Der Sohn des Muschelhändlers - Ashley Carrington - E-Book
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Der Sohn des Muschelhändlers E-Book

Ashley Carrington

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Beschreibung

Vom Tellerwäscher zum Millionär: Ashley Carrington erzählt eine große Geschichte von den Chancen und Schicksalsschlägen im Leben. Henry Maynards erlebt in den »roaring twenties« einen kometenhaften Aufstieg. Er schafft es vom Gelegenheitsarbeiter auf amerikanischen Ölfeldern zum Ölbaron, um dann an Floridas Küsten ein ganzes Hotelimperium zu errichten. Doch der verheerende Hurrikan von 1935 versetzt seinem Unternehmen, das durch riskante Investitionen und familiäre Intrigen bereits angeschlagen ist, den Todesstoß. Dabei waren die Machtkämpfe innerhalb der Familie unausweichlich, als Henry nicht auf sein Herz hörte und seine Jugendliebe, die aus einfachsten Verhältnissen stammende Sally heiratete, sondern vom Ehrgeiz getrieben Leona, die bildschöne Tochter eines New Yorker Wirtschaftsmagnaten …

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Ashley Carrington

Der Sohn des Muschelhändlers

Roman

Erstes Buch: Spindletop

1

Henry kämpfte gegen die einschläfernde Monotonie der ratternden Räder an. Er musste wach bleiben. Die nächste Bahnstation in einer Stadt namens Beaumont konnte nicht mehr weit sein. Bremser und Streckenwärter der Southern Pacific würden, bewaffnet mit Eisenketten und Schlagstöcken, den Güterzug nach Hobos wie ihn absuchen.

Vor der offenen Schiebetür des Güterwaggons zogen hinter einem dichten Regenschleier die weiten, sanft gewellten Ebenen von Südosttexas vorbei. Die schwarzen Wolken hatten die Märzsonne verschluckt und der Mittag schien unmittelbar in das Dämmerlicht des frühen Abends überzugehen.

Henry saß an die Holzwand des nach Viehfutter stinkenden Boxcar gelehnt. Immer wieder sackte ihm der Kopf auf die Brust. Ein dumpfer Schlag holte ihn plötzlich aus seinem Halbschlaf. Er riss die Augen auf und sah einen schmutzigen Jutesack über den Boden schlittern, worauf sich zwei abgerissene Gestalten mit dem oft geübten Schwung erfahrener Hobos aus dem Laufen heraus zu ihm in den Güterwaggon schwangen. Der eine der beiden Männer hatte ein spitzes Gesicht, das Henry unwillkürlich an eine Ratte denken ließ. Der andere erinnerte ihn mit seiner bulligen Statur und dem massigen Schädel an einen bösartigen Stier.

Henry sah den beiden sofort an, dass er mit ihnen Ärger bekommen würde. Gewöhnlich hielten Hobos zusammen. Aber es gab auch genügend Gesindel unter ihnen. Vorsichtshalber erhob er sich, um nach seinem Bündel zu greifen, das seine wenigen Habseligkeiten enthielt: eine alte Pferdedecke, vier rohe Kartoffeln, einen Kanten Brot und ein Stück Hartwurst. Rattengesicht kam ihm jedoch zuvor und stieß mit einem Fußtritt das Bündel ans andere Ende des Waggons.

»He, was soll das?«, protestierte Henry.

»Je weniger Ballast, desto leichter reist es sich«, sagte Rattengesicht hämisch.

Stiernacken griff zu einem Knüppel aus hartem Hickoryholz, der ihm an einer ledernen Schlaufe über der rechten Schulter hing. »Verdrück dich, Pisser! Mach ’n Absprung! Das is’ jetzt unser Boxcar!« Dann schwang er den Knüppel mit einer Schnelligkeit, die man von einem so gedrungenen Kerl auf den ersten Blick nicht erwartet hätte. Der Hickoryprügel traf Henry am rechten Oberschenkel. Mit einem Aufschrei ging er in die Knie, weil er plötzlich keine Kraft mehr in dem Bein hatte.

»Wenn du bei drei nicht draußen bist, prügel’ ich dich raus!«, drohte Stiernacken. »Eins …«

Henry biss die Zähne zusammen, rappelte sich hoch und wankte zur offenen Tür. Der Zug ratterte mit mäßiger Geschwindigkeit durch eine lang gezogene Linkskurve. Verzweifelt hielt Henry Ausschau nach einer günstigen Stelle zum Absprung. Ackerland lag entlang des Schienenstranges. Wenigstens würde die gepflügte Erde nach dem stundenlangen Regen nicht mehr so hart sein.

»Kauf dir das nächste Mal ’n Zugticket, wenn dir diese Art des Aussteigens nicht gefällt!«

Ein wuchtiger Stiefeltritt schleuderte Henry aus dem Güterwaggon. Himmel und Erde drehten sich um ihn. Er hörte Gelächter und sah den Güterzug für einen flüchtigen Moment auf dem Kopf fahren, als würden die Schienen am Himmel kleben. Dann brach er durch eine Hecke, die ihm Gesicht und Hände zerkratzte, während er sich selbst schreien hörte. Hinter der Hecke prallte er auf die Erde, wirbelte mehrmals um seine eigene Achse und blieb benommen am Rand eines Ackers liegen.

Stöhnend richtete er sich auf und spuckte Erde aus. Seine Glieder schmerzten, doch er hatte sich offensichtlich nichts gebrochen. Seine Hand tastete in einem Reflex nach der dünnen Lederschnur, die er um den Hals trug, und suchte den Anhänger, eine kunstvoll geschnitzte fächerförmige Muschel aus Elfenbein, flach wie ein Streichholz und nicht viel größer als eine Halbdollarmünze. Gott sei Dank, sein Talisman war noch da!

Henry sah dem Zug nach und erinnerte sich plötzlich, dass dies der Tag seines Geburtstags war. Kein schlechtes Geschenk, noch einmal heil davongekommen zu sein.

Es regnete noch immer, als er eine gute Stunde später in einem Waldstück auf eine merkwürdige Landstraße stieß. Sie sah zunächst wie ein breiter Bretterweg aus, dann stellte er jedoch fest, dass sie aus der Länge nach halbierten, etwa zwanzig Fuß langen Baumstämmen bestand, deren halbrunde Seiten nach oben zeigten. Eine Straße wie ein gigantisches Waschbrett!

Henry blieb stehen und gönnte sich eine Pause. Sein Blick folgte dieser seltsamen Landstraße. Sie verschwand in einer Biegung, etwa hundert Yard von den Bahnschienen entfernt, rechter Hand im Wald. Welchem besonderen Zweck sie wohl dienen mochte, und wohin sie bloß führte?

Einer momentanen Eingebung folgend, gab er sein Vorhaben auf, den Schienen bis nach Beaumont zu folgen und dort beim nächsten abfahrenden Güterzug sein Glück zu versuchen. Er beschloss herauszufinden, was es mit dieser hölzernen Waschbrettstraße auf sich hatte.

Henry kam zur Biegung. Die Straße aus Baumstämmen erklomm hinter der Kurve eine kleine Anhöhe. Auf halbem Weg zur Kuppe stand ein Fuhrwerk, von einem Sechsergespann gezogen und schwer mit Balken beladen. In gefährlicher Schieflage hing es am rechten Straßenrand. Bei genauerem Hinsehen sah Henry, dass das Fuhrwerk mit seinen rechten Rädern von der sicheren Straße abgekommen war und mehr im Schlamm saß, als dass es noch auf festem Untergrund stand. Der Kutscher hatte alle Mühe, die Pferde unter Kontrolle zu halten. Ein einziger heftiger Ruck der sechs Tiere hätte gereicht, um das schief hängende Gefährt ganz auf die Seite zu werfen und die Ladung Balken in den Dreck zu kippen.

Auf der Längsseite des Wagens las Henry den ohne große Sorgfalt hingepinselten weißen Schriftzug »Arthur Broderick – Rig Builder – Spindletop«.

Der Kutscher war etwa Mitte bis Ende vierzig und von untersetzter, stämmiger Gestalt. Rotblondes, lichtes Haar klebte regennass an seinem Kopf. Rotblond waren auch seine buschigen Augenbrauen und die breiten, lang heruntergezogenen Koteletten, die sein kantiges Gesicht einfassten. Sein dichter Walrossbart, unter dem nicht nur seine Oberlippe völlig verschwand, sondern auch noch ein gut Teil seiner Unterlippe, war von dunklerer Tönung und kräuselte sich wie feiner Kupferdraht.

»Gott sei Dank!«, rief der Fremde, als er Henry bemerkte. »Endlich jemand, der mir aus dieser vermaledeiten Klemme helfen kann!«

»Wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Mister«, erwiderte Henry zurückhaltend. Mit Fremden hatte er an diesem Tag keine guten Erfahrungen gemacht.

»Mein Name ist Broderick, Arthur Broderick!« Der Mann deutete auf den Schriftzug. »Falls du lesen kannst, da steht es.«

Henry zuckte mit den Achseln. »Ja, aus Spindletop.« Dieser Broderick sollte bloß nicht glauben, es mit einem Analphabeten zu tun zu haben.

»Du siehst kräftig genug aus, um mir zu helfen, mein Junge.«

»Ich bin nicht Ihr Junge, Mister Broderick.« Seit er sich vor zwei Jahren aus Onkel Jeffreys Tyrannei und Geiz befreit hatte, war er niemandes Junge mehr.

Die Augen unter den buschigen Brauen funkelten amüsiert. »Nein? So, wie alt bist du denn?«

»Bald zwanzig.«

»Wirklich? Na, du siehst aber nicht viel älter als achtzehneinhalb aus.«

Henry verkniff sich ein Grinsen der Genugtuung, war er doch an diesem Tag gerade erst siebzehn geworden.

