Éanna – Küste der Sehnsucht - Ashley Carrington - E-Book
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Éanna – Küste der Sehnsucht E-Book

Ashley Carrington

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Beschreibung

Irland im Jahre 1847: Auch nach zwei Jahren wütet noch immer die Hungersnot in dem völlig verarmten Land. Éanna und Brendan, der junge Ire, an den sie ihr Herz verloren hat, schaffen es nur mühsam, Arbeit in Dublin zu finden. Für die ersehnte Überfahrt nach Amerika können sie von ihrem dürftigen Lohn kaum etwas beiseite legen. Um ihrem Traum endlich ein Stück näher zu kommen, bittet Éanna heimlich den Schriftsteller Patrick O’Brien um Hilfe. Doch sie hat die Rechnung ohne Brendan gemacht, denn der wird rasend eifersüchtig … Band 2 der Éanna-Reihe von Ashley Carrington.

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Seitenzahl: 354

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Ashley Carrington

Éanna

Küste der Sehnsucht

Roman

1. Kapitel

Als die Morgensonne über der Irischen See aufstieg, traf sie auf einen wolkenlosen Himmel. Ihre ersten Strahlen ließen das Blau des Firmaments wie frostig klares Gletschereis aufleuchten. Die Sonne vertrieb die rußgetränkten Schatten der Nacht aus Dublin und suchte sich ihren Weg bis in die Thomas Street. Hier schickte sie einen ihrer Strahlen durch ein kleines Glasfenster im ersten Stock eines Wohnhauses nahe des St.-James-Tors.

Er fiel in eine winzige Kammer, die einfach, aber behaglich eingerichtet war, und wanderte langsam über den blank gescheuerten Dielenboden bis zu einem schmalen Bettgestell.

Éanna Sullivan spürte die Wärme auf ihrem Haar und vergrub ihren roten Lockenschopf tiefer in die Kissen. Doch das helle Licht, das ihre Kammer erfüllte, machte es ihr unmöglich, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuträumen. Obwohl sie ihre Lider entschlossen zusammenpresste, blendete es sie.

Verschlafen setzte sie sich auf und gähnte.

Nach Tagen, an denen die fahle, kraftlose Wintersonne es nicht vermocht hatte, die tief hängende und schmutzig graue Wolkendecke über Dublin aufzureißen, erschien ihr dieser strahlende Sonntagmorgen wie ein Wunder. Und genau das war er – ein Wunder, dachte sie und dabei durchzuckte sie ein jähes Glücksgefühl, als ihr wieder bewusst wurde, was gestern Abend geschehen war.

Zwei lange Wochen hatte sie in Dublin Tag für Tag nach ihrem Liebsten Brendan Flynn gesucht, nachdem das Schicksal sie erbarmungslos auseinandergerissen hatte.

Und jeden Abend war sie ernüchtert und verzweifelt in die Pension zurückgekehrt. Irgendwann hatte sie die Hoffnung beinahe aufgegeben, unter den unzähligen Hungerleidern, die aus allen Teilen des Landes nach Dublin geströmt waren, diesen einen zu finden.

Und doch war ihr gestern das Unmögliche gelungen!

Brendan Flynn, der siebzehnjährige kraushaarige Rotschopf aus der Gegend südlich von Loughrea.

Der Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte – und der endlich in ihr Leben zurückgekehrt war!

Rasch schwang sie die Beine aus dem Bett und schlich in ihrem Unterhemd in Richtung Kammertür. Sie bemühte sich darum, möglichst leise aufzutreten, da sie sich denken konnte, was die gestrenge Pensionswirtin Elizabeth Skeffington sagen würde, wenn sie mitbekäme, dass Éanna im Begriff war, im Unterhemd über den Flur zu huschen, um ihre Freundin Emily in der gegenüberliegenden Kammer zu wecken. Aber was sie ihrer besten Freundin und Weggefährtin zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub!

Emily wach zu bekommen war gar nicht so einfach. Murrend zog die Freundin sich die Bettdecke über den Kopf, als Éanna leise ihren Namen rief und sie an der Schulter rüttelte. »Emily, wach endlich auf!«, drängte sie.

Emily schlug die Augen auf und ließ die Bettdecke bis unter das Kinn sinken.

»Warum sollte ich?«, murrte sie schlecht gelaunt. »Hast du vergessen, was für ein Tag ist? Heute müssen wir die Pension verlassen.«

Eine kalte Hand griff nach Éannas Herz, doch sie ließ sich nicht entmutigen. Nicht jetzt. Nicht heute. Nachdem sie Brendan gefunden hatte, war alles möglich!

»Wir müssen dankbar sein, dass uns Patrick O’Brien die Pension so lange bezahlt hat«, erwiderte sie und dachte an ihren Wohltäter, dem sie alles zu verdanken hatte. »Außerdem habe ich Neuigkeiten!«

Emily blinzelte sie verschlafen an, bevor ihr aufging, was ihre Freundin meinen könnte. »Sag bloß, du hast –?«

Éanna blickte geheimnisvoll lächelnd auf sie herunter. »Wenn du wissen willst, was passiert ist, wirst du schon aufstehen und mich zum Frühstück begleiten müssen!«, sagte sie triumphierend. »Wir sehen uns dann unten.« Sie blinzelte ihrer Freundin zu und eilte ohne ein weiteres Wort in ihre eigene Kammer zurück, wo sie sich schnell frisch machte und ihr schlichtes Wollkleid überzog. Dann fühlte sie sich bereit für den neuen Tag und stieg die Treppe ins Erdgeschoss des Hauses hinunter.

Éanna hatte damit gerechnet, dass die Pensionswirtin an diesem Morgen nicht gut auf sie zu sprechen sein würde. Schließlich war sie am vorherigen Abend erst sehr spät nach Hause zurückgekehrt. Und ihre Ahnung täuschte sie nicht.

»Wo hast du dich nur die ganze Nacht herumgetrieben? Dies ist eine ehrbare Pension und ich dulde keine Mädchen, die nachts auf der Straße herumlungern«, stellte Elizabeth Skeffington sie in dem ihr eigenen barschen Tonfall zur Rede, kaum dass Éanna den Frühstücksraum betreten hatte.

Die Wirtin war eine stämmige Frau mit kräftigen Oberarmen und dunklem Bartflaum auf Oberlippe und Kinnpartie. Ihre schmucklos schwarze Witwenkleidung, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als zehn Jahren trug, sowie ihr dicker, geflochtener Haarkranz auf dem Kopf unterstrichen die Strenge ihrer Gesichtszüge und ihrer Stimme.

Éanna wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Emilys dunkelbrauner Haarschopf hinter der Tür zum Esszimmer hervorlugte. Die Freundin schnitt im Rücken von Missis Skeffington eine Grimasse.

Angesichts von Missis Skeffingtons grimmiger Miene war Éanna jedoch alles andere als zum Lachen zumute. »Ich hätte dich längst auf die Straße setzen sollen«, fuhr die Wirtin sie an. »Du hast es nur Mister O’Briens Güte zu verdanken, dass ich dich und Emily überhaupt bei mir dulde.«

Schnell setzte Éanna eine zerknirschte, schuldbewusste Miene auf. Sie wusste, dass die Wirtin sich nur dann besänftigt zeigen würde, wenn sie das Gefühl hatte, dass Éanna ihr Fehlverhalten aufrichtig bereute. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich Euch habe warten lassen, Missis Skeffington«, versicherte sie deshalb schnell und griff als Erklärung für ihr langes Wegbleiben zu einer Notlüge. »Aber nach der Messe habe ich in der Kirche gebetet und darüber die Zeit vergessen.«

»Dafür wäre ja auch tagsüber Zeit genug gewesen!«, wies die Wirtin sie missmutig zurecht, um dann etwas nachsichtiger hinzuzufügen: »Aber wenn du für dein Seelenheil gebetet hast, ist es kein Wunder, dass es so lange gedauert hat!«

Éanna senkte schamhaft den Blick wie eine reuige Sünderin. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Die Pensionswirtin ließ sie in Frieden.

Wenig später saß Éanna im Esszimmer der Pension und ließ sich den heißen, stark gesüßten Tee sowie das Porridge schmecken. Nur für einen kurzen Moment durchfuhr sie der Gedanke, dass dieser unerhörte Luxus, nämlich eine eigene Kammer mit einem richtigen Bett und warmen Decken sowie zwei sättigende Mahlzeiten am Tag zu haben, nun zu Ende war. Wie schnell hatte sie den Hunger und das Elend der letzten Monate vergessen! Wie ein schlimmer Traum erschienen ihr das Leid, der Hunger, die Verzweiflung, die sie seit dem Tod ihrer Mutter erlitten hatte. Doch sie wusste, dass ohne Mister O’Brien, den das Schicksal ihr in den letzten Monaten mehrfach als Retter in der Not geschickt hatte, all das undenkbar gewesen wäre. Ja, überhaupt, dass sie es bis nach Dublin geschafft hatten, war nur ihm zu verdanken.

Sie dachte kurz daran, was Brendan wohl sagen würde, wenn er davon erfuhr, wie ihr Wohltäter ihr, Emily und Caitlin geholfen hatte. Doch sie schob den Gedanken schnell zur Seite.

Emily griff nach ihrem Löffel und begann ihr Porridge zu essen. »Nun erzähl schon!«, drängte sie ungeduldig. »Sag bloß, du hast deinen Liebsten endlich wiedergefunden!«

Éanna nickte und strahlte sie voller Glück an. »Er ist mir direkt in die Arme gelaufen, vor der St.-Patricks-Kathedrale!«

»Ich will jede Einzelheit wissen! Lass bloß nichts aus!«, drängte ihre Freundin. »Habt ihr euch geküsst?«

»Nicht so laut!«, zischte Éanna erschrocken und warf einen schnellen Blick hinüber zur halb offen stehenden Küchentür. Doch von dort kam noch immer geschäftiges Klappern und Klirren von Besteck, Töpfen und Geschirr. »Wenn Missis Skeffington Wind von der Geschichte mit Brendan bekommt …«

Emily grinste. »Also ihr habt euch geküsst!«, raunte sie und hing wie gebannt an den Lippen ihrer Freundin. »Wie war es?«

Éanna wurde unter ihrem Blick verlegen und ihre Wangen röteten sich. »Mein Gott, du fragst Sachen!«, erwiderte sie ausweichend. Sie wollte das, was sie dabei empfunden hatte und noch immer in sich fühlte, mit keinem anderen teilen. Nicht einmal mit Emily. »Es war … es war einfach wunderschön.«

Emily machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nur ein einziger Kuss? War er denn wenigstens leidenschaftlich, dein Brendan?«

»Ja, und es waren mehrere«, sagte Éanna widerstrebend, aber irgendwie auch mit Stolz, und nun brannten ihre Wangen erst richtig.

»Hört, hört! Das klingt schon besser!«, sagte Emily und rückte ganz nahe an sie heran.

Éanna griff wieder zu ihrem Löffel. »Brendan und ich haben uns für die Frühmesse heute Morgen in St. Patricks verabredet, um uns endlich erzählen zu können, was uns in den Wochen seit unserer Trennung alles zugestoßen ist. Dazu war gestern Abend ja keine Zeit, weil ich in die Pension zurückmusste!« Erschrocken blickte Éanna auf. »Wie spät ist es eigentlich? Schaffe ich es noch bis zur Messe?«

Emily nickte beruhigend. »Wenn du jetzt sofort aufbrichst, wirst du rechtzeitig dort sein. Schade nur, dass wir unser Gespräch dann später fortsetzen müssen. Ich habe nämlich auch Neuigkeiten. Du wirst es kaum glauben, wenn ich es dir erzähle!«

»Was denn?«

Emily schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. »Nein, für dich ist es jetzt Zeit, Brendan zu treffen. Aber wenn du wiederkommst, möchte ich alles ganz genau wissen. Dann revanchiere ich mich auch, versprochen!«

Hin- und hergerissen sah Éanna ihre Freundin an. Sie hätte so gerne gewusst, was Emily ihr zu sagen hatte, aber sie konnte Brendan nicht warten lassen. Entschlossen sprang Éanna auf und umarmte ihre Freundin zum Abschied. »Bis später also. Und vergiss nicht, was du mir erzählen wolltest!«

Emily schüttelte lachend den Kopf. »Keine Sorge. So gute Nachrichten vergisst man nicht.«

Éanna war dermaßen in Eile, als sie das Journey’s End verließ, dass sie den Jungen in der schmalen Toreinfahrt erst bemerkte, als es bereits zu spät war. Der Zusammenstoß war schmerzhaft und riss sie abrupt aus ihren verträumten Gedanken.

Der Junge war für sein Alter von kleiner Gestalt, hatte ein blasses Gesicht, eine kecke Adlernase und eine freie Stirn, unter der helle, lebhafte Augen hervorleuchteten. Dickes schwarzes Haar fiel ihm wirr und breit auf die Schultern. Auf dem Kopf trug er einen alten schwarzen Hut, der so durchlöchert war, als wäre er das Ziel mehrerer Ladungen Schrot gewesen. Bekleidet war er mit einem verschlissenen und viel zu weiten Schwarzrock, der ihm bis über die Knie reichte. Im Gegensatz zu seinem vergleichsweise kräftigen Oberkörper wirkten seine Beine in den löchrigen Flickenhosen wie dünne, krumme Stecken. Was nicht verwunderte, wenn man wusste, dass seine Beine schwer verkrüppelt waren und er sich nur auf seinen selbst gezimmerten Holzkrücken vorwärtsbewegen konnte.

»Mir scheint, Ihr seid mit Euren Gedanken ganz woanders, Miss!«, rief er ihr lachend zu und rieb sich die Stirn. Er klang dabei so munter und unbeschwert, als wäre er an diesem kalten Morgen einem warmen Bett entstiegen und hätte gerade ein üppiges Frühstück verzehrt.

Éanna, die eine kurze Entschuldigung gemurmelt hatte und schon im Begriff gewesen war weiterzueilen, hielt inne und blickte den abgemagerten Jungen genauer an. Irgendetwas an ihm brachte eine Saite in ihr zum Klingen, die an jenem dunklen Tag verstummt war, als ihr kleiner Bruder für immer von ihnen gegangen war. Er rührte ihr Herz und so lächelte sie ihn an und schüttelte seine Hand, als er seinen schwarzen Hut vor ihr zog und eine Verbeugung andeutete. »Neill Duffy, Miss. Stets zu Euren Diensten.«

»Schön, dich kennenzulernen, Neill. Ich bin Éanna Sullivan. Du bist mir hier bisher noch gar nicht aufgefallen. Und an dich würde ich mich bestimmt erinnern!«, zog Éanna ihn lachend auf.

Neill schüttelte den Kopf. »Könnt Ihr gar nicht, Miss. Ich schlafe erst seit heute dahinten.« Damit deutete er auf einen Hausflur, wenige Meter von der Toreinfahrt des Journey’s End entfernt. »Und das hier ist mein neues Revier.« Er hob seine Krücken an und gab ihr so zu verstehen, dass er seinen Lebensunterhalt bestritt, indem er um Almosen bettelte.

»Aber sag, was ist dir bloß zugestoßen, dass deine Beine dir den Dienst versagen?«, fragte Éanna mit einem Blick auf seine Krücken behutsam nach.

»Tja, bis vor zwei Jahren war mit meinen Beinen alles in Ordnung. Doch dann bin ich unter ein umstürzendes Fuhrwerk geraten und danach war für mich die Arbeit im Steinbruch schnell zu Ende.«

Éanna rührte die Art, in der Neill ihr seine Geschichte erzählte. Kein Hauch von Bitterkeit war in seiner Stimme zu hören und sie fühlte das übermächtige Bedürfnis, etwas für ihn zu tun. Doch was konnte das schon sein? Sie hatte ja selbst keinen Penny in der Tasche! Da fiel ihr das herrliche Frühstück ein, das sie wenige Minuten zuvor noch genossen hatte. Sicher konnte die Wirtin nichts dagegen haben, wenn sie Neill einen Kanten Brot nach draußen brachte. Doch so einfach wie gedacht ließ sich diese nicht überzeugen.

»So! Und jetzt willst du dem Burschen da draußen vermutlich ein morgendliches Almosen bringen!«, knurrte sie übellaunig, nachdem Éanna ihr Neills Geschichte erzählt hatte.

Éanna nickte. »Wenn Ihr so gütig seid, mir das zu erlauben, wäre ich Euch sehr dankbar. Der Herrgott wird es Euch gewiss vergelten, Missis Skeffington.«

Die Wirtin gab einen ärgerlichen Seufzer von sich, als hätte sie alle Plagen der Welt zu tragen, aber der Appell an die Nächstenliebe der Witwe tat schließlich den gewünschten Dienst. »Also gut!« Sie holte ein paar trockene Kanten aus dem Brotkorb.

Éanna murmelte hastig einen Dank und griff nach den Scheiben. Im Hinauseilen hörte sie Missis Skeffington ärgerlich vor sich hin murmeln: »Wird Zeit, dass dieses Hungerpack mein Haus verlässt. Gehört sich nicht für Mister O’Brien, sich damit abzugeben.«

Doch Éanna achtete nicht auf ihre Worte. Schon war sie auf der Straße und bei Neill.

»Damit geht die Sonne für mich ein zweites Mal auf, Miss Sullivan!«, bedankte sich der Junge mit strahlendem Gesicht. »Jetzt kann der Tag kommen.«

»Ich hoffe, es wird ein guter für dich, Neill.«

Er lächelte sie zuversichtlich an. »Ich nehme ihn, wie er kommt, Miss.«

Éanna wurde erschrocken bewusst, wie viel Zeit inzwischen vergangen sein musste. Ein gemütlicher Spaziergang durch die Stadt würde es nun nicht mehr werden, wenn sie rechtzeitig zur Messe in St. Patricks sein wollte. Sie verabschiedete sich hastig von Neill und eilte die St. Thomas Street entlang.

Alles, woran sie denken konnte, war: Brendan, Brendan, Brendan! In wenigen Augenblicken würde sie den Menschen wiedersehen, der ihr alles auf der Welt bedeutete und der ihr auf ungestüme Art zu verstehen gegeben hatte, dass er das Gleiche für sie empfand. Éannas Wangen färbten sich rot, als sie an seine Küsse dachte, und wurden noch röter, als sie sich eingestand, dass sie es kaum erwarten konnte, erneut von ihm geküsst zu werden.

2. Kapitel

Schon von Weitem entdeckte Éanna Brendans leuchtenden Schopf unter den anderen Kirchgängern, die vor der St.-Patricks-Kathedrale in kleinen Grüppchen beisammenstanden und sich unterhielten. Er sah sich suchend nach allen Seiten um und ein Strahlen ging über sein Gesicht, als er sie schließlich erblickte. Mit schnellen, entschlossenen Schritten bahnte er sich einen Weg durch die Menge und kam auf sie zu. Dann standen sie sprachlos vor Glück einander gegenüber. Brendan ergriff ihre Hände und fand als Erster seine Sprache wieder.

»Éanna, die ganze Nacht habe ich kaum geschlafen! Ich musste mich immer wieder fragen, ob ich mir unsere gestrige Begegnung nur eingebildet habe! Aber jetzt weiß ich, dass es kein Traum war! Wir haben uns wirklich wiedergefunden. Und ich verspreche dir, dich nie mehr gehen zu lassen!«

In Brendans Stimme schwang so viel Gefühl mit, dass Éanna die Tränen in die Augen traten.

Ihr Blick fand den seinen und so standen sie eine Weile zusammen und erst allmählich nahmen sie die Welt um sich herum wieder wahr. Die Menge bewegte sich bereits auf das Portal der Kathedrale zu. Widerwillig schlossen sie sich den übrigen Kirchgängern an, die St. Patrick zur Messe betraten.

Der Januarmorgen war so kalt, dass Éannas Atem sogar im Innern der Kathedrale wie Dampf von ihren Lippen wehte. Doch sie achtete nicht auf die Kälte. Auch die Leuchtkraft der bleiverglasten Kirchenfenster, deren vielfarbige Pracht sich durch den Einfall der aufgehenden Morgensonne immer stärker entfaltete, war ihr nicht bewusst. Und sogar während der heiligen Messe nahm sie die meiste Zeit nicht wahr, was vorn am Altar und um sie herum geschah.

Zwar sprachen ihre Lippen die vertrauten Gebete, Anrufungen und Fürbitten und sie schlug an den vorgeschriebenen Stellen das Kreuz, stand von der Bank auf oder kniete sich auf die Fußbank. Aber wirklich bewusst tat sie nichts von alledem.

Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis die Messe zu Ende war und die Gemeinde sich erhob. Nur sie und Brendan blieben sitzen, als hätten sie sich insgeheim abgesprochen.

Seine Hand suchte die ihre.

»Brendan! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ohne dich war«, flüsterte sie. »Ich hatte solche Angst, dich für immer verloren zu haben!« Mit großen Augen sah sie ihn an. »Ich hatte Angst, dass du allein unseren Traum verwirklichst und nach Amerika aufbrichst.«

»Und ich habe dich all die Zeit für tot gehalten, Éanna!«, brach es aus Brendan heraus. »Mein Gott, ich habe geglaubt, ich hätte dich zu spät nach Clifton House gebracht und du wärst in diesem verdammten Arbeitshaus gestorben!«

Éanna lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie wollte nicht an die Zeit in Clifton House erinnert werden oder an das, was vorher geschehen war.

Nachdem ihnen beiden Hunger und Krankheit in kürzester Zeit Eltern und Geschwister genommen hatten, waren sie und Brendan bis zu ihrer jähen Trennung wochenlang gemeinsam durch das Land geirrt, waren wie Hunderttausende andere mittellose Hungerleider zu dem menschlichen Treibgut geworden, das überall in Irland die »Straßen der Sterne« bevölkerte. So nannte man beschönigend jene Landstraßen, die Heimat für die zahlreichen Obdachlosen geworden waren.

Es war die Kartoffelfäule, die Irland die schrecklichste Hungersnot aller Zeiten gebracht hatte, indem sie eine Ernte nach der anderen vernichtete. Die Kartoffel war seit Generationen die Hauptnahrung der armen Landbevölkerung gewesen und nun führte der Ernteausfall unweigerlich zu einer nationalen Katastrophe. Noch nie zuvor hatte das Schicksal Irland mit einer solch vernichtenden Geißel heimgesucht wie in diesen Jahren. Ganze Landstriche waren entvölkert und die Menschen litten unvorstellbares Elend. Auf den Friedhöfen war längst kein Platz mehr für all die Toten. Der Anblick von Leichen, von vor Hunger und Krankheit ausgezehrten Körpern war für Éanna und Brendan zum schauerlichen Alltag geworden und es hätte nicht viel gefehlt und sie beide hätte das gleiche Schicksal ereilt.

Éannas Gedanken kehrten zu jenen Wochen zurück, in denen sie mit Brendan täglich verzweifelt nach ein wenig Essen gesucht hatte und nach einem nächtlichen Unterschlupf, der sie dem Wind und dem Wetter des einsetzenden Winters nicht schutzlos auslieferte. Und diese Wochen grausamster Not hatten sie und Brendan weit über die bloße Kameradschaft hinaus zusammengeschmiedet. Aus der anfänglichen Abneigung und dem berechtigten Misstrauen, das sie ihm entgegengebracht hatte, war schnell Freundschaft geworden und irgendwann in den Wäldern der Wicklow-Berge war ihre Liebe zueinander entbrannt.

Aber dann hatte Éanna hohes Fieber bekommen und Brendan war gezwungen gewesen, sie ins Armenhaus zu bringen, wo sie getrennt worden waren.

»Erinnerst du dich an die große Schiefertafel in Clifton House?«, fragte Brendan und seine Stimme zitterte. »Eines Tages stand dort, wo jeden Morgen die Namen der Verstorbenen angeschrieben wurden, dein Name! Von da an war auch ich innerlich wie tot.« Er umklammerte ihre Hände, als wollte er sie nie wieder freigeben.

Éanna sah ihm an, dass er sie gern in seine Arme geschlossen und geküsst hätte, und ihr ging es genauso.

Doch derlei intime Liebesbezeugungen gehörten sich nicht in einer Kirche. Daran änderte auch nicht, dass sich nur noch einige wenige Gläubige in der Kathedrale aufhielten, die in stille Gebete vertieft hier und da in den Bankreihen knieten oder vor den Seitenaltären Kerzen aufstellten.

»Ich selbst habe erst später erfahren, dass einer der Wärter meinen Namen fälschlicherweise auf die Tafel geschrieben hatte«, flüsterte Éanna ihm zu. »Caitlin und Emily haben mir davon erzählt.«

»Sag bloß, du hast deine beiden Freundinnen ausgerechnet in der Hölle von Clifton House wiedergetroffen?«, fragte er überrascht.

Sie nickte. »Ja, auch sie haben in ihrer Not keinen anderen Ausweg gewusst, als in diesem unmenschlichen Arbeitshaus Zuflucht vor dem Verhungern und Erfrieren zu suchen. Jedenfalls haben sie mir von der Namensverwechslung erzählt und von der heftigen Prügelei, die du dir an jenem Morgen mit den Aufsehern geliefert hast. Und dass dir gerade noch rechtzeitig die Flucht gelungen ist, bevor sie dich wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht stellen und in ein Gefängnis stecken konnten.«

Er schnitt eine wütende Grimasse. »Diese Schweinehunde! Sie haben mich provoziert!«

Éanna nickte. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie grob und herrisch das Personal der Anstalt mit den Insassen von Clifton House umgesprungen war. Als hätten sie durch ihre bittere Armut ein Verbrechen begangen, das es hinter den Mauern des Armenhauses zu sühnen galt!

Brendan atmete tief durch. »Wenn du wüsstest, was ich mir nach meiner Flucht für Vorwürfe gemacht habe! Ich kann noch gar nicht richtig glauben, dass … dass dieses Wunder wirklich geschehen ist und du wahrhaftig lebst!«

»Ich kann es auch nicht glauben. Es kommt mir alles wie ein Traum vor und dieser Traum ist viel zu schön, um wahr zu sein«, erwiderte Éanna und aufs Neue lief ihr eine Träne über das Gesicht, das noch immer von den Monaten schwerster Entbehrungen gezeichnet war. »Endlich sind wir wieder zusammen!«

»Ja, es ist das schönste Geschenk, das ich mir denken kann. Und egal, was uns jetzt noch bevorsteht, es schreckt mich nicht halb so sehr wie noch vor wenigen Stunden«, sagte er, beugte den Oberkörper vor und hob ihre Hände verstohlen an seine Lippen, um einen Kuss auf ihre Fingerkuppen zu hauchen.

Éanna war, als strömte eine herrlich feurige Hitze von ihren Fingerspitzen aus bis hoch in die Arme, um sich dann in ihrer Brust auszubreiten und in jede Faser ihres Körpers vorzudringen.

»Aber sag mal, wie hast du es überhaupt geschafft, aus Clifton House …«, setzte Brendan wissbegierig zu einer weiteren Frage an.

In dem Moment tauchte neben ihnen im Gang ein Kirchendiener auf, der einen knöchellangen schwarzen Kittel trug und mit Besen, Schaufel und feuchtem Feudel bewehrt war.

Der spindeldürre Mann warf ihnen von der Seite her einen nicht eben freundlichen Blick zu, als sähe er ihnen an, dass sie nicht um eines zusätzlichen Gebetes willen nach der Messe dort sitzen geblieben waren. Und während er sich nun in der Reihe direkt vor ihnen mit Besen und Feudel nicht eben lautlos zu schaffen machte, blickte er immer wieder mit verkniffener Miene zu ihnen herüber, als wartete er darauf, dass sie sich endlich von der Bank erhoben und ihrer Wege gingen.

Éanna und Brendan dachten jedoch nicht daran, sich jetzt schon wieder der eisigen Januarkälte auszusetzen. Sie hatten sich noch so viel zu erzählen! Und so blieben sie einfach schweigend nebeneinander sitzen und ignorierten die missmutigen Blicke des Kirchendieners.

Während sie darauf warteten, dass der Bedienstete der Sache überdrüssig wurde und endlich aus ihrer Hörweite verschwand, überließ sich Éanna voll Dankbarkeit dem beglückenden Gefühl, Brendan an ihrer Seite zu wissen.

»Na endlich!«, raunte Brendan, als der Kirchendiener die Lust daran verlor, sie mit seinen Blicken zum Verschwinden bewegen zu wollen, und sich mit einem Kopfschütteln zum Fegen in die nächste Bankreihe begab.

Dann wandte er sich wieder Éanna zu. »Wie habt ihr es bloß geschafft, aus dem Armenhaus zu fliehen?«, fragte er. »Denn dass sie euch einfach so haben gehen lassen, kann ich mir nach allem, was ich da gesehen und erlebt habe, beim besten Willen nicht vorstellen.«

»Das haben sie auch nicht. Wir sind nachts ausgebrochen!«, berichtete sie ihm nicht ohne Stolz.

Brendan fuhr sichtlich der Schreck in die Glieder. »Allmächtiger, du hättest dabei den Tod finden können!«

»Ach was, wirklich in Gefahr waren wir erst, als uns die Polizei schon am nächsten Tag in Ballymore Eustace aufgriff, aufs Revier schleppte und dort in eine Zelle sperrte. Unsere Anstaltskleidung hatte uns verraten.«

»Aber dann muss euch doch eine Anklage wegen Diebstahls gedroht haben!«

Éanna nickte. »Genau dieses Schicksal erwartete uns. Denn von uns wurde verlangt, dass wir für die Anstaltskleidung bezahlten.«

»Und wie seid ihr dann freigekommen?«, fragte Brendan erstaunt. »Ihr hattet doch sicher nicht genug Geld, um euch freizukaufen!«

Éanna lachte bitter auf. »Wir hatten nicht einmal genug Geld, um uns auch nur einen Kanten Brot zu kaufen!«

Dann zögerte sie einen Moment. Sollte sie Brendan wirklich die Wahrheit darüber erzählen, wie sie der Gefängnisstrafe entgangen waren? Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend und ihr Herz begann zu rasen. Man musste kein Hellseher sein, um zu erraten, dass Brendan ganz und gar nicht gefallen würde, was sie im nächsten Moment zu sagen hatte. Sie wich seinem erwartungsvollen Blick aus, als sie all ihren Mut zusammennahm und fortfuhr. »Ich habe einen der Konstabler, der Mitgefühl mit uns hatte, dazu überreden können, in meinem Namen ein Telegramm an Mister O’Brien nach Dublin zu schicken. Darin habe ich ihn gebeten, uns auszulösen.«

Brendans Stirn legte sich in Falten. Er starrte sie an, als glaubte er, sich verhört zu haben. »Du meinst doch wohl nicht etwa Patrick O’Brien, diesen Lackaffen, oder?«, fragte er und fuhr voller Groll fort: »Diesen Schwätzer, den wir damals auf der Landstraße nach Carlow getroffen haben? Der Kerl, der da herausgeputzt wie ein Dandy in der Tür seiner Kutsche saß und seelenruhig irgendwelchen Schwachsinn in sein teures Notizbuch gekritzelt hat, während sich seine Bediensteten um das umgestürzte Fuhrwerk gekümmert und die verstreuten Bierfässer aus dem Schlamm des Straßengrabens gezogen haben? Redest du von diesem Patrick O’Brien?«

Éanna hatte mit seiner ablehnenden Reaktion gerechnet. Brendan hatte nach der kurzen Begegnung mit Mister O’Brien auf der Landstraße nach Carlow keinen Hehl daraus gemacht, dass dieser ihm unsympathisch war. Aber dass er dermaßen verbissen reagierte, überraschte und betrübte sie doch.

»Nein, von einem Schwätzer oder Lackaffen rede ich nicht!«, erwiderte sie und hatte Mühe, ihren Unmut zu verbergen. Denn das Letzte, was sie an diesem Morgen ihres Wiedersehens wollte, war ein hässlicher Streit. Aber unwidersprochen hinnehmen konnte sie seine harten Worte auch nicht. Deshalb fügte sie ruhig hinzu: »Ich rede von jenem Patrick O’Brien, der schon einmal Mitleid mit uns hatte und uns vier Shilling gegeben hat, von denen wir dir einen warmen Umhang sowie einen Schal und eine Mütze kaufen konnten. Von diesem Mann, der dich vermutlich vor dem Erfrieren bewahrt hat, rede ich und von keinem anderen!«

Schlagartig verfinsterte sich Brendans Gesicht. Er ließ ihre Hände los und völlig unbeeindruckt von ihrer sanften, aber doch unmissverständlichen Zurechtweisung blaffte er: »Und diesen aufgeblasenen Schnösel, der sich von seinem reichen Onkel und Brauereibesitzer aushalten lässt, hast du um Hilfe angefleht?«

Éanna schluckte unwillkürlich. »Ja, genau das habe ich getan! Aber du tust ihm unrecht, Brendan!«, versicherte sie nachdrücklich. »Er mag ein junger Herr von Stand mit einigen etwas überspannten Ideen sein, aber ein aufgeblasener Schnösel ist er nicht! Denn wäre er das, würde ich jetzt nicht hier bei dir sein, sondern im Gefängnis sitzen!«

»So! Was du nicht sagst!«, kam es bissig von Brendan zurück. »Und dieser gelackte Bursche hat auf dein Telegramm hin alles stehen und liegen lassen, ist zu euch nach Ballymore Eustace geeilt und hat euch alle drei ausgelöst?«

»Ja, genau das hat er getan.«

»Dann wird er es wohl auch gewesen sein«, fuhr Brendan sarkastisch fort, »der dir in seiner unendlichen Güte diese teuren Winterkleider spendiert hat. Ich habe dich ein wenig anders in Erinnerung, was dein Äußeres angeht.«

Éanna nickte geduldig. »Mister O’Brien hat uns mit seiner Kutsche zum nächsten Pfandleiher fahren lassen, wo wir uns Kleider aussuchen durften.« Und um diesen Teil ihres Berichtes so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen, fügte sie gleich noch hinzu: »Danach hat er nicht nur mich, sondern uns drei mit seiner Kutsche nach Dublin gebracht und dafür gesorgt, dass wir nicht auf der Straße leben mussten, sondern zumindest für die ersten beiden Wochen eine Unterkunft in der Stadt hatten und damit Zeit, Arbeit und ein billiges Logis zu finden.«

»Was du nicht sagst!«

»Ja, er hat uns drei im Journey’s End untergebracht, einer kleinen, ehrbaren Pension auf der Thomas Street kurz hinter dem St.-James-Tor. Geführt wird sie von der Witwe Elizabeth Skeffington. Sie nimmt aber nur weibliche Pensionsgäste bei sich auf und sie führt ihr Haus mit sehr strenger Hand, das kannst du mir glauben! Deshalb ist Caitlin auch schon nach drei Tagen wieder ausgezogen und sonst wohin verschwunden.« Was nicht ganz stimmte. Denn ihre ehemalige Weggefährtin Caitlin war es allein darum gegangen, den Rest des Geldes in die Hände zu bekommen, die Mister O’Brien Missis Skeffington für zwei Wochen Kost und Logis im Voraus bezahlt hatte. Und das war ihr auch gelungen. Éanna und Emily waren trotzdem erleichtert gewesen, als sich die undankbare Caitlin aus dem Staub gemacht hatte. Ihre Hetzerei hatte sich kaum noch ertragen lassen.

Éanna blickte Brendan an, doch er schien sich nicht für Caitlin zu interessieren. Mit verkniffener Miene starrte er zurück. »So, und das Geld für die Unterkunft in dieser kleinen, ehrbaren Pension kommt also auch aus dem Geldbeutel dieses spendierfreudigen feinen Herrn!«, stieß er dann abfällig hervor.

»Das habe ich dir doch gerade gesagt. Von wem hätte es denn auch sonst kommen sollen?« Sie hatte Mühe, ihren Zorn zu beherrschen.

»Kann es sein, dass du in deiner Geschichte etwas ausgelassen hast?«, fragte er argwöhnisch.

»Nein, habe ich nicht! Was soll diese Frage überhaupt?« Jetzt klang auch ihre Stimme unverhohlen gereizt.

»Und dieses haarsträubende Märchen soll ich dir abnehmen? Ich soll dir glauben, dass dieser Patrick O’Brien, dem du bis dahin nur zweimal kurz begegnet bist, das alles einfach aus reiner Herzensgüte und christlicher Nächstenliebe für dich und die beiden anderen Mädchen getan hat?«

Bestürzt sah sie ihn an. »Du glaubst mir nicht?«, stieß sie fassungslos hervor. »Um Gottes willen, du wirst doch wohl nicht eifersüchtig auf Mister O’Brien sein, nur weil er mir, Emily und Caitlin geholfen hat?«

Er verzog keine Miene. »Kann es sein, dass du mir damals nicht alles über dich und diesen feinen jungen Herrn erzählt hast?«

Éanna holte tief Luft und ballte die Fäuste. »Brendan! Das kann doch wohl nicht dein …«

Er ließ sie nicht ausreden. »Wenn dem so ist, wäre es jetzt an der Zeit, dass du mir endlich reinen Wein einschenkst! Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen, Éanna!«

Wenn er ihr mit der Hand ins Gesicht geschlagen hätte, es hätte sie nicht mehr verletzen können. Zornesröte stieg ihr ins Gesicht und sie sprang abrupt von der Kirchenbank auf. Die Tränen, die ihr in die Augen schossen, konnte sie kaum noch zurückhalten.

»Und ich mag es nicht, wenn man mich der Lüge bezichtigt!«, fauchte sie ihn an. »Zwischen mir und Mister O’Brien ist nichts vorgefallen, dessen ich mich schämen müsste! Ich habe nichts zu beichten, weder dir noch einem Priester. Und wenn du Idiot mir in deiner blödsinnigen und völlig grundlosen Eifersucht nicht glauben willst, ist dir nicht zu helfen, Brendan Flynn!«

Erschrocken und sichtlich erblasst sah er zu ihr auf. Ihm schien bewusst zu werden, dass er zu weit gegangen war. Aber noch bevor er sich entschuldigen konnte, schleuderte sie ihm entgegen: »Ich dachte, du würdest mir nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, vertrauen … so wie ich dir vertraue … und … und du würdest wissen, was ich für dich empfinde. Aber da habe ich dumme Gans mich wohl gehörig in dir getäuscht! Wie unverzeihlich von mir, dass ich seit meiner Ankunft in Dublin von morgens bis abends überall in der Stadt nach dir gesucht habe, anstatt mich um eine Arbeit zu kümmern! Aber diesen Fehler werde ich kein zweites Mal machen, darauf kannst du Gift nehmen!« Damit wandte sie sich mit einem Ruck von ihm ab, stürzte aus der Kirchenbank und rannte dem Ausgang entgegen.

Ihr war, als bräche eine Welt zusammen. Brendan, der Mann, den sie zu kennen geglaubt hatte, den sie über alles liebte und nach dem sie sich so gesehnt hatte, hielt sie für eine Lügnerin und Betrügerin!

Nie wieder wollte sie auch nur ein Wort mit ihm wechseln!

3. Kapitel

Für einen langen Moment war Brendan wie gelähmt. Dann sprang auch er auf und rannte los. In seiner Hast stolperte er beinahe über seine eigenen Füße, fing sich mit einem unterdrückten Fluch wieder und lief auf die Straße. Er sah gerade noch Éannas rotblonden Haarschopf hinter einer Hausecke verschwinden.

»Éanna! So warte doch!«, rief er ihr bestürzt hinterher. »Lauf nicht weg! … Das habe ich doch gar nicht so gemeint! … Éanna, bitte! … Warte! … Es tut mir leid! … Bleib in Gottes Namen stehen und lass uns reden!«

Als er sie endlich eingeholt hatte, schlug sie seine Hand weg.

»Lass mich! Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben! Geh mir aus dem Weg!«, schluchzte sie, stieß ihn zur Seite und lief weiter.

Brendan gab jedoch nicht auf und es gelang ihm schließlich, ihre Arme mit festem Griff zu packen und sie zum Stehenbleiben zu zwingen.

Éanna wehrte sich, doch gegen seine Kraft kam sie nicht an. »Ich schreie das ganze Viertel zusammen, wenn du mich nicht sofort freigibst!«, drohte sie ihm.

»Um Himmels willen, nimm doch Vernunft an! Es tut mir leid, was ich da gesagt habe, Éanna! Ich könnte mich selbst dafür ohrfeigen!«

»Lass mich los, dann übernehme ich das Ohrfeigen gern für dich!«, zischte sie.

»Bitte, Éanna! Sei nicht so hart! Ich flehe dich an, verzeih mir und gib mir eine Chance, es wiedergutzumachen!«, beschwor er sie inständig. »Ich habe es wirklich nicht so gemeint! Das versichere ich dir bei allem, was mir heilig ist!«

»Oh doch, du hast es so gemeint!«, widersprach sie zornig und ihre Augen funkelten ihn böse an. »Versuch erst gar nicht, das abzustreiten! Wie konntest du mir nur so etwas Unwürdiges zutrauen!«

Zerknirscht blickte er zu Boden. »Du hast ja recht«, gestand er reumütig und redete hastig weiter. »Und du hast auch allen Grund, wütend auf mich zu sein. Ich weiß selber nicht, was da plötzlich über mich gekommen ist. Es … es ist mir einfach so herausgerutscht. Du weißt doch, dass mein Temperament manchmal mit mir durchgeht.« Er blickte sie flehend an. »Verzeih meine Dummheit, Éanna.«

»Ich denke nicht daran!«

»Bitte, sei nicht so hart, Éanna! Ich … ich war einfach wütend auf diesen O’Brien. Ich war wütend, dass ausgerechnet so ein wohlhabender Schnösel wie er und nicht ich es gewesen sein soll, der dich vor dem Gefängnis gerettet und so viel Gutes für dich getan hat«, murmelte er kleinlaut.

»Du hast überhaupt keinen Grund, auf irgendjemanden eifersüchtig zu sein!«, erwiderte sie, schon ein wenig versöhnter.

Brendan wagte es nun, ihre Arme loszulassen. Zärtlich wischte er ihr die Tränen vom Gesicht, während er leise sagte: »Ich bin wirklich ein Idiot. Aber ich bin ein Idiot, der … der dich liebt, Éanna!« Leidend wie ein geprügelter Hund sah er sie an.

Noch nie hatte er so deutlich mit Worten ausgedrückt, was er für sie empfand. Seine Liebeserklärung traf sie mitten ins Herz. Und ihr Zorn fiel so rasch in sich zusammen, wie er kurz zuvor in ihr aufgeflammt war.

»Ach, Brendan«, flüsterte sie aufgewühlt. »Ich liebe dich doch auch. Aber was du da gerade …«

Bevor sie weitersprechen konnte, nahm er sie in seine Arme und verschloss ihren Mund mit seinen Lippen. Und nur zu bereitwillig überließ sie sich der Glückseligkeit, die sie durchflutete und sie alles vergessen ließ, was eben noch zwischen ihnen gestanden hatte.

Es war ein inniger Kuss, der ihre Versöhnung besiegelte. Hinterher kamen sie ohne viel Worte überein, diese unschöne Szene zu vergessen. Was ihnen nicht ganz gelang, denn der Schock über das Vorgefallene saß ihnen noch in den Gliedern und überschattete das lang ersehnte Wiedersehen.

»Ich wünschte«, sagte Brendan bedrückt, »ich könnte jetzt, wo wir uns endlich gefunden haben, noch länger bei dir bleiben. Aber leider geht das nicht. Ich habe gleich eine Verabredung.« Er warf einen schnellen Blick hoch zur Kirchturmuhr. »In zehn Minuten muss ich los.«

Éanna machte ein enttäuschtes Gesicht. »Ist die Verabredung denn wirklich so wichtig?«

»Sehr wichtig. Um zwölf erwartet mich mein Kumpel Aidan Macaulay an der Schleuse vom Royal Canal«, antwortete Brendan. »Das ist drüben auf dem Nordufer bei den Docks und Überseekais. Aidan will mir eine Arbeit vermitteln, und zwar in der Fleischfabrik, in der er arbeitet.«

Éanna wusste sehr gut, wie schwierig es war, auch nur irgendeine Arbeit zu finden. »Oh Brendan, das ist doch wundervoll. Was für eine Arbeit wird das sein?«

»Das weiß ich nicht so genau«, meinte Brendan. Aber es klang so, als wolle er der Frage ausweichen. »Ich weiß nur, dass Aidan gestern Abend drüben in der Combe Street eine Messerstecherei beobachtet hat, bei der ein Arbeiter aus der Fabrik schwer verletzt wurde. Dieser Mann wird heute nicht zur Arbeit erscheinen. Das ist meine Chance, endlich wieder zu ein paar Shilling zu kommen.«

»Ich wünsche dir so sehr, dass du Glück hast«, sagte Éanna mit einem schweren Seufzer. Sie dachte an Emily, die schon seit ihrer Ankunft erfolglos nach einer Arbeit suchte, egal, wie schlecht sie bezahlt sein mochte. Aber seit die Hungersnot Jahr für Jahr aus fast allen Teilen des Landes Abertausende heimatlos gewordener Hungerleider in die Stadt trieb, waren freie Stellen so rar geworden wie mildtätige englische Großgrundbesitzer. Wo immer in Dublin Arbeit vergeben wurde, strömten sofort Dutzende, wenn nicht gar Hunderte zerlumpter Kinder, Männer und Frauen zusammen und machten sich gegenseitig den Platz streitig. Selbst Arbeiten, die weniger an Lohn einbrachten, als man auch bei größter Entbehrung zum Überleben brauchte, fanden in Windeseile genug Verzweifelte, die für ein paar Pence am Tag alles zu geben bereit waren. Die Armenviertel Dublins konnten den unablässigen Ansturm des mittellosen Landvolkes längst nicht mehr auffangen. Dabei waren diese Viertel nun wahrlich nicht klein. Und sie wuchsen von Tag zu Tag und fraßen sich wie stinkende, wuchernde Geschwüre immer tiefer in den Leib der Stadt.

»Wer ist dieser Aidan Macaulay?«, fragte Éanna. »Und wieso will er ausgerechnet dir diese Arbeitsstelle vermitteln? Kennt ihr euch von früher?«

»Nein, aber er kommt aus Loughrea, also gar nicht weit von meinem Heimatdorf entfernt. Ich habe ihn auf der Landstraße kurz vor Dublin kennengelernt«, berichtete Brendan ihr. »Wir haben uns gleich gut verstanden und er hat mir Unterschlupf gewährt – in einem miesen Kellerloch in der Cross Stick Alley, das er sich gerade noch leisten kann. Die Cross Stick Alley ist eine stinkende Gasse drüben in den Liberties.« Er machte eine abfällige Handbewegung. Die Liberties waren eines der berüchtigtsten Armenviertel Dublins. Es begann gleich hinter der St.-Patricks-Kathedrale und würde dieses majestätische Bauwerk bald von allen Seiten umschlossen haben, wenn es so weiterging.

Brendan zog eine Grimasse, als packte ihn plötzlich Ekel. »Mein Gott, was bin ich jetzt doch froh, dass du in dieser Pension wohnen kannst. Denn in dieses dreckige Loch hätte ich dich auf keinen Fall mitnehmen können!«

»Ist es wirklich so schlimm?« Enttäuschung stand in Éannas Augen. Sie hatte gehofft, dass die Zeit der Trennung nun vorbei war. »Emily und ich müssen schon heute eine andere Bleibe suchen, denn die zwei Wochen, für die uns Patrick O’Brien die Unterkunft in der Pension bezahlt hat, sind vorbei.«

Brendan legte die Stirn in Falten, doch gleich machte er wieder eine aufmunternde Miene. »Sorg dich nicht! Wir finden eine Lösung. Wenn ich bald mehr verdiene und du vielleicht auch Arbeit findest, können wir irgendwo ein Zimmer für uns beide mieten.«

»Ich fange gleich heute an, Arbeit zu suchen«, versprach Éanna und zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln.

Doch vor Brendan konnte sie ihre Mutlosigkeit nicht verstecken. Er schaute ihr tief in die Augen. »Du weißt doch, worüber wir so oft gesprochen und was wir uns fest vorgenommen haben, nicht wahr?«

Éannas Augen leuchteten auf. »Ja, wir werden nach Amerika auswandern!« Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, in welch weiter Ferne dieses Ziel lag. Denn auch die billigste Passage war nicht unter drei, vier Pfund pro Kopf zu haben. Und so viel Geld zusammenzusparen, war selbst dann noch ein mühsames und langwieriges Unterfangen, wenn man eine leidlich gut bezahlte, feste Arbeitsstelle hatte und sich jeden Penny vom Mund absparte!

Brendan schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln. »Irgendwie schaffen wir es schon, Éanna.« Er ergriff ihre Hände und drückte sie. »Ich weiß es ganz sicher! Und wenn auch du den Glauben daran nicht verlierst, wird keine Macht der Welt uns davon abhalten können, unseren Traum in die Tat umzusetzen!«

»Ich glaube ja daran!«, versicherte sie und erwiderte sein Lächeln tapfer, obwohl ihr das Herz schwer war.

»Gut!« Er strahlte sie an und gab ihr einen schnellen Kuss. Schon wollte er loslaufen, als ihm etwas Wichtiges einfiel und er sich noch einmal zu ihr umdrehte.

»Mach dir keine Sorgen wegen der Unterkunft. Ich werde mich umhören und zur Not nehme ich dich doch mit in unser gemütliches Kellerloch.« Brendan grinste unverhohlen.

»Komm heute Abend so gegen acht in die Meath Street!«, trug er ihr noch hastig auf. »Das ist eine der größeren Straßen im Westteil der Liberties. Ist ganz leicht zu finden. Frag nach Charley’s Shebeen. Das ist eine illegale Kellertaverne. Die kennt dort jeder, der da wohnt. Der Zugang befindet sich in einer Seitengasse zwischen zwei Mietshäusern. Keine Sorge, du findest es schon. Außerdem werde ich Ausschau nach dir halten.«

»Und was hast du dort zu schaffen, wenn das eine illegale Taverne ist?«, fragte sie ebenso verwundert wie beunruhigt.

Er zuckte die Achsel. »Ich verdiene mir da nachts noch ein paar Pence Handgeld. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Aber das erklär ich dir alles heute Abend!« Er gab ihr einen letzten Kuss und rannte los.

Éanna blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach, bis er auf der anderen Seite des Platzes um eine Straßenecke bog und aus ihrer Sicht verschwand. Sie war froh und dankbar, dass sie Brendan endlich wiedergefunden hatte. Und dass er ihr ganz offen seine Liebe gestanden und sie so leidenschaftlich geküsst hatte, hätte sie unter anderen Umständen wunschlos glücklich gemacht.

Aber ihre Freude wurde von der schmerzlichen Erkenntnis getrübt, dass Brendan ihr nicht vertraute. Denn er konnte sich noch so oft entschuldigen. Er hatte sie verletzt und die Wunde würde nicht so schnell wieder heilen.

Plötzlich fiel es ihr siedend heiß ein, dass sie Brendan etwas ausnehmend Wichtiges verschwiegen hatte. Obwohl der Begriff verschwiegen nicht der richtige Ausdruck dafür war. Denn sie hatte ihm diesen Teil ihrer Geschichte eigentlich gar nicht vorenthalten wollen. Sie war nur durch seinen Eifersuchtsausbruch nicht mehr dazu gekommen, ihm davon zu erzählen. Nämlich das, was sie Patrick O’Brien in dem Telegramm als Gegenleistung für sein rettendes Eingreifen in Ballymore Eustace versprochen hatte. Und dass sie ihn deshalb heute und an den folgenden Sonntagnachmittagen in seiner Unterkunft in der Dorset Street aufsuchen und dort viel Zeit mit ihm verbringen würde.

Was würde Brendan bloß sagen, wenn er davon erfuhr?

4. Kapitel

In Gedanken versunken, machte sich Éanna auf den Rückweg zur Pension. Wie konnte sie Brendan ihre Abmachung mit Patrick O’Brien schonend beibringen? Nach und nach erwachte die Stadt zum Leben und Éanna spürte die Müdigkeit schwer in ihren Gliedern sitzen. Sie schenkte dem Trödelmarkt, der schon zu dieser frühen Stunde den breit angelegten Platz um die Kathedrale von allen Seiten dicht umschloss, kaum Beachtung. Es gab sie mittlerweile an jeder Straßenecke in den Armenvierteln, diese improvisierten Märkte mit ihren erbärmlichen Bretterbuden, Verkaufskarren oder einfach auf dem Boden aufgetürmten Kleiderbergen.