Der Schwule und der Spießer - Ulrike Heider - E-Book

Der Schwule und der Spießer E-Book

Ulrike Heider

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Beschreibung

Als links engagierte Studentin und Hausbesetzerin war Ulrike Heider mit ein paar zornigen jungen Männern befreundet, die 1971 in Frankfurt am Main die Politgruppe RotZSchwul (Rote Zelle Schwul) gründeten. Die beginnende Schwulenbewegung erschien Heider wie eine zweite 68er-Revolte. Provokation, sexueller Hedonismus und spielerische Aktionsformen knüpften ebenso an den Antiautoritarismus von 1968 an wie an die radikale Kritik an der Gesellschaft, von deren undemokratischen Strukturen bis hin zu Ehe, Familie und schwuler Subkultur. Es gelingt der Zeitzeugin, die Atmosphäre der 1970er und 80er Jahre aufleben zu lassen, die Positionen der rebellischen Schwulen aus dem historischen Kontext zu erklären und nachdrücklich an die neue Diskriminierungswelle mit dem Aufkommen von Aids zu erinnern. Roter Faden der Erzählung ist das provokative Leben, das politische und künstlerische Wirken des 1992 an Aids verstorbenen Lyrikers Albert Lörken.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ulrike Heider

Der Schwule und der Spießer

Provokation, Sex und Poesie in der Schwulenbewegung

Männerschwarm Verlag

Bibliothek rosa Winkel

Band 76

Umschlagmotiv:

Zeichnung von Albert Lörken

(Privatbesitz)

Umschlaggestaltung:

Carsten Kudlik (Bremen)

Gedruckt mit Unterstützung des

KARL-HEINRICH-ULRICHS-FONDS

der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung

(www.hms-stiftung.de)

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

unter <http://dnb.ddb.de> abrufbar

© 2019 Männerschwarm Verlag

Salzgeber Buchverlage GmbH, Berlin

Herstellung: Strauss GmbH, Mörlenbach

Printed in Germany

ISSN 0940–6247

ISBN 978-3-86300-351-7

Vorwort

Dieses Buch ist ein Zeitzeugenbericht aus den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es verbindet Erzählerisches mit Analytischem, so dass persönliche Geschichte zu Zeitgeschichte wird.

Zu Beginn der 1970er Jahre lebte ich als links engagierte Studentin in Frankfurt am Main in einem besetzten Haus, verkehrte im Sponti-Milieu und hatte mehrere Freunde, die 1971 an der Gründung einer Politgruppe namens RotZ-Schwul (Rote Zelle Schwul) beteiligt waren. So kam es, dass ich die damals entstehende neue Schwulenbewegung und später auch ihre ersten Krisen nach dem Aufkommen von Aids aus unmittelbarer Nähe miterlebte. Die erwähnten Freunde und die Gruppe, in der sie sich engagierten, fielen mir wieder ein, als ich 2001 meine politische Autobiographie Keine Ruhe nach dem Sturm veröffentlicht hatte, deren historischer Schwerpunkt auf der Studenten-, Sponti- und Hausbesetzerbewegung lag. Weil ich die Schwulenbewegung darin nur am Rande erwähnt hatte, spürte ich das Bedürfnis, auch darüber zu berichten. Wie in dem vorangegangenen Buch sollten historische Recherchen in Archiven oder Bibliotheken und Interviews mit anderen Zeitzeugen meine eigenen Erinnerungen und Analysen ergänzen. Dabei kam mir die Idee, das Leben eines 1992 verstorbenen Freundes, des Soziologen und Lyrikers Albert Lörken, zum roten Faden meiner Erzählung zu machen.

Als ich im Jahr 2002 mit meiner Recherche zum Thema Schwulenbewegung begann, waren deren Anfänge fast ganz vergessen. Weit verbreitet war stattdessen die Vorstellung, dass sich diese Bewegung im Westdeutschland der 1980er Jahren mit den CSDs (Christopher Street Day-Paraden) aus dem Nichts erhoben und den Kampf für die Homo-Ehe aufgenommen habe. Der Glitter der schwulen Freudenmärsche schien alles zu überstrahlen, was davor war, sowohl die postfaschistischen Repressionen der 1950er und 60er Jahre, als auch das Aufbegehren dagegen in den frühen 70ern. Kaum jemand schien sich an die nach ihrem Verbotsparagraphen benannten »Hundertfünfundsiebziger« zu erinnern, denen, wenn sie beim Sex erwischt wurden, das Gefängnis drohte. In Witzen hießen sie immer Detlef, und in der Vorstellung der Biedermänner verführten sie notorisch Knaben. Wie Vampire infizierten diese Männer angeblich ihre Opfer mit dem eigenen Fluch, so dass auch diese ein Leben lang zu den Detlefs gehören mussten.

Ebenso vergessen waren zu Beginn des neuen Jahrtausends die Folgen des Jahres 1969, das jetzt 50 Jahre zurückliegt, des Jahres, in dem sich in New York Schwule und ihre Mitstreiter gegen Polizeigewalt wehrten und in dem in Westdeutschland nach 24 Jahren endlich die Nazi-Version des § 175 reformiert wurde. Sex zwischen erwachsenen Männern war jetzt straffrei, so dass Homosexuelle sich zu ihrer Lust bekennen konnten. Die mutigsten von ihnen betraten seit 1971 mit Gruppen namens RotZSchwul (Rote Zelle Schwul) oder HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin) die Bühne der Geschichte, rehabilitierten das Schimpfwort »schwul« und machten mit Provokationen verschiedenster Art auf sich aufmerksam. Inspiriert von der antiautoritären Studentenbewegung verband die neue Schwulenbewegung antikapitalistisches Engagement mit dem Anspruch persönlicher Emanzipation. In einer sozial gerechten, basisdemokratischen Gesellschaft, so ihre Utopie, würden die Menschen neue Liebes- und Sexualformen entwickeln, jenseits von Ehe, Familie und schwuler Subkultur. Diese Botschaft fiel auf fruchtbaren Boden bei vielen, denen Polizeiverfolgung und soziale Ächtung früherer Jahrzehnte noch traumatisch in den Knochen saßen, so dass es 1973 schon 74 schwule Gruppen gab.

