Liv - Neuanfang mit Hindernissen - Elisabeth Büchle - E-Book

Liv - Neuanfang mit Hindernissen E-Book

Elisabeth Büchle

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Beschreibung

Schwarzwald, 1959: Die in Island geborene Liv Benediktsdóttir reist in das kleine idyllische Dorf Vierbrücken, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie ihre Zukunft aussehen soll. Keiner der Einwohner ahnt, wer sie wirklich ist. Und dann ist da auch noch der junge und gut aussehende Tierarzt Ben Schuster, der sie ziemlich durcheinanderbringt. Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, zumal einer der Dorfbewohner Livs Geheimnis auf die Spur kommt ... Ein Wohlfühlroman mit Charme, Herz und einer Prise Lebensweisheit.

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Seitenzahl: 464

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Über die Autorin

Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.

www.elisabeth-buechle.de

Vorwort und Dank

Liebe Leserinnen und Leser,

zuletzt habe ich an zwei Romanen zu durchaus schwierigen und ernsten geschichtlichen Themen gearbeitet (beide noch nicht erschienen). Zwischendurch brauchte ich dann mal etwas „Leichtes“.

Mit dem vorliegenden Roman habe ich es gewagt, eine etwas längere humorvolle „Wohlfühlgeschichte“ zu verfassen, als dies bei der „Unter dem“-Reihe und der „Liliensee“-Reihe der Fall war. Dabei habe ich zwar sowohl auf ein historisches Thema – obwohl der Roman im Jahr 1959 spielt – als auch auf meine heiß geliebten Action- und Spannungsszenen verzichtet, dem Ganzen aber durchaus Tiefe verliehen, wie Sie beim Schmökern bemerken werden. Viel wichtiger war mir hier ein Blick auf das Zwischenmenschliche. Außerdem dürfen Sie auf ein Wiedersehen mit bereits bekannten Romanfiguren aus dem Büchle-Schwarzwalduniversum gespannt sein.

Wie immer freue ich mich über eine Rückmeldung von Ihnen.

Sie finden mich auf Facebook und Instagram. Gern dürfen Sie auch eine kurze Rezension verfassen. Besonders freuen würde es mich, wenn wir uns einmal persönlich kennenlernen. Laden Sie mich doch zu einer Lesung ein. Mehr dazu finden Sie auf meiner Homepage www.elisabeth-buechle.de.

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Ohne die Mithilfe vieler fleißiger Hände – neben denen, die über die Tastatur tanzen – entsteht und verkauft sich kein Buch. An dieser Stelle deshalb wieder ein herzliches Dankeschön an das Gerth-Medien-Team, an meinen Co-Autor und die ganze Familie, an alle Rezensenten, Buchhändler, Büchertischbetreiber …

Wenn Sie eines Tages im Schwarzwald auf ein Dorf namens Vierbrücken stoßen sollten … sagen Sie mir bitte Bescheid, denn ich würde auch gern einmal dorthin reisen. Aber seien Sie gewarnt: Fragen Sie dort niemanden, warum es fünf statt vier Brücken gibt!

Kapitel 1

Frühling 1959

Hier also würde sie sich für einige Zeit verstecken. Liv trat mit ihren hellblauen Satinschuhen auf den Bürgersteig und sah sich neugierig um. Dabei strich sie den farblich passenden Doppelrock glatt, der ihr bis knapp unter die Knie reichte, und stemmte die Hände in die Taille, die durch den schmalen Schnitt des Kleides betont wurde.

Das kleine Dorf war einfach perfekt! Es lag herrlich versteckt zwischen bewaldeten Bergen und war zu unspektakulär, als dass es ihr irgendwelche Ablenkung bieten würde. Die idyllischen Wanderwege luden förmlich dazu ein, erkundet zu werden. Beim Wandern könnte sie sich Gedanken über die eigene Zukunft machen, Entscheidungen treffen … Und das Beste war, dass niemand hier wusste, wer sie war.

Liv betrachtete ein Haus mit putzigen Fenstern, dunkler Holzverkleidung und einem weit nach unten gezogenen Walmdach. Es sah aus wie ein typisches Schwarzwaldhaus, wenngleich es dafür eigentlich zu klein war. Zugleich aber auch zu groß für ein Hexenhäuschen, fand Liv. Außerdem war es windschief und schien sich der nebenan wachsenden knorrigen Eiche entgegenzubeugen. Über der rustikalen Eingangstür prangte ein pinkfarbener Schriftzug, der darauf hinwies, dass dies Ritas Schönheitssalon war. Das Schild fügte sich ebenso harmonisch in das Gesamtbild ein, als hätte Leonardo da Vinci der Mona Lisa einen Oberlippenbart verpasst.

Der Omnibus, mit dem Liv in das idyllisch gelegene Tal gekommen war, stieß ein lustlos klingendes Stöhnen aus, fuhr dann aber doch knatternd und stinkend weiter die schmale Straße entlang.

Liv drehte sich um, da sie sehen wollte, was das Gefährt bis jetzt verdeckt hatte. Direkt neben der Hauptstraße sprudelte glasklares, in der Frühlingssonne silbern schimmerndes Flusswasser über Kiesel hinweg und gluckste dabei fröhlich vor sich hin, als amüsiere es sich über die Fremde, die es gewagt hatte, aus der Großstadt Hamburg in dieses kleine Tal im Schwarzwald zu kommen.

Über den Fluss führte eine mit Schnitzereien verzierte hölzerne Fußgängerbrücke – eine von vieren, so vermutete Liv, denn immerhin nannte sich das Dorf Vierbrücken.

Rund ein Dutzend Häuser reihten sich an der Straße entlang wie Perlen an einer Kette. Jenseits des Flusses, an teils sanften, teils steilen Hängen, lagen sonnengeküsste Wiesen, frisch bestellte Felder und hübsche Baumhaine; dahinter wuchsen noch weitaus höhere und bewaldete Berge dem blauen Himmel entgegen. Auf den Wiesenhängen verteilt standen einige wenige Gebäude; typische Schwarzwaldhäuser und kleine windschiefe Scheunen, deren Holzwände von der Witterung nahezu schwarz verfärbt waren. Sie wirkten, als hätte ein Schachspieler sie von dieser Seite des Flusses – dem Spielbrett – auf die andere gesetzt.

„Hübsch“, tat Liv ihre Meinung laut kund, schulterte ihren schweren Rucksack und drehte sich in die Richtung, aus der ihr der Omnibus nun wieder entgegenkam. Offenbar gab es hinter Vierbrücken kein Weiterkommen, sodass der Fahrer hatte wenden müssen.

Sie ließ das knatternde Vehikel passieren, überquerte die Straße und trat auf den deutlich schmaleren, ebenfalls gepflasterten Gehweg, der am Flussufer entlangführte. Von hier aus konnte sie den Verlauf der verspielten Flusswindungen bewundern, gleichzeitig spendeten ihr einige Laubbäume Schatten.

Liv atmete tief den frischen Duft von Wald und Frühlingssonne, Frieden und Freiheit ein, der diese kleine Ortschaft auszumachen schien. Ein kräftiger Windstoß brachte die Blätter an den Bäumen zum Brausen und wehte ihr eine ihrer dunkelblonden Haarsträhnen ins Gesicht. Eigentlich hatte sie sich jene moderne kinnlange Frisur schneiden lassen, wie Marilyn Monroe sie trug, doch ihre wilden Locken machten daraus, was sie wollten: einen Wuschelkopf. Amüsiert lächelte Liv vor sich hin. Sie sah zumindest nie ungewollt zerzaust aus – weil sie es einfach immer war.

Laut der Wegbeschreibung, die ihre Freundin Annemarie ihr gegeben hatte, lag das einzige Hotel von Vierbrücken am Ortsausgang. Also schritt Liv kräftig aus, was ihr aufgrund ihrer langen Beine leichtfiel, geriet aber ins Stocken, als sie einen kleinen Jungen und dessen Begleiter bemerkte, die ihr, vertieft in ein angeregtes Gespräch, entgegenkamen. Der etwa Neun- oder Zehnjährige war ein blonder Bengel im kurzärmeligen karierten Hemd und mit kurzen Hosen, sein Weggefährte, der watschelnd mit ihm Schritt hielt, eine große graue Gans.

„Grüß Gott, Fräulein!“, rief das Kind Liv bereits aus einigen Metern Entfernung zu und entblößte beim Lächeln eine Zahnlücke.

„Guten Tag, junger Mann“, antwortete sie zögernd und behielt dabei vorsichtshalber die Gans im Blick.

„Machen Sie hier Urlaub?“ Die dialektgeschwängerte Aussprache des Jungen war für Liv eine ziemliche Herausforderung. Sie musste sich gehörig anstrengen, um den Sinn seiner Worte zu verstehen.

„Ja“, erwiderte sie leise, da das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie hatte zwar im einzigen Hotel Vierbrückens ein Zimmer gebucht, allerdings nicht, weil sie hier Urlaub machen wollte, sondern weil sie untergetaucht war. Aber das brauchte sie dem kleinen Kerl ja nicht auf die neugierige Stupsnase zu binden.

„Das ist Fräulein Ansgar.“ Das Kind deutete auf die Graugans, die Liv misstrauisch beäugte und dabei den Kopf mal nach links, mal nach rechts neigte.

„Ich glaube, Fräulein Ansgar mag Sie.“

„Wie kommst du darauf?“, erkundigte sich Liv nach kurzem Abwägen und in der Annahme, den Sinn seiner Worte verstanden zu haben. Das kann ja heiter werden, wenn ich nicht einmal imstande bin, so kurze Sätze zu verstehen.

„Fräulein Ansgar faucht nicht, und sie verjagt Sie auch nicht.“

Liv hob die Augenbrauen. „Da bin ich aber froh.“ Sie wusste, dass Gänse ziemlich unangenehme Zeitgenossen sein konnten. Und anscheinend übernahm dieses prachtvolle Exemplar die Rolle des Beschützers für den Jungen. Ob das in dieser Gegend so üblich war? Hofhunde, die sich als Gänse tarnten?

„Das können Sie auch sein. Den Curt kann sie nämlich nicht ausstehen und jagt ihn deshalb immer durch das halbe Dorf.“ Dieses Mal hatte sich der Junge mit der Aussprache sehr viel Mühe gegeben. Offenbar war ihm eingefallen, dass er Touristen gegenüber langsam und deutlich sprechen musste – und zumindest annähernd so etwas wie Hochdeutsch.

„Curt also …“ Liv unterdrückte ein Kichern. Der Freund des Jungen tat ihr leid. Die Gans war groß und vermutlich einst eine echte Wildgans gewesen. „Dann danke ich dem Fräulein Ansgar für die mir entgegengebrachte Sympathie.“

„Ich habe sie Ansgar genannt, weil Graugans auf Latein Anser anser heißt. Irgendwann haben wir dann bemerkt, dass unser Gänserich eine Sie ist. Deshalb das Fräulein.“

Livs Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie herzlich auflachte. Der Kleine und seine Gänsedame gefielen ihr ausnehmend gut.

„Ich bin Eddi. Also, eigentlich Edmund Schuster der Vierte“, stellte der Junge sich nun vor und streckte ihr seine Rechte entgegen. Während Liv sich fragte, warum Eltern auf die unpraktische Idee kamen, ihrem Kind eine Zahl im Namen mit auf den Lebensweg zu geben, ging sie in die Hocke, ergriff die Kinderhand und erwiderte: „Sehr erfreut, Eddi der Vierte. Ich heiße Liv Benediktsdóttir.“

„Hä?“ Eddi blinzelte verwirrt. „Ist das ein Name?“

„Ja, ein isländischer Name. Liv bedeutet Leben, und Benediktsdóttir besagt, dass ich die Tochter von Benedikt bin.“

„Das ist … komisch.“

Nicht komischer, als mit einer Wildgans spazieren zu gehen. Laut erwiderte sie: „Hier ist es ungewohnt, ja. Aber in Island ist es ein normaler Nachname, so wie deiner Schuster ist.“

Eddi schaute sie lange an und blähte dabei ihm Wechsel die linke und die rechte Wange auf. Die Gans umrundete das ungleiche Paar, als wolle sie Liv von allen Seiten prüfend in Augenschein nehmen. Schließlich reckte Eddi der Vierte die Schultern und fragte: „Darf ich Sie einfach nur Fräulein Liv nennen, Fräulein Liv? Sie sind doch ein Fräulein, oder?“

„Ja, du darfst mich Fräulein Liv nennen.“ Die Frage nach ihrem Beziehungsstatus ließ sie gern unbeantwortet.

„Ich muss jetzt weitergehen. Fräulein Ansgar und ich wollen noch zur Badestelle.“ Eddi winkte Liv zu, pfiff kurz nach der Gans, da diese mittlerweile den kleinen Abhang zum Flussufer hinuntergewatschelt war, nun jedoch stracks wieder heraufgeflattert kam, und wandte sich um. Bereits im Gehen begriffen, rief er Liv zu: „Sie sind nett. Aber ich finde es komisch, dass Sie zwei Röcke übereinander tragen, auch wenn der obere gewellt und kürzer ist als der untere. Hier tragen alle nur einen Rock. Und der ist normalerweise viel länger.“

Liv betrachtete ihr kurzärmeliges weißes Oberteil und den modischen Doppelrock, dann zuckte sie mit den Schultern, die aufgrund ihres prall gefüllten Lederrucksacks allmählich unangenehm zu schmerzen begannen. Sie fühlte sich wohl in dieser Garderobe, ebenso wie in Bluejeans oder Keilhosen, die dort, wo sie in den vergangenen elf Jahren gelebt hatte, fast schon zum Stadtbild gehörten. Allerdings war Liv klar, dass die Betonung hierbei auf dem kleinen Wörtchen „fast“ lag.

Sie wandte den Blick nach vorn und strebte wieder auf das Hotel zu, kam jedoch nur vier Schritte weit, bevor sie mit dem rechten Fuß umknickte und auf die Knie stürzte.

„Gänseleberpastete noch mal!“, entfuhr es ihr. Mit verzerrter Miene rieb sie sich den schmerzenden Knöchel.

Als ein Schatten auf sie fiel, hob sie den Kopf. Vor ihr ging ein breitschultriger junger Mann in die Hocke, der mit den interessantesten Augen, in die sie jemals gesehen hatte, in die Welt schaute. Die Iriden bestanden aus einem wilden Flickwerk aus Grau und Grün, das von einem schwarzen Rand zusammengehalten wurde. Der Rest um seine Augenpartie herum war ebenfalls nicht zu verachten, wie Liv gleich darauf feststellte. Und sie war wirklich froh, dass dieser Kerl – entgegen der Überzeugung von Eddi dem Vierten – keinen Rock trug. Vielmehr steckte der Mann in einem dreiteiligen Einreiher aus feinem hellbraunem Zwirn.

„Haben Sie sich wehgetan, Fräulein?“ Er sprach sehr deutlich, wenngleich mit unüberhörbarem Einschlag.

„Ja, leider. Ich bin in“, sie brach kurz ab und sah sich um, „dieses Loch hier getreten. Meine Güte, darin könnte man ja ein Feuer entfachen und eine Gans braten.“ Aufgebracht betrachtete sie das gut zehn Zentimeter tiefe Loch im Bürgersteig. Vermutlich war es der einzige Makel weit und breit in dieser hübschen Ortschaft – und sie hatte ihn gleich an ihrem ersten Tag hier gefunden. Zielsicher wie immer.

„Das ist eine wirklich gute Idee, wie wir diesen Schandfleck sinnvoll nutzen können“, erwiderte der Mann und lächelte sie gewinnend an. Unübersehbar war er von ihrem Vorschlag mit dem Gänsebraten äußerst angetan. „Ich helfe Ihnen beim Aufstehen, Fräulein. Belasten Sie bitte vorsichtig Ihren Fuß, um zu sehen, ob Sie das schmerzfrei bewerkstelligen können. Einverstanden?“

Liv nickte, ergriff dankbar die ihr dargebotenen Hände und ließ sich von ihrem Retter hochziehen. Erstaunt stellte sie fest, dass er einen ganzen Kopf größer war als sie, was selten vorkam. Immerhin war sie mit ihren 1,77 Metern nicht eben klein.

Sie klammerte sich an seine warmen Hände und setzte vorsichtig den rechten Fuß auf. „Autsch“, entfuhr es ihr wenig eloquent.

„Seit Wochen, also seit sich dieser Gänsebräter aufgetan hat, bitte ich darum, dass er verschlossen wird!“, schalt der Mann halblaut vor sich hin. „Offenbar muss das Loch erst eine Touristin verschlingen, ehe etwas geschieht.“

Liv biss sich auf die Unterlippe, um ein herzliches Auflachen zu unterdrücken. Dieser große, kräftige Kerl mit den faszinierenden Augen und dem hellblonden Haar war einfach nur hinreißend.

„Gleich gegenüber ist unsere Arztpraxis. Am besten, ich bringe Sie zu Dr. Schuster.“

„Das … vielleicht …“ Liv zog eine Grimasse. Eigentlich wollte sie nicht gleich an ihrem ersten Tag in Vierbrücken einen Arzt aufsuchen. Das würde ihr Vorhaben, hier inkognito zu bleiben, erheblich gefährden.

„Da Sie nicht auftreten können, sollte sich das auf jeden Fall ein Arzt ansehen“, erklärte ihr Helfer freundlich, aber bestimmt, bevor Liv endgültig Widerspruch einlegen konnte.

„Na gut. Dr. Schuster, sagten Sie? Ist das der Vater von Eddi dem Vierten?“

„Sie haben den kleinen Eddi bereits kennengelernt?“

„Gerade eben, ja.“ Liv wurde den Eindruck nicht los, dass der Mann plötzlich seltsam nervös war.

„Dann kommen Sie schnell, ich bringe Sie hinüber. Und nein, Eddis Vater ist Edmund der Dritte. Unser Arzt heißt Bernhard Schuster. Und … ach, lassen wir das, das wird zu kompliziert.“ Er stockte kurz, fügte dann aber doch noch hinzu: „In dieser Ortschaft gibt es hauptsächlich drei Familiennamen: Schuster, Weiß und Stein. Letzteren trage ich.“ Der junge Mann sah sich gehetzt um, umfasste kräftig ihren Arm und drängte sie förmlich über die Straße, auf der, seitdem der Bus die Rückfahrt angetreten hatte, nicht ein einziges weiteres Gefährt aufgetaucht war.

„Haben Sie sich wehgetan?“ Die Kinderstimme hinter ihnen ließ den Mann spürbar zusammenzucken. Offenbar hatte Eddi der Vierte Liv über die Straße humpeln sehen und war umgekehrt. Livs Helfer umfasste von hinten ihre Taille und hob sie über den recht hohen Bordstein auf den Gehweg. „Die Praxis von Dr. Bernhard Schuster ist gleich hier. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes, und Sie können Ihren Aufenthalt in Vierbrücken uneingeschränkt genießen.“ Der Mann winkte kurz zum Abschied und eilte davon.

Irritiert über diesen wirklich sportlichen Abgang neigte Liv den Kopf zur Seite und betrachtete die schlackernden Hosenbeine seiner Anzugshose. Ganz offensichtlich kleidete diese Ortschaft ihre Spitzensportler in sehr feines Tuch.

Ein gefährlich anmutendes Fauchen und einige hektische Bewegungen lenkten Livs Augenmerk auf die gegenüberliegende Straßenseite zurück. Dort stand Eddi der Vierte, und neben ihm setzte Fräulein Ansgar soeben flügelschlagend zu einer Verfolgungsjagd an. Offenbar hatte die Gans Livs Retter als Opfer auserkoren. Und damit erschloss sich Liv auch der Vorname des Mannes mit den Ambitionen auf eine Olympiateilnahme im Sprint: Curt.

Dem schmerzenden Knöchel zum Trotz konnte Liv sich ein leises Auflachen nicht verkneifen. Eddi hatte völlig recht: Die Gänsedame konnte Curt nicht ausstehen. Dieser bog soeben in eine Gasse ein, die zu einer zweiten, leicht erhöht liegenden Häuserreihe führte. Sofort ließ Fräulein Ansgar von der Verfolgung ab und wackelte vergnügt über ihren Sieg mit dem Kopf.

„Ich gehe dann mal zu eurem Arzt“, rief Liv über die Straße hinweg und deutete auf Dr. Bernhard Schusters Namensschild, das an der Eingangstür des vor ihr aufragenden Gebäudes hing. Dieses Haus war deutlich moderner als der Friseursalon zu seiner Rechten und das wuchtige Schwarzwaldhaus zu seiner Linken, fügte sich dank des weit heruntergezogenen Daches und dunklen Fachwerks jedoch harmonisch in das Gesamtbild ein.

„Das ist –“ Eddi brach ab, stemmte die Hände in die nicht vorhandene Taille und fragte: „Hat Curt gesagt, Sie sollen da hingehen?“

„Ja, das hat er. Und ich fürchte, er hat damit völlig recht.“

„Na gut. Dann … alles Gute!“ Eddi gab Fersengeld, seine flügelschlagende zahme Wildgans folgte ihm auf dem Fuße.

Vielleicht hätte es Liv eine Warnung sein sollen, dass der kleine Kerl ihr „alles Gute“ wünschte. Stattdessen hielt sie Eddi den Vierten einfach nur für sehr wohlerzogen.

Kapitel 2

Neben der Eingangstür waren zwei Klingeln angebracht. Die eine war mit „Dr. Bernhard Schuster“ beschriftet, die andere mit dem Wort „Praxis“. Also klingelte Liv dort.

„Dr. Schuster ist noch zu Mittag. Aber Sie können schon reinkommen und gleich in Zimmer zwei gehen“, drang eine träge Frauenstimme durch das zum Lüften geöffnete Fenster nach draußen. Liv hatte nicht alles verstanden, nahm jedoch an, dass sie eintreten durfte. Sie öffnete die schwere, massive Holztür und trat über die hohe Schwelle. Ein dunkler Flur führte geradewegs auf eine Hintertür zu. Eine nach rechts abgehende Tür gehörte vermutlich zu den Privaträumen des Arztes, an einer linken hing ein weiteres Schild mit der Aufschrift „Praxis“.

Liv entschied sich für Letztere, drückte die Klinke hinunter und trat über eine weitere hohe Schwelle in einen Wartebereich ein, der ihr überraschend weitläufig vorkam. Die hellen Holzwände verschluckten beinahe die mit rot-weiß karierten Sitzpolstern ausgestatteten Holzstühle und den winzigen Tresen. Hinter diesem saß eine grauhaarige Dame in einem braunen Kleid – als wollte auch sie optisch mit den Holzpaneelen verschmelzen. Ohne den Kopf aus ihrer Zeitschrift zu heben, deutete sie auf den abgehenden Flur.

Da die Frau sicher ebenfalls Mittagspause hatte, wollte Liv sie nicht weiter stören. Also humpelte sie schweigend an ihr vorbei und betrat den Raum, an dessen Holztür eine rote Zwei aufgemalt war. Irritiert betrachtete sie die seltsam futuristisch anmutende Ausstattung. Diese wirkte so fortschrittlich, dass Liv einige der Gerätschaften – für eine Dorfpraxis – ungewöhnlich experimentell erschienen. Erfreulich waren jedoch die großen Fenster, die viel Licht hereinließen und einen Blick auf hochgewachsene Bäume gewährten. Zwischen den Stämmen hindurch konnte sie die weißen Verstrebungen eines Pavillons sehen, außerdem hörte sie das leise Plätschern von Wasser, was vermutlich von einem Brunnen herrührte. Offenbar befand sich gleich hinter der Arztpraxis eine schmucke, liebevoll gepflegte Grünanlage.

Liv nahm ihren Rucksack ab, stellte ihn neben einen Stuhl mit Metallbeinen und einem leuchtend roten Lederbezug und ließ sich auf dem Sitzmöbel nieder. Sie schlüpfte aus dem Schuh und betrachtete betroffen ihren geschwollenen Knöchel. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr musste sie annehmen, dass der Arzt womöglich noch eine volle Stunde Mittagspause machen würde.

Umso erstaunter war sie, als sich kurze Zeit später schwere Schritte näherten und die Tür schwungvoll aufgestoßen wurde. Ein Mann trat ein, der kaum älter als sie selbst sein konnte. Er steckte in einem blau karierten Hemd, dessen Ärmel weit nach oben gekrempelt waren, und einer nicht ganz sauberen Texashose, die ihm ein Stirnrunzeln seitens ihrer Großmutter eingebracht hätte. Mindestens. So wie ihr, wenn sie ihr einziges Exemplar Bluejeans trug. Immerhin standen diese noch immer für Protest gegen alles, was Traditionen oder Autoritäten anbelangte. Offenbar sind in diesem Dorf die Spitzensportler deutlich besser und angemessener gekleidet als die Mediziner.

Der Mann strich sich das dunkelbraune Haar zurück und zuckte beim Anblick von Liv erschrocken zusammen.

Noch ehe sie sich vorstellen konnte, verließ er rückwärtsgehend den Raum und brüllte: „Frau Klein, warum haben Sie mir nicht gesagt, dass ich einen Patienten in der Zwei habe?“

„Ach je, das habe ich völlig vergessen“, lautete die unaufgeregte Antwort. Liv wartete auf eine Entschuldigung der Sprechstundenhilfe, die allerdings ausblieb. Da der junge Arzt schon wieder eintrat – diesmal vorwärtsgehend –, war offenbar auch mit keiner zu rechnen.

Liv lag die rebellische Frage auf der Zunge, ob jemand, der Klein mit Nachnamen hieß – statt Schuster, Stein oder Weiß –, in Vierbrücken überhaupt zugegen sein durfte. Sie verkniff sich das aber lieber, zumal weitere Fragen diese verdrängten, denn Dr. Bernhard Schuster sah sich suchend um. Ob er etwas Wichtiges verloren hatte?

Liv räusperte sich vernehmlich. Es erstaunte sie, dass sie einfach übersehen wurde, denn eigentlich passierte ihr das sonst nie.

Endlich wandte der Arzt sich zu ihr um. Blaue Augen, beinahe so klar wie das Flusswasser vor der Arztpraxis, musterten sie fragend, und Liv stellte fest, dass der Mann sich heute offenbar noch nicht rasiert hatte. Der dunkle Bartschatten gab ihm etwas Verwegenes, in Kombination mit dem derben Hemd und der verschmutzten Jeans wirkte der Mediziner vielmehr wie ein Landwirt denn ein Akademiker.

„Entschuldigen Sie bitte das Desinteresse von Frau Klein. Ich nehme an, sie hat Sie nicht einmal angesehen, sonst hätte sie bemerkt, dass Sie nicht von hier sind, und Ihren Namen erfragt.“

Liv nickte und lächelte begeistert, weil sie den Arzt mühelos verstehen konnte. Vermutlich stammte er nicht von hier – auch wenn er Schuster hieß –, oder er hatte sich während des Studiums weiter im Norden des Landes aufgehalten. Dabei war es ihm offenbar gelungen, die für hier typische, schwer verständliche Mundart nahezu vollständig abzulegen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

Liv streckte das Bein aus und deutete auf ihren geschwollenen Knöchel.

Der Arzt besah sich aus der Entfernung ihre Verletzung, hob dann den Blick und betrachtete Livs Gesicht, als bestünde die Gefahr, dass ihr der Fuß jeden Moment abfallen könnte.

„Ähm, ich bin Ben Schuster.“

„Sehr erfreut. Ich bin Liv Benediktsdóttir.“ Sie betonte ihren Vornamen ebenso deutlich, wie er es getan hatte, auch wenn sie den Sinn dahinter nicht verstand. Irgendetwas ist hier … komisch. Allerdings hat Annemarie mich gewarnt, dass diese Hinterwäldler seltsam sein können.

Liv neigte den Kopf zur Seite und war sich sicher, dass ihre Freundin, die hier vor zwei Jahren Urlaub gemacht hatte, damit nicht ganz falschlag. Wenn sie an Eddi den Vierten, seine Gans und Curts überhastete Flucht dachte, an das Desinteresse der Sprechstundenhilfe an den Patienten und an Dr. Ben Schusters irritierendes Verhalten …

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich mein Bein ansehen könnten. Ich warte aber gern, falls Ihre sicher wohlverdiente Mittagspause noch nicht zu Ende ist.“

„Was ist passiert?“

„Ich bin draußen auf dem Gehweg in dieses riesige Loch getreten.“

„In jenes Loch?“

„Ich habe mir kein spezielles ausgesucht, falls Sie das meinen.“

„Na ja, Sie sind nicht von hier.“

„Richtig. Anscheinend ist das Loch eine Touristenfalle. Oder eine gute Einnahmequelle für den hier ansässigen Humanmediziner?“

Auf Bens Gesicht breitete sich ungewöhnlich langsam ein flegelhaftes Grinsen aus, das ihn deutlich attraktiver aussehen ließ, als wenn er sie so irritiert musterte, wie er es bisher ausgiebig getan hatte.

„Da könnte was dran sein“, gab er zu. Endlich trat er näher, ging vor ihr in die Hocke und nahm ihr Bein in seine angenehm warmen, für einen Arzt jedoch auffällig schwieligen Hände. Ihm hing ein leichter Geruch nach Pferd an, was Liv zu der Annahme verleitete, dass er seine Mittagspause bei seinem Reittier im Stall verbracht hatte.

Dr. Schuster bewegte behutsam ihren Fuß, tastete ihn ab und blickte dann zu ihr auf. Fasziniert schaute sie ihm in die eisblauen Augen. Das Dorf ist eine Brutstätte für Männer mit außergewöhnlich schönen Augen.

„Ich denke, er ist nur verstaucht. Das ist natürlich sehr schmerzhaft, was mir leidtut, denn sicher sind Sie zum Wandern hergekommen?“

„Aha“, erwiderte Liv nur und entzog ihm eilig ihr Bein. Der Arzt blieb dennoch vor ihr hocken und schaute sie erneut mit diesem flegelhaften Grinsen im Gesicht an.

„Warten Sie bitte einen Moment. Wir sollten eine zweite Meinung einholen.“ Ben stand auf und verließ mit wenigen großen Schritten den Raum. Dies gab Liv die Gelegenheit, laut auszuatmen. Dieser Arzt benötigte eine zweite Meinung, um eine einfache Verstauchung zu diagnostizieren?Kopfschüttelnd rief sie sich zur Geduld, immerhin war der Mann kaum älter als sie und arbeitete womöglich noch nicht lange in diesem Beruf.

Wenige Minuten später trat ein grimmig dreinblickender älterer Herr ein, dessen schwarzes Haar von grauen Strähnen durchzogen war, was ihm ein äußerst distinguiertes Erscheinungsbild verlieh. Livs zweiter Blick galt seinen Augen, die jedoch eine recht gewöhnliche braune Farbe aufwiesen.

Er sah sie für den Bruchteil eines Augenblicks an, drehte sich um und bellte in Richtung Tür, wo Ben an der Zarge lehnte: „Was soll der Blödsinn? Sie ist unverkennbar weder ein Rindvieh noch ein Huhn oder eine Sau.“

„Sie ist nun mal zu mir gekommen.“

Liv verschluckte sich, hustete und riss dabei die Augen weit auf.

„Nichts für ungut, Fräulein.“ Der ältere Herr trat näher, kniete sich vor sie und nahm eine zweite Untersuchung vor. „Eine Verstauchung. Kein Wunder, bei diesem untragbaren Loch. Ich gehe nach nebenan und hole eine Salbe, lege Ihnen einen Verband an und gebe Ihnen zwei Gehhilfen mit, damit Sie den Fuß schonen können. Morgen früh möchte ich Sie bitte noch einmal sehen. Aber wenn möglich in meiner Praxis.“

„Aber …“

„Ich bin Dr. Bernhard – Hardi – Schuster, der Humanmediziner. Dieser Kerl da in der Tür ist Dr. Bernhard – Ben – Schuster, der Veterinär.“

Liv senkte den Kopf und betrachtete ihren malträtierten Knöchel. Ob Curt, wenn er Fräulein Ansgars Näherkommen nicht als Startschuss für einen Spurt verstanden hätte, ihr wohl noch verraten hätte, dass hier nicht nur ein Drittel der Einwohner Schuster hießen, sondern die Leute es zudem lustig fanden, ihren Söhnen die gleichen Vornamen zu verpassen? Und dass diese Söhne dann alle Medizin studierten, wenngleich einer von ihnen lieber Tiere als Menschen behandelte? Oder dass ihre Praxen in unmittelbarer Nähe zueinander lagen? Da lobte sie sich den genialen Einfall der Edmund – oder Eddi – Schusters. Die nummerierten sich wenigstens durch.

Mit einem dicken Verband um den Knöchel und ausgestattet mit zwei Holzkrücken bewegte sich Liv vorsichtig die Straße entlang. Sie unternahm einen weiteren Versuch, ihr Hotel aufzusuchen. Neben ihr ging Ben, der von Hardi dazu verdonnert worden war, ihren Rucksack zu tragen und auf sie aufzupassen. Als ob ich das nötig hätte! Aber vielleicht gibt es hier noch mehr Touristen fressende Löcher?

„Wie sind Sie und der andere Dr. Bernhard Schuster denn verwandt?“, erkundigte sich Liv nach einer längeren Zeit gegenseitigen Anschweigens.

„Gar nicht. Es gibt zwei Linien von Schusters: die Westseiten- und die Ostseiten-Schusters.“

„Das erklärt, warum Sie sich nicht durchnummeriert haben. So wie die Edmunds.“

Bens Lachen schien tief aus seinem Inneren zu kommen. Verwundert stellte Liv fest, dass es etwas in ihr zum Vibrieren brachte.

„Haben Sie es einem der Edmunds zu verdanken, dass Sie fälschlicherweise in meiner Praxis gelandet sind?“

„Nein, eher dem sportlichen Curt und seiner Angst vor Fräulein Ansgar. Oder der Tatsache, dass an Ihrer Tür nur Praxis steht. Sie haben die Wahl.“

„Sie hatten eine Chance von fünfzig zu fünfzig. Immerhin wohnt Hardi hinter der Tür, die rechts abgeht, seine Praxis ist aber nebenan.“

„Etwa in dem zu groß geratenen Hexenhaus mit der Aufschrift Ritas Schönheitssalon?“

Wieder ließ Ben dieses herrlich ansteckende Lachen hören. „So sehr wollen wir unsere Touristen dann doch nicht in die Irre führen. Aber die Idee ist gut, falls wir mal eine Steigerung brauchen.“

„Das ist also alles Absicht? Die immer gleichen Namen, die verwirrende Beschriftung an der Tür, die zwei Arztpraxen direkt nebeneinander, das Loch im Gehweg und der entzückende Junge mit seiner zahmen Graugans?“

„Ich bin beeindruckt, dass sie wissen, zu welcher Gattung Fräulein Ansgar gehört.“

„Ich habe meine ersten Lebensjahre in Island verbracht. Da kennt man seine Nachbarn.“

„Daher Ihr ungewöhnlicher Name?“

„Mein Vater war Deutscher, hat aber eine waschechte Wikingerin geheiratet.“ Liv senkte den Kopf. Obwohl ihre Eltern schon lange tot waren, vermisste sie sie noch immer schmerzlich. „Aber Sie lenken ab. Womöglich mit Absicht?“

„Bitte verraten Sie mich nicht. Denn hinter dem Ganzen steckt tatsächlich System.“ Ben beugte sich zu ihr hinunter, obwohl er nur wenig größer war als sie, und flüsterte: „Wir sind auf unsere Touristen angewiesen. Aber manchmal sind sie einfach nur … nervtötend. Um das auszuhalten, sind wir froh über jeden kleinen Scherz, der auf Kosten der Eindringlinge geht. Nur das mit den Nachnamen … das hat sich im Laufe der Jahrhunderte tatsächlich so ergeben.“

„Und dieses lebensgefährliche Loch, das mich beinahe verschluckt hätte?“

„Das tut mir wirklich leid. Ich hoffe, dass sich dahin gehend jetzt endlich etwas bewegen wird. Curt, der hiesige Notar und zugleich unser Ortsvorsteher, hat schon lange den Auftrag, jemanden mit der Reparatur zu betrauen. Aber offenbar geschieht da nichts.“

„Na, dann hoffe ich mal, dass mein Opfer nicht umsonst war“, meinte Liv trocken.

„Das hört sich ja so an, als hätte Curt Sie in das Loch gestoßen.“

„Diese Version der Geschichte behalte ich im Hinterkopf, um sie rechtlich zu nutzen, falls mir als Touristin hier noch weitere Streiche gespielt werden.“

Ben zog ein schuldbewusstes Gesicht, weil er das Dorfgeheimnis ausgeplaudert hatte, doch als er den Kopf abwandte, konnte Liv einen Blick auf sein belustigtes Schmunzeln erhaschen.

Eine weitere Flussbiegung später blieb Liv entrüstet stehen und stützte sich schwer auf die Lederpolster ihrer Krücken. „Das gibt es doch nicht!“, entfuhr es ihr.

Ben, der einige Schritte vorausgegangen war, fuhr herum, kam eilig zurück und betrachtete sie besorgt. „Was ist passiert?“ Er sah sich um, als rechne er mit einer Gefahr für Leib und Leben.

„Es gibt eine fünfte Brücke!“

Ben blinzelte verwundert, dann betrachtete er den breitesten aller Übergänge und vermittelte dabei den Eindruck, als würde er in Gedanken die Holzbrücken von Vierbrücken zusammenzählen.

„Stimmt“, resümierte er endlich.

„Warum heißt –“

Ben legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen und schüttelte den Kopf. Er zog den Finger allerdings so schnell wieder weg, als hätte er sich an ihr verbrannt, betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn und vergrub seine Hand schließlich tief in der Hosentasche. Mit einem Mal wirkte er seltsam verschreckt. Vielleicht über seinen eigenen Mut, sie einfach zu berühren? Und dann auch noch ausgerechnet ihre Lippen?

In Liv begann etwas zu hüpfen, als hätten sich winzige Frösche aus dem Gewässer in sie hineinverirrt. Sie fand die pittoreske Ortschaft und deren Bewohner überaus amüsant. Und charmant. Ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Knöchel rief ihr jedoch schnell die weniger angenehmen Seiten von Vierbrücken in Erinnerung.

„Stellen Sie bitte niemals die Frage, weshalb es in Vierbrücken fünf Brücken gibt“, riet Ben ihr und bedeutete durch ein ruckartiges Anheben seines breiten Kinns, dass sie beide weitergehen sollten.

Liv hätte ihn gern mit gut einem Dutzend Fragen bestürmt, unterließ es aber. Stattdessen humpelte sie zügig voran, stellte sich Ben in den Weg und sagte: „Es ist ja nicht mehr weit bis zum Hotel. Den Rest des Weges kann ich allein gehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Ich begleite Sie bis zum Hirschen“, stellte er klar. „Und ich trage Ihren Rucksack. Was haben Sie da eigentlich drin? Backsteine? Gold?“

„Das müssen Sie wirklich nicht tun. Es wartet doch bestimmt eine Menge Arbeit auf Sie.“

„Die läuft nicht weg.“ Ben ging einfach um sie herum. Reaktionsschnell griff Liv nach ihrem Rucksack, was den Mann kurz zum Straucheln brachte. Zudem fiel eine ihrer Gehhilfen um und traf Ben am Schienbein. Er musterte sie unter zusammengezogenen Augenbrauen, was ihn wirklich bedrohlich wirken ließ. Selbst seine sonst himmelblauen Augen nahmen einen deutlich dunkleren Farbton an.

Liv presste die Lippen zusammen. Vor genau zwei Tagen hatte sie beschlossen, von nun an unabhängig durchs Leben zu gehen, und jetzt trug schon wieder jemand ihr Gepäck. Wie konnte ich nur! So schnell wirft man seine Überzeugungen doch nicht über Bord.

Sie wollte ihr Leben unbedingt allein meistern. Allerdings hatte die Überreaktion, die mit der Erinnerung an ihren kürzlich gefassten Plan einhergegangen war, wohl für Unmut beim hiesigen Tierarzt gesorgt.

„Ich würde meinen Rucksack wirklich gern selbst tragen“, versuchte sie zu erklären, weshalb sie Ben beinahe zu Fall gebracht und mit einer Krücke nach ihm geworfen hatte.

„Wie Sie meinen, Fräulein.“ Er nahm das Gepäckstück herunter, stellte es auf den Gehsteig und verschränkte die Arme vor der Brust. In Liv keimte der Verdacht auf, dass Ben nicht nur fröhlich und hilfsbereit war, sondern durchaus auch ein klein wenig … eigensinnig. Genau wie sie.

„Wenn ich wandern gehen möchte, muss ich meinen Rucksack doch auch allein tragen können“, fügte sie noch hinzu, was ihr einen zweifelnden Blick auf ihren Knöchel einbrachte. „Und das gilt es zu trainieren, nicht wahr?“

„Falls es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte: Ich habe Ihren Rucksack längst abgesetzt.“

„Ja, richtig.“ Liv lächelte entschuldigend, beugte sich vor und geriet bedenklich ins Schwanken, als sie die schwere Ledertasche aufhob. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass Ben die Arme herunternahm. Vielleicht, weil er befürchtete, sie auffangen zu müssen. Mehr tat er allerdings nicht.

Brauchst du auch nicht. Ich schaffe das allein. Liv atmete tief durch, schwang sich den Rucksack auf den Rücken, wobei ihr die zweite Gehhilfe ebenfalls entglitt und sich klappernd über die andere legte. Sie lagen da wie zwei überkreuzte Schwerter. Als hätte Liv Ben den Kampf angesagt. Und jedem anderen, der meinte, sie bemuttern und bevormunden zu müssen.

Sie ging in die Hocke, zog die sperrigen Holzkrücken zu sich und schwankte beim Aufrichten erneut, da ihre Knie zitterten. Doch es gelang ihr, wenngleich ihr inzwischen kleine Schweißperlen auf der Stirn standen. Sie wischte sie mit dem Arm weg, drehte sich um und ging weiter in Richtung der Brücke, die es eigentlich nicht geben durfte. Vielleicht war sie genau aus diesem Grund auch so trotzig breit, weshalb nicht nur Fußgänger, Radfahrer oder andere kleine Vehikel sie überqueren konnten, sondern auch größere motorisierte Verkehrsmittel. Sicher war der Bus über die Brücke gefahren und hatte auf dem Vorplatz des Hotel Hirschen gewendet, da die schmale Straße nur wenige Meter weiter an einem schmiedeeisernen Tor und einer hohen Steinmauer endete – vermutlich der Eingang zum Friedhof der kleinen Gemeinde.

So schnell es Liv mit den Krücken möglich war, schritt sie auf die Brücke zu, die sich ebenfalls mit gedrechselten Holzstreben und kunstvollen Verzierungen schmückte. An den Geländern hingen Blumenkästen, in denen rot-weiße Pelargonien wuchsen. Die gleichen Blüten fanden sich auch vor den Sprossenfenstern des großen Schwarzwaldhauses, das durch mehrere Anbauten erweitert worden war und in dem Liv das Hotel vermutete. Das Gebäude lag jenseits der Brücke, eingerahmt von einer gepflegten Rasenfläche, auf der Liegestühle und kleine Sitzgruppen zum Verweilen einluden, und von schlanken Birken, die wie Wächter um das Grundstück herum aufgereiht waren. Im Hintergrund, bevor die ersten mit Wildblumen geschmückten Hügel anstiegen, waren noch einige unscheinbare Nebengebäude zu sehen. Das Ensemble wirkte aufgeräumt, verträumt und gemütlich, aber auch ländlich-rustikal. Derlei Ambiente war Liv nach elf Jahren in Hamburg – und nach mehreren Aufenthalten in New York – nicht mehr gewohnt.

Ben ging nicht länger neben ihr, doch sie hörte das Aufsetzen seiner derben Stiefel nur wenige Meter hinter sich. Wollte er ihr das Gefühl geben, dass sie ihren Willen durchgesetzt hatte? Weshalb er nicht lieber in seine Praxis zurückkehrte, erschloss sich Liv nicht. Vielleicht fühlte er sich schuldig, weil er sie anfangs in dem Glauben gelassen hatte, er wäre Humanmediziner. Oder er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie als Touristin verärgert hatte. Hatte er ihr nicht selbst erklärt, dass Vierbrücken diese benötigte, um überleben zu können? Er könnte natürlich auch in Sorge um ihren Gesundheitszustand sein, da sie mit den Krücken sichtlich ungeschickt herumhantierte.

Liv fand noch zwei weitere Erklärungsansätze, und diese verleiteten sie zu einem amüsierten Schmunzeln. Entweder wollte er ebenfalls seinen Dickkopf durchsetzen oder er hegte die Befürchtung, sie könnte das bisher gut gehütete Geheimnis Vierbrückens verraten – anderen Touristen oder einem Dorfbewohner gegenüber –, was ihn als Verräter enttarnen würde. Aus diesem Grund musste er wohl oder übel verhindern, dass sie ihr Wissen um die Streiche preisgab.

Das Grinsen verging Liv allerdings, als ihr klar wurde, dass er dann ständig um sie herum sein müsste. Und das für die gesamte Dauer ihres Aufenthaltes.

Die Holzbohlen der Brücke dröhnten unter ihren Schritten. Das Geräusch, untermalt vom Gurgeln des Flusses, fand Liv angenehm heimelig. Als sie endlich den Vorplatz des Hotels erreicht hatte, wandte sie sich zu ihrem schweigsamen Schatten um. „So, jetzt haben Sie mich sicher bis hierhergeleitet. Vielen Dank nochmals. Den Rest schaffe ich aber wirklich allein.“

„Prima!“, erwiderte Ben. Er tippte sich grüßend an seinen nicht vorhandenen Hut, ging an ihr vorbei und trat durch die weit geöffnete Tür in den Flur. Dabei bückte er sich, wohl, um sich nicht den Kopf am Türrahmen zu stoßen. Liv fand das lächerlich. So groß war der Mann nun auch wieder nicht. Und außerdem: Hätte er ihr nicht einfach sagen können, dass er ohnehin hierhermusste?

Sie folgte ihm und blieb prompt mit ihrem mintfarbenen Pillbox-Hütchen am oberen Türbalken hängen. Schnell griff sie nach ihrer Kopfbedeckung und schob sie notdürftig wieder zurecht, ehe sie durch den schmalen dunklen Flur und vorbei an einer nicht besetzten Rezeption in einen Gastraum trat. Dieser wies zwar zwei übereinanderliegende Fensterreihen auf, doch die Fenster selbst waren so klein, dass sie nur wenig Licht hereinließen. Die rot-weiß gemusterten Vorhänge schluckten zusätzlich den herrlichen Sonnenschein, der von draußen hereinschien. Beim Anblick der roten Sitzpolster und rot-weiß karierten Tischdecken stellte sich Liv die Frage, ob in Vierbrücken alle Farben außer Rot und Weiß auf der schwarzen Liste standen.

Die unzähligen Lampen zwischen den freiliegenden Holzbalken sorgten dennoch für eine ausreichende Beleuchtung, sodass Liv das hohe Alter der Tische und Stühle erkennen konnte, ebenso wie die Astlöcher in den hölzernen Bodendielen. Mit einem zweiten Blick durch den Raum stellte sie zufrieden fest, dass hier viel Wert auf Sauberkeit gelegt wurde.

„Grüß Gott, Pferde-Amrei“, hörte sie Bens tiefe Stimme, der einige Meter von ihr entfernt stand. Eine große Frau drehte sich um und lächelte den Tierarzt einnehmend an. Liv betrachtete interessiert deren Aufmachung, trug sie doch jene an den Oberschenkeln weit ausgestellten Reithosen, schwarze Stiefel und ein Herrenhemd. Auf ihrem Kopf mit dem dicken geflochtenen Zopf, der ihr bis zu der schlanken Taille hinunterreichte, saß eine weit in den Nacken geschobene Schiebermütze.

„Grüß dich, West-Schuster Ben.“

„Wie geht es dem Amerikaner und Micki? Grüß die beiden mal von mir. Ebenso meine Kollegin in eurer Ecke des Schwarzwalds.“

„Sie sind alle wohlauf, danke. Der Hirschen-Hubert und seine Frau haben drei meiner Schwarzwälder Fohlen gekauft. Sie will, dass du noch einen Blick auf die Tiere wirfst, bevor ich zurückreite.“

„Und wir beide wissen, dass das unnötig ist. Deine Zucht ist großartig, und du würdest nie jemandem ein krankes Pferd andrehen.“

„Alma Weiß ist unbelehrbar misstrauisch. Aber dieses Misstrauen kannst du ihr ja zusätzlich in Rechnung stellen.“

Als die Pferde-Amrei an Liv vorbeiging und ihr dabei grüßend zunickte, konnte Liv sie etwas genauer in Augenschein nehmen. Sie schätzte die selbstbewusste und offenbar erfolgreiche Geschäftsfrau auf etwa dreißig. So möchte ich in ein paar Jahren auch sein. Das ist mein Ziel. Na gut, vielleicht nicht unbedingt in der gleichen Garderobe.

Ben folgte der burschikosen Erscheinung und tippte sich im Vorbeigehen erneut an seinen imaginären Hut.

„Die Pferde-Amrei wäre was für deinen Ben“, vernahm Liv eine kratzige Männerstimme im Hintergrund.

„Die ist mit dem Amerikaner verheiratet, schon vergessen?“, gab ein anderer Mann zurück, dessen Stimme knatterte wie der Motor des VW-Käfers, den Livs Freundin Annemarie fuhr.

Neugierig, wie sie nun mal war, bewegte Liv sich weiter in den Gastraum hinein und entdeckte gleich hinter dem ausladenden Tresen und einer Wand aus vertikal zusammengefügten Holzstämmen vier ältere Herren, die Spielkarten in den Händen hielten.

Eine der Holzdielen knarrte verräterisch unter Livs Füßen, sodass die Kartenspieler gleichzeitig und wie ein eingespieltes Team die Köpfe in ihre Richtung drehten.

„Und wer sind Sie?“ Die kratzige Stimme gehörte zu einem Mann, den Liv auf achtzig Jahre schätzte. Auf seinem kahlen Schädel spiegelten sich die Lichter der Lampen über dem Stammtisch.

„Liv Benediktsdóttir. Ich habe hier ein Zimmer gebucht.“

„Herzlich willkommen. Ich bin Otto Weiß. Mir hat der Hirschen früher mal gehört, jetzt wird er von meinem Sohn Hubert und dessen Frau Alma geführt. Und das hier sind die Brüder Theodor und Julius Stein, von dem Stein-Hof, den es nicht mehr gibt, und Edmund Schuster.“ Damit deutete er auf den Vierten im Bunde, der ein Glas Wasser in der Hand hielt und Liv grüßend zuprostete.

„Sind Sie der Großvater von Eddi dem Vierten?“

„Von dem Bengel? Nein.“

Zu diesem Edmund gehört also die Käfermotor-Stimme, stellte Liv fest. „Die nummerierten Edmunds sind die Ost-Schusters. Ich bin ein West-Schuster und stolz darauf. Meinen Sohn müssten Sie gerade gesehen haben. Der Veterinär, der eben rausgegangen ist. Und zuvor reingekommen. Beides, ohne mich zu beachten.“

Liv lächelte etwas gequält über eine Reihe von Erkenntnissen, die sich ihr nun offenbarten. Sofern sie das Kauderwelsch richtig verstanden hatte, gab es also auch Edmunds in der anderen Schuster-Familie. Und die beiden Clans verstanden sich offenbar nicht sonderlich gut. Außerdem stammte Ben – trotz seiner gut verständlichen Aussprache – aus einer alteingesessenen Familie dieses Dorfes.

Liv war unendlich froh, dass sie hier nur Urlaub machte und sich das verworrene Geflecht aus Namen und Familienzugehörigkeiten nicht merken musste. Sie stützte sich schwerer auf die Krücken, da ihr Knöchel keine Lust mehr hatte, sie noch länger zu tragen. „Ob mir wohl jemand mein Zimmer zeigen könnte?“

Die Stein-Brüder, die bisher geschwiegen hatten, nickten synchron. Auch sie waren offenbar der Meinung, dass Liv dringend ein Zimmer brauchte, um den schweren Rucksack abzunehmen und ihr Bein hochzulegen.

Otto erhob sich, wobei die Stuhlbeine laut über den Boden schabten. Er ging ein paar Schritte und rief dann nach einer gewissen Ursula, erhielt jedoch keine Antwort.

„Deine Enkelin hängt sicher wieder halb aus dem Fenster hinaus und schmachtet Ben an“, kam es von Julius, während Theodor erneut nickte.

„Ich dachte, die himmelt Curt an?“ Otto wirkte zutiefst irritiert.

„Vermutlich versucht sie ihr Glück bei beiden“, vermutete Julius und kraulte sich den struppigen grauen Vollbart.

„Da ist sie nicht die Einzige“, wusste Edmund, und Liv kam um den Verdacht nicht herum, dass den älteren Herren die Spekulationen über die Schwärmereien der Dorfbewohnerinnen durchaus gefielen. Ebenso wie das Durcheinander um die familiären Verstrickungen und die verwirrende Namensgleichheit. Und vermutlich auch, dass es in Vierbrücken nicht vier, sondern fünf Brücken gab.

Liv war sich sicher: Sie hatte soeben die für jedes Dorf obligatorischen Tratschtanten kennengelernt.

Kapitel 3

Während Ben so tat, als untersuche er sorgfältig Amreis Jungpferde, die, wie nicht anders zu erwarten, vollkommen gesunde, kräftige und dazu wunderschöne Schwarzwälder waren, blickte er immer wieder zur Wiese hinüber. Diese Fremde mit dem seltsamen Namen hatte es nicht lange in ihrem rustikalen Hotelzimmer ausgehalten, und nun hantierte sie mit einer Sonnenliege, einem Gästehandtuch, einem Buch, einer ständig rutschenden Sonnenbrille und ihren Krücken herum. Sie wirkte unbeholfen und in ihrem modischen hellblauen Ensemble vor dem traditionellen Holzhaus mit dem Reetdach ziemlich fehl am Platz.

Zwar reisten die Touristen gern in ihren mondänen Garderoben an, verwandelten sich aber oft schon nach kürzester Zeit in typische Urlauber. Dabei sahen viele von ihnen recht albern aus, was daran lag, dass sie sich allerhand Tand andrehen ließen, von dem sie meinten, dass dieser hier üblicherweise getragen wurde. Die Krönung war eine ältere Dame gewesen, die im vorletzten Jahr tatsächlich mit einem Bollenhut – mit roten Bollen, die den unverheirateten Mädchen zustanden – angereist war. Natürlich warb die gesamte Schwarzwaldregion mit jener auffälligen Tracht, aber offenbar wussten die meisten Touristen nichts über die regionalen Unterschiede, was derlei Kleidung anbelangte – und dass sie heute so gut wie gar nicht mehr getragen wurde. Vor allem nicht an einem ganz gewöhnlichen Wochentag.

Diese Liv hingegen hatte weder einen der bequemen Röcke aus der Hotelboutique erstanden noch eine der dort angepriesenen Wanderhosen. Sie trug auch keinen Badeanzug, aber dafür war es auch noch ein wenig zu kühl. Offenbar hatte sie nicht an zweckmäßige Freizeitkleidung gedacht, als sie ihren Rucksack gepackt hatte, denn sie lag nun in diesem doppellagigen Kleid auf der Sonnenliege, wenngleich sie zumindest ihre feinen, sicher teuren Schuhe abgestreift hatte – was aber auch ihrem schmerzenden Knöchel geschuldet sein könnte.

„Ich schätze, die Hirschen-Alma bezahlt dich dafür, dass du dir ihre Schwarzwälder Fohlen anschaust, nicht die himmelblaue Erscheinung dort drüben.“ Amreis Stimme riss Ben aus seinen Überlegungen. Schnell beugte er sich hinunter und hob den Huf der Stute an, obwohl er sich diesen gerade schon angesehen hatte. Aber er musste dringend seinen heißen Kopf verstecken. Amrei war meist sehr direkt, und ihrem beißenden Spott wollte er sich lieber nicht aussetzen.

„Dem blauen Fohlen würden ein paar nahrhafte Mahlzeiten nicht schaden“, überlegte Amrei laut weiter. „Und jemand, der ihr sagt, dass die Frühlingssonne hier ziemlich stark herunterbrennen kann.“

„Tu dir keinen Zwang an, Amrei.“

„Ach, das sollte der Touristin doch besser ein studierter Mediziner mitteilen.“

„Sie weiß bereits, dass ich Veterinär bin.“

„Wie schade!“ Amrei lachte. Ben grinste sie von unten herauf an und richtete sich auf. Prüfend fuhr er mit der Hand über das Fell der entspannt dastehenden Stute. Ebenso gelassen hatte Liv auf die Tatsache reagiert, von einem Tierarzt behandelt zu werden. Offenbar hatte sie an der Verwechslung sogar Spaß gefunden. Die junge Frau besaß Humor und einen scharfen Verstand, das hatte Ben schnell bemerkt. Entsprechend schade fand er es, dass ihre heutige Begegnung wohl die erste und letzte gewesen war, da die Touristen gern für sich blieben. Die Dorfbewohner waren für die Fremden nicht weiter interessant, solange sie die in den Urlaubskatalogen versprochenen Dienstleistungen ablieferten. Da das blaue Fohlen, wie die Pferde-Amrei Liv titulierte, ohne einen Schoßhund oder eine Katze angereist war, würde sich wohl kaum ein weiteres Treffen zwischen ihnen beiden ergeben.

„Hervorragende Stuten hast du da wieder, Amrei. Ich hoffe, die Hirschen-Alma hat dich entsprechend gut bezahlt.“

„Du kennst mich doch.“

Ben lächelte und öffnete das Gatter zur Weide. Die drei Kaltblüter galoppierten zügig hinaus und schlugen dabei übermütig aus, warfen die Köpfe und buckelten. „Du bist der härteste Verhandlungspartner, den ich kenne.“

„Ach, ich werde allmählich milder.“

„Weil du es dir leisten kannst?“

„Richtig. Die Reitpension läuft gut, die Zucht hat sich etabliert und Toms Hotels sind erfolgreich. Was leider bedeutet, dass er viel unterwegs ist. Er spielt mit dem Gedanken, sich ein Flugzeug anzuschaffen.“

„Und du würdest es noch vor ihm fliegen.“

„Darauf kannst du dich verlassen!“ Amrei stieß ihn leicht mit der Schulter an. „Ich muss los. Alles in Ordnung mit meinen drei Kleinen?“

„Wie es zu erwarten war.“

„Na, dann kannst du dich ja jetzt auf Rechnung des Hirschen um das blaue Fohlen kümmern. Und zusehen, dass es nicht rot wird.“

Aufgebracht schaute Ben Amrei nach, wie sie mit großen Schritten davonging, über den Zaun sprang und eine dunkelbraune Araberstute losband. Wie es aussah, hatte sie die neue Touristenattraktion des Hirschen nicht mit ihrem aus Kriegszeiten stammenden umgebauten Armeelastwagen hergebracht.

Fröhliche Kinderstimmen lenkten Bens Aufmerksamkeit auf das blaue Fohlen. Liv saß nun auf der Liege, neben ihr hatten sich Bärbel und Bernd Stein, die Kinder eines Bauernehepaars aus der Gegend, niedergelassen, während Eddi der Vierte über die Wiese stolzierte und dabei wild die Arme schwang.

Ben konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Vermutlich erzählte der Junge gerade von Fräulein Ansgars neuester Jagd auf ihren Ortsvorsteher.

Er legte die Arme auf den obersten Querbalken des neuen Koppelzauns und beobachtete das ungleiche Quartett. Ihm gefiel, was er da sah. Die Touristin gab sich doch tatsächlich mit den Kindern aus Vierbrücken ab. Wobei das auch daran liegen könnte, dass sie aufgrund ihrer Verletzung wortwörtlich festsaß. Jedenfalls sah es ganz so aus, als hätten sie und die Kleinen viel Spaß.

Einige Zeit später erwischte sich Ben dabei, dass er die Fremde noch immer beobachtete. Wie lange stand er jetzt schon hier und schaute ihr zu, