Der Sommer danach - Elisabeth Büchle - E-Book
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Der Sommer danach E-Book

Elisabeth Büchle

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Beschreibung

Potsdam, 1945: Die Welt blickt auf "Die Großen Drei" und ihre zukunftsweisenden Beschlüsse für Nachkriegsdeutschland. In dieser Zeit macht sich Karla, eine junge Deutsche, die vor den Trümmern ihres Lebens steht, auf die Suche nach ihrer eigenen hoffnungsfrohen Zukunft. Dabei lernt sie Joan Bright kennen, eine außergewöhnliche Britin mit dem Spitznamen "Moneypenny", mit der sie innerhalb kürzester Zeit eine tiefe Freundschaft verbindet - die sie im sowjetischen Sektor aber auch in gefährliche Heimlichkeiten verstrickt. Karlas Frage, was aus ihren als vermisst geltenden Brüdern wurde, ihr Kampf gegen Hunger und Einsamkeit sowie ihre verbotene Liebe zu einem Briten sind somit bei Weitem nicht die größten Herausforderungen, denen sich die junge Frau stellen muss ... Eine berührende Geschichte mit vielschichtigen Charakteren, gründlich recherchierten historischen Zusammenhängen und einem ordentlichen Schuss Romantik, die ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte lebendig werden lässt. Das Projekt wurde gefördert durch ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

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Seitenzahl: 623

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Über die Autorin

Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.

www.elisabeth-buechle.de

Für Joel

Vorwort

Die Zeit des Nationalsozialismus empfinde ich, die ich damals noch nicht gelebt habe, als extrem verwirrend. Angefangen beim politischen Aufstieg Adolf Hitlers und der NSDAP bis hin zur blinden Gefolgstreue vieler Deutscher und den von ihnen begangenen Grausamkeiten. Was die systematischen Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung und die kaltblütigen Massaker in den von Nazideutschland besetzten Gebieten anbelangt, so möchte ich gern wissen, warum später so viele Menschen behaupteten: „Davon wusste ich nichts.“

Heute sagen wir: Sie müssen – zumindest in Teilen – davon gewusst haben. Sie haben es aktiv unterstützt, zumindest für richtig befunden oder einfach nur – ebenfalls aktiv – weggeschaut. Letzteres aus Gewohnheit? Als Selbstschutz? Aus Angst? Oder weil sie zu sehr mit den eigenen Kümmernissen beschäftigt waren?

Ich frage mich, ob die Menschen damals Schuldgefühle hatten. Und wie sie mit diesen umgegangen sind. Wie sehr das Erlebte – und das Wissen um das tatsächliche Ausmaß an Gräueltaten, das sich ihnen nach Kriegsende eröffnet hat – sie geprägt und den Verlauf ihres weiteren Lebens beeinflusst hat.

Leider habe ich von meinen Großeltern diesbezüglich keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Unter anderem deshalb, da der eine Großvater starb, als ich noch sehr klein war. Er stand der NSDAP kritisch gegenüber, so sehr, dass er sich auch dann noch weigerte, in die Partei einzutreten, als man ihm seinen Meisterbrief vorenthielt und ihn somit entsprechend benachteiligte. Seine erste Frau Anna – zu ihr später mehr – war da nicht anders. Umso „verwirrender“, dass ebenjener Großvater nach Annas frühem Krebstod die Frau heiratete, die ich als „Oma“ kannte. Sie ist mir gegenüber bei dem Thema Nationalsozialismus immer ausgewichen. Doch ich weiß, dass sie Mädchenführerin beim „Bund Deutscher Mädel“, kurz BDM, war und nach 1945 entnazifiziert wurde. Sie war ihrem Stiefsohn, meinem Vater, eine liebevolle Mutter. Ich erlebte sie als freundliche, hilfsbereite und ehrenamtlich überaus engagierte Oma, die fließend Englisch und gut Französisch sprach und die eine Begabung besaß, die ich gerne hätte: Sie sah am „falschen Schriftbild“ auf einer Schreibmaschinenseite die Fehler, ohne den Text gelesen zu haben.

Mein Großvater mütterlicherseits fiel im Krieg und ließ seine Frau mit drei noch sehr kleinen Kindern zurück. Was ich von ihr weiß, ist, dass der Alltag ein ständiger Kampf war. Entgegen kam ihr, dass sie Arbeit in einem ortsansässigen Betrieb fand. Die Belegschaft hielt große Stücke auf ihren Arbeitgeber. Er war ein großzügiger Stifter der Stadt und galt als ausgesprochen sozial und arbeitnehmerfreundlich. Zudem „sorgte“ er für die „Kriegswaisen“, ebenso wie für meinen Vater, dessen leibliche Mutter – Anna – bis zu ihrem Tod die Sekretärin jenes Unternehmers war. Und hier ist er wieder, dieser seltsame, für mich nicht greifbare Widerspruch, der es mir so schwer macht, die damalige Zeit „zu verstehen“. Denn genau jener Arbeitgeber war ein Reichstagsabgeordneter der NSDAP und ein SS-Obersturmbannführer. Die Hakenkreuzflagge wehte schon vor 1933 über seinem Unternehmen.

Wie geht das, was die damalige Belegschaft über ihn sagte, mit dem zusammen, was wir über die „einflussreichen Persönlichkeiten jener Zeit“ wissen? Wie konnten diese ihren Mitmenschen so schreckliches Leid zufügen, aber dennoch ihre eigenen Kinder lieben?

Mögliche Antworten und Erklärungsansätze gibt es viele. Ich denke, ich kenne die meisten davon. Und dennoch bleibt für mich vieles offen und unerklärlich.

Aus diesem Grund habe ich einen Roman geschrieben, der genau jene Zerrissenheit aufnimmt. Ich habe versucht, eine deutsche Protagonistin ins Leben zu rufen, die tatsächlich nichts gewusst haben könnte. Dazu musste ich ihr bestimmte Voraussetzungen mitgeben – zum Beispiel ihr junges Alter während der Machtergreifung Hitlers, eine liebevolle und beschützende Familie, lange Aufenthalte in einer abgeschiedenen Gegend und – daraus resultierend – die fehlende Verbindung zum BDM. Gleichzeitig wollte ich sie mitten ins Leben stellen. Mit Berlin als Heimatstadt, ins Umfeld eines Widerstandskämpfers usw. Nach Ende des Krieges sollte meine Romanfigur Verwirrung, Wut und Schuldgefühle durchleben.

Natürlich war es mir auch ein großes Anliegen, einen unterhaltsamen Roman zu verfassen und ein Stück deutsche Geschichte lebendig werden zu lassen, auch im Hinblick auf den „Sommer danach“, der wegweisend für Nachkriegsdeutschland war und dessen Einfluss bis in die Gegenwart reicht.

Jetzt nach der Recherche und dem Schreibprozess ist manches von dem, was mich gedanklich umtreibt, noch immer mit einem Fragezeichen versehen. Zudem beschäftigt mich ein weiterer wichtiger Gedanke, nämlich die Frage: Wie hätte ich gehandelt?

Von guten Mächten treu und still umgebenbehütet und getröstet wunderbar,so will ich diese Tage mit euch lebenund mit euch gehen in ein neues Jahr.Von guten Mächten wunderbar geborgenerwarten wir getrost, was kommen mag.Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Dietrich Bonhoeffer

Geschrieben Weihnachten 1944 in seiner Zelle im Gestapo-Hauptquartier Berlin, vier Monate vor seiner Ermordung im KZ Flossenbürg.

Prolog

August 2020

Geisterkinder? Fassungslos starrte Nina ihre Urgroßmutter Karla an. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Und dann auch noch „Moneypenny“?

In Ninas kornblumenblauen Augen – sie sahen denen von Karla überraschend ähnlich – blitzte zum ersten Mal seit Beginn ihrer gemeinsamen Reise ein Hauch von Interesse auf. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was die Vierundneunzigjährige ihr in den vergangenen Minuten erzählt hatte, während sie in ihren eigenen Gedanken versunken gewesen war. Immerhin befand sie sich gegen ihren Willen hier.

Noch immer empört über das Komplott ihrer Mutter, verdrehte Nina die Augen. Sie war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und hatte sich wie eine Fünfjährige dazu zwingen lassen, mit einer Frau, die sie kaum kannte, eine Reise in deren Vergangenheit zu unternehmen. Dabei wusste Nina nicht mal, wie ihre eigene Gegenwart aussehen sollte, geschweige denn ihre Zukunft. Und ihre Ausrede, sie habe zu viel zu tun, um ihre Urgroßmutter zu begleiten, hatte keine zwei Minuten standgehalten. Schließlich hatte sie überhaupt nichts zu tun. Wieder einmal.

„Hast du gerade gesagt, dass du ein Geisterkind bist? Oder warst – wie auch immer? Und was immer das sein soll?“

Karla strich sich mit der von Sonnenflecken übersäten Hand über den Mund und verbarg damit wenig erfolgreich die Mischung aus Belustigung und Entsetzen, die sie ergriff. „Was hat man euch im Geschichtsunterricht eigentlich beigebracht?“, murmelte sie.

Erneut verdrehte Nina die Augen. Ihre Urgroßmutter war also einer jener betagten Menschen, die bevorzugt ihre heiß geliebten Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zum Besten gaben. Die waren für Nina aber nur mäßig interessant. Es sei denn, es fielen so kryptische Worte wie „Geisterkinder“ und „Moneypenny“.

Über den beiden Spaziergängerinnen schwankten die Kronen der Laubbäume im Wind, und das Rascheln der Blätter wuchs zu einem Brausen an. Eine Bö fegte Karla durch das kurz geschnittene weiße Haar. Die alte Dame war zwar eher eine welke Schönheit, hielt sich aber bewundernswert aufrecht und trug die Falten im Gesicht mit Würde. Eine jede davon stand für ein bewegtes Leben. Für Lachen und Weinen, Hoffen und Zweifeln.