Mein Protagonist, ein auf vielen Gebieten hochbegabter Bauernsohn, kam aus einem stark vom Katholizismus geprägten nordrhein-westfälischen Dorf. Anfang der 1970er Jahre erlebte er im liberalen Frankfurt unter dem Einfluss der Schwulenbewegung sein Coming-out. Damit ging für Lörken, dem seine Freunde und Kommilitonen eine glänzende Karriere als Theatermann, Künstler oder Akademiker voraussagten, nicht nur die Befreiung von katholischer Moral und bäuerlicher Enge einher, sondern auch ein großer psychischer Energieverschleiß. Das Schwulsein, das sich bei ihm mit einem überaktiven Sexleben verband, kostete ihn so viel Zeit und Kraft, dass er Ehrgeiz und Disziplin verlor und fast all seine Talente vernachlässigte. Erst am Ende seines Lebens profilierte sich Albert Lörken als Rezitator und bezauberte sein Publikum mit Gedichten von Heinrich Heine, August von Platen und den eigenen. Er starb in seinem Heimatdorf Mariaweiler an Aids, weil er dem Hausarzt verschwiegen hatte, dass er schwul war.

Albert Lörken war kein typischer Aktivist der Schwulenbewegung im politischen Sinn. Sein Leben, sein Coming-out, sein Sexleben und auch sein Sterben scheinen mir aber exemplarisch zu sein für die Probleme vieler Männer seiner Generation, die in den 1970er Jahren offen schwul lebten. Trotz der Legalisierung ihrer Lust – zumindest unter Erwachsenen –, der gelockerten Sexualmoral dieser Zeit und des Rückhalts, den die beginnende Schwulenbewegung bot, konnten nur die wenigsten von ihnen ein Leben führen, das nicht vom Leiden am Anderssein, von Schuldgefühlen oder deren Überkompensation, von Selbstzweifeln und Identitätskonflikten geprägt war. Nicht umsonst sprach Theodor W. Adorno von einer »psychologischen Fesselung« der »Produktivität« vor allem geistig begabter Homosexueller, von ihrer »Unfähigkeit, zustande zu bringen, was sie wohl vermöchten«. Den Grund dafür sah er in der »gesellschaftlichen Ächtung« und der dazugehörigen Gesetzgebung.

Dass die Unterdrückung und Verfolgung Homosexueller noch lange nach der Legalisierung von Sex zwischen erwachsenen Männern nachwirkte, bestätigten auch meine Gespräche mit einstigen Mitgliedern der RotZSchwul, mit denen ich im Laufe des Jahres 2003 in Frankfurt, Berlin und New York Interviews führte. Nach Köln, Düren, Aachen, Moresnet (Belgien) und Utrecht (Niederlande) reiste ich im selben Jahr, um Lörkens Jugendfreund, eine Kinderfreundin, seinen Grundschullehrer und einige weitere seiner Weggefährten zu treffen. Seinen poetischen und künstlerischen Nachlass machte mir der Jugendfreund Herbert Pawliczek zugänglich.

Als mein Manuskript 2006 fertig war, stieß ich mit dem Thema auf wenig Resonanz. Etwas, das ich schon geahnt hatte, als man mir 2004 im Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft sagte, dass ich die erste Person war, die die »Sammlung Holy« eingesehen hatte, eines der wichtigsten Archive zum Thema. (Seit der Schließung des Instituts 2006 liegt die Sammlung im Schwulen Museum in Berlin.) Kein Verlag interessierte sich für meine Arbeit, wohl aber ein Redakteur des Deutschlandfunks. Dieser war beeindruckt von der ihm bislang unbekannten Geschichte der Schwulenbewegung und fand Gefallen am Leben des Albert Lörken, das ich mit dessen imposanter Originalstimme und anderen ungewöhnlichen Originaltönen illustrieren konnte. Die so entstandene Radiosendung Der Schwuleund die Spießer, gesendet im Dezember 2007, wurde wohlwollend besprochen, für den Felix-Rexhausen-Preis nominiert, 2011 in der Fachhochschule Frankfurt im Rahmen einer Veranstaltung zum Tag gegen Homophobie (17. 5.) gespielt und später noch einmal vom NDR wiederholt. Albert Lörken wird seither bei Wikipedia erwähnt. Trotzdem blieb das Feature von 2007 das Einzige, was ich vor Erscheinen des vorliegenden Bandes aus meinem Manuskript veröffentlichen konnte.

Neues Interesse an den Anfängen der Schwulenbewegung zeigte sich seit Beginn der 2010er Jahre. 2012 schrieb die Frankfurter »Stiftung Polytechnische Gesellschaft« ein Stipendium zur Aufarbeitung der Stadtgeschichte aus, das der Autor und Blogger Jannis Plastargias mit einem Exposé zur Geschichte der Frankfurter Schwulengruppe RotZ-Schwul gewann. 2015 erschien sein Buch RotZSchwul. Der Beginn einer Bewegung. In Berlin begeisterte sich der links engagierte Geschlechterforscher Patrick Henze für die Schwulenbewegung der 1970er Jahre und schrieb seine Examensarbeit, die 2012 fertig wurde, über die Berliner HAW. Gleichzeitig griff er die Rehabilitierung und Idealisierung des effeminierten Homosexuellen aus der Schwulenbewegung auf, gab sich den Tuntennamen Patsy l’Amour laLove, nannte sich Polittunte, trat mit tuntigen Shownummern auf und hatte damit vor allem bei jüngeren Menschen großen Erfolg. 2019 erschien seine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Dissertation Schwule Emanzipation und ihre Konflikte. Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Die Premierelesung in Berlin war so gut besucht, dass weiteres Interesse an dem lang vernachlässigten Thema zu erwarten ist.

So hoffe ich, dass auch mein Buch zur Wiederbelebung und Neubewertung der Jahrzehnte des schwulen Aufbruchs beitragen wird. Nicht zuletzt deshalb, weil es sich von den Arbeiten der jüngeren, männlichen Autoren in doppelter Weise unterscheidet. Als Zeitzeugin konnte ich die Atmosphäre der 1970er und 80er Jahre aufleben lassen und die heute oft schwer verständlichen politischen Positionen der Schwulenbewegung aus dem historischen Kontext erklären. Als Frau hatte ich einen distanzierteren Blick auf das Verhältnis dieser Bewegung zur Männlichkeit ihrer Akteure und zu den Geschlechterverhältnissen der gegebenen Gesellschaft.