»Wie heißt du denn?«

Henry zögerte kurz und hob dann die Schultern. »Henry, Henry Maynard.«

Arthur Broderick nickte. »Also hör zu, Henry Maynard. Du hilfst mir, den Karren buchstäblich aus dem Dreck zu ziehen, was dich kaum länger als eine halbe Stunde aufhalten wird, und ich gebe dir einen halben Dollar. Ist das ein faires Angebot?«

Henry glaubte, sich verhört zu haben. Einen halben Dollar? Unmöglich! Entweder wollte ihn dieser Arthur Broderick auf den Arm nehmen oder er hatte sie nicht mehr alle beisammen. Er wusste nur zu gut, was für Handlangerdienste gezahlt wurde. Zwei Cent hatte er für jeden Eimer Pferdemist bekommen, den er jahrelang nach der Schule in den Straßen der East Side von New York aufgesammelt hatte, ehe er als Dünger verkauft wurde. Täglich fünf Stunden Flaschen auswaschen hatte später bei einem großzügigen Drugstore-Besitzer gerade mal sechzig Cent pro Woche gebracht, was freilich noch besser gewesen war als die fünfzig Cent Wochenlohn in der Zigarettenfabrik, in die ihn sein Onkel auf Dauer hatte stecken, besser gesagt, hatte prügeln wollen.

»Einen halben Dollar?« Henry lachte spöttisch auf und schüttelte aus Unglauben den Kopf.

Arthur Broderick deutete diese Reaktion als Ablehnung. »Bist wohl ein ganz cleverer Boomer, was?«, grollte er.

Henry wusste nicht, was ein Boomer war, und das Verhalten des Mannes kam ihm immer befremdlicher vor. »Ich habe nichts dagegen, Ihnen zu helfen, Mister«, sagte er forsch, denn er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Und wenn er einen Nickel von diesem merkwürdigen Kauz bekam, konnte er mehr als zufrieden sein. Doch den wollte er sich vorher geben lassen, und deshalb sagte er: »Aber wenn ich Ihnen zur Hand gehen soll, dann will ich mindestens …«

Arthur Broderick winkte sichtlich genervt ab und ließ ihn erst gar nicht ausreden. Denn er meinte zu wissen, welche Forderung Henry an ihn zu stellen gedachte. »Ich habe keine Zeit für Gefeilsche, und das weißt du so gut wie ich. Ein Dollar, das ist mein letztes Angebot. Erpressen lasse ich mich nicht. Wenn dir auch das zu wenig ist, kannst du dich zum Teufel scheren!«

Henry sah ihn verdattert an. Der Mann meinte es ernst. Es war zwar unverständlich, aber er bot ihm tatsächlich mehr als einen vollen Wochenlohn für weniger als eine Stunde Arbeit!

»Was ist nun?«, fragte Arthur Broderick ungeduldig. »Bist du einverstanden oder nicht?«

Henry nickte. »Aber wer garantiert mir, dass Sie hinterher auch zu Ihrem Wort stehen?«

Arthur Broderick seufzte. »Henry Maynard, du musst neu in Spindletop sein. Denn sonst wüsstest du, dass Arthur Broderick seinen guten Ruf nicht wegen eines lumpigen Dollars aufs Spiel setzt«, erklärte er mit Stolz und einigem Pathos, griff in die Tasche seines Overalls und schnippte Henry eine Münze zu. »Ob hundert oder ein Dollar, ich stehe zu meinem Wort.«

Henry fing die Münze auf. Es war ein Silberdollar. Fassungslos starrte er auf das Geldstück und konnte sein Glück kaum fassen. Wenn er sehr sparsam war, konnte er davon fast zwei Wochen leben!

»Und jetzt lass sehen, ob auch du Wort hältst, und vor allem, ob du deinen Lohn wert bist!«

Hastig steckte Henry die Münze ein. »Keine Sorge! Sagen Sie nur, was ich tun soll.«

»Mindestens die Hälfte der Ladung muss runter, bevor ich versuchen kann, den Wagen aus dem Schlamm zu ziehen. Binde die Seile los und lade die obersten sechs Reihen Balken ab!«

Henry machte sich an die Arbeit, während Arthur Broderick die Pferde unter Kontrolle hielt. Er arbeitete schnell und konzentriert, und zum ersten Mal an diesem Tag wurde ihm richtig warm.

Eine gute halbe Stunde später stand das Fuhrwerk wieder auf dem festen Untergrund der Waschbrettstraße.

»Es hat geklappt. Gute Arbeit, Henry Maynard! Jetzt tut es mir um den Dollar auch nicht mehr leid«, rief Arthur Broderick gut gelaunt und half Henry beim Aufladen der Balken und Festzurren der Seile. »Soll ich dich nach Spindletop mitnehmen?«, fragte er und gab sich sofort selbst die Antwort. »Natürlich. Alle Welt will seit dem 10. Januar nach Spindletop. Also, steig auf!«

»Gibt es da in der Nähe eine Eisenbahn?«

»Sicher, die Sabine & East Texas Railroad. Sie verbindet Beaumont und Spindletop mit dem Tiefwasserhafen von Port Arthur und mit Sabine Pass unten am Golf von Mexiko.«

»Gut.«

Henry kletterte zu Broderick auf den Kutschbock, ohne groß zu überlegen. Er war ein Hobo und ohne Ziel. Solange es eine Eisenbahnlinie in der Nähe gab, war seine Welt in Ordnung. Spindletop war dann so gut wie jeder andere Ort. Und mit einem Dollar und siebzehn Cent in der Tasche konnte er es sich sogar erlauben, vielleicht mal einen Abstecher hinunter an den Golf zu machen.

Dreihundert Yard hinter der sanften Anhöhe hörte die Straße aus halben Baumstämmen auf. Sie mündete in eine Landstraße, deren aufgeweichter Untergrund wie auch die Pfützen schwarzgrün-ölig schimmerten. Der Verkehr war hier ausgesprochen lebhaft. Reiter, Kutschen, Buggies, Buckboards, Landauer und Fuhrwerke aller Art bildeten in beide Richtungen einen wahren Lindwurm und jeder schien es noch um einiges eiliger zu haben als der andere.

Henry bemerkte, dass viele Fuhrwerke wie das von Arthur Broderick mit schweren Balken beladen waren, während andere Pferdewagen große Dampfkessel und Pumpen transportierten. Bei manchen ragte langes Metallgestänge mehrere Yard über die Ladefläche hinaus. Henrys Neugier, wozu das alles dienen mochte, war geweckt.

»Was ist ein Boomer, Mister Broderick?«

Dieser sah ihn verwundert an und fragte spöttisch: »Du bist einer und weißt es nicht?«

»Ist das so etwas Ähnliches wie ein Hobo?«

Arthur Broderick lachte. »O nein, zwischen einem Hobo und einem Boomer liegen Welten. Ein Hobo lässt sich treiben, ohne Ziel und Ehrgeiz und meist wohl auch ohne Hoffnung, es eines Tages zu etwas zu bringen, während …«

»Das gilt nicht für alle!«, unterbrach ihn Henry protestierend.

Arthur Broderick warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu und fuhr, ohne auf seinen Einwand einzugehen, fort: »… während ein Boomer von einem Ölboom zum anderen hetzt und dabei jedes Mal von der Hoffnung getrieben wird, diesmal sein großes Glück zu machen.«

»Und in diesem Spindletop gibt es so einen Ölboom?«

Das kantige Gesicht von Arthur Broderick zeigte Verblüffung. »Auch davon weißt du nichts?«

»Nein«, gestand Henry.

»Jesus, Maria und Josef! Und ich habe dich für einen ausgebufften Boomer gehalten und dir einen vollen Dollar gezahlt. Dabei wärst du wahrscheinlich schon mit einem Vierteldollar überglücklich gewesen, richtig?«

Henry grinste. »Richtig.«

Arthur Broderick warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Das geschieht mir recht! Eile hat eben ihren Preis.« Er fuhr sich mit der gespreizten Hand über seinen buschigen, regennassen Walrossbart. »Mein Junge, wenn du noch niemals einen Ölboom erlebt hast, dann mach dich auf das Erlebnis deines Lebens gefasst!«

Henry sah ihn fragend an.

»Vor noch nicht einmal drei Monaten war das Land um die Hügel von Spindletop Heights, vier Meilen südlich von Beaumont, so verlassen und wertlos wie karges Weideland an tausend anderen Orten von Texas«, erklärte der Fuhrmann. »Ungewöhnlich waren bloß dieser eine Bohrturm, der da einsam in der Landschaft aufragte, und die Handvoll Männer um Patillo Higgins und Captain Anthony Lucas, die von der Idee besessen waren, ausgerechnet an diesem Ort auf Öl zu stoßen – und die schnell zum Gespött der Farmer und Einwohner von Beaumont wurden. Man hielt die Leute schlichtweg für verrückt.«

»Und wann war das?«

»Die ersten Bohrungen begannen schon 1899, also vor fast zwei Jahren, scheiterten jedoch bald. Erst im Herbst des vergangenen Jahres setzten sie die Bohrungen dort fort, wo jetzt der Gusher von Lucas 1 steht.«

»Gusher?«, fragte Henry verständnislos.

»So nennt man eine äußerst ergiebige Springquelle, und mit dem ersten Lucas-Gusher ist ein neues Zeitalter im Ölgeschäft angebrochen, das kannst du mir glauben!«, versicherte Arthur Broderick begeistert, als hätte er persönlich Grund, auf diesen Lucas-Gusher stolz zu sein. »Ich war vor sechs Jahren beim Ölboom von Corsicana dabei und später bei denen von Jacino, und auf den dortigen Ölfeldern, wo die Quellen bestenfalls fünfzig Barrel pro Tag produzierten, habe ich schon die verrücktesten Sachen erlebt. Doch im Vergleich zu Spindletop waren diese Booms ein müder Furz.«

Ein Reiter preschte im Galopp an ihnen vorbei und die fliegenden Hufe des Pferdes schleuderten den Schlamm bis zu ihnen auf den Kutschbock hoch.