Nina war mittlerweile stehen geblieben und musterte ihre Urgroßmutter. Dabei lag noch immer dieses leicht schnippische Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht mit der kleinen Nase und dem spitz zulaufenden Kinn. Im Gegensatz zu Karla hatte sie langes blondes Haar, das sie zu einem Messy Bun geschlungen hatte. Einzelne Strähnen hatten sich daraus gelöst, tanzten im Wind und umschmeichelten ihre Wangen.

Karlas Seufzen fügte sich harmonisch in die Melodie des Waldes ein. Zum zweiten Mal, seit sie ihren Spaziergang begonnen hatten, sagte sie: „Ich bin gern hierher nach Potsdam zurückgekehrt. Nach all den Jahren …“ Sie lächelte Nina entschuldigend an. „Allerdings hätte ich die Reise in die Vergangenheit lieber allein unternommen.“

Nun runzelte Nina verwirrt die Stirn. Sie war davon ausgegangen, dass Karla ihre Enkelin Anja – Ninas Mutter – gebeten hatte, ihr eine Begleitung zur Seite zu stellen. Immerhin war Karla nicht nur für einen ihrer seltenen Besuche hergekommen, sondern weil sie ein letztes Mal den längst verwehten Spuren ihres Lebens nachgehen wollte. Und natürlich war die Wahl auf Nina, die Zweitälteste der vier Geschwister, gefallen. Denn die hatte gerade zum dritten Mal das Studium abgebrochen.

Nina kickte einen knorrigen Ast zur Seite, der auf dem Waldweg gelegen hatte. Ein Hindernis, genau wie sie. Allerdings war es sie selbst, die sich im Weg stand. Was kann ich dafür, dass ich nicht in dieses streng durchorganisierte, einzig auf Leistung gepolte Deutschland passe?

„Anja hat mich darum gebeten, dass ich mich ein wenig um dich kümmere.“

Karlas Worte ließen Nina auflachen; nicht hämisch, denn sie liebte ihre Mutter, sondern vielmehr verblüfft. Offenbar versteckte sich in der stillen, stets besonnen agierenden Anja eine geschickte Manipulatorin.

„Zu mir hat Mama gesagt, ich müsse mich dringend um dich kümmern.“

„Daran finde ich nichts Ungewöhnliches, meine Liebe. Wir Menschen sind dafür geschaffen, uns gegenseitig zu unterstützen.“

Nina unterdrückte die Erwiderung, dass das vielleicht in Karlas Jugend noch so gewesen war. Heutzutage schien jeder die Ellenbogen auszufahren und dafür Sorge zu tragen, selbst voranzukommen und das Beste für sich herauszuholen …

„Du hast dein Abitur vor ein paar Jahren mit einem Schnitt von 1,7 bestanden. Für mich bedeutet das, dass du intelligent und fleißig bist. Allerdings beobachte ich dich nun seit drei Tagen und habe den Eindruck, du schwankst zwischen einer nervtötenden, aufgesetzten Albernheit und der Verunsicherung einer jungen Frau, die nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Womöglich ist das so, weil du einer Generation angehörst, der zu viel in den Schoß fällt und die dafür noch nicht mal dankbar ist. Doch du selbst hast es in der Hand, das zu ändern.“

Diesmal kickte Nina einen Stein in den Graben, wo er raschelnd verschwand. Sie würde es ihm gern gleichtun. Dennoch wandte sie sich zu ihrer Urgroßmutter um. Karlas Direktheit verblüffte sie, zerrte schmerzhaft an ihrem Ego und verlangte ihr zugleich eine gehörige Portion Respekt ab. Ihr war durchaus bewusst, dass sie bislang keine großartigen Herausforderungen hatte bezwingen müssen und dass sie, würde sie vor einer stehen, womöglich nicht einmal in der Lage wäre, sie als solche zu erkennen.

Bei Karlas nächsten Worten fragte sich Nina unwillkürlich, ob die alte Dame Gedanken lesen konnte.

„Herausforderungen bergen stets auch etwas Positives in sich. Sie geben dir die Chance, dich an ihnen zu reiben, zu kämpfen, an ihnen zu wachsen und aufzuleben. Sie bringen dich dazu, Grenzen zu überwinden, und formen deinen Charakter.“

„Die Geisterkinder, Oma Karla“, erinnerte Nina ihre Urgroßmutter an das, was sie hatte aufmerken lassen. Sie fand, dass es an der Zeit war, sich über interessantere Themen zu unterhalten als darüber, was ihre Generation angeblich tat – oder eben nicht. Vor allem, da Karla bei früheren Besuchen nie über Geisterkinder und Moneypenny gesprochen hatte. Doch heute schien sie das ändern zu wollen.

Karla nickte ihr zu und setzte sich wieder in Bewegung – langsam und mühsam, was vermutlich ihrem hohen Alter geschuldet war. Vielleicht aber auch dem Umstand, dass sie in Gedanken eine Reise antrat.

„Ich muss nicht erinnert werden, meine Liebe. Nicht an die Geisterkinder und auch nicht an all jene, die unschuldige Kinder dazu gemacht haben. Ich bin zwar kein junges Mädchen mehr, das singend und träumend durch diesen Wald spaziert, aber mein Kopf ist völlig in Ordnung.“

Peinlich berührt, weil ihre Urgroßmutter angenommen haben musste, Nina halte sie für senil, verknotete sie die Finger. Das Gegenteil war der Fall. Ihr Respekt vor Karla wuchs gerade enorm an, und sie fand es inzwischen gar nicht mehr so schrecklich, mit ihr durch diesen Wald zu schlendern.

„Im Jahr 1945 fand unweit von hier auf Schloss Cecilienhof das Treffen der Siegermächte statt, um über das Schicksal Deutschlands und Europas zu entscheiden“, begann Karla zu erzählen.

Nina blähte die Wangen auf. „Na klar! Schon wieder Hitler. Als ob wir uns in der Schule nicht genug mit dem Thema herumgeschlagen hätten. Unsere Generation muss sich diesen Schuh nicht mehr anziehen und –“

Karlas energische Handbewegung brachte Nina zum Schweigen. „Du hast recht damit, dass euch keine Schuld trifft. Allerdings ladet ihr welche auf euch, wenn ihr das Geschehene vergesst. Wenn ihr wegschaut und die Fehler von damals wiederholt. Wenn ihr schweigt – in einer Zeit, in der es für euer eigenes Leben und das eurer Lieben noch lange keine Gefahr bedeutet, sich gegen demokratiefeindliche und rechtsstaatszersetzende politische Strömungen zu erheben!“

Nina atmete tief ein und laut aus. Also doch eine Moralpredigt. Am besten wäre es wohl, wenn sie sofort wieder auf Durchzug schalten würde. Allerdings fuhr sich Karla mit der Hand über die Augen. Um sich ein paar Tränen wegzuwischen? Oder war es Scham, die sie vor ihrer Urenkelin zu verstecken versuchte?

„Ungeduld bei jemandem, der ohnehin nicht weiß, wie er die Zeit totschlagen soll, finde ich sehr ungemessen“, sagte Karla, blieb im Tonfall aber freundlich und wirkte fast ein wenig besorgt.

„Entschuldige“, murmelte Nina betroffen. Es war erschreckend und wohltuend zugleich, wie offen Karla aussprach, was sie dachte.

„Willst du mir jetzt zuhören? Sonst spare ich mir die Luft.“

„Nein, erzähl bitte. Das mit den Geisterkindern interessiert mich schon. Und natürlich auch, was das alles mit James Bond und Miss Moneypenny zu tun hat.“

„Das ist nur ein kleiner Aspekt meiner Vergangenheit, der aber unmittelbar mit diesem Ort hier verknüpft ist. Unterbrich mich bitte, wenn es dich nicht länger interessiert. Ich will mich nicht aufdrängen.“

„Ist gut, Oma Karla.“

„An meinem zwanzigsten Geburtstag bin ich diesen Weg schon einmal entlanggegangen.“

Nina warf Karla einen prüfenden Blick zu und versuchte, sich ihre Urgroßmutter als agile junge Frau vorzustellen. Dies gelang ihr überraschend gut. Wohl, weil Karla gerade Scharfsinn bewiesen hatte; ebenso wie kämpferische Unnachgiebigkeit. In Kombination mit ihrer Direktheit wirkte die Frau beinahe rebellisch.

Prompt drängte sich Nina die Frage auf, ob ihre Urgroßmutter auch in jungen Jahren so gewesen war. Oder hatte das Leben sie dahin gehend geformt?

„Das Leben damals war … seltsam. Wir waren gefangen in einer Art Zwischenzeit. Der Krieg war offiziell vorbei, in den Herzen und Seelen der Menschen tobte er aber weiter. Man wollte wieder hoffen und lieben, leben und lachen und war doch voll Kummer und Schmerz, Verzweiflung und Angst. Die dunkle Macht – ich finde, so kann man das, was damals über Deutschland herrschte, durchaus nennen – hatte unser Vertrauen in den Nächsten zerstört. Oft sogar das Vertrauen in uns selbst.“

Karla lächelte schwach, beinahe so, als würde der Gedanke an etwas oder jemanden die düsteren Worte abschwächen, ihre Erinnerungen aufhellen. „Der Sommer im Jahr 1945 war – nach einem eiskalten Winter – drückend heiß und die Stechmücken waren eine regelrechte Plage. Und genau hier, auf diesem Waldweg …“

Eins

Karla ignorierte das Knacken und Rascheln im Unterholz, immerhin war der Mischwald voller Leben. Auch sie lebte noch, wenngleich sich das nicht immer so anfühlte.