Ich bedanke mich bei allen Interviewpartnern, die ihre Erinnerungen und historisch-politischen Einschätzungen mit mir teilten. Ich danke dem 2011 verstorbenen Radioredakteur Robert Matejka für die Wertschätzung meiner Arbeit. Dank für die Unterstützung bei der Beschaffung von Material und Fotos gilt Herbert Pawliczek, Michael Holy und meinen Freunden Walter Grimm und Günther Perscheid. Dankbar bin ich auch für Anregungen und aufschlussreiche Gespräche mit dem 2013 verstorbenen Gottfried Ensslin und mit Michael Hespen, der die Verbindung zu Wolfram Setz, dem Herausgeber der Bibliothek rosa Winkel, herstellte. Erinnern möchte ich hier auch an meinen jüngst verstorbenen Lebensgefährten Pierre Louaver, der mir Mut zu meinen fern vom Mainstream liegenden Projekten machte, mich bei beruflichen Flauten tröstete und mein Leben mit seinem Optimismus verschönte.

Berlin, im Sommer 2019

Ulrike Heider

I

»Wer die Schönheit angeschaut mit Augen«

Zum ersten Mal unter nackt Badenden, wunderte ich mich, welch breite Palette menschlicher Körperformen die Natur zu bieten hat. Brüste, Penisse und Hinterteile der entkleideten Menschen waren ganz anders als das, was ich bisher auf Bildern und an Statuen, an meiner Mutter, meinem Vater und meinem Bruder gesehen hatte. In einer Gruppe nackter Hausbesetzer saß ich am unschönen Ufer einer zum Badesee gewordenen Kiesgrube. Es war im Sommer 1972. Der grobe, rotgelbe Sand war kein vorteilhafter Hintergrund für die weißen, rötlichen und bräunlichen Leiber der links engagierten Jugend Frankfurts. Die Männer mit ihren vom grellen Sonnenlicht beschienenen Penissen wagte ich kaum anzuschauen. An ihnen vorbei aber starrte ich nervös auf die im Stehen schwingenden oder wippenden und im Liegen zur Seite fallenden, hoch oder tief angesetzten Brüste der Frauen. »Mach dir nichts draus, dass du keinen Busen hast, andere haben Hängetitten«, sagte ein politisch hochrangiger Hausbesetzer. Seine damit gemeinte Freundin überging die Beleidigung. Mit souverän verschränkten Armen stand sie neben ihrem Handtuch und sprach mit jemandem, wie wenn nichts wäre. Ich bewunderte sie dafür, fragte mich aber, ob sie diese Stellung gewählt hatte, um ihren etwas zu weichen Busen zu verstecken. Ähnlich unbefangen wie sie jedenfalls versuchten fast alle zu wirken, den Blick fest aufs Gesicht des Gegenüber gerichtet.

Die meisten derer, für die Nacktheit so selbstverständlich zu sein schien, hatten kaum je ihre Eltern ausgezogen gesehen. Schon als Kleinkinder hatten sie beim Schwimmen Badehosen und Badeanzüge getragen. Am Strand oder in den Umkleideräumen der Schulturnhallen hatten sie sich beim Umziehen vorsichtig verhüllt gehalten. Nackte kannte man nur aus dem Museum. Als 1951 in dem Film Die Sünderin das Publikum wenige Sekunden lang den entkleideten Körper der Hildegard Knef sehen durfte, drängten kirchliche Moralinstanzen zum Verbot, und es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen vor den Kinos. 13 Jahre später, als meinesgleichen Teenager waren, rissen die Auschwitzprozesse den Schleier von den Verbrechen unserer Elterngeneration. Gleichzeitig hörten wir, dass avantgardistische Künstlerinnen und Schriftstellerinnen sich barbusig in der Öffentlichkeit gezeigt hatten. Auch das gehörte zu den Enthüllungen des Jahres 1964. Die Mutigsten von uns forderten nun Aufklärung sowohl über die jüngste Geschichte als auch über den menschlichen Körper und seine Sexualfunktionen. Wir wollten wissen, was es mit der körperlichen Liebe auf sich hat und auch, warum die Deutschen den Führer geliebt hatten.

Weitere drei Jahre später verkündete im Zuge der Revolte gegen Notstandsgesetze, Springerpresse und Vietnamkrieg die erste Wohngemeinschaft im Lande, die sich stolz Kommune I nannte, die Freie Liebe. Nackte Gruppenfotos der Berliner Kommunarden erschienen in den Zeitungen, und unzählige rebellische Jugendliche begannen, offen gegen die Prüderie ihrer Eltern und Lehrer zu rebellieren. Junge Frauen besorgten sich die Pille, entledigten sich des Büstenhalters, pfiffen auf ihre Jungfräulichkeit und deklarierten ihr Recht auf sexuellen »Lustgewinn«. Junge Männer hörten auf, Hausärzten und Kirchenmännern zu glauben, die ihnen mit Knochenmarkschwund und Impotenz als Folge der Masturbation gedroht hatten. Statt im Schummerlicht des Puffs die erste, meist nicht einmal vollständig nackte Frau zu sehen, freuten sie sich jetzt am Anblick ihrer ganz natürlich entkleideten Freundinnen, im Tages- oder vollen Lampenlicht und ohne jede Reizwäsche.

Meine Mitbewohner aus dem besetzten Haus lagerten auf dem von den Spontis bevorzugten Gelände, nicht weit von uns Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und andere einflussreiche politische Aktivisten. Etwas weiter weg, auf ihrem von uns »Stalinhügel« genannten Revier, konnte man die Blöße auch einiger linker Dogmatiker betrachten, leicht zu erkennen an den zeituntypischen Kurzhaarschnitten der Männer. Den krassesten Gegensatz dazu bildeten die gepflegten Afro-Lockenköpfe oder hennagefärbten Langhaarfrisuren der »schwulen Genossen« Frankfurts. Auch die sonnten sich nackt im Schutze kollektiver Präsenz.