Ungerührt fuhr Arthur Broderick fort: »Als hier der Lucas-Gusher am 10. Januar sechs Tonnen Bohrgestänge aus dem Loch riss und in den Bohrturm schleuderte, da schoss das Öl aus über elfhundert Fuß Tiefe in einem armdicken Strahl zweihundert Fuß in den Himmel. Das Donnern war so gewaltig, dass in Beaumont viele meinten, das Ende der Welt sei gekommen. Zehn Tage lang sprudelte das Öl als Fontäne unkontrolliert in den Himmel und überschwemmte das Land mit riesigen Ölseen, bis es den beiden Hamill-Brüdern endlich gelang, ein Ventil aufzusetzen, das Bohrloch zu schließen – und sich damit die ausgesetzte Prämie von zehntausend Dollar zu verdienen.«

»Zehntausend Dollar?« Henry versuchte vergeblich, sich so viel Geld vorzustellen.

»Ja. Aber bei so einem Gusher fallen zehntausend Dollar nicht weiter ins Gewicht. Denn die Durchsatzrate von Lucas 1 beträgt nicht lausige fünfzig Barrel pro Tag wie die Quellen beim Ölboom in Corsicana, sondern aus Lucas 1 strömen mehr als hunderttausend Barrel!«

»Sie meinen, das Öl von einem Tag füllt hunderttausend Fässer?«

»Ja, hunderttausend Barrel von jeweils einhundertachtundfünfzig Liter Fassungsvermögen«, bestätigte Broderick. »Tag für Tag.«

Henry machte ein ungläubiges Gesicht.

Arthur Broderick lenkte das Gespann um eine tiefe Mulde herum, die mit Regenwasser und Rohöl gefüllt war. »Seit dem 10. Januar ist hier die Hölle los. Spindletop hat einen Ölboom ausgelöst, wie es ihn noch nie zuvor in der Geschichte gegeben hat. Junge, der Wirbel ist unbeschreiblich. Aus allen Teilen des Landes, sogar aus Übersee strömen alle möglichen Geschäftsleute, Prospektoren, Bohrarbeiter, Glücksritter und natürlich auch viel Gesindel nach Spindletop. An einem einzigen Sonntag brachten Ausflugszüge allein fünfzehntausend Schaulustige aus den umliegenden Städten nach Beaumont, das aus den Nähten platzt. Seit zweieinhalb Monaten speit jeder Zug ganze Horden von Männern und Frauen aus, die vom Ölboom angelockt werden wie früher vom Goldrausch in Kalifornien oder später am Klondike. Vor dem Boom hatte Beaumont gerade mal neuneinhalbtausend Einwohner. Mittlerweile sind es über fünfzigtausend, und niemand macht sich die Mühe, zu zählen, wie viele inzwischen in den Zelten, Holzbaracken und Wellblechbuden von Spindletops Boomtown leben.«

»Nicht zu glauben«, sagte Henry gebührend beeindruckt und sogar ein wenig angesteckt von der Begeisterung des Mannes. »Und alle sind wegen dieses Lucas-Gushers hier?«

Arthur Broderick lachte kehlig auf. »Wer spricht denn hier von einem Gusher? Fast jede Bohrung von Spindletop hat bisher einen Gusher zur Folge gehabt. Es ist eine gigantische Springflut von Öl, die aus der Erde sprudelt. Mittlerweile stehen da draußen Hunderte von Derricks, und mit jedem Tag werden es mehr.«

»Derricks?«

»Wir Ölleute sagen Rig oder Derrick zu einem Bohrturm. Auf den Ölfeldern und in den dazugehörigen Boomtowns spricht man eine eigene Sprache.«

Jetzt verstand Henry, was die Aufschrift auf den Längsseiten des Fuhrwerks bedeutete. »Ah, Sie bauen also Bohrtürme«, sagte er.

»Eigentlich bin ich Zimmermann, doch seit meinem ersten Ölboom, dem von Corsicana, eingefleischter Boomer, und ich habe mich auf das Errichten von Derricks spezialisiert. Wir schuften Tag und Nacht in Zwölfstundenschichten, um mit den Aufträgen der Ölgesellschaften und Wildcatters halbwegs Schritt zu halten …«

»Was sind Wildcatters?«

»Unabhängige Prospektoren, die nach erfolgreicher Bohrung ihre Quelle meist an eine Gesellschaft verkaufen und sich in das nächste Ölabenteuer stürzen«, erklärte Arthur Broderick geduldig, während sie im Strom der anderen Gefährte über die schlammige Straße rumpelten. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen. »Sag mal, du hast nicht vielleicht Interesse, bei mir anzuheuern?«

»Ich weiß nicht. Außerdem verstehe ich nichts von der Arbeit eines Derrick-Zimmermanns.«

»Das lernst du bei der Arbeit, wie es alle anderen vor dir auch getan haben«, versicherte Arthur Broderick. »Ich zahle einen guten Lohn. Wer eigenständig arbeiten kann, bekommt bei mir fünf Dollar. Wer wie du erst noch angelernt werden muss, fängt immerhin mit drei Dollar an.«

»Drei Dollar die Woche?«

»Nein, pro Tag.«

Henry war sprachlos. Drei Dollar pro Tag? Das war ein Vermögen und überstieg im Augenblick seine Vorstellungskraft. Ganze siebzehn Cent hatte er in der Tasche gehabt, als ihn die beiden Dreckskerle aus dem Güterwaggon prügelten.

»Ja, du kannst einundzwanzig Dollar die Woche verdienen«, hakte Arthur Broderick nach. »Denn auf dem Ölfeld gibt es keinen Sonntag, an dem die Arbeit stillsteht. Ob Sonn- oder Feiertag, ob Tag oder Nacht – ein Ölboom kennt keine Atempause. Tja, und wenn du nach ein paar Wochen so gut bist wie die anderen, zahl’ ich dir den vollen Tageslohn von fünf Dollar.«

Fünf Dollar! Henry wusste noch immer nicht, was er sagen sollte. Brodericks Angebot klang wie aus einem Märchen. Aber Märchen waren eine Sache und die raue Wirklichkeit eine völlig andere. Er war überzeugt, dass die Sache nicht hasenrein war, doch er wollte den Zimmermann nicht kränken und sein Misstrauen offen zeigen.

»Na, Interesse, Henry Maynard?« Die Straße machte einen Bogen um ein schmales Waldstück, das wie eine Sichel in die Landschaft schnitt.

»Das kommt alles ein bisschen plötzlich für mich, Mister Broderick. Ich muss erst einmal darüber nachdenken«, antwortete Henry diplomatisch. »Und ich weiß auch gar nicht, ob das überhaupt was für mich ist. Denn ich habe noch nie ein Ölfeld oder eine Boomtown zu Gesicht bekommen.«

Sie ließen das Waldstück hinter sich und nichts behinderte mehr die Sicht auf das flache Gelände, in dem sich hier und da einige sanfte Hügel mit spärlicher, niedriger Vegetation erhoben.

»Jetzt bekommst du es«, sagte Arthur Broderick. »Das da ist Spindletop!«

Henrys Augen wurden weit vor Staunen. Ein Meer von hölzernen Bohrtürmen, auf deren stumpfen Spitzen die regengraue Wolkendecke zu ruhen schien, wuchs vor ihnen in den Himmel.

»Das Ölfeld der Gusher!«

»Was ist das?«, wollte Henry wissen und wies auf eine Feuersäule, die im Südwesten des Ölfeldes wie eine gigantische Fackel mehrere Hundert Yard in den Himmel loderte.

»Das ist Watlin’s Folly. Statt auf Öl zu stoßen, hat Hank Watlin, der Pechvogel, nur Gas gefunden«, erklärte Arthur Broderick. »Sein ganzes Geld und noch einiges von anderen Leuten hat er in diese Bohrung gesteckt – jetzt ist er im wahrsten Sinne des Wortes abgebrannt.«

»Und diese Gasfackel lässt man einfach so brennen?«

Der Zimmermann zuckte mit den Achseln. »Was soll er auch sonst machen? Wer sollte so ein Feuer ausblasen, und wer sollte die Kosten für so ein riskantes Unterfangen übernehmen? Das Gas ist so zu nichts nutze, also lässt man es brennen, bis das Feuer von selbst in sich zusammenfällt.«

Als sie die ersten, bis zu sechsundneunzig Fuß hohen Bohrgerüste erreichten, teilte sich die Landstraße zu einem weit auseinandergezogenen Fächer aus mehreren großen und vielen kleinen Wegen, die in den unglaublichen Wald aus Bohrtürmen führten und auf die sich nun der Verkehr verteilte. Wohin der Blick auch fiel, überall wurde gearbeitet, überall herrschte eine Hektik, als gelte es, ein Wettrennen um Millionen zu gewinnen – und genauso verhielt es sich ja auch.

Henry wusste nicht, worauf er sein Augenmerk zuerst richten sollte, als Arthur Broderick das Fuhrwerk durch das Labyrinth aus Bohrtürmen, Schuppen, kleinen Ölseen und langen Gräben lenkte. Die Gräben waren mit schlammigem Wasser gefüllt, das offenbar für die Bohrungen benötigt wurde.