Das Grün der Bäume leuchtete hell, jedenfalls dort, wo es den Sonnenstrahlen gelang, zwischen den dunklen, fast schwarzen Stämmen hindurchzudringen. Weiße Sterne blühten auf graugrünem Moos, und unter jedem Schritt, den Karla vorwärtsging, knirschten Steinchen, Kiefernzapfen, Zweige und vertrocknetes Laub. Insekten schwirrten in einem wilden Tanz durch die schräg einfallenden Sonnenlichtstreifen. Die Erde roch feucht und modrig, ein wenig nach Verwesung und Tod.

Der gleiche Geruch lag über dem gesamten gefallenen Reich des Mannes, der sich vier Monate zuvor durch einen feigen Selbstmord aus der Verantwortung gestohlen hatte. Die Überlebenden – darunter auch Karla – würden nun sein Vermächtnis auf die Schultern gelegt bekommen, bestehend aus Leid, Schuld und Zerstörung. Bald schon würden diejenigen herkommen, die über das Gewicht des Erbes entscheiden wollten. Die Großen Drei. Die Siegermächte. Sie würden darüber beraten, was nun mit dem deutschen Volk zu tun sei.

Karla ahnte Schlimmes – und hatte zugleich Verständnis dafür. Denn auch in ihr brodelte eine Wut, die sie eigentlich gar nicht verspüren wollte, gegen die sie nahezu verzweifelt anzukämpfen versuchte.

Der Krieg war vorbei und die Schreckensherrschaft hatte ein Ende genommen. Nur um in eine neue zu münden?

Die junge Frau zitterte trotz der schwülwarmen Sommerluft, die sich unter die Schatten spendenden Bäume stahl. Was wohl mit Deutschland geschehen würde? Wollten die Siegernationen das Land wirklich restlos zerschlagen und die Menschen darin in Armut und Entbehrung verkommen lassen? So jedenfalls hatte es in den Durchhalteparolen aus Berlin geheißen.

Karla war es schon elend genug zumute. Sie schloss die Augen und ging blind weiter. Die sie nun umgebende Schwärze ängstigte sie. Sie war ein Sinnbild für die Zukunft des Landes, das sie genauso liebte, wie ihr Vater es getan hatte.

Erneut war da dieses Rascheln, das beinahe wirkte, als folge es ihr. Karla öffnete die Augen wieder und blickte sich um. Was rief das Geräusch hervor? Eine innere Unruhe erfasste sie. Unbestimmte Angst schnürte ihr den Hals zu.

Ein Schatten löste sich aus dem Gesträuch direkt vor ihr. Der Aufschrei erstarb in Karlas Kehle. Die Gestalt entpuppte sich als stämmiger Mann in der braunen Uniform der Sowjets. Karla keuchte auf. Ich darf diesen Weg entlanggehen! Dessen war sie sich sicher.

Jener Gewissheit gelang es aber nicht, die Panik niederzuringen, die Karla beim Anblick des bewaffneten Mannes ansprang wie ein Raubtier seine Beute. Die Schreckensgeschichten über das Wüten der sowjetischen Soldaten rollten wie heiße Kohlestücke durch ihre Gedanken. Entsprachen sie der Wahrheit? Entlud sich der Hass dieses geprügelten Volkes in ebendieser unsäglich schrecklichen Form? Von den Eroberern ausgeführte körperliche Gewalt? Hauptsächlich gegen Frauen?

Karla presste die Lippen zusammen und nickte dem Fremden mit dem runden Kopf und dem kurz geschorenen roten Haar grüßend zu, dann wandte sie sich ab.

Der Mann folgte ihr. Sie zwang sich, kontinuierlich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei rann ihr der Schweiß vom Nacken über den Rücken und durchfeuchtete ihr Baumwollunterhemd, das sie unter der blassblauen Bluse trug.

Etwas bohrte sich unsanft zwischen ihre Schulterblätter. Der Soldat hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und drückte ihr den Lauf gegen die Wirbelsäule. Karla blieb stehen. Verharrte reglos. Zwang sich zum Weiteratmen.

Der Gewehrlauf wurde heruntergenommen, dafür trafen sie die ihr entgegengeschleuderten Worte wie Gesteinsbrocken. Karla verstand deren Sinn, sprach sie neben Englisch und Französisch doch auch Russisch. Äußerst derb packte der Soldat ihren Arm, riss sie herum und schleuderte sie zu Boden.

„Bitte nicht“, flehte sie erstickt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Mit den Füßen drückte sie sich weg; rutschte über den harten Waldboden. Die einzige Reaktion des Sowjets war ein hämisches Grinsen. In seinen dunklen Augen glitzerte Gier.

„пожалуйста, не надо“, wiederholte sie ihr Flehen in seiner Sprache, was den Mann jedoch nicht weiter beeindruckte. Panik rollte wie eine Feuerwalze durch Karla hindurch. Sie bohrte die Fingerkuppen in die Erde, fühlte Steine, Zweige und Laub.

Der Soldat warf seine Waffe achtlos in den Graben und machte sich an seiner Hose zu schaffen. In Karla stieg Übelkeit auf. Diese ließ sie endlich reagieren. Sie warf sich herum, schob sich auf die Knie. Vor ihren Augen gab es dichte Sträucher; Baumstämme ragten empor. Boten sie ihr die Möglichkeit zur Flucht? Auf allen vieren krabbelte sie voran.

Doch sie kam nicht weit. Große Hände packten ihren linken Fußknöchel. Sie wurde rücksichtslos über den Boden gezerrt. Zurück auf den Weg. Dabei drehte der Soldat sie um. Ihr Rock rutschte nach oben und legte ihre weißen Oberschenkel frei.

Karla atmete beißenden Schweißgeruch ein, Männerlachen drang an ihr Ohr. Es klang bösartig. Eiskristalle schienen durch ihre Adern zu rieseln. Sie taxierte das Gesicht des Mannes über sich, sah die breite Nase, die mindestens einmal gebrochen gewesen war. Dazu das bedrohlich dunkle Braun seiner eng zusammenstehenden Augen, die buschigen rotblonden Augenbrauen, die feuerrote Narbe neben dem linken Mundwinkel.

Sie würde den Anblick des Kerls nie vergessen. Ein Leben lang. Wenn er sie denn am Leben ließ …

i

„Die Armee bombardiert mich mit Anordnungen.“ Joan kicherte und rempelte ihn mit der Schulter an. Im Gegensatz zu ihrem fast kindlichen Lachen war der Knuff, den sie ihm verpasste, nicht von schlechten Eltern. Genau jene Kombination war eine der Eigenheiten, die Joan Bright ausmachten. Die Frau war wie Sonnentau, eine wohlduftende Pflanze, die ihr Opfer mithilfe einer klebrigen Flüssigkeit einfängt und nie wieder loslässt.

Ray Carter grinste ob des Gedankens. Denn das, was Joan von der fleischfressenden Pflanze unterschied, war der erwiesene Umstand, dass jeder, den sie in ihre Fänge bekam, sie dennoch liebte.

Er betrachtete ihr modisch frisiertes braunes Haar und das energische Kinn, das im Widerspruch zu ihrem überaus reizenden, ansonsten sehr weiblichen Erscheinungsbild stand. In diesen Tagen bildeten Joan und ihre Mitarbeiter die Vorhut der britischen Delegation und hatten dafür zu sorgen, dass es den Delegierten während der Potsdamer Konferenz an nichts fehlen würde. Ihre Anwesenheit würde den reibungslosen Ablauf der als schwierig eingestuften Gespräche gewährleisten, zumindest was die Belange unter ihrem Kommando betraf.

Die Fünfunddreißigjährige hatte nicht nur Unmengen an Klingeltransformatoren, baumwollbezogenem Klingeldraht, Holzschrauben zu sechs Inches und isolierten Klammern geordert, sondern auch ihn – Raymond Carter, dreißig Jahre alt und seines Zeichens Elektroingenieur –, damit er die dringend benötigten Funk- und Telefonanlagen installierte. So zumindest lautete sein offizieller Auftrag.

Allerdings kannte Ray Joan gut genug, um zu ahnen, dass weitaus mehr dahintersteckte. Sie hatte bereits einige Positionen in Whitehall1 bekleidet, darunter auch solche, die im Zusammenhang mit dem Auslandsgeheimdienst standen. Ray hatte Joan kennengelernt, als sie noch die Hüterin der Geheimdokumente gewesen war, die während des Krieges den Weg ins War Office2 gefunden hatten. Auf Anweisung von oben hatte sie Politikern und Militärs Zugang zu den streng geheimen Papieren und Berichten gewährt, die nur in ihrem Beisein gelesen werden durften. Sie wusste genau, was sie wollte, verfügte immer über deutlich mehr Informationen als andere und verstand es, die Menschen in ihrem Umfeld geschickt zu manipulieren. Das alles verbarg sich hinter der hübschen Fassade einer Frau, die überaus charmant sein konnte – und manchmal sogar ein wenig naiv wirkte. Er selbst hatte sie jedenfalls dafür gehalten, allerdings nur bis zu ihrem ersten und zugleich letzten Date …

Aus seiner anfänglichen Bewunderung für Joan – sie hatte diese auszunutzen versucht, weil sie über ihn an brisante Informationen herankommen wollte – war mittlerweile Freundschaft geworden. Und somit gehörte nun auch er zu besagten Opfern in ihren klebrigen Fangarmen.

Joan bewegte sich innerhalb eines Spektrums von ehrgeizigem Patriotismus und kindlicher Neugierde. Sie verstand es, Menschen für sich einzuspannen, ohne ihnen dabei Schaden zuzufügen, denn im Grunde besaß sie eine gute Seele.

Nun befand sich Ray auf einem Spaziergang mit ihr und hörte sich lustige Begebenheiten aus ihrem neuen Aufgabenbereich an.

„In Anordnung Nummer 53 hieß es: ‚Die Wäscherei für VIPs befindet sich auf dem Delegationsgelände‘, am nächsten Tag kam dann in Anordnung Nummer 87 folgender Vermerk: ‚Siehe Nummer 53: Miss Bright hat zu bestimmen, wer die Erlaubnis bekommt, die VIP-Wäschereianlage zu benutzen.‘ Und gefühlte dreihundert Anordnungen später haben dann plötzlich die Russen eine deutsche Wäscherei aufgetan, die unsere Delegierten versorgen soll, solange wir Seife und Kohle liefern.“ Joan lachte amüsiert auf. „Oder Anordnung 29: In der hieß es, dass wir die russische Methode übernehmen sollen und Zivilarbeiter nicht von uns verköstigt werden. Kurz darauf kam die 48. Dort hieß es: ‚Siehe Nummer 29: Streichen Sie das Wort nicht.‘ Ist das nicht großartig, Ray?“

„Das ist es, Moneypenny.“ Ray war abgelenkt, sonst hätte er sicher nicht laut gesagt, was ihm durch den Kopf geisterte. Denn er wusste, dass Joan ihren Spitznamen nicht leiden konnte. Zumindest weigerte sie sich nach wie vor vehement preiszugeben, warum Ian Fleming, einer ihrer früheren Verehrer, ihr diesen verpasst hatte.

Joan knurrte wie ein halb verhungerter Hund, dem man einen Knochen hinhält, nur um das Objekt der Begierde sogleich wieder wegzuziehen.

Ray ignorierte es erfolgreich. Im diffusen Spiel aus Licht und Schatten meinte er, in gut zweihundert Metern Entfernung Bewegungen auf dem Boden wahrzunehmen. Während seine Begleiterin irgendetwas von zweitausend Konferenzpässen und einhundert Union Jacks für die Autos erzählte, kniff er die Augen zusammen. Dann ergriff er Joan am Unterarm und brachte sie damit nicht nur zum Stehen, sondern auch zum Schweigen.

„Bleib hier!“, zischte er gepresst. Inzwischen sah er mehr als nur das zerzauste hellbraune Haar einer Frau, die sich verzweifelt gegen einen Mann zur Wehr setzte. Ungeachtet des Umstandes, dass der Kerl ein sowjetischer Soldat war, der sicher eine Waffe bei sich hatte, spurtete Ray los. Im Näherkommen schrie er: „He, Soldat! Stopp. Aufhören!“

Der Rotarmist sprang auf. Offenbar hatte er Rays wenige Brocken Russisch verstanden. Oder ihm war schlicht eingeimpft worden, Befehlen unverzüglich Folge zu leisten. Der Kerl nestelte an seiner Hose herum. Eine Schusswaffe sah Ray nicht. Wohl aber, dass sich die Frau – oder vielmehr das Mädchen – hektisch das Unterhemd und die Bluse herunterzog und mit der anderen Hand den braunen Baumwollstoff ihres Rockes über die Knie warf. In ihren ungewöhnlich kurzen Haaren hatten sich Blätter, Kiefernadeln und kleine Zweige verfangen.

Für einen Augenblick fragte sich Ray, ob er die Situation falsch gedeutet hatte, doch dann rutschte das Mädchen über den Boden davon. Ihre Augen, panisch aufgerissen, fixierten den Sowjet, nahmen jede seiner Bewegungen wahr. Aus Vorsicht. Sie wollte wohl gewappnet sein, falls er erneut über sie herfallen würde.

Ray fing sich einen wütenden Blick des Soldaten ein. Erst jetzt schien der seinen Fehler erkannt zu haben. Das Dämmerlicht unter den Bäumen und die unruhigen Sonnenstrahlen, die zwischen den vom starken Wind bewegten Blättern ihren Weg zum Waldboden fanden, hatten ihn ebenso getäuscht wie Rays in stümperhaftem Russisch vorgebrachter Befehl.

Die Worte, die der Soldat Ray entgegenspie, beinhalteten unflätige Flüche und Verwünschungen. Das verstand Ray, auch ohne die Sprache zu beherrschen. Der Sowjet sprang in den Graben und zog sein Gewehr heraus. Das Mädchen wimmerte. Es rollte sich auf dem Waldweg ein, als versuche es, mit diesem zu verschmelzen.

Als Ray eilige Schritte hinter sich vernahm, kniff er die Augen zusammen. Joan war nicht in sicherem Abstand stehen geblieben. Eigentlich hätte ihm das klar sein müssen, da sie für gewöhnlich keiner Konfrontation aus dem Weg ging.

Das Auftauchen einer weiteren Person bewog den Russen dazu, innerhalb von Sekunden im Unterholz zu verschwinden.

Ray atmete aus und entspannte bewusst die zu Fäusten geballten Hände. Sie befanden sich hier auf von Sowjets besetztem Gebiet. Der Soldat hätte sie einfach erschießen und sich eine entsprechende Geschichte ausdenken können …

Besorgt, da das Mädchen sich nicht rührte, ging er in die Hocke und hob die Hand, wagte es jedoch nicht, die junge Deutsche zu berühren. Sie zitterte, und Tränen rollten über ihr fein geschnittenes Gesicht. Ob diese von Schmerz und Verzweiflung herrührten oder womöglich aus Scham vergossen wurden? Ray jedenfalls war froh, dass die Sache für sie glimpflich geendet hatte, was seltsam war, bedachte man, welche Wut auf die Krauts3 er in sich trug. Letztere hinderte ihn daran, tröstende Worte zu finden. Obwohl eine Vergewaltigung zutiefst niederträchtig, grausam und verwerflich war, hielt sich sein Mitleid für die Frau in Grenzen.

Joan knuffte ihm gegen die Schulter. „Geh bitte ein paar Schritte zur Seite. Ein Kerl ist das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann. Lass mich das machen.“

Nach einem weiteren Blick in das tränennasse und bleiche Gesicht des Mädchens gab Ray Joan recht, erhob sich und entfernte sich einige Schritte. Er blieb aber nahe genug stehen, um die sanften Worte zu hören, mit denen Joan die am Boden Liegende ansprach. „Er ist weg, Mädchen. Beruhige dich. Er kann dir nichts mehr tun. Ray, mein Freund hier, passt auf, dass der Kerl nicht zurückkommt.“

Ray nickte grimmig, obwohl seine Fürsorge vielmehr Joan als der Deutschen galt. Er schob den Saum des Uniformhemds, das er aufgrund der Hitze locker über dem Hosenbund trug, ordentlich in diesen zurück. Dabei sah er sich prüfend um. Eine innere Stimme drängte ihn, den Wald so schnell wie möglich zu verlassen. Wer wusste schon, ob der Kerl nicht zurückkommen würde, und das womöglich in Begleitung einiger Kumpels?

Unbehaglich rieb sich Ray den Nacken. So viel dazu, dass sie Hitler gemeinsam besiegt hatten und nun – ebenfalls gemeinsam – über die Zukunft Deutschlands entscheiden mussten. Während des Krieges waren die sowjetischen Soldaten ihre Verbündeten gewesen, die sich dem deutschen Heer unter immensen Verlusten entgegengeworfen hatten. Hieß es nicht: Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde? Mittlerweile herrschten kaum noch Sympathien zwischen den Briten – Premierminister Churchill im Besonderen – und Amerikanern auf der einen Seite und den Sowjets auf der anderen. Eher Widerstand. Meinungsverschiedenheiten. Trennendes.

Die Nazis hatten England zwar bombardiert, waren aber nicht mordend und brandschatzend über die Insel hinweggezogen, wie sie es in der Sowjetunion getan hatten. Dass die Sowjets alles hassten, was Deutsch war, fand Ray nachvollziehbar. Dass sie Vergeltung für das forderten, was ihren Familien angetan worden war, vollkommen verständlich. Allerdings bezweifelte er, dass dieses Mädchen je einen Fuß auf sowjetischen Boden gesetzt hatte. Unschuldig war sie deshalb aber noch lange nicht …

„Mein Name ist Joan Bright. Ich gehöre zu Winston Churchills Stab. Kannst du aufstehen? Wir sollten hier verschwinden. Ich kann dich zu einem unserer Ärzte bringen.“

Das Mädchen reagierte nicht, starrte nur mit leerem Blick an ihnen vorbei in den Wald.

„Joan?“ Ray räusperte sich verlegen, da die Deutsche unter dem tiefen Klang seiner Stimme zusammenzuckte. „Wahrscheinlich versteht sie dein gebrochenes Deutsch nicht.“

„Du kannst es besser. Immerhin hast du geholfen, diese Enigma-Verschlüsselungen4 zu knacken.“

„Ich war für die Elektrik und die Bauteile der Entschlüsselungsbomben zuständig“, stellte Ray klar, was Joan eigentlich wusste. Nur ungern erinnerte er sich an die kleine Ortschaft Bletchley nahe London. Sie war ein verrußter grauer Eisenbahnknotenpunkt, an dem er – wie Tausende andere begabter Männer und Frauen – den Krieg im kryptoanalytischen Zentrum von Bletchley Park verbracht hatte. Seine Jahre dort waren von chronischem Schlafmangel, ständig fehlenden Ersatzteilen und drei immerzu wechselnden Achtstundenschichten geprägt gewesen. Für Ray war der Begriff „Bletchley“ gleichbedeutend mit den im Winter eiskalten Baracken auf dem Gelände des Herrenhauses, mit nahezu krankhafter Geheimniskrämerei und dem unerträglichen Lärm einiger Abteilungen. Dennoch wusste er, dass er auch woanders hätte landen können: mitten auf dem Schlachtfeld.

„Versuch es trotzdem. Aber halte Abstand!“

„Mädchen“, Ray runzelte die Stirn und suchte die deutschen Brocken zusammen, die in seinem Gedächtnis hängen geblieben waren, das lieber mit Zahlen und Fakten statt mit Wörtern jonglierte, „ich bin Ray. Das ist Joan. Wir sind aus England. Wir wollen dir helfen.“

„Ich verstehe euch gut.“ Der englische Satz kam verständlich über die geschwollenen Lippen der jungen Frau, war jedoch nicht mehr als ein Flüstern. Als fürchte die Deutsche, den Rotarmisten allein durch die Kraft ihrer Stimme erneut anzulocken.

„Das ist gut.“ Joan lächelte und strich ihr einige verschwitzte Strähnen aus der Stirn. Das Mädchen zuckte wieder zusammen, wich aber nicht zurück. Dafür hob Ray irritiert die Augenbrauen. Bei Joan hätte er einer Deutschen gegenüber keine solch mitfühlende Ader vermutet.

„Ich brauche keinen Arzt. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen …“ Die Deutsche stockte und blickte zu Ray, ohne ihn wirklich anzusehen. Schamesröte überzog ihr Gesicht, und sie senkte die Lider.

Ray bedauerte dies, denn er hatte nie zuvor in dermaßen schöne Augen gesehen. Sie waren kornblumenblau, beinahe violett. Und sie gehörten zu keinem Mädchen, wie er nebenbei feststellte. Die Frau war noch jung, aber bereits dem Teenageralter entwachsen. Vermutlich lag es an ihrer schlanken, ja mager aussehenden Gestalt, dass er sich diesbezüglich getäuscht hatte. Ihre Haare wirkten, als seien sie geschoren worden und würden nun wieder nachwachsen. War sie womöglich eine ehemalige KZ-Insassin? Dann würde ihr allerdings sein Respekt gebühren, und er wäre doppelt froh, dass er ihr heute hatte helfen können.

Ein zweites Mal atmete Ray erleichtert durch. Sie hatten den Soldaten rechtzeitig gestört, ehe es zum Äußersten gekommen war, denn diese Deutsche sah aus, als habe sie bereits genug Schweres hinter sich. „Wir sollten wirklich von hier verschwinden“, wiederholte er.

Die junge Frau nickte und erhob sich, wobei sie darum bemüht war, den langen Rock ja keinen Zentimeter nach oben rutschen zu lassen. Sie wollte nicht mehr Haut zeigen als unbedingt nötig. Zumindest nicht in seiner Gegenwart.

Während Joan dem deutschen Fräulein half, sich halbwegs von dem Unrat zu befreien, der sich in ihrer Kleidung und ihren Haaren verfangen hatte, wandte Ray sich ab. Sie hatte ein Gesicht, das man gern ansah, dennoch wollte er ihr seinen neugierigen Blick nicht länger zumuten. So viel zu deiner Überzeugung, dass jeder Deutsche ein Monster ist.

Unverzüglich rief er sich die toten und lebendigen Leichen von Bergen-Belsen in Erinnerung, die eingefallenen Gesichter der Kinder in ihrer separaten Baracke, die Berge von menschlichen Überresten, die sie mit Bulldozern in Massengräber hatten schieben müssen. Andererseits … Wieder schaute Ray zu der Frau. Vielleicht war sie vielmehr ein Opfer denn eine Täterin?

„Gehen wir!“, sagte Joan im Befehlston, den sie gern ihren Mitarbeitern gegenüber gebrauchte. Und zu diesen gehörte jetzt auch Ray. Zumindest so lange, bis die Konferenz der Siegermächte hier in Potsdam der Vergangenheit angehören würde.

Er ließ die Frauen vorangehen, vernahm, dass die Fremde sich als Karla Bergmann vorstellte und anschließend Joans Fragen beantwortete. Einmal mehr bemerkte er voller Bewunderung, wie leicht es Joan fiel, Menschen zum Erzählen zu bewegen, ohne ihnen das Gefühl zu vermitteln, von ihr ausgehorcht zu werden. Karla wirkte beinahe erleichtert darüber, jemandem Rede und Antwort stehen zu können, vermutlich, weil sie das auf andere Gedanken brachte. Oder wollte sie ihren beiden Rettern einfach nur mit Freundlichkeit begegnen? Jedenfalls erfuhr Ray, dass sie zwanzig Jahre alt war und vier Sprachen beherrschte, dass ihr Vater nicht mehr lebte und sie nach Geschwistern und weiteren Verwandten suchte, die sie in den Wirren des Krieges aus den Augen verloren hatte. Zudem verriet sie, wie dringend sie eine Arbeit brauchte.

Als sie schließlich den Waldweg verließen und auf den in einem Feldweg geparkten Wagen zugingen, bot Joan Karla eine Beschäftigung an.

Rays Mundwinkel zuckten unwillig. Sicher würden sie nach dem Eintreffen von Premierminister Churchill und dessen Beraterstab einige deutsche Arbeitskräfte benötigen, doch die galt es sorgfältig auszuwählen. War Joan von Karlas Offenheit und der zuvor gezeigten Verletzlichkeit so eingenommen, dass sie die junge Frau für harmlos und gleichzeitig für befähigt genug hielt, um in der Nähe ranghoher Politiker und Militärs zu arbeiten? Ray wagte dies zu bezweifeln. Bestimmt hatte Joan in Karla etwas anderes entdeckt, was ihr von Nutzen sein könnte.

Hätte Ray einen Hang zur Dramatik, würde er dem Mädchen sagen, dass sein Schicksal damit besiegelt war. Andererseits musste Karla ihm gleichgültig sein, denn das mitgehörte Gespräch hatte ihm ein weiteres wichtiges Detail über sie offenbart: Die junge Frau war nicht in einem Lager gewesen.

Karla wandte sich um und warf ihm einen seltsamen Blick zu. Fast so, als spüre sie seine Vorbehalte und Zweifel ihr gegenüber. Er vernahm, wie sie sich bei Joan für das Angebot bedankte. Sie nahm es an, jedoch nicht ohne zuvor die Schultern mehrmals nach oben gezogen zu haben, als müsse sie sich vor etwas schützen. Oder als sei sie gezwungen, wichtige Informationen über sich selbst zurückzuhalten.

Ray überkam das unbestimmte Gefühl, dass Karla mehr war als lediglich eine Kriegsüberlebende auf der Suche nach ihrer Familie. Allein der Umstand, dass ihr Englisch nahezu akzentfrei war und sie noch zwei weitere Fremdsprachen beherrschte, schien das zu belegen. Er nahm sich vor, das deutsche Fräulein genauestens im Auge zu behalten.

Zwei

Joan betrat ihr Quartier, das sie gemeinsam mit ihrer Freundin Betty Gibbs bewohnte. Sie trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Ihre Begegnung mit Karla beschäftigte sie, denn die junge Frau tat ihr leid. Sicher, sie und Ray waren gerade noch rechtzeitig dazwischengegangen, ehe der lüsterne Kerl der Deutschen hatte Gewalt antun können. Dennoch hatte sie wie ein angeschossenes Reh gewirkt, und vielleicht war der Vergleich gar nicht so abwegig. Karla suchte ihre Lieben, da die Familie offenbar auseinandergerissen worden war. Und ihr seltsamer Haarschnitt wirkte, als sei ihr vor einiger Zeit der Kopf kahl geschoren worden. Joan war sich sicher: Man hatte zwar nicht mit einer Waffe auf Karla geschossen, ihr aber dennoch großes Leid angetan.

Allerdings wirkte Karla bei Weitem nicht so ausgezehrt wie jene aus den Lagern Befreiten, deren Anblick sich tief in Joans Gedächtnis gebrannt hatte. Zwar hatte sie nur Schwarz-Weiß-Fotografien gesehen, dennoch waren die Bilder in ihrem Kopf farbig gewesen. Sie hatte keine anonymen Fremden gesehen, sondern Menschen wie sie selbst, wie ihre Nachbarn, ihre Freunde …

Ray hingegen war bei der Übergabe des Lagers Bergen-Belsen durch die SS an die Briten vor Ort gewesen. Er sprach nicht darüber, doch sein Verhältnis zu den Deutschen war seitdem extrem unterkühlt. Er hatte sich verändert – wie sie alle?

Joan seufzte. Ihre Eltern, sie und ihre sechs Geschwister hatten weder in Argentinien, wo Joan geboren worden war, noch in Andalusien, wo ihre Familie anschließend gelebt hatte, genug Geld zum Leben gehabt. Rückblickend betrachtete sie diese Zeit allerdings als eine glückliche. Eigentlich hatte ihr Vater, seines Zeichens Buchhalter, 1915 einen Job in Nordamerika antreten wollen. Sein Schiff war jedoch eine Zeit lang damit beschäftigt gewesen, die Überlebenden der gesunkenen Lusitania5 einzusammeln, sodass er zu spät an seinem neuen Arbeitsplatz eingetroffen war …

Die darauffolgenden harten Jahre und die Wurzellosigkeit der Familie hatten Joan geprägt. Man hatte sie häufig als wilde Hummel bezeichnet. Zeitgenossen, die sich weniger charmant über ihre Jugendjahre äußerten, nannten sie auch gern einmal aufsässig, respektlos oder schlicht unerzogen. Aber inzwischen war sie erwachsen geworden und hatte gelernt, ihre Vergangenheit nicht über ihre Gegenwart und Zukunft bestimmen zu lassen – zumindest in Teilen.

In Gedanken versunken beobachtete Joan, wie zwei britische Militärlaster die Straße entlangfuhren. Für Karla hoffte sie, dass auch sie eines Tages ihre Vergangenheit hinter sich lassen könnte; für Ray, dass das, was er in jenem Lager gesehen hatte, sein Herz nicht erkalten lassen würde. Denn eigentlich war er ein humorvoller und feinfühliger Mann, der, hatte er jemandem erst einmal seine Zuneigung und sein Vertrauen geschenkt, auch mutig für ihn einstand.

Da er ein intelligenter Analyst war, hatte Ray bei ihrem ersten und einzigen Date schnell bemerkt, dass Joan ihn auszuhorchen versuchte. Er hatte ihr daraufhin offen ins Gesicht gesagt, wie unmöglich er das fand. Dennoch war der Kontakt zwischen ihnen nie abgebrochen. Und nun, da sie ihn um Unterstützung gebeten hatte, stand er ihr zur Seite. Auf Ray konnte man sich verlassen. Für gewöhnlich verzieh er schnell und vorbehaltlos. Sein Aufenthalt in Bergen-Belsen jedoch nagte an seinen famosen Charaktereigenschaften wie eine Ratte an einem Stromkabel. Vielleicht hatte er die Begegnung mit Karla gebraucht, um zu erkennen, dass nicht alle Deutschen niederträchtige Kreaturen waren?

Joan war das Zusammentreffen mit Karla jedenfalls äußerst gelegen gekommen. Eigentlich hatte sie eine weitere Britin nach Potsdam mitnehmen wollen, eine, die nahezu perfekt Russisch sprach und die Joan gern im Umkreis der sowjetischen Delegation eingeschleust hätte. Leider war die Frau einen Tag vor der Abreise erkrankt und musste in England bleiben. Und Joan hatte den Plan begraben müssen, Churchill während der Konferenz mit Insiderwissen aus dem sowjetischen Lager zu versorgen.

Durch Karla eröffnete sich ihr nun die Möglichkeit, ihr Vorhaben doch noch in die Tat umzusetzen. Immerhin hatte die Deutsche ihr verraten, dass sie jedes einzelne unflätige Wort des Soldaten verstanden hatte. Damit bewies sie, deutlich mehr als nur höfliche und oberflächliche Konversation auf Russisch führen zu können.

Joan war eine Meisterin darin, Menschen zu durchschauen. Entsprechend schnell hatte sie erkannt, dass Karla über etwas verfügte, was der anderen Britin gefehlt hätte: eine gehobene Ausbildung und die nötige Kenntnis der Etikette. Dies würde es der jungen Deutschen ermöglichen, sich vollkommen unauffällig in den Kreisen hochrangiger Politiker und Militärs zu bewegen; sie würde spielend leicht als eine von ihnen durchgehen.

Da Karla verzweifelt nach einer Anstellung gesucht hatte, war es für Joan ein Kinderspiel gewesen, sie für ihre Zwecke zu rekrutieren, anstatt sie zwangsverpflichten zu müssen. Nun war Karla ihr sogar in doppeltem Sinne zu Dank verpflichtet, sodass Joan ein paar Gefallen bei der Deutschen einfordern konnte. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, ob das „angeschossene Reh“ jene speziellen Aufgaben erfüllen könnte, ohne dabei vor Angst zu vergehen – und sich dadurch zu verraten. Denn das würde einerseits Joans Missionen gefährden, andererseits Karla selbst in Schwierigkeiten bringen. Und beides hatte sie nicht im Sinn. Zumal sie noch ein weiteres Ziel vor Augen hatte, das sie zu erreichen gedachte. Und dafür war Karla ebenfalls perfekt geeignet …

Zuerst einmal musste sie aber alles über Karlas Vergangenheit in Erfahrung bringen. Immerhin wollte sich Joan kein Kuckucksei ins Nest holen.

i

Karla seifte sich bereits das vierte Mal ein, obwohl sie mit dem kostbaren Gut sparsamer umgehen sollte. Selbst jene Stellen, die der Sowjet nicht berührt hatte, schrubbte sie, bis ihre Haut krebsrot war. Anschließend wusch sie sich ein weiteres Mal das allmählich nachwachsende Haar.

Joan trug eine wunderbare, in Wellen gelegte und modisch hochgesteckte Frisur, fand Karla. Ohnehin war die zierliche Britin recht hübsch anzusehen, einzig das etwas breite Kinn verlieh ihr einen Hauch von Härte, die sie in ihrem Beruf aber sicher auch brauchte. Immerhin befehligte sie ein ganzes Corps an Mitarbeitern und Hilfskräften, die die Räumlichkeiten für die britischen Delegierten vorzubereiten hatten.

Karla war Joan unendlich dankbar. Zum einen für die Rettung vor dem Rotarmisten, zum anderen für das überaus freundliche Angebot, im Rahmen der Konferenz für sie arbeiten zu dürfen, obwohl Karla noch nicht wusste, welche Aufgabe Joan ihr übertragen wollte. Wählerisch durfte sie ohnehin nicht sein, schließlich war sie die Tochter eines Mannes, der den Führer zu töten versucht hatte; die Tochter eines Verräters!

Ihr Vater war einer der Verschwörer des 20. Juli 1944 gewesen, und wie alle seine Mitstreiter hatte auch ihn nach dem gescheiterten Attentatsversuch das Todesurteil ereilt.

Karla betrachtete sich in dem fast blinden Spiegel. Sie und ihre Mutter waren daraufhin in Sippenhaft genommen worden. Das Reichssicherheitshauptamt verschleppte die Familien fast aller Attentäter in einer wahren Odyssee durch Gefängnisse, Konzentrationslager und gegen Ende sogar in die Tiroler Alpen. Kinder bis vierzehn Jahre, darunter auch Säuglinge im Alter von gerade einmal zehn Tagen, verschwanden förmlich über Nacht und wurden in Kinderheimen der Nationalen Volksfürsorge untergebracht. Niemand durfte ihre Namen erfahren; keine Menschenseele wusste, wessen Kinder dort einquartiert waren. Sie waren namenlose Erscheinungen, sodass man sie schließlich Geisterkinder taufte.

Karlas dreizehnjährige Schwester Mathilde war mittlerweile wieder mit ihrer Mutter vereint. Mattis, ihr achtjähriger Bruder, hätte eigentlich auch längst zu Hause sein müssen. Das war er aber nicht. Genauso wenig wie Konrad, der Älteste der Geschwister. Er war in Frankreich stationiert gewesen und galt seit dem 21. Juli 1944 als verschollen. Gemeinhin vermutete man den Abschuss durch ein feindliches Jagdflugzeug. Doch konnte das wirklich Zufall sein? Einen Tag nach dem Attentat auf Hitler? Karla nahm vielmehr an, dass man Konrad erschossen oder ihn in ein Kellerloch gesteckt und den Schlüssel weggeworfen hatte.

Die meisten ihrer Landsleute begegneten ihr mit Misstrauen und Unverständnis, manche sogar mit blankem Hass. Dabei hatten am Ende ihrer Sippenhaft, die Karla in Gefängnissen und Konzentrationslagern verbracht hatte – immer im Ungewissen darüber, ob sie den nächsten Tag erleben durfte –, etliche Menschen durchaus dankbar, ja nahezu bewundernd reagiert, als sie erfahren hatten, wer sie war.

Hätte ich Joan sagen müssen, mit wem sie es zu tun hat? Doch den Briten war das sicher egal. Für Karla bedeutete die Arbeit in Joans Corps ein Auskommen sowie die Möglichkeit, endlich wieder ausreichend zu essen, weil sie verköstigt werden würde. Immerhin verweigerte man ihr, der Tochter eines „verurteilten und hingerichteten Landesverräters“, trotz der Lebensmittelkarte der Besatzungsmacht oft genug den Zugang zu Nahrungsmitteln.

Vielleicht war es Wortklauberei, doch Karla fand, dass ihr Vater nicht hingerichtet, sondern ermordet worden war. Schließlich hatten die Gerichtsverhandlungen einem drittklassigen Theaterstück geglichen. Einem, das für ihren Vater und seine Mitstreiter tödlich ausgegangen war.

Karla legte den Schwamm beiseite und stützte sich schwer auf die Eichenkommode. Sie zitterte, atmete keuchend. Wie sehr sie ihren Vater vermisste! Seine starken und Trost bietenden Arme. Seinen scharfen Verstand, der nach einer anfänglichen Begeisterung für Hitler genau zu differenzieren gewusst hatte, was Wahrheit und Ehre, was Trug und Verlogenheit waren. Sicher hatte ihr Vater um die Gefahr gewusst – auch für seine Familie. Und dennoch war er den Weg des aktiven Widerstands bis zum bitteren Ende gegangen. Er hatte sein Vaterland geliebt und war gewillt gewesen, es aus der Hand eines Fanatikers zu retten. Irgendwann hatte er sich damit abgefunden, dass dafür ein Tyrannenmord nötig wäre. Und dann hatte der Tyrann ihn ermordet.

Karla seufzte, trocknete sich ab und zog sich das mehrmals geflickte Nachthemd über – das einzige, das sie noch besaß. Obwohl es draußen bereits zu dunkeln begann, war die Luft in ihrer winzigen Dachkammer drückend heiß und voll tanzender Staubkörner.

Wie so oft in diesen Tagen ging sie hungrig zu Bett. Sie schloss die Augen. Sofort sah sie das runde Gesicht des sowjetischen Soldaten vor sich, das rotblonde Haar und die frische Narbe neben seinem linken Mundwinkel.

Erschrocken riss Karla die Augen auf. Wie sollte sie einschlafen, wenn die Erinnerungen an das, was heute Nachmittag geschehen war, sie heimsuchten, sobald sie zur Ruhe kam?

Beinahe geschehen, korrigierte sie sich. Damit lenkte sie ihre Gedanken auf Ray, ihren Retter. Den jungen Briten mit dem schwarzem Haar und den grauen Augen, die mal besorgt, mal misstrauisch auf ihr geruht hatten. Obwohl er nur wenig größer war als sie und nicht gerade muskulös gebaut – wohl, weil er vorwiegend mit dem Kopf arbeitete und mit den Händen eher feinmotorisch tätig war, als dass er seine Körperkraft anwandte –, hatte Karla sich in seiner Nähe geborgen gefühlt. Einfach nur, weil er zur rechten Zeit vor Ort gewesen war, um ihrem Angreifer mutig die Stirn zu bieten. Und weil er hinter ihr und Joan hergeschritten war, als wolle er sich notfalls ein zweites Mal zwischen sie und den lüsternen Kerl werfen.

Dafür war Karla ihm sehr dankbar, denn eigentlich war Ray ihr Feind. Er gehörte zu jenen, die jetzt ihre Heimat besetzten und darüber entscheiden würden, wie teuer die Vergehen des deutschen Volkes dieses zu stehen kommen würden. Einerseits zu Recht. Andererseits hungerte Karla ohnehin schon – wie so viele ihrer Landsleute. Sie fühlte sich entwurzelt und litt unter der Ungewissheit über das Schicksal ihrer beiden Brüder. Sie trauerte um ihren Vater. Schlimm für sie waren auch all die Gerüchte über Gräueltaten, die allmählich an die Öffentlichkeit gelangten. Aber hatte es die nicht schon immer gegeben? Wie das Flimmern über sonnengeküssten Feldern, das man sah, aber nicht ergreifen konnte? Jene Gerüchte, die von Erschießungskommandos in von der Wehrmacht besetzten Gebieten sprachen, von Todeslagern … Sie waren wie einst im Moor versunkene Gegenstände, die vom Morast plötzlich wieder freigegeben wurden.

Dass die Todesmärsche von Inhaftierten gegen Kriegsende grausame Realität gewesen waren, wusste Karla mit Sicherheit, denn sie hatte einen davon mit eigenen Augen gesehen … Hieß das nicht, dass auch alles andere – all das Schreckliche, Unbegreifliche – wahr sein musste?

Mit diffusen, an ihrer Seele nagenden Schuldgefühlen und dem schmerzlichen Gefühl des Entwurzeltseins im Herzen fiel Karla in einen unruhigen Schlaf.

i

Am folgenden Morgen sah sich Karla staunend um. Sie war in Neubabelsberg, jenem Ortsteil von Potsdam, in dem die Villen einstiger Größen der deutschen Filmbranche standen. Wie die des jüdischen UFA-Regisseurs Alfred Zeisler, in die dann Marika Rökk und Georg Jacoby gezogen waren. Hier befand sich auch die einst von Henning von Tresckow bewohnte Villa, in der angeblich das Attentat auf Hitler vorbereitet worden war.

Karlas Schritte wurden langsamer, da sie vor sich einige herumlungernde britische Soldaten entdeckte. Wie schon zuvor, als sie eine sowjetische Straßensperre hatte passieren müssen, um zu den Häusern der britischen Delegation zu gelangen, war ihr unbehaglich zumute. Die Erinnerung an ihr gestriges Aufeinandertreffen mit einem Soldaten der Besatzermächte ließ sie erzittern, zumal sich nun ein dürrer, großgewachsener Mann aus der Gruppe löste und Anstalten machte, auf sie zuzugehen.

Karla stürmte förmlich durch das schmiedeeiserne Tor und an den vertrockneten Rasenflächen vorbei. Die Villa, in der Premierminister Churchill wohnen sollte, bestach durch ihre Dachgiebel und die bodentiefen Fenstertüren samt aufwendigen Stuckverzierungen. Rechts vom Gebäude schimmerte das Blau des Griebnitzsees, auf den die Sonne funkelnde Diamanten warf.

Hier war alles so schmuck und vornehm. Und vor allem: vollkommen intakt – was irritierend war, denn im April 1945 war die barocke Altstadt von Potsdam von Bomben zerstört worden. Die Angriffe sowjetischer Truppen auf die zur Festung erklärte Stadt hatten ein Übriges getan. Und nur wenige Kilometer von hier entfernt lag Berlin in Schutt und Asche. Die Straße, in der Karlas Familie einige Jahre gewohnt hatte, gab es nicht mehr. Von den Häusern, die einst Lachen und Weinen beherbergt hatten, waren nur noch Trümmerberge übrig.

Karla quälte sich mit der Frage, wie viele von ihren einstigen Nachbarn noch am Leben waren. Und dabei wusste sie nicht einmal, wer aus ihrer eigenen Familie überlebt hatte. Und genau deshalb war sie nach der Befreiung durch die Amerikaner in die Nähe von Berlin zurückgekehrt. Sie brauchte Antworten. Und sie sehnte sich nach ihren Brüdern. Von ihrer direkten Verwandtschaft wusste sie nur, dass ihre jüngere Schwester und ihre Mutter noch am Leben waren. Die beiden hatten sich in einem Stadthaus in Oranienburg verkrochen, das einem Schulkameraden ihrer Mutter gehörte; dorthin, wo man ihnen zwar ebenfalls mit Vorbehalten, aber dennoch mit Nächstenliebe begegnete. Ihnen, der Familie eines Verräters. Die Sippenhaft durch die Nazis hatte zwar ein Ende gefunden; sie war jedoch abgelöst worden von einer anderen Art der Verbannung, hervorgerufen durch Unverständnis und Hass in den Köpfen der Menschen.

Karla straffte die Schultern, betrat den an der Hausfront entlanglaufenden Treppenabsatz und gleich darauf die niedrige Stufe vor der Eingangstür. Über diese ragte naseweis ein kleiner Balkon mit schmiedeeiserner Brüstung. Die massive Holztür stand weit offen, und im Atrium wimmelte es von Menschen, die geschäftig umhereilten.

Karla trat zögernd ein. Wuchtig, jedoch eher einschüchternd als einladend, breitete sich die Eingangshalle vor ihr aus, in kühlem Weiß gehalten, stuckbewehrt und ungemütlich karg möbliert.

Niemand nahm Notiz von ihr. Ein wenig erinnerte Karla das, was sie hier vorfand, an einen gut organisierten Ameisenstaat. Jeder kannte seinen Weg und wusste, welche Aufgaben zu erfüllen waren. Joan hatte ihr kleines Corps offenbar perfekt im Griff.

Da Karla nicht länger untätig herumstehen wollte, trat sie einer der Ameisen in den Weg. Der Mann trug die Ärmel seines Armeehemdes bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, ansonsten war er tadellos gekleidet. Er hielt prompt inne und sah sie fragend an.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich suche Miss Bright.“

Der Soldat runzelte verständnislos die Stirn, was Karla zu der amüsierten Überlegung verleitete, ob er trotz der Uniform gar kein Engländer war. Dennoch fuhr sie fort: „Heute ist mein erster Arbeitstag.“

„Nun, Miss, dann folgen Sie mir bitte.“

Die leicht näselnde Stimme des Mannes brachte Karla zum Schmunzeln. Mit seinem Singsang und dem schütteren braunen Haar wirkte er wie der versnobte Butler in einem Roman. Sie folgte ihm durch das Atrium, das nahtlos in einen Flur überging, zuerst nach links, dann nach rechts, an einer Treppe vorbei und schließlich in einen großen Raum. An diesen grenzte eine erhöht gebaute, großzügige Terrasse, dahinter lag, bis ans Seeufer reichend, ein leicht abschüssiger Park.

Inmitten der offenbar wahllos im Raum verteilten Möbel war Joans zierliche Gestalt kaum auszumachen. Sie entschied gerade, welche Stühle, Tische, Kommoden und Sessel hierbleiben und welche wieder hinausgetragen werden sollten.

„Joan, hier ist jemand, der dich sucht.“ Die näselnde Stimme des Mannes konnte erstaunlich durchdringend und laut sein. Er nickte Karla zu und eilte davon, ehe sie ein Wort des Dankes hervorbringen konnte.

„Karla! Wie wunderbar, du bist hier!“

Karla lächelte ob der überschwänglichen Begrüßung. Joan schritt um einige Möbel herum und musterte sie dabei. Sicher fiel der attraktiven Frau auf, dass Karla dieselbe Kleidung wie am Vortag trug und dass ihr Rocksaum vom Waschen noch immer feucht war.

Karla straffte abermals die Schultern. Sie hatte nun mal nur diese eine gute Garnitur. Ihre Besitztümer passten in einen winzigen Koffer. Mehr war ihr nicht geblieben.

„Wie du sicher bemerkt hast, haben die Russen dieses Villenviertel in mehrere Sektoren aufgeteilt. Ein paar Spaßvögel nennen sie bereits ‚Die verbotene Stadt‘. Ich hatte schon die Befürchtung, sie würden dich nicht durchlassen.“

„Ich habe meine Papiere dabei.“ Und darin ist vermerkt, dass ich nach dem Attentat vom 20. Juli eine von den Nazis Inhaftierte war, mitsamt den Stationen meiner Gefangenschaft. Das lässt so manchen Russen nachsichtig reagieren, zumindest die, die der deutschen oder englischen Sprache halbwegs mächtig sind.

„Das ist gut. Ich gebe dir gleich einen Ausweis, damit die da draußen wissen, dass du für die britische Delegation arbeitest und sie dich durchlassen müssen.“

„Vielen Dank“, seufzte Karla. Je weniger Zeit sie an den Kontrollpunkten mit den sowjetischen und britischen Landesflaggen verbringen musste, desto besser.

Karla sah so etwas wie Verständnis in Joans Augen aufblitzen, das jedoch schnell wieder verblasste. Stattdessen kam die strukturierte Vorgesetzte zum Vorschein, die sicher nicht gewillt war, eine Anordnung zweimal zu erteilen. Also eilte Karla hinter ihr her ins obere Stockwerk, wo mehrere Frauen mit umgebundenen Schürzen Staub wischten, Möbel rückten und Böden schrubbten. Den leise geführten Unterhaltungen nach zu urteilen, stammten sie alle aus Deutschland.

„Die Villa Urbig – oder Haus Seefried, wie einige sie nennen – wird von unserem Premierminister Winston Churchill und seinen Adjutanten, darunter Miss Mary Churchill, seine Tochter, bewohnt werden. Die anderen rund fünfzig uns zugewiesenen Häuser in diesem Sektor werden von Beratern, Soldaten, dem ATS6 und wechselnden Gästen genutzt. Hier hast du eine Übersicht. Allerdings reichen die Wohnungen nicht aus, weshalb einige unserer Delegationsmitglieder im nahe gelegenen britischen Sektor von Berlin untergebracht werden müssen.“

Verwundert blinzelnd nahm Karla die handgezeichnete Straßenkarte entgegen. Die für die Briten reservierten Straßen waren rot umrandet, bei einigen Häusern standen Namen in akkurat geschriebenen Buchstaben. Eden, Attlee, Bevin, Brooke, Cunningham … Mehr konnte sie auf die Schnelle nicht entziffern, da Joan sie am Arm ergriff und weiter in den Flur hineinzog.

„So, jetzt ruf bitte mal den Putztrupp zusammen.“

„Wie bitte?“

Joan seufzte, grinste dann und drehte sich zu ihr um. „Ich habe beträchtliche Schwierigkeiten damit, den deutschen Zivilarbeitern präzise Anweisungen zu erteilen und ihre Fragen zu verstehen. Zum Teil liegt das an ihrem Dialekt. Du sprichst beide Sprachen, also wirst du mir ab sofort dabei helfen.“

„Ich dachte …“ Karla schüttelte irritiert den Kopf, was Joans freches Grinsen nur noch verstärkte. „Sicher wirst du auch mal selbst Hand anlegen müssen. Vor allem, sobald hier alles fertig vorbereitet ist und die Gäste eingetroffen sind. Aber – und hör mir jetzt bitte genau zu – weisungsberechtigt dir gegenüber sind nur Miss Churchill, der Premierminister und falls er Besuch von seinen Beratern hat, auch diese. Und ich natürlich. Aber sonst niemand.“

Aus einer der Türen trat eine gepflegte blonde Frau in Joans Alter, die offenkundig nicht zu den Reinigungsfrauen gehörte. „Ach ja, und selbstverständlich auch meine gute Freundin Betty Gibbs.“

„Ich werde dir sagen, wann du etwas Spaß haben sollst.“ Betty grinste Karla an, wandte sich ab und ging zügig in Richtung Treppe davon.

„Joan, ich –“

„Hör zu, Karla: Ich brauche jemanden, der mich versteht und den ich problemlos verstehen kann. Außerdem stammst du offenbar aus einer Familie, die einen gewissen Standard gewohnt ist. Du kennst die Umgangsformen und bist selbstsicher genug, um Männern wie Churchill, Stalin und Truman zu begegnen, ohne vor Ehrfurcht oder gar Angst zu erstarren.“

„Aber sie haben doch jede Menge … Helfer um sich, ihre Adjutanten, dich …“

„Und du bist diejenige in der zweiten Reihe. Das Bindeglied zwischen uns und den zwangsverpflichteten deutschen Zivilkräften.“

Ohne einen neuerlichen Einwand von Karla zuzulassen, stieß Joan einen kurzen Ruf aus. Diesen gebrauchte sie offenbar häufiger, denn die im Flur Arbeitenden drehten sich um, und in den Türstöcken erschienen weitere Frauen.

Karla musterte sie. Es war ein bunt gemischter Arbeitstrupp, darunter Mädchen und junge Frauen, die vermutlich längst nicht so alt waren, wie sie aussahen. Hier hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen. Dazu kamen einige Frauen älteren Jahrgangs. Diese sollten eigentlich ihre Enkelkinder auf dem Schoß schaukeln, statt harter körperlicher Arbeit nachzugehen, vor allem nicht in dieser Hitze. Sie alle trugen Schürzen über den abgewetzten Röcken und fadenscheinigen Blusen, und die meisten von ihnen hatten das Haar unter einem Kopftuch verborgen. Raue, rissige Hände zeugten von harter Arbeit, die sie wohl schon verrichtet hatten, bevor man sie abkommandiert hatte, um die Villen für die Delegierten auf Vordermann zu bringen, und der sie sicher auch nach Feierabend nachgingen. Höchstwahrscheinlich schleppten sie Steine, in dem Versuch, die zerbombten Straßen vom Schutt zu befreien. Sie gruben Häuserreste aus und begannen mit dem Wiederaufbau einer Heimstätte, ohne dass ein Ende oder gar Erfolg in Sicht war.

„Diese junge Frau hier ist ab sofort unsere Dolmetscherin. Sie arbeitet mit mir und euch zusammen, damit die Abläufe reibungsloser vonstattengehen. Los, übersetze.“ Joan legt Karla auffordernd die Hand in die Armbeuge, sodass Karla unverzüglich tat, wie ihr geheißen war.

Neugierige Blicke streiften sie, und Karla musterte ihrerseits die Anwesenden, ohne ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Erleichtert atmete sie auf. Somit bestand die Hoffnung, dass sie von niemandem erkannt wurde.

„Wendet euch mit euren Fragen ab sofort an Karla. Das gilt vor allem für diejenigen, die wir auch während der Konferenz beschäftigen werden.“

Nach der Übersetzung ruckten einige Köpfe hoch. Offenbar war den Arbeiterinnen bisher nichts von der Aussicht auf eine weiterführende Anstellung gesagt worden. So unwillig sie anfangs über ihre Zwangsverpflichtung gewesen sein mochten – inzwischen zählte jeder einzelne Tag. Karla verstand das nur zu gut. Die Tatsache, hier zumindest eine warme Mahlzeit am Tag zu bekommen, kam ihr wie ein kleines Wunder vor.

„Miss Karla Bergmann wird euch mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

Karla übersetzte auch diesen Satz, ließ ihren Nachnamen allerdings weg. Winzige Glutnester brannten in ihrem Inneren, seit Joan ihn genannt hatte. Denn ihr war die erstaunte Reaktion einer weißblonden Frau nicht entgangen, die sich eine attraktive und wohlproportionierte Figur erhalten hatte. Karla schätzte sie auf Ende zwanzig. Als ihr Nachname gefallen war, hatte die Frau die Augen zusammengekniffen, nun taxierte sie Karla unübersehbar misstrauisch. Konnte sie mit dem Namen Bergmann etwas anfangen? Er war nicht unbedingt selten in Deutschland, aber hier in Berlin, dem einstigen Zentrum von Hitlers Reich … Vielleicht war die Weißblonde in der Lage, eine Verbindung zwischen ihr und ihrem Vater herzustellen. Immerhin war der im Ersten Weltkrieg ein Fliegerass gewesen, und später ein hochrangiger Offizier im Reichsluftfahrtministerium.

„Sie sollen weitermachen. Die Delegation wird in den nächsten Tagen hier eintreffen. Bis dahin müssen alle Zimmer fertig sein.“

Karla übersetzte und folgte Joan dann aus der Villa hinaus und die Straße entlang. Plötzlich hielt die Britin inne und zog einen zerknitterten Zettel aus ihrer Rocktasche. „Du hast gesagt, dass du Französisch sprichst. Kannst du das hier bitte für mich übersetzen?“ Sie drückte Karla den Notizzettel in die Hand. Er enthielt lediglich einzelne Worte, die wirkten, als seien sie aus dem Zusammenhang gerissene Fragmente eines Briefes. Vielleicht, weil Joan nur das notiert hatte, was zu übersetzen ihr schwergefallen war?

Karla vertrieb die Überlegungen ob dieses seltsamen Gebarens und las einfach das vor, was ihre Augen überflogen. „Verstehe Wichtigkeit … nicht relevant … verschollen … aussichtsreich.“

Joan wiederholte die Worte, indem sie sie halblaut vor sich hin murmelte. Dabei entstanden winzige Fältchen in ihren Augenwinkeln, als blicke sie angestrengt in die Ferne – oder auf den Brief, wo immer der sich auch befand.

„Danke.“ Joan steckte den Zettel wieder ein, und damit war die Angelegenheit für sie erledigt.

Wenig später betraten sie ein im Vergleich zu den umliegenden Residenzen auffällig kleines und nahezu düsteres Gebäude. In dem unansehnlichen Haus, so erklärte Joan, würde Clement Attlee wohnen. Sie fügte hinzu: „Churchill hat Attlee eingeladen, weil dieser für den wirklich unwahrscheinlichen Fall, dass die Labour-Partei bei den aktuellen Wahlen gewinnen sollte, ja Churchills Platz einnehmen müsste. Wir sind in den hiesigen Räumen noch nicht ganz so weit wie in den anderen Häusern, also solltest du hier heute besonders viel Präsenz zeigen. Die Zimmer müssen gereinigt und die Möbel aufgestellt werden.“

Karla blieb kaum Zeit zum Nicken, da Joan sich sofort umdrehte und zurück zu Churchills Unterkunft eilte. Sie schaute der Britin nach, und dabei fiel ihr Blick auf die weißblonde Frau an einem der offenen Fenster. Die deutsche Hilfskraft, von der sie zuvor so intensiv gemustert worden war, sah nicht so aus, als sei sie gerade mit ihrer eigentlichen Aufgabe beschäftigt. Vielmehr beäugte sie Karla erneut.

Unangenehm berührt zog sie den Kopf zwischen die Schultern und betrat Attlees zukünftiges Quartier, in dessen Innerem ein unfreundliches, ja nahezu trauriges Fluidum herrschte.

Drei

Ray sah sich neugierig um. Attlees Bleibe für die Zeit der Konferenz war die letzte auf seiner Liste. Joan und Betty hatten ihn kichernd darauf hingewiesen, dass dieses Gebäude leider noch nicht so weit vorbereitet sei wie die anderen, obwohl Attlee sich bereits auf dem Weg hierher befinde. Die beiden brachten dem Herausforderer von Churchill nur wenig Sympathie entgegen.