Zur Zeit meines ersten Nacktstrandbesuchs, drei Jahre nach der Spaltung der Studentenbewegung in einen autoritären und einen antiautoritären Flügel, standen sich im linken Milieu verschiedene Politgruppen mehr oder weniger feindlich gegenüber. Da waren die straff organisierten neo-leninistischen und stalinistischen Miniparteien, die sog. K-Gruppen, deren Mitglieder sich als Avantgarde des Proletariats phantasierten. Sie »schulten« sich an den Texten von Marx, Lenin, Mao und Stalin und arbeiteten in verschiedenen Fabriken, um echte Proletarier für ihre hauptsächlich mit Studenten bestückten Parteien zu gewinnen. Der Lebensfreude und Autoritätsverachtung der 68er-Revolte mit ihren spielerischen Aktionsformen und ihrer Liebe zur Provokation setzten die K-Gruppler eine ans Preußentum erinnernde »revolutionäre Disziplin« entgegen, die sie sogar äußerlich demonstrierten. Die Männer schnitten sich die Haare ab, die Frauen entsagten Miniröcken und sexy Jeans zu Gunsten eines farblosen, angeblich proletarischen Kleiderstils.

Am anderen Ende der politischen Skala stand die Minderheit der Anarchisten, mit denen ich sympathisierte. Das waren exzentrische Individualisten, die jede Autorität ablehnten und versuchten, die Lehren von Marx und Bakunin zusammenzubringen. Wilde Bärte und Haare zu schwarzen Halstüchern und meist schwarzer Kluft waren typisch, und die Toleranz gegenüber Außenseitern gehörte zu ihren historisch überlieferten Tugenden. Manch späterer Terrorist verkehrte in diesen Kreisen, aber auch natur- und friedliebende »Landanarchisten«, zornige junge Männer wie der früh verstorbene Kultschriftsteller Jörg Fauser und – auch das einer anarchistischen Tradition entsprechend – auffallend viele Homosexuelle.

Zwischen den K-Grupplern und den Anarchisten standen die Spontis. Die waren ursprünglich im Revolutionären Kampf (RK) organisiert, der als Organisation von Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer in die Geschichte eingegangen ist. Als Erben der Studentenbewegung strebten die RKler die Utopie einer Basisdemokratie an und studierten Marx in Lenin-kritischer Tradition. Obwohl sie autoritäre Kaderorganistionen und Parteien ablehnten, wollten auch sie sich mit den Proletariern verbünden. Um zunächst herauszufinden, wie das möglich wäre, arbeiteten viele von ihnen wie die K-Gruppler als Hilfsarbeiter in Fabriken. Seit 1971 begann der RK parallel dazu, gemeinsam mit Arbeiterfamilien und jugendlichen Proletariern Häuser zu besetzen. Als ich in ein solches Haus im Frankfurter Westend zog, begannen die dort lebenden Spontis schon ihre ursprünglichen politischen Ansprüche aufzugeben, um sich stattdessen mit sich selbst und der eigenen Lebensweise zu beschäftigen. Sie schwankten zwischen dem Ziel, die Gesellschaft langfristig als Ganzes zu verändern, und der Idee, eine bessere Welt im Hier und Jetzt vorwegzunehmen. Dem RK bzw. den Spontis nahe standen die politisch links engagierten jungen Homosexuellen Frankfurts, die gerade eine Gruppe namens RotZSchwul (Rote Zelle Schwul) gegründet hatten.

Ich hatte mein Bikiniunterteil angelassen, so dass jeder sehen konnte, wie »verklemmt« ich war. Obwohl ich als Vertreterin der Freien Liebe stolz darauf war, schon mit über zehn Männern geschlafen zu haben, konnte ich den zur neuen Norm erhobenen Nudismus der Spontis nicht als Befreiung erleben. Missmutig stierte ich ins Weite und überlegte, wie ich am besten entkommen könnte. Da entdeckte ich am Fuß des Walls, der die Kiesgrube umgibt, Rainer Demski, den Rechtsanwalt der Anarchisten, in Begleitung eines auffallend attraktiven Mannes. Der verheiratete Demski hatte lange versucht, seine Homosexualität niederzukämpfen. Dann aber outete er sich als einer der ersten links engagierten Frankfurter vor all seinen Freunden, plädierte schon um 1970 für eine schwule Organisation und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der RotZ-Schwul. Demski war imponierend groß und trug die Haare in langen Strähnen. Die Aura von Boheme und ein weicher Zug im Gesicht erinnerten an Fotos von Oscar Wilde. Stets in schwarz, trug er gern romantische Schlapphüte und fast immer ein schwingendes Cape, »die Ersatzrobe«, wie die Anarchisten es nannten. Ohne diese Dekoration empfand ich seine Erscheinung als enttäuschend. Und auch ihm meinte ich seine nur mühsam unterdrückten Peinlichkeitsgefühle anzumerken, als er unter den neugierigen Blicken aller Politfraktionen mit seinem neuen Freund die steile Böschung hinaufkletterte. Die Szene war so weit entfernt, dass ich ungeniert hinschauen konnte wie auf eine Leinwand, abgelenkt von meiner Scham und dem Gefühl des Gefangenseins im Kollektiv der Schamlosen.

Der junge Mann neben Demski, ebenso groß und dunkelhaarig wie er, bewegte sich unbefangen und klomm ganz leicht den Wall hinauf, während der Anwalt öfters abrutschte. Als Einziger, so schien es mir, genoss der Szeneneuling das Nacktsein. Ob das an seinem perfekten Äußeren lag, überlegte ich, einem Körper, der dem klassischen wie dem barocken Schönheitsideal entsprach, der Knabenhaftes mit Athletischem verband und der Traum eines Tänzers wie eines Sportlers gewesen wäre. Oder sollte Demskis Freund aus einem fremden Kulturkreis kommen, aus einer Welt vielleicht, die freier war als die, in der wir lebten? Oder aus einem Land zumindest, in dem es nicht so viel zu verhüllen und zu vertuschen gab wie in unserem? Sogar auf andere schien der Glanz dieses Menschen überzugehen. Denn auf einmal fand ich den Anblick des ungeschickten Rechtsanwalts in Kaisers neuen Kleidern nicht mehr lächerlich, sondern liebenswürdig. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, das Schauspiel der beiden Kiesgrubenkletterer versöhnte mich mit der angestrengten Hemmungslosigkeit meiner Generationsgenossen, wie sie aus der trüben Adenauerära ins enthüllende Licht einer besseren Zukunft traten.