Eine Flut fremdartiger Eindrücke stürzte auf ihn ein, begleitet von einer Vielfalt lärmender Geräusche. Überall um sie herum zischten Dampfkessel, ratterten Pumpen, sirrten Flaschenzüge, hämmerten Bohrmeißel und schepperte Bohrgestänge. Die Derricks bildeten ganze Alleen und standen teilweise so nahe beisammen, dass man sich von einem zum anderen schwingen und auf diese Weise mehrere Meilen bewältigen konnte, ohne dabei ein einziges Mal den Boden zu berühren. Und wohin Henry auch sah, waren Zimmerleute wie Arthur Broderick damit beschäftigt, neue Derricks zu errichten.

Henry hatte den Eindruck, als herrsche um ihn herum eine Konfusion, die trotz aller Geschäftigkeit keinen Sinn ergab, und doch wusste er, wie sehr dieser Eindruck trog.

Arthur Broderick wies hier und da auf einen Mann hin, der sich in seiner dreckigen Kleidung kaum von einem gewöhnlichen Bohrarbeiter unterschied, und sagte etwa: »Das ist Mr. Duffey. Vor drei Monaten hat er noch landwirtschaftliche Geräte verkauft. Jetzt schwimmt er in Öl, er soll mit Standard Oil, der mächtigen Gesellschaft von John D. Rockefeller, abgeschlossen haben. Und dieser schlaksige Mann mit dem Bowler da drüben, das ist Sam ›Slick‹ Clark, ein Bursche, der noch in den ersten Tagen des neuen Jahres mit seinen Kurzwaren über Land hausieren ging und heute mit Pachten und Beteiligungen aller Art handelt, wie früher mit Nähgarn und Fingerhüten.«

Henry bemerkte eine Gruppe von Männern, die irgendwie nicht so aussahen, als gehörten sie auf das Ölfeld. Sie trugen für die schlammige, ölverdreckte Erde nicht das richtige Schuhwerk, und die Art, wie sie sich bewegten, ließ darauf schließen, dass sie hier so fremd waren wie er. Sie wurden von einem glatzköpfigen Mann geführt, der im Gegensatz zu ihnen hohe Stiefel trug und munter durch Schlamm und Öllachen marschierte. Auf einmal blieb er stehen, rief einem Mann auf der Arbeitsbühne eines nahen Bohrturmes etwas zu – und im nächsten Augenblick schoss aus einem Ventil ein armdicker Strahl Öl. Er schoss zwischen zwei dicken Querstreben schräg in den Himmel und erreichte mindestens hundert Yard Höhe, bevor die Fontäne sich wieder erdwärts senkte und sich zu einer breiten Öldusche auffächerte, die mit dem Geräusch eines schweren Platzregens auf den Boden prasselte.

»Was machen die da?«, rief Henry fasziniert.

Arthur Broderick winkte verächtlich ab. »Da ist Ted Wright, einer von diesen smarten Ölmaklern, die Beteiligungen an Bohrunternehmen verkaufen. Er ist auf Kundenfang. Von diesen Burschen, die sich Promoter nennen, gibt es vielleicht ein Dutzend, die ihr Geschäft seriös betreiben, aber ein ganzes Heer von Schaumschlägern und Schwindlern. Die Ölgesellschaften, die oft nur auf dem Papier gegründet werden und Anteilsscheine zum Kauf ausgeben, schießen so schnell und zahlreich aus dem Boden, dass die Burschen in der Druckerei mit der Arbeit gar nicht mehr nachkommen. Und vor potenziellen Kunden das Ventil einer produzierenden Quelle aufzudrehen und ihnen ein bisschen was vom Gusher-Gefühl zu vermitteln, gehört zur Verkaufsmasche, wenn nicht gerade irgendwo eine Quelle frisch eingebracht worden ist und mit einer stolzen Ölfontäne von dem unermesslichen Reichtum kündet, der hier tief in der Erde verborgen liegt.«

»Haben Sie sich auch an Bohrungen beteiligt, Mister Broderick?«, wollte Henry wissen, als sie in eine lange, doch recht schmale Straße einbogen, die ähnlich der Waschbrettstraße im Wald mit Brettern und Balken belegt war. Auf der linken Seite standen die Bohrtürme so dicht, dass der Abstand zwischen den einzelnen Gerüstfundamenten unten manchmal kaum mehr einen Fuß betrug. In ähnlich drangvoller Enge erstreckte sich auf der rechten Seite der befestigten Straße eine scheinbar endlose Kette von Dampfkesseln aller Art und Größe.

Der rotblonde Zimmermann verneinte. »Dazu fehlen mir die Nerven und das Spielerblut. Ich bleibe lieber bei meinen Leisten. Auf diese Weise kommt man natürlich nicht zu einem großen Vermögen, schon gar nicht über Nacht, aber ich habe dennoch keinen Grund, mich zu beklagen.«

Das glaubte ihm Henry unbesehen. Wenn er Tageslöhne von drei bis fünf Dollar bezahlen konnte, dann musste es ihm mehr als gut gehen.

»Das hier ist übrigens die Boiler Avenue. Nirgendwo stehen die Derricks dichter als hier, und nirgendwo sprudelt mehr Öl pro Quadratfuß aus der Erde als auf diesen Parzellen. Die meisten dieser Parzellen sind gerade groß genug für das Bohrgerüst. Deshalb hat man die schweren Dampfkessel alle auf die andere Straßenseite verlegt.« Arthur Broderick schüttelte den Kopf. »Werde es nie verstehen, wie jemand sich freiwillig als Boiler Man verdingen kann.«

»Und warum nicht?«

»Weil die Dinger in der Hektik der Arbeit oft genug explodieren, und dann von den Heizern nichts mehr übrig bleibt. Nur ein Shooter lebt gefährlicher als ein Boiler Man.«

Auf halbem Weg die Boiler Avenue entlang, bog Arthur Broderick in eine schmale Gasse ab. Sie führte durch die Reihe der Kessel zu den dahinterliegenden Parzellen, auf denen neue Derricks gebaut wurden.

»So, da wären wir, MacKelly 4«, sagte der Zimmermann und brachte den Sechsspänner vor einem Bohrgerüst zum Halten, das schon gute fünfzig Fuß aufragte. Drei Männer turnten in luftiger Höhe über die Querverstrebungen. »Nun, hast du dir mein Angebot durch den Kopf gehen lassen, Henry Maynard?«

»Dazu habe ich bisher noch keine Minute Zeit gehabt«, erwiderte Henry ehrlich und sprang vom Kutschbock. »Das hier ist alles ein bisschen viel auf einmal.«

Arthur Broderick nickte verständnisvoll, während er die Zügel einem kräftigen Schwarzen, der eine runde Nickelbrille trug, überließ. »Du musst dich ja auch nicht auf der Stelle entscheiden. Gute Leute, die anzupacken wissen, kann ich jederzeit gebrauchen, solange der Boom währt. Wenn du Interesse hast, findest du mich entweder hier oder in meiner Hütte hinter Dave Cormicks Mietstall.«

»Oder im Blue Moon Saloon«, warf der Schwarze trocken ein.

Arthur Broderick grinste. »Du sagst es, Noah. Ein Geschäftsmann muss sich seinen Kunden zeigen und irgendwo sein Büro haben, richtig? Bei mir ist das der Blue Moon Saloon an der Main Street.«

Henry nickte. »Besten Dank für Ihr Angebot, und dass Sie mich mitgenommen haben, Mister Broderick.«

Der Zimmermann beschrieb ihm, wie er am besten ins Zentrum der Ölstadt Spindletop gelangte. Henry bedankte sich noch einmal, prägte sich die Lage von MacKelly 4 ein und machte sich auf den Weg in die Boomtown.

Der Regen hatte endlich aufgehört und Henry ging leichten Schrittes, auch wenn der schwarze ölige Dreck in dicken, schweren Klumpen an seinen Schuhen klebte und sein Magen vor Hunger knurrte. Dass ihn die beiden miesen Hobos aus dem Güterwaggon vertrieben hatten und er dabei sein Bündel lassen musste, erfüllte ihn schon längst nicht mehr mit Groll. Er hatte vielmehr das Gefühl, dem Schicksal für diese Wende dankbar sein zu müssen. Denn sonst wäre er nie in diesen Ort gekommen, wo den Leuten das Geld so locker saß. Drei Dollar Anfangslohn als Zimmermannsgehilfe – und das pro Tag! Hier konnte man ja das Geld nur so schaufeln. Er würde ein Vermögen verdienen, egal, für wen er arbeitete.

All die Monate, die er als Hobo kreuz und und quer durch die Staaten geirrt war und die er in Güterwaggons und Eisenbahndepots und in unzähligen miesen Städten und Dörfern entlang des Schienenstranges verbracht hatte, all diese Monate hatte er nicht gewusst, wohin es ihn eigentlich so ruhelos trieb und wonach er suchte. Er hatte nur gewusst, wovor er davongelaufen war, aber nicht, was er mit seiner Freiheit anfangen sollte. Nun hatte er unvermittelt sein Ziel gefunden. Und nun wusste er auch, was er zu tun hatte. Lachend trat Henry in eine ölschimmernde Regenpfütze, dass das Wasser zu beiden Seiten nur so davonspritzte, und rief ausgelassen in den Lärm hinein: »Spindletop, aufgepasst, hier kommt Henry Maynard!«

2

Sogar im schmeichelhaften Licht der beginnenden Dämmerung sah die Boomtown von Spindletop primitiv und schäbig aus. Die überwiegende Zahl der Gebäude bestand aus frischen Balken und Brettern, die ebenso plan- wie lieblos und in großer Hast zusammengezimmert worden waren. Schnelligkeit hatte hier ganz offensichtlich Vorrang vor allem anderen. Schuppen, Wohnbaracken, Büros, Kneipen, Geschäfte, Hotels, Werkstätten, Spielhallen und Bordelle waren quasi über Nacht aus dem Boden geschossen. Zwischen den Bretterhäusern und den wenigen Wellblechhütten drängten sich auch Zelte jeder Art und Größe.

