Paul, und Leutnant war, nicht Oberleutnant, also eine Verwechslung vorliegen musste. Aber den beiliegenden Brief ließ sie mit blassem Gesicht sinken undrief: „Nein, nein!“

Opa nahm den Brief vom Tisch, den er dort hingelegt hatte, und las:

„Im Felde, den 20.5.1944. Sehr geehrte Frau Baran! Ihr Gemahl, Herr Oberleutnant Otto Baran, ist von einem Flug auf feindlichem Gelände westlich von Odessa nicht zurückgekehrt. Wir sind gezwungen, anzunehmen, dass Ihr Gemahl im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland, gefallen ist. Ich spreche Ihnen im Namen seines Jagdgeschwaders meine wärmste Anteilnahme aus. Wir werden Ihrem Gemahl stets ein ehrendes Andenken bewahren und in ihm ein Vorbild sehen. Die Gewissheit, dass Ihr Gemahl für die Größe und Zukunft unseres ewigen Deutschen Volkes sein Leben hingab, möge Ihnen in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat, Kraft geben und Ihnen ein Trost sein. In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie mit Heil Hitler.“

Ich sagte: „Krass!“, und Johanna rief: „Was ist das denn für ein Idiot!“

Opa wurde rot vor Wut. „Mit solchen Formeln wurden Trauernde abgespeist!Als ob die Größe des deutschen Volkes Trost und Kraft geben könnte!“

Er fauchte noch einmal, dann fuhr er fort:

Muttelsagte,eswarein Missverständnis, weshalb sie gleich einen Brief an sein Jagdgeschwader schreibenwollteund um Aufklärung bat. Omisagte, es warhöchste Eisenbahn, zum Annaberg zu pilgern, weil sie schon von der heiligen Anna geträumt hatte, die wollte, dass wir zu ihr kamen. Muttel wollte nicht, weil sie keine große Kirchgängerin war und wusste, dass auch der Tatschick einen weiten Bogen um die Kirche machte und sie nur zu Familienfeiern betrat, also zur Taufe, Hochzeit und Beerdigung. Aber als Omi sagte, dass Frau Ribnik und Frau Mende zur Heiligen gefahren waren und danach Post von ihren Söhnen bekommen hatten, knickte Muttel ein und seufzte: „Man weiß ja nie!“, was sie oft tat. Dann kam auch Marie mit, und als sie mich so ansah, wollte ich auch mit, denn ich ging gern mit ihr zusammen.

Ich ging aber auch zögernd und unschlüssig mit, denn die heilige Anna verkörperte fürmich das Polnisch-Katholische, das von Omis Seite kam, auch von Maries Seite, die beide polnisch konnten, aber ich wollte nicht Polnisch verstehen, denn wenn sie es sprachen, zischten sie fortwährend und hatten feuchte Augen.

Wir fuhren also mit dem Bus zur Thingstätte und von dort ging es weiter zu Fuß zur Annakirche. Das Kloster, das es dort gab, hatte man auch umfunktioniert. Es war ein Lager geworden, das hinter einem hohen Stacheldrahtzaun lag. Es hieß, es war für Kriegsgefangene, aber so genau wusste man es nicht, wollte es auch nicht wissen, denn man sprach nicht darüber. Vor demEingang standen Soldaten der SS, schon deshalb gingen wir schnell vorbei und guckten gar nicht auf das Lager. Dagegen sah die Wallfahrtskirche ziemlich klein und unscheinbar aus, eher wie ein Häuschen, das sich verängstigt an das Nebengebäude lehnte. Nur der Turm mit seinem quadratischen Klotz auf der Spitze ragte schwarz und schwer in den Himmel. Der kam mir wie ein mächtiger Mann vor, der auf dem Dach stand und Wache hielt.