Ein paar Tage später sah ich Demskis Begleiter wieder. Er ging unter dem Balkon meines Zimmers in der klassizistischen Villa vorbei, wo ich als Hausbesetzerin lebte. Vom Fenster aus konnte ich unbemerkt das Gesicht des Fremden studieren, in dem die zusammengewachsenen Augenbrauen einen strengen Winkel zur Nase bildeten, kontrastiert von einem sinnlich geschwungenen Mund. Er sah klug aus, viel zu klug für so viel Attraktivität. Dem damals körpernahen Modetrend vorauseilend trug Albert ein beiges, weit geschnittenes Hemd. Von dem Hennaschimmer in den schulterlangen, gewellten Haaren konnte man auf eine Sympathie mit Hippies, Underground-Künstlern, Anarchisten oder Spontis schließen. Ein privilegierter Mensch von Welt, dachte ich, könnte aus Paris, London, oder Rio de Janeiro sein.

Albert Lörken(Foto: privat)

Rainer Demski lief mir das nächste Mal im Aquarius über den Weg. Das war eine Kellerkneipe mit Tanzraum, eine Diskothek vor dem Discozeitalter, deren Musik noch von den Beatles, den Rolling Stones und den Doors geprägt war. Das schöne, alte Kellergewölbe mit Rundbögen lag unter einem hässlichen Neubau, in dem sich ein Bordell einquartiert hatte. Das Aquarius war spartanisch eingerichtet, strahlte aber eine Atmosphäre aus, die es zur Lieblingskneipe der jungen Nonkonformisten Frankfurts werden ließ. Spontis, Anarchisten, Sexavantgardisten und die ersten offen schwulen Männer Frankfurts verkehrten dort. Günther Amendt, der Sex-Revolutionär und Verfasser des ersten linken Aufklärungsbuches Sexfront, kam jeden Abend mit seiner schwulen, buntschillernden Clique, einer Mischung aus aufmüpfigen Gymnasiasten, Haschischdealern, Künstlern und Studenten. Am Ende jedes Abends spielte der Besitzer den Aquarius-Song aus dem Musical Hair, den ich so gern mochte, dass ich nie vor Schluss nach Hause gehen konnte.

»War dieser aufregende Mann, den du am Baggersee bei dir hattest, ein Schauspieler?«, fragte ich Rainer Demski. »Nein«, sagte dieser, »ein Philosophiestudent im zweiten Semester, wahnsinnig intelligent.« Im Philosophischen Seminar, erfuhr ich nun, galt Albert Lörken, der keineswegs einer Weltstadt, sondern einem nordrhein-westfälischen Dorf entstammte, als intellektuelles Wunderkind. Er faszinierte mit Bildung, Redegewandtheit und einem minutiösen Gedächtnis, hatte ein Aufsehen erregendes Referat geschrieben, und ein namhafter Professor wollte ihn schon im ersten Semester als Tutor engagieren. »An der Kiesgrube sind die Leute ausgeflippt, als sie ihn gesehen haben«, fügte Demski hinzu, im Blick einen Moment das Hilflose eines bewundernden Päderasten. Der Rechtsanwalt war etwas älter als die, mit denen er sich umgab. Seine theatralischen Auftritte während politischer Prozesse hatten ihm linken Ruhm eingebracht, und auch in schwulen Kreisen war er eine Autorität. Der Zustand höchster Verliebtheit aber schien Demskis Selbstbewusstsein zu mindern. »Der blickt durch«, sagte er über seinen neuen Freund. »Du nicht?«, fragte ich erstaunt. »Nein, nicht so wie der, der ist mir über«, antwortete er ungewohnt leise wie in einem Selbstgespräch.

Auch Albert sah ich im Aquarius wieder. Diesmal hatte er geschminkte Lippen, »tuckte« provokativ und bewegte sich wie eine Tunte. Das »Tucken« lag als Trend in der Luft. Die traditionellen Tuntenbälle erfreuten sich großen Zulaufs. Der Maler und Jungfilmer Holger Mischwitzky provozierte mit seiner Verweiblichung als Rosa von Praunheim, und mehr und mehr Homosexuelle begannen, mit dem eigenen Zerrbild zu sympathisieren. Auch die Aufwertung des bislang hässlich klingenden Wortes »schwul« gehörte zu der damit beabsichtigten Sichtbarmachung derer, die sich so lange hatten verstecken müssen. Als ich mit Albert ins Gespräch kam, war mein Freund Wolfgang Thiemicke dabei, einer der ersten offen schwulen Männer in der Stadt. Der Inhalt von Alberts, uns mit leicht rheinischem Akzent entgegengetuckter Rede glich kaum dem, was eine typische Tunte von sich geben würde. Auf jede unserer neugierigen Fragen reagierte er mit geistreichen Anspielungen und Gedankenblitzen. »Kannst du denn nicht normal sprechen?«, fragte Wolfgang gereizt in eine Pause hinein. Albert gab augenblicklich das »Tucken« auf. In dem sich anschließenden intellektuellen Schlagabtausch der beiden, bei dem es um Hegel, Marxens Frühschriften und den Freudomarxismus Herbert Marcuses ging, wirkte er trotz des noch nicht ganz verwischten Lippenstifts recht männlich.

Das Gleiche galt für Wolfgang, der sich damit brüstete, als erster Schwuler Frankfurts einen Bart getragen zu haben. Als Germanist von seinerseits überdurchschnittlich hoher Bildung, war er eine Mischung von Schöngeist und Revolutionär. Etwas Tragisches haftete ihm an wie einer Figur von Dostojewski, unterstrichen von einem ruckhaften Gang, Trotz oder verzweifelte Entschlossenheit vermittelnd. Er war ungeschickt angezogen, und aus seinen dicken, schlecht gekämmten Locken rieselten immer ein paar Schuppen auf das Cordjackett. Wolfgang war einer der Wenigen, die Alberts blendende Erscheinung unbeeindruckt ließ. Als begehrenswert empfand er nur überschlanke, schmalbrüstige Knaben wie die oft unterernährten sizilianischen Modelle auf den Fotos des Barons Wilhelm von Gloeden, die in der damaligen schwulen Subkultur Kultstatus hatten. Ich nannte diesen Typ »rachitisch«. Wolfgang aber meinte, alle schwulen Männer empfänden wie er. Meistens verliebte er sich in heterosexuelle Oberschüler, von denen er keine romantische Gegenliebe erwartete. Glücklich machte es ihn stattdessen, diese »Buben«, wie er sie nannte, mit klassischer Musik zu unterhalten, ihnen Gedichte vorzulesen und sie auf verschiedenste Weise zu bilden oder zu fördern. Außerdem propagierte er das Recht der Jugendlichen auf Sexualpraxis und forderte seine 16 bis 18-jährigen Liebhaber auf, sich im Aquarius nach Mädchen umzuschauen. Wie ein negativer Missionar aber warnte er vor dem eigenen Schicksal. »Versprich mir, dass du dir nie eine schwule Psyche zulegst«, sagte er zu einem Jungen, der sich überhaupt nicht fürs andere Geschlecht interessierte. Oder er verbreitete Weisheiten wie: »Hüte dich vor der Rache einer Schwuchtel.« Bei ersten Diskussionen über eine mögliche schwule Organisation plädierte Wolfgang in päderastischer Tradition für die selbstlose Förderung asozialer Jugendlicher durch ältere schwule Mentoren und Sponsoren.

Wolfgang hatte sein Coming-out in sehr jungen Jahren erlebt, als der Homosexuellenparagraph noch so in Kraft war, wie die Nazis ihn verschärft hatten. Erst als er mir das erklärte, verstand ich den Sinn der fast immer zugezogenen Vorhänge seiner Fenster im Studentenwohnheim und besetzten Haus. In scheinbarem Gegensatz zu Angst und Selbsthass aber hatte der Germanist schon im Jahre 1968 alle Kommilitonen über sein Schwulsein aufgeklärt. Da er dem Klischee eines »Hundertfünfundsiebzigers« nicht entsprach, konnte oder wollte ihn allerdings kaum jemand als solchen wahrnehmen. Einmal, als revoltierende Germanisten während einer politischen Veranstaltung überlegten, wie man einen vermutlichen Polizeispitzel loswerden könnte, überraschte Wolfgang mit einer ungewöhnlichen Maßnahme. Er näherte sich dem Unliebsamen und versuchte ihn zu küssen, bis sich dieser verwirrt aus dem Staube machte. Das war zu einer Zeit, als auch in progressiven Kreisen 90 Prozent aller »normalen« Männer und Frauen glaubten, noch nie einen Homosexuellen kennengelernt zu haben. Routinemäßig verschwiegen die Einen, was die Anderen nicht wissen wollten. Getarnte wie Blinde huldigten ihrer Verlogenheit so reibungslos, dass nicht einmal die für Insider offensichtliche Knabenliebe des berühmten Frankfurter Studentenrevolutionärs Hans Jürgen Krahl bekannt war.

Krahl, der oft als der Rudi Dutschke Frankfurts bezeichnet wird, hatte bei Theodor W. Adorno studiert, bevor er sich mit ihm überwarf. Er soll der Einzige gewesen sein, den der Mentor der Studentenbewegung als gleichwertigen Gesprächspartner anerkannte. Trotz seiner schweren Trunksucht hinterließ Krahl, der 1970 bei einem Autounfall starb, Texte zur Marxinterpretation, die bis heute als bedeutend gelten. Krahl war klein, bis zum Auffälligen unscheinbar, schäbig gekleidet und hatte ein Glasauge. Ich sah ihn oft in seiner Frankfurter Stammkneipe in Universitätsnähe. Er saß dort, umringt von Bewunderern aus der radikalen Politszene, trank und sprach über Marx und Hegel, bis er betrunken war. Unter seinen Begleitern war fast immer auch ein ganz junger, meist subproletarischer Mitläufer der Bewegung, »sein Bub«, wie Wolfgang es ausdrückte. Keiner aber dachte sich etwas dabei.

Noch im Gründungsjahr der schwulen Bewegung 1971 sprach mich das Mitglied einer ideologisch mit dem Revolutionären Kampf vergleichbaren Politgruppe im Namen seiner Organisation auf das »Problem« eines Genossen an, der möglicherweise homosexuell sei. Ob ich nicht mal mit ihm reden könne, fragte der Beauftragte, ich kenne doch »solche Männer«. Ich lehnte dies ab, nannte aber Wolfgangs Zimmernummer im Studentenheim. Ein paar Tage später standen etwa zehn Gruppenmitglieder einschließlich des Problemgenossen vor dessen Tür, wie ein Clan, der ein krankes Mitglied zum Schamanen bringt. »Wer ist der Schwule«, fragte Wolfgang, und ein kräftiger junger Mensch mit langen Haaren und Armeeparka namens Hans Peter Hoogen gab sich zu erkennen. Er blickte mit gerunzelter Stirn zu Boden und sah noch unglücklicher aus als seine besorgte Freundin neben ihm. »Wenn du willst, kannst du reinkommen«, sagte Wolfgang, »aber die anderen sollen verschwinden«. Während des anschließenden Beratungsgesprächs äußerte Hans Peter den Wunsch nach der Beziehung mit einem »arbeitsfähigen Politgenossen«. Obwohl seine Organisation nicht zu den K-Gruppen gehörte, legten auch deren Mitglieder viel Wert auf politische Ernsthaftigkeit, so dass bürgerliche Tugenden wie Disziplin und Arbeitsfähigkeit angesagt waren. Von schwulen Kneipen und anderen Homosexuellentreffs wie Parks oder öffentlichen Pissoirs, den »Klappen«, wollte Hans Peter nichts wissen, wahrscheinlich weil er Laszivität und Libertinage damit verband. Wolfgang, der ihm trotzdem zum Coming-out verhelfen wollte, entwickelte einen Plan. Hans Peter sollte in meiner Begleitung unsere Lieblingskneipe Aquarius besuchen, wo, wie er ihm versicherte, sowohl arbeitsfähige Politgenossen als auch Schwule verkehrten. Von mir sollte er sich dort sagen lassen, wer in Frage käme, und dann sein Glück versuchen.

Kaum hatte ich Hans Peter im Aquarius die Schwulen gezeigt, verwandelte er sich. Stirn und Mund verloren das Verkrampfte, er hielt sich aufrecht, lächelte und übte sich im Flirten mit dem eigenen Geschlecht. Schon beim zweiten Besuch gelang es mir, ihn mit einem frisch eingewanderten jungen Amerikaner zu verkuppeln, der sich nichts mehr wünschte, als in eine deutsche Politgruppe aufgenommen zu werden. Danny Lewis, so der Name des von mir Ausgesuchten, hatte sich in Frankfurt der linken Bewegung angeschlossen. Die Genossen aber nahmen ihn nicht ernst. Vielleicht, weil es ihm mit mangelnden Sprachkenntnissen noch schwer fiel, den gängigen linken Jargon zu sprechen. Oder auch, weil seine politischen Statements stark vom Moralismus der amerikanischen Linken geprägt waren, was hierzulande schlecht ankam. Ich hatte mich bei RK-Genossen für Danny verwendet, vergeblich allerdings, weil ich wegen meiner anarchistischen Freunde als politisch nicht ganz zuverlässig galt. Jetzt fügte sich alles zum Besten. Der Aktivist Hans Peter Hoogen hatte einen »arbeitsfähigen Genossen« gefunden, Danny Lewis wurde in seine Politgruppe aufgenommen, und ich war stolz auf das Ergebnis meiner Arbeit: Groß und breitschultrig der aschblonde Hans Peter, eigentlich zum Hoferben eines Großbauern am Niederrhein bestimmt, klein und drahtig Danny, mit blauen Augen und langen schwarzen Locken, einer jüdischen Kleinbürgerfamilie aus Cincinnati entlaufen. Was für ein schönes Paar! Dankbar für das erlösende Coming-out verlagerte Hans Peter sein politisches Engagement bald auf die schwule Bewegung. Danny wurde seinerseits zum schwulen Aktivisten und später Mitbegründer der legendären schwulen Theatergruppe Brühwarm.

Zu unserer ersten Verabredung an einem Nachmittag kam Albert zwei Stunden zu früh. Statt die Haustür zu benutzen, nahm er den Weg über die Rotsandstein-Balustrade meines Balkons und freute sich, mich zu erschrecken. Es sei so schön »romeohaft«, sich einer Frau über ihren Balkon zu nähern, sagte er, fügte ein paar Zeilen aus Romeo und Julia hinzu und küsste mich. Ich war verwirrt. Da war einer, dem man am Gesicht ablesen konnte, wie ihn sein jüngstens vollzogenes Coming-out befreit oder gar euphorisiert hatte. Mit einem der neuen stolz bekennenden Schwulen hatte ich es zu tun, und der machte mir Avancen. Alberts spontane Annäherung passte zwar zur sexuellen Permissivität der frühen 1970er Jahre, gleichzeitig aber verstieß er damit gegen einen Grundsatz der neuen Schwulenbewegung. Bisexualität war verpönt, galt gar als nicht existent. Allzu viele hatten unter diesem Etikett sich selbst, ihre Freunde und unglückliche Legitimationsfrauen hinters Licht geführt. Dazu kam die vernichtende Kritik der neuen Schwulen am päderastischen Griechenkult, dessen Ideologen aus dem 19. Jahrhundert meinten, zumindest einer der altersungleichen Partner hätte bisexuell zu sein. Ein Schwuler, der mit Frauen schläft, hieß es nun rigoros, beweise nur Feigheit oder Schuldgefühle seiner wirklichen »sexuellen Präferenz« gegenüber. Die Souveränität, mit der sich Albert über das neue Dogma hinwegsetzte, gefiel mir. Auch hätte mir eine Affäre mit einem so gut aussehenden Mann geschmeichelt. Auf keinen Fall aber wollte ich zu jenen verblendeten Frauen gehören, die glaubten, schwule Männer davon überzeugen zu müssen, dass weibliche Erotik der männlichen überlegen sei. Es blieb also offen, von welcher Art unser Interesse an einander war, wie vieles damals zwischen den Geschlechtern, als die herkömmliche Moral erschüttert, Männer- und Frauenrolle in Frage gestellt waren.

Alberts Auftreten war raumfüllend-körperlich und intellektuell-distanziert zugleich. Im Gegensatz zum dozierenden Akademiker, der am liebsten über seine eigenen Erkenntnisse und Forschungen spricht, brillierte er im Reagieren auf das, was ich ihm von meinen eigenen Interessen und Projekten erzählte. Alles interessierte ihn, und zu allem konnte er sofort etwas sagen. Er überhäufte mich mit Zitaten, schön ausgedachten Metaphern und ironischen Paraphrasen. Albert schien die ganze Bibel und den halben Shakespeare auswendig zu können. Die große Neugierde, von der er getrieben war, und eine verschwenderische Bereitschaft, anzuregen und Ideen zu verschenken, versöhnten mit einer gewissen Spannung, die er dabei ausstrahlte. Außerdem waren nicht alle seiner Assoziationen direkt verständlich, sondern bedurften der Interpretation, bei der ich mir oft nicht sicher war. Hellmut Roth, der eine längere Beziehung mit Albert hatte, erinnert sich daran so: »Man konnte ihm ne vermeintlich ganz klare Frage stellen, und wurde dann beliefert mit mehreren Zitaten unterschiedlicher Sprachen und unterschiedlicher Zeiten.« Albert habe »ein Stakkato von philosophischen Ausdrücken um sich herum errichtet wie einen magischen Kreis, als Abwehrstrategie gegen die Faszination an seiner Schönheit«. Das sagte Gottfried Ensslin (Bruder der in Stammheim ums Leben gekommenen Gudrun Ensslin), den einst eine unglückliche Liebe mit Albert verband. Was er in Gesprächen vermittelte, war wie eine »sixtinische Decke«, sagte Manuel Tögel, der Pfarrer einer Frankfurter Freidenkergemeinde, der auch zu Alberts Liebhabern und Bewunderern gehörte. »Ob Kunst, ob die Natur oder auch religiöse Fragen, ob gesellschaftliche Bereiche oder Musik. Es war ein unglaubliches Spektrum.« Erst viel später erfuhr ich, dass der Multibegabte nach dem Abitur an der Kunstakademie in Düsseldorf Malerei studieren wollte, sich dann aber für Philosophie und Soziologie in Frankfurt entschied.

Während ich an meinen Überzeugungen aus der Studentenbewegung, an Marxismus und Kritischer Theorie festhielt, hatte Albert beides hinter sich gelassen. Stattdessen studierte er bei Anhängern der analytischen Philosophie und Vertretern des Positivismus. Der einzige Autor dieses Lagers, den wir beide gelesen hatten, war Max Weber, ein gefundenes Fressen für Albert, der sich immer wieder am Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus delektieren konnte. Da war die eiserne Disziplin der bei Weber beschriebenen protestantischen Bourgeoisie mit ihrer trockenen Religion und fixen Ideen wie der von der Mutterschweineigenschaft des zu vermehrenden Geldes. Auf katholischer Seite dagegen die Besessenheit mit Sünde, Beichte, Madonnenkult und Doppelmoral, unerschöpfliches Material unserer ersten Gespräche. Ohne Einzelheiten zu verraten, bekannte sich Albert zu einer erzkatholischen Erziehung, während ich von meiner Konditionierung zur protestantischen Ethik berichtete und mich über entsprechende Beschädigungen beschwerte. »Bei den Katholen ist das anders«, sagte Albert, eine Art sinnlicher Überlegenheit vermittelnd, »da wird gesündigt, gebeichtet, die Absolution erteilt und wieder gesündigt.«

Nach stundenlangen Gesprächen, während derer wir nichts gegessen oder getrunken hatten, gingen wir in den Grüneburgpark. Wir lagerten auf einer Wiese nicht weit von der beliebten »Grüneburgklappe«, dem von Büschen, Brennnesseln und Unkraut umgebenen Pissoirhäuschen, in dem damals schwule Männer unverbindlichen Sex zu suchen pflegten. Albert erzählte mit suggestivem Engagement von seinem Heimatdorf Mariaweiler in der Nähe von Düren. Ein romantischer alter Bauernhof mit Kühen, Pferden und Schweinen, blühenden Wiesen und weiten Feldern entstand vor meinem inneren Auge, ein bukolisches Idyll in einer Traumlandschaft. Von den Eltern mochte er nicht reden und berichtete stattdessen mit großem Vergnügen von seiner »Amme«, die ihm, als er klein war, den Bauch geleckt habe, wenn er Verdauungsbeschwerden hatte. Ich beneidete ihn um diese Amme und gab bereitwillig meinen bürgerlichen Familienroman preis, erzählte vom einst jugendbewegten Vater, dem Augenarzt, der eigentlich Kunstgeschichte studieren und Museumsdirektor werden wollte. Von meiner Mutter berichtete ich auch, die, wie sie meinte, so viele erfolgversprechende Begabungen hatte, dann aber doch heiratete, Mutter und Hausfrau wurde. Oder vielmehr, wie ich dachte, sich damit das Leben versaut hatte.

Es war Abend geworden, und Albert schlug vor, Freunde in einer Wohngemeinschaft nicht weit von meinem Haus zu besuchen. Wieder in meinem Zimmer, sah er mir beim Schminken zu und fragte, ob ich einen »Fummel« für ihn hätte. Da nichts anderes gepasst hätte, kleidete ich ihn in einen gelb, weiß und rot gemusterten Sari, der an ihm eher wie eine römische Toga als wie ein Frauengewand aussah. Ganz berauscht war er von seinem Spiegelbild und erbat sich dazu ein paar dicke goldene Ohrringe. Ich schmückte mich selbst mit noch größeren Silberohrringen, einem schwingenden violetten Rock und einer weißen Kaninchenfellstola vom Flohmarkt. Ich hatte vermutet, dass wir eine schwule Wohngemeinschaft besuchen würden, eine mit glamourösen Charakteren und bunt glitzernder Einrichtung. Ganz im Gegenteil aber betraten wir das nüchterne Gemeinschaftszimmer eines studentischen Wohnkollektivs, mit nichts als ein paar politischen Graffiti an den Wänden und nur einer Glühbirne als Lampe fürs ganze Gemeinschaftszimmer. Die Wohngenossen saßen an einem langen, wackeligen Tisch und hatten gerade mit dem Abendessen begonnen. Eine burschikose Frau, die mich mit unverhohlenem Befremden musterte, teilte Kartoffeln und Frikadellen aus. Zwei bärtige Männer verlangten gleich nach mehr. Da trotzdem genug da war, konnte man nicht umhin, uns einzuladen. Keiner der Wohngenossen aber, von denen Albert nur einen Soziologiestudenten kannte, schien begeistert von unserem Besuch zu sein. Kein richtiges Gespräch kam auf, und Alberts schöner Fummel wurde – auch von den Frauen – kaum beachtet.

Nach dem Essen verabschiedeten wir uns in der bei Spontis üblichen Unhöflichkeit, die als unkonventionell galt, und gingen durch die dunkel gewordenen Straßen zurück zum besetzten Haus. Albert entledigte sich seiner Verkleidung. In Jeans und Hemd wieder Mann geworden, zitierte er noch einmal Shakespeares Romeo und Julia, und wir begannen, verhaltene Zärtlichkeiten auszutauschen. Ich saß auf einem Schemel, er kniete vor mir wie in einem Liebesdrama des 19. Jahrhunderts. Atemberaubend sah er aus, und die Szene war so schön, dass ich ängstlich bemüht war, ihre Ästhetik zu bewahren. Die Leidenschaft aber blieb in ihren Anfängen stecken. Man hätte sich einen Ruck geben müssen, um Ernst zu machen. Zu schade für einen Einmalfick, dachte ich und entwand mich dem jugendlichen Liebhaber. Albert, dem es so wahrscheinlich auch lieber war, vergaß beim Gehen seine Brieftasche, so dass er noch einmal den Balkon hinauf und hinuntersteigen musste.

Im Winter 2002 suche ich am Berliner Mehringdamm das Schwule Museum. Ich finde es im ersten Hinterhof eines nur an der Vorderseite renovierten gründerzeitlichen Gebäudekomplexes, der auch das schwul-lesbische Café Sundström