Etwas so Hässliches wie die Boomtown von Spindletop hatte Henry noch nie gesehen, und er hatte nicht wenig gesehen. Doch auf den schlammigen Straßen und Gassen, in den Kneipen, Büros und Geschäften herrschte ein unglaubliches Leben und Treiben: Das Gewoge besaß etwas mitreißend Lebendiges, etwas Fiebriges und Atemloses.

Henry ließ sich vom Strom der Menschen mitziehen und versuchte, möglichst viel von dem, was um ihn herum geschah, aufzunehmen. Da standen Frauen in auffälligen und sehr freizügigen Pyjamas in den Gassen und boten ihre Liebesdienste an. Wertpapiermakler und Promoter neuer Ölgesellschaften machten mit großen Reklametafeln, aber auch mit der Flüstertüte vor der Tür ihrer Bretterbüros auf sich aufmerksam. Betrunkene torkelten aus den Saloons auf die Straße oder hinein in die nächste Kneipe. Aus den Tavernen drang Gegröle und hier und da der Lärm einer Prügelei, aus Tanzhallen und Freudenhäusern kamen Gelächter und Musik, aus den Werkstätten schallte der harte Klang der Schmiedehämmer, und vor den Esslokalen, die ihren Namen häufig mit der Bezeichnung Café verbanden, mühten sich die Türsteher, die Gerichte ihres Etablissements marktschreierisch anzupreisen und den allgemeinen Lärm mit ihrem Geschrei zu übertönen. Dazu gesellten sich die Rufe und Flüche von eiligen Reitern und Fuhrleuten, die sich einen Weg durch das Gewimmel zu bahnen versuchten.

Als Henry eine Seitenstraße hinunterging, blieb sein Blick an deren Ende an einem großen Schild hängen, auf dem mit großen, roten Buchstaben geschrieben stand: »Wilbert Whitmans Latrinen – Nur 10 Cent!«

Zehn Cent für einen Gang zur Toilette? Er konnte es kaum glauben. Aber in einer Boomtown lief wohl alles anders, als er es gewohnt war. Das Schild machte ihm bewusst, dass sein Körper schon seit geraumer Zeit einem menschlichen Bedürfnis nachgehen wollte, das sich nicht irgendwo hinter einem Haus in einer dunklen Ecke auf die Schnelle erledigen ließ – schon gar nicht in einer so belebten Boomtown. Zähneknirschend beschloss er daher, die zehn Cent zu opfern. Denn er wollte so schnell wie möglich eines der Esslokale aufsuchen und sich zur Feier des Tages nach langer Zeit ein ordentliches warmes Gericht gönnen.

Er ging bis zu dem Schild und gelangte auf einen kleinen freien Platz, auf dem dieser clevere Mister Whitman eine große Grube ausgehoben und darüber sechs Latrinenhäuschen errichtet hatte. Vor jedem hatte sich eine Schlange von über einem Dutzend Jungen, Männern und Frauen gebildet, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, um ihre zehn Cent bezahlen und dem stinkenden Örtchen ihre Aufwartung machen zu dürfen.

Während Henry in der Schlange wartete, sah er einer Wahrsagerin in der bunten, extravaganten Kleidung einer Zigeunerin bei der Arbeit zu. Sie hatte am Rande des Latrinenplatzes ihr Zelt aufgeschlagen und las unter dem Vordach erst für einen älteren Bohrarbeiter und danach für einen gut gekleideten Herrn sowie eine herausgeputzte Frau die Karten.

Ein Mann, der zu ihm trat und ihm die Hand auf die Schulter legte, riss Henry aus der Beobachtung der gestenreichen Wahrsagerin.

»Überlässt du mir deinen Platz?«

Henry wandte überrascht den Kopf. Vor ihm stand ein Mann in Anzug und Krawatte und sah ihn erwartungsvoll an. »Wie bitte?«, fragte Henry verwirrt.

Der Mann machte eine ungeduldige Bewegung. »Du bist gleich an der Reihe, Junge. Ich möchte deinen Platz.«

Henry wollte protestieren, da hielt ihm der Fremde ein Geldstück hin. »Ein Dollar, das ist doch der übliche Preis bei euch Latrinenjungen, nicht wahr?«

Henry wusste nicht, wie ihm geschah. Das Übliche? Latrinenjunge? Wovon sprach der Kerl überhaupt?

Die Tür vor ihnen ging auf. Der Mann drückte Henry den Dollar in die Hand, warf zehn Cent in die Blechbüchse der alten Frau, die für Whitman die Gebühr kassierte und sich unablässig ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase hielt, und verschwand im Abort.

Henry bekam von hinten einen groben Stoß zwischen die Schulterblätter, drehte sich um und blickte in das grimmige Gesicht eines Jungen, das mit seinen vielen Pockennarben einer Kraterlandschaft glich.

»Mach Platz, und stell dich wieder hinten an, Kumpel!«, sagte der hagere Junge, der höchstens sechzehn Jahre alt sein konnte. »Es reicht, dass du mir ’nen Kunden vor der Nase weggeschnappt hast. Jetzt bin ich an der Reihe.«

Henry trat zur Seite und fragte ungläubig: »Die zahlen einem einen Dollar dafür, dass man sie vorlässt?«

»Klar, die Burschen machen doch Geld wie Heu, und in der halben Stunde, die sie warten müssten, wenn sie sich hinten anstellen, machen sie mehr als ’nen müden Dollar.«

Henry schüttelte den Kopf. Erst hatte er einen Dollar von Arthur Broderick für eine lausige halbe Stunde Arbeit erhalten – und nun noch einmal dieselbe unglaubliche Summe dafür, dass er jemandem den vordersten Platz vor dem Latrinenhaus überlassen hatte.

»Ich glaube es nicht«, murmelte er. Ein Schauer der Erregung durchlief ihn, und schnell fragte er den pockennarbigen Jungen: »Sag mal, wie oft passiert denn so etwas, ich meine, dass einer kommt und dir einen Dollar für deinen Platz gibt?«

»Heute bin ich erst auf vierzehn gekommen. Ist ’n langsamer Tag mit viel Konkurrenz«, antwortete der Pockennarbige mit einem bissigen Unterton und zog dabei vielsagend die Augenbrauen hoch.

Henry sah ihn ungläubig an. »Du hast mit Schlangestehen heute schon vierzehn Dollar verdient?«

»Mann, sag ich doch die ganze Zeit. Ist ’n schwacher Tag. Will dir ja nicht auf die Zehen treten, Kumpel, aber wenn immer mehr Neue wie du hier auftauchen, versaut das uns Alten das Geschäft.«

»Oh, das war nicht meine Absicht«, sagte Henry, ganz benommen von dem eben Gehörten. Vierzehn Dollar an einem Tag. Und das nannte das Bürschchen auch noch einen schwachen Tag! Träumte er, oder war die Welt hier völlig verrückt geworden?

»Soll ich dir ’n guten Rat geben, Kumpel?«

»Sicher, ich heiße übrigens Henry.«

»Und ich Bonefish«, sagte der Junge mit kühler Geschäftsmäßigkeit.

»Bonefish?« Henry machte ein verwundertes Gesicht.

»Passt dir mein Name vielleicht nicht?« Die Stimme des Jungen war nun scharf und angriffslustig.

»He, wenn Bonefish dein Name ist, geht das für mich in Ordnung«, versicherte Henry.

»Gut.« Der Junge nickte knapp mit dem Kopf, als hätte er gnädig eine Entschuldigung akzeptiert. »Also, Henry: Statt uns hier die Butter vom Brot zu nehmen, wie wär’s, wenn du dir ’n Stammplatz drüben bei Holbrooks Latrinen erarbeiten würdest? Die stehen zwar noch keinen Tag und haben deshalb auch noch keine Stammkundschaft, aber es wird bestimmt nicht lange dauern, bis Holbrooks Unternehmen genauso floriert wie das von Whitman und damit auch dein Geschäft.«

»Holbrooks Latrinen, ja?«

Bonefish nickte. »Sind auf der anderen Seite der Main Street, gleich hinter Tom Thompsons Freudenhaus.«

»Danke«, murmelte Henry verdattert.

»Jederzeit.«

»Oh, noch etwas, Bonefish.«

»Ja?«, fragte der Junge genervt.

»Wo kann man gut und preiswert essen?«

Bonefish lachte spöttisch. »Wenn du gut und preiswert essen willst, musst du zu Muttern nach Hause gehen«, antwortete er bissig. »Wo du aber hier was Ordentliches aufgetischt kriegst und nicht gleich bis auf den letzten Cent ausgenommen wirst, ist das Café Topaz an der Ecke Main und Brandon Street. Haben immer nur ein Gericht. Heute gibt’s da Chili mit Reis und schwarzen Bohnen.«

»Klingt nicht schlecht.«

»Dann lass dich nicht länger aufhalten, Kumpel!«

»Henry ist mein Name.«

»Lass dich nicht aufhalten, Henry!« Bonefish verdrehte genervt die Augen.

»Keine Sorge, ich vermies’ euch hier nicht noch einmal das Geschäft«, versprach Henry, als er nun die wenig freundlichen Blicke mehrerer anderer Jungen bemerkte. Offensichtlich betrachteten sie Whitmans Latrinen als ihr Revier, in dem Fremde wie er nichts zu suchen hatten, es sei denn, sie wollten Ärger bekommen.

»Ist ’n verdammt gesunder Vorsatz«, meinte Bonefish trocken.

Henry stellte sich, nachdem er Bonefish den Grund seines Kommens erklärt hatte, an einer Schlange hinten an, zahlte eine gute halbe Stunde später seine zehn Cent und war noch immer völlig durcheinander, als er schließlich das Café Topaz fand und das Glück hatte, in dem besseren Schuppen auf Anhieb einen freien Platz zu ergattern.

Er bestellte das Chiligericht sowie ein Glas Wasser und dachte über das nach, was er soeben erlebt hatte. Brodericks Angebot von drei Dollar pro Tag, das ihm noch vor einer Stunde traumhaft vorgekommen war, hatte neben den sagenhaften Tageseinnahmen von Bonefish allen Glanz verloren. Warum sollte er sich für drei Dollar den Tag auf einem Bohrgerüst abschuften, wenn er für bequemes Schlangestehen vierzehn Dollar und mehr verdienen konnte?

Der Kellner knallte ihm das Essen und einen Emaillebecher mit Wasser auf den Tisch. »Macht fünfunddreißig Cent«, verlangte er unfreundlich und fügte mit grobem Nachdruck hinzu: »Ohne mein Trinkgeld.«

Henry warf einen Blick auf den Teller. »Was? Für so eine dünne Suppe und ein Glas Wasser …«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Der Kellner nahm ihm den Teller weg und setzte diesen einem Gast am Nebentisch vor. Gleichzeitig packte er Henry mit der linken Hand am Kragen und zerrte ihn vom Stuhl hoch.

»He, was soll das?«, protestierte Henry.

»Wer meckert, fliegt raus!«, beschied ihn der Kellner barsch und rief den bulligen Türsteher herbei.

Henry flog aus dem Café und landete im Morast der Straße. Als er sich aufrappelte und eher fassungslos als wütend den gröbsten Dreck von seiner Kleidung klopfte, sah er, dass sein Stuhl im Lokal in der Zwischenzeit schon wieder besetzt war und dass keiner der Gäste auf seinen Rausschmiss auch nur mit einem flüchtigen Blick vom Essen hoch reagiert hatte.

Im nächsten Lokal vermied er jeden Kommentar über die äußerst bescheidene Qualität und den horrenden Preis des angeblichen Wursteintopfes, in dem er vergeblich nach der Wursteinlage suchte. Kaum hatte er seinen Teller geleert, da drängte man ihn auch schon äußerst rüde, gefälligst seinen Platz zu räumen. Bereitwillig kam er der Aufforderung nach, denn in dieser primitiven Suppenspelunke hielt es ihn wahrlich keine Minute länger als unbedingt nötig.

Inzwischen hatte sich die Dunkelheit über Spindletop gelegt. In den Straßen, die nun von zahllosen Petroleumlampen erhellt wurden, ging es noch genauso geschäftig zu wie am Tag, und auch der vielfältige Lärm auf dem Ölfeld hatte um keine Spur nachgelassen. Ziellos streunte Henry durch die Boomtown. Immer wieder wurde er von Frauen angesprochen, die ihm für fünfzig Cent Wollust versprachen und den Himmel auf Erden.

Als sein Blick auf die lang gestreckte Reklametafel des Blue Moon Saloon fiel, einem der etwas solider gebauten Häuser von Spindletop, das sogar mit einem Obergeschoss versehen war, erinnerte er sich an Arthur Broderick. Der Zimmermann war der Erste, den er hier kennengelernt hatte, und in der Hoffnung, ihn hier wieder zu treffen und mit ihm vielleicht ein wenig reden zu können, betrat er das Lokal. Im großen Schankraum, hinter dem sich eine Spielhalle auftat, drängten sich an der langen Theke und an den Tischen die Männer, die ihrer Kleidung und Redeweise nach zu urteilen allen sozialen Klassen entstammten. Der Bretterboden war dick mit Sägemehl bestreut, das längst die dreckig-ölige Farbe der aufgeweichten Erde in den Straßen angenommen hatte und zusammenklumpte. Die Luft war rauchgeschwängert und überall standen Blecheimer. In ihnen landete der braune Saft, den die Männer mit Kautabak in den Backen regelmäßig in einem kurzen, scharfen Strahl ausspuckten. Oft genug verfehlte die ekelhafte Ladung jedoch den Eimer und klatschte auf die Dielen, was aber keinen bekümmerte.

Henry kam sich wie in einem Hexenkessel vor. Den Gesprächsfetzen, die an sein Ohr drangen, während er nach Arthur Broderick Ausschau hielt, entnahm er, dass die Männer nur ein einziges Thema kannten: Öl.

Er konnte den Derrickbauer weder im Schankraum noch in der Spielhalle an den Tischen entdecken. Aber vielleicht kam Arthur Broderick ja später noch.

Henry zwängte sich zur Theke durch, bestellte ein Bier und zuckte nicht mit der Wimper, als der Mann hinter dem Tresen den unglaublichen Betrag von fünfzehn Cent verlangte. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass in Spindletop andere Maßstäbe galten. Die Preise waren gesalzen, geradezu astronomisch hoch. Aber dafür konnte man ja auch die Verdienstmöglichkeiten als atemberaubend bezeichnen.

Er blieb fast zwei Stunden im Blue Moon Saloon, ohne dass Arthur Broderick sich blicken ließ. Die Zeit wurde ihm jedoch nicht lang, denn an der Theke wurde er aufmerksamer Zuhörer unglaublicher Gespräche und staunender Zeuge von noch unglaublicheren Geschäften.

Da verhandelte der Vertreter einer Ölgesellschaft mit einem unabhängigen Prospektor, einem Wildcatter, wie Henry sich erinnerte, der seine Ölquelle verkaufen wollte und eine Million verlangte, eine Summe, die Henry schwindelig machte. Am Tisch hinter ihm brachte ein Makler innerhalb einer halben Stunde sechs Parzellen von jeweils hundert Quadratfuß an den Mann. Der Preis betrug fünfzehntausend Dollar pro Parzelle. Einer der Kunden, offenbar ein noch cleverer Spekulant als der Verkäufer, stellte einen Scheck aus, nahm die Kaufurkunde an sich und verkaufte das Stückchen Land eine Stunde später an der Theke an einen frisch eingetroffenen Boomer für zwanzigtausend Dollar.

Henry war fassungslos. Der Mann hatte innerhalb einer Stunde fünftausend Dollar verdient – und keiner fand irgendetwas Außergewöhnliches dabei! Die Gespräche im Umkreis verstummten nicht für eine Sekunde.

Henry schnappte auch Unterhaltungen auf, bei denen es um den Bankrott kometenhaft aufgestiegener Gesellschaften ging oder um Schwindelfirmen, Wechselbetrüger, unklare Besitzverhältnisse aufgrund fehlerhafter Landkarten und skrupelloser Promoter, die Fantasieparzellen gleich ein Dutzend Mal an ahnungslose Neulinge verhökerten und am nächsten Tag nicht mehr aufzufinden waren. Der Ölboom war wie ein Fieber, das jeden packte, der ihm ausgesetzt war, das spürte Henry mit jeder Minute mehr.

Er schaute auf die Uhr über der Theke. Es wurde Zeit, sich nach einem einigermaßen preiswerten Quartier umzusehen. Der mangelnde Schlaf der vergangenen Nacht und die beiden Biere machten sich langsam bemerkbar.

Er verließ den Blue Moon Saloon und klapperte in den nächsten Stunden alle Hotels und Boarding Houses ab, ohne ein freies Zimmer aufzutreiben. Auch in den Zeltunterkünften, wo einfache Feldbetten auf nackter, feuchter Erde in langen Reihen aufgestellt standen, hatte er kein Glück.

»Alle drei Schichten sind belegt«, bekam er immer wieder zu hören, und er fand heraus, dass sich drei Männer eine Pritsche teilen mussten. Alle acht Stunden sank demnach ein anderer erschöpfter und verdreckter Boomer auf jedes der Feldbetten und zahlte dafür anderthalb Dollar, ohne dass dafür die Bettwäsche gewechselt wurde. Sogar die Dielen der Pensionen und die Lobbies der Hotels waren ausgebucht. Nach Mitternacht wurden dort Decken ausgerollt, worauf man pro Schlafplatz mindestens einen Dollar kassierte. Henry konnte es nicht fassen, dass in Spindletop kein einziger Schlafplatz mehr zu finden war, obwohl er an jede Tür klopfte und in jeder noch so schäbigen Unterkunft nachfragte. Um elf Uhr, als sich die Nacht unter einem wolkenlosen Himmel schon empfindlich abgekühlt hatte, musste er sich der Einsicht beugen, dass es im ganzen Ort kein freies Bett mehr gab. Die Aussicht, die Nacht im Freien zu verbringen, schreckte ihn zwar nicht, entbehrte aber jeder abenteuerlichen und verlockenden Komponente.

Er streifte durch die halbdunklen Gassen, die an der Rückfront der Häuser entlangführten, und suchte nach einem einigermaßen geschützten und vor allem trockenen Winkel, wo er sich hinlegen konnte. Da bemerkte er die mit Wellblech überdachte Veranda eines Hauses, auf der sich schon mehrere Gestalten schlafen gelegt hatten. Beim Näherkommen sah er, dass hier einige Männer auf Strohsäcken lagen. Zwei Säcke waren noch unbelegt. Da die Männer, wie ihr lautes Schnarchen verriet, fest schliefen und niemand zu sehen war, den er nach dem Preis für einen freien Schlafplatz hätte fragen können, zögerte Henry nicht lange und machte es sich kurzerhand auf einem der platt gedrückten Strohsäcke so bequem wie möglich. Am nächsten Morgen, wenn ein Kassierer auftauchte, konnte er ja immer noch bezahlen. Und wenn er etwas Glück hatte, kam er vielleicht sogar ohne Bezahlung davon.

Henry war hundemüde, sodass ihn der Geruch von Schimmel, kaltem Schweiß und Öl, der dem Jutesack entströmte, so wenig störte wie das Schnarchen der Männer oder der Lärm aus den Saloons und vom Ölfeld her.

Augenblicklich war er eingeschlafen. Und scheinbar auch nur einen weiteren Augenblick später rissen ihn derbe Stiefeltritte jäh aus dem Schlaf.

»Mach, dass du hochkommst!«, forderte ihn eine raue Männerstimme auf. »Los, wach auf, du Schmarotzer!« Und wieder traf ihn ein Fußtritt in die Seite.

Benommen und mit schmerzenden Rippen kam Henry auf die Beine. Er sah sich von fünf wütenden Männern umringt, von denen drei so abrupt aus ihrem Schlaf gerissen worden waren wie er, was sie alles andere als versöhnlich stimmte.

»Ich wusste nicht, dass die Plätze schon belegt waren, Mister!«, versicherte Henry hastig und entschuldigte sich. »Es war niemand da, den ich hätte fragen können. Ich bin ja bereit zu zahlen …«

»Gib ihm eins auf die Nase, Greg!«

Die Männer stießen ihn im Kreis herum und hätten ihm vermutlich eine gehörige Tracht Prügel verpasst, wenn dieser Greg, ein Kleiderschrank von einem Mann, nicht so rasch sein Interesse an ihm verloren hätte.

»Verdammt, und ich bin müde«, sagte er, packte Henry an der Jacke und schmiss ihn von der Veranda, als wäre er ein Federgewicht. Der alte Hut des Hobo flog in hohem Bogen hinter ihm her. Zum dritten Mal innerhalb weniger Stunden fand Henry sich mit schmerzenden Gliedern im Dreck wieder, und ihn beschlich die Gewissheit, dass auch eine Boomtown wie Spindletop kein Paradies ohne Schönheitsfehler war.

»Schaffst du es aus eigener Kraft, oder soll ich dir hochhelfen?« Die Stimme, die zwischen Spott und Mitgefühl schwankte, kam aus der Dunkelheit hinter ihm.

Henry drehte sich um und blickte auf. Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. Sie gehörte einem jungen Burschen in Knickerbockerhosen, die ihm mindestens eine Nummer zu groß und voller Flicken waren. Über einem ebenfalls zu weiten Pullover trug er eine alte Schaffelljacke ohne Ärmel. Das Gesicht des Jungen konnte er nicht erkennen. Es lag im Schatten einer ledernen Ballonmütze mit breitem Schirm.

»Es geht schon«, sagte Henry, ergriff aber dennoch die hilfreiche Hand. Nach den Erlebnissen der letzten Stunden war diese Geste zu einladend, als dass er sie hätte abweisen wollen.

»Hier, dein Hut!«

»Danke.« Henry klopfte sich mit der alten Kopfbedeckung den gröbsten Schmutz von der Kleidung und ging los, ohne zu wissen, wohin er sich begeben sollte.

Der Junge mit den Knickerbockerhosen und der Ballonmütze blieb an seiner Seite. »Sag mal, willst du dir das zur Gewohnheit machen?«

»Was?«

»Na, bei jeder Gelegenheit im Dreck zu landen.«

Henry sah ihn überrascht an. Irgendetwas irritierte ihn an dem Jungen. »Wie meinst du das?«

»Vorhin bist du doch auch schon im hohen Bogen aus dem Café Topaz geflogen. Keine schlechte Leistung für einen Neuankömmling«, sagte er spöttisch. »Aber wenn du so weitermachst …«

»Woher weißt du das mit dem Café?«, fragte Henry verblüfft.

»Ich hatte einen Logenplatz auf der anderen Straßenseite, wo ich abends immer den Spindletop Advertiser verkaufe.«

»Freut mich, dass wenigstens du deinen Spaß gehabt hast«, antwortete Henry verdrossen.

»Und zu allem Übel hast du auch noch keine Unterkunft gefunden.«

»Sehr zutreffend beobachtet«, sagte Henry bissig.

»Wann bist du denn angekommen?«

»Heute Nachmittag.«

»Du hast Glück, dass ich dir über den Weg gelaufen bin.«

»Was du nicht sagst! Und wieso?«

»Weil ich dir für heute Nacht eine Schlafstelle besorgen kann.«

»Wirklich?« Henry war bereit, seinen Groll ganz schnell zu vergessen.

»Beim Prediger im Barbierladen wird heute einer der Sessel frei bleiben.«

»Bei welchem Prediger?«

»Nathan Hodger ist Barbier, Drogist und Zahnreißer in einem und hat sein Geschäft auf der Brandon Street«, erklärte Ballonmütze. »Er teilt sich die Bretterbude mit Les Thayer, dem Doc aus Beaumont, der im hinteren Teil seine Halbtagspraxis hat. Und da Nathan beim Rasieren angeblich die besten Predigten hält, die man zwischen New Orleans und Houston hören kann, nennt man ihn mit Spitznamen ›Prediger‹ oder ›Holy‹ Hodger.«

Henry griente. »Und du bist sicher, dass der Sessel im Barbierladen wirklich frei ist?«

»Todsicher. Der Mann, der dort seinen angestammten Schlafplatz hatte, hat nämlich vor anderthalb Stunden auf dem Bohrturm Big Salute seine kurze Karriere als Shooter beendet.«

»Shooter?« Henry erinnerte sich, diese Bezeichnung schon von Arthur Broderick gehört zu haben.

»Sprengmeister, Nitro-Engel. Der Kerl war eigentlich ein Roughneck, das ist jemand, der ohne jede Erfahrung bei einer Bohrcrew als Handlanger anfängt. Aber der Bursche hatte keine Zeit und wollte es ganz schnell zu was bringen. Die fetten Prämien, die ein Shooter einstreicht, der Bohrlöcher frei sprengt, hatten es ihm angetan. Wie gesagt, seine Karriere war kurz, keine drei Wochen. Heute hat er sich auf Big Salute selbst den letzten Salut gegeben und sich mit hundert Pfund Nitroglyzerin dem Allmächtigen empfohlen. Von ihm ist nicht mal mehr genug übrig geblieben, um damit eine Zigarrenkiste zu füllen.«

Henry schluckte. »Wie grässlich.«

»Ja, und wie alltäglich. Also, was ist, bist du nun an dem Barbiersessel interessiert oder nicht?«

»Und ob!«

»Gut, dann komm zehn Minuten nach Mitternacht in die Brandon Street, wenn die zweite Schlafschicht die erste abgelöst hat. Ich werde vor dem Laden auf dich warten.«

»Das ist unheimlich nett von dir«, bedankte sich Henry, und seine Irritation wuchs, als sie ins helle Licht der Petroleumlaternen kamen.

»Diese Nettigkeit bringt mir fünfundsiebzig Cent, denn die kassiere ich ein, damit wir uns gleich richtig verstehen. Immerhin habe ich ja auch meine Mühe mit dir gehabt. Also dann: zehn Minuten nach Mitternacht! Ich muss noch was erledigen.«

Sie hatten fast die Ecke erreicht, wo die Gasse in die hell erleuchtete und noch immer unglaublich belebte Main Street mündete. Spindletop kannte offensichtlich keine Nachtruhe.

»Wie heißt du überhaupt?«

»Henry Maynard. Und du?«

»Sally Floyd.«

Er machte ein dummes Gesicht. »Sally?«

»Ja, Sally.« Und als sie einen Schritt weitergegangen waren, vertrieb das Licht einer Laterne den nachtdunklen Schatten, den der Schirm der Ballonmütze bisher auf das Gesicht geworfen hatte – auf das Gesicht eines Mädchens!

Henry blieb vor sprachloser Überraschung der Mund offen. Die Gestalt mit den Knickerbockerhosen aus derber Wolle und der Ballonmütze, die er für einen schmächtigen Jungen gehalten hatte, entpuppte sich nun als ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen mit kurzem, kastanienbraunem Haar.

Sallys Haut war jedoch nicht die einer Weißen, sondern hatte eine leichte Tönung wie Mandelschalen oder Milchkaffee. Keine Frage, in ihren Adern floss auch schwarzes Blut.

Sie lachte über seinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Sieh zu, dass du pünktlich bist, Henry! Sonst geht der Sessel an den nächstbesten Boomer, der ohne Unterkunft durch die Straßen irrt, und solche gibt’s hier im Dutzend billiger«, ermahnte sie ihn spöttisch, tippte mit einem Finger lässig gegen den Schirm ihrer Lederkappe und eilte die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Verstört blickte Henry ihr nach. Ballonmütze hieß Sally Floyd und war ein hellhäutiges Mulattenmädchen.

Das Haus, in dem der Barbier Nathan »Holy« Hodger und der Arzt Les Thayer ihrem Beruf nachgingen, wäre an jedem anderen Ort als zugige Bretterbude armer Leute bezeichnet worden. In Spindletop dagegen zählte es zu den solideren Gebäuden. Als Henry zehn Minuten nach Mitternacht um die Ecke kam, saß Sally Floyd vor dem Laden auf der Stufe zur Veranda. Im Schein einer Petroleumlampe war sie in ein Buch vertieft. Er nahm an, dass es sich um die Bibel handelte. Worin sollte eine Farbige auch sonst lesen? Es war erstaunlich genug, dass sie überhaupt lesen konnte. »Fromme Lektüre vor dem Schlaf?«, fragte er mit leichtem Spott.

Sie blickte auf. »Nein, Grammatik.«

Er machte ein verständnisloses Gesicht. »Was?«

»Grammatik, die Lehre vom Aufbau der Sprache und wie sie funktioniert, also die Gesetze, Satzbau und all das.«

»Und warum liest du so ein Zeug?«

»Um zu lernen«, antwortete sie schlicht.

Er lachte. »Was gibt es denn da noch zu lernen? Sprache spricht man, Sally, und ich verstehe dich ganz gut. Wozu also der Firlefanz mit dieser Grammatik und all dem vornehmen Zeugs?«

Sally zuckte die Achseln. »Ist nun mal ein Spleen von mir – so wie ich auch lieber saubere als schmutzige Sachen trage.« Sie schlug das Buch zu und blies die Flamme im Glaszylinder der Lampe aus. »Komm, ich zeige dir, wo du dich schlafen legen kannst. Du wirst müde sein.«

»Gute Idee.«

»Du bezahlst mich besser jetzt.«

»Misstrauisch?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich leide bloß unter einem Mangel an Gutgläubigkeit.«

Henry konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Diese Sally Floyd war nicht auf den Mund gefallen und hatte Humor, wenn er bisher auch allein auf seine Kosten gegangen war. »Na, dann will ich dir mal das Geld geben, damit du keine schlaflose Nacht hast«, sagte er und griff in die Hosentasche.

»Irrtum. Du hättest sie, Henry«, erwiderte sie selbstbewusst und steckte die fünfundsiebzig Cent ein. Sie klemmte sich das Buch unter den Arm, nahm die Lampe auf und ging zur Ladentür, deren Glaseinsatz von innen mit einem gerafften Vorhang dekoriert war. Rollläden aus Bambus verwehrten den Blick ins Innere des Barbierladens.

»Sei so leise wie möglich! Wäre nicht so gut, wenn wir die anderen beiden aufwecken würden.«

Er nickte und sie öffnete die Ladentür einen Spalt. Er folgte ihr auf Zehenspitzen. Im Dunkel machte er eine lange Kommode mit einer hellen Steinplatte aus, über der drei große Spiegel mit geschwungenen Rahmen hingen. Vor jedem Spiegel stand einer jener breiten Barbiersessel mit Armlehnen und Nackenstütze, die sich nach hinten kippen ließen. Die hinteren beiden waren belegt, und das tiefe, gleichmäßige Atmen und Schnarchen der Männer verriet, dass sie fest schliefen. Es roch im Laden nach Pomade, Bay-Rum-Rasierwasser, kaltem Rauch, feuchter Kleidung, Dreck und Öl.

»Mach es dir bequem, und sieh zu, dass du ein paar Stunden Schlaf kriegst«, flüsterte Sally.

»Und wo schläfst du?«

Sie deutete auf eine Tür links von der Kommode, genau gegenüber der Ladentür, die halb offen stand und durch die man in den hinteren Teil des kleinen Bretterhauses gelangte. »Auf dem Operationstisch von Doc Thayer.«

Henry verzog das Gesicht. »Das ist mir ein Barbiersessel aber zehnmal lieber.«

»Dafür kann ich mich aber ausstrecken«, raunte sie, als wollte sie ihm nicht das letzte Wort überlassen, und huschte lautlos wie ein Schatten ins Nebenzimmer.

Henry setzte sich in den Barbiersessel, legte den Hebel um, der die Sperre des Kippmechanismus löste, und sank in eine halbwegs bequeme Rückenlage. Er sah noch den schwachen Lichtschimmer unter der Tür, der aus dem Behandlungszimmer des Arztes in den Barbierladen drang. Sally musste die Petroleumlampe wieder angezündet haben. War sie denn nicht müde? Ob sie wieder in diesem Grammatikbuch las? Aber was machte er sich darüber bloß für Gedanken? Ihm sollte es doch egal sein, was diese Sally Floyd las. Ihre Sache, wenn es ihr Spaß machte. Und dass sie ihm den Schlafplatz besorgt hatte, machte ihren Spleen allemal wett. Henry drehte sich auf die Seite und war im nächsten Moment eingeschlafen.

Er träumte von einem wogenden Meer aus Öl, auf dem ein Güterwaggon trieb. Er stand in der offenen Tür und schöpfte das Öl mit einer überdimensionalen Kelle in die leeren Fässer, die hinter ihm standen. Jede Kelle war ein Vermögen wert, doch mit jedem Fass, das er füllte, sank der Güterwaggon auch ein wenig tiefer in die zähflüssigen Ölwogen. Wenn ihm doch nur jemand helfen würde …

Eine Hand rüttelte ihn unsanft und eine Stimme zischte scharf an seinem Ohr. »Henry! … Henry, los! Wach endlich auf!«

Die Bilder des Traumes versanken in den dunklen Tiefen des Unterbewusstseins, während Henry hochschreckte und die Augen aufschlug. Es war Sally, die ihn wach gerüttelt hatte. »Was ist? Haben wir schon Morgen?«, murmelte er schläfrig.

»Es ist kurz vor sieben. Steh auf! Hodger ist gerade vorgefahren. Ausgerechnet heute kommt er eine halbe Stunde früher als sonst!«, stieß sie hastig und mit gedämpfter Stimme hervor. »Er wird jeden Augenblick in den Laden kommen, und er darf dich auf keinen Fall hier vorfinden, wenn wir nicht Ärger bekommen wollen. Also, beweg dich!«

Henry rutschte aus dem Barbiersessel und folgte Sally in das Behandlungszimmer von Doc Thayer. Und kaum hatte sie die Tür hinter ihnen geschlossen, als sie Nathan »Holy« Hodger, Psalmen deklamierend, in den Laden kommen hörten.

Henry grinste. »Noch mal davongekommen!«

»Ja, um Haaresbreite.«

»Was meinst du, soll ich ums Haus rumgehen und Hodger fragen, ob er mir den frei gewordenen Sessel überlässt, bis ich eine anständige Unterkunft gefunden habe?«, fragte er leise, während sein Blick die karge Einrichtung des Zimmers erfasste: ein verkratzter Schreibtisch mit einem Drehstuhl, ein schmales Regal voller Bücher, ein verbeulter Metallschrank mit allerlei Instrumenten, die er keiner näheren Betrachtung unterziehen wollte, zwei einfache Holzstühle, zwei Wasserbecken auf Klappständern sowie ein Operationstisch, der an einem Ende eine eingearbeitete und mit Leder überzogene Kopfrolle aufwies. Am Operationstisch hingen seitlich Ledergurte herunter, mit denen Patienten festgeschnallt werden konnten.

Sally schüttelte den Kopf. »Der Prediger hat seine ganz eigene Warteliste, und auf die kommen Burschen wie du bestimmt nicht.«

»He, was soll das heißen?«, entrüstete sich Henry.

Sally überging seinen Protest völlig. »Aber mir ist vorhin, als ich die Morgenausgabe des Beaumont Enterprise ausgetragen habe, etwas zu Ohren gekommen.«

»Was, du hast schon Zeitungen ausgetragen?«, staunte er.

»Klar, seit fünf, wie jeden Tag«, sagte Sally und nahm einen Zettel vom Schreibtisch. »Hier, das habe ich für dich aufgeschrieben.«

»Was ist das?«

»Die Adresse von Henderson’s Boarding Barn und eine Skizze, wie du da hinkommst«, erklärte sie ihm. »Marvin Henderson und seine Frau Martha haben eine große Scheune, die mal zu einer Farm gehört hat, zu einem Logierhaus gemacht. Die Unterkunft befindet sich eine gute Meile südlich von Spindletop, aber immer noch besser, als gar keinen Schlafplatz zu haben. Außerdem soll das Essen dort ganz ordentlich sein.«

»Und da ist noch was frei?«, fragte er skeptisch.

»Ja, die Polizei hat eine Bande von Betrügern verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, von denen einige in der Scheune logiert haben. Also sieh zu, dass du so schnell wie möglich zu Henderson’s Boarding Barn kommst, wenn du noch eine Chance haben willst.«

Sally drückte ihm den Zettel in die Hand und öffnete die Hintertür.

»Danke«, sagte er freudig überrascht. »Du bist wirklich ganz in Ordnung, Sally Floyd.«

»Ja, wirklich? Na, dann kann ich dem neuen Tag ja beruhigt ins Auge blicken«, sagte sie spöttisch, lächelte jedoch, bevor sie die Tür schloss.

Henry nahm dieses Lächeln mit in den neuen Tag, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er kam gerade noch rechtzeitig zu Henderson’s Boarding Barn, um einen der letzten freien Plätze zu ergattern. Jetzt war er bereit, das Glück, das zweifellos hier in Spindletop auf ihn wartete, mit beiden Händen beim Schopf zu packen – als Latrinenboy.

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Am ersten Tag verdiente Henry fünfeinhalb Dollar. Er fühlte sich wie ein König. Es tat seiner Begeisterung keinen Abbruch, dass Jake Holbrooks Latrinen über doppelt so viele Aborthäuschen verfügten wie die Anlage von Wilbert Whitman. Auch dass die Warteschlangen nicht halb so lang waren und den eiligen Kunden daher der Dollar nicht so locker saß, vermochte seine Freude nicht zu trüben. Dass hier für einen Platz an der Spitze nur ein halber Dollar gezahlt wurde, enttäuschte ihn nicht, und es erfüllte ihn auch nicht mit Neid auf Bonefish und die anderen Latrinenboys, die an zentraleren Orten das Doppelte kassierten. Denn selbst ein halber Dollar erschien ihm immer noch als ein wahnwitziger Lohn für eine lächerliche Dienstleistung, die doch allein darin bestand, dass er jeweils nach einiger Zeit zur Seite trat und einem Fremden seinen Platz in der Warteschlange überließ.

Bei Anbruch der Dämmerung machte er Feierabend. Er hatte sich keine Mittagspause gegönnt und nur ein trockenes Stück Brot gegessen, das er am Morgen an der langen Frühstückstafel in Henderson’s Boarding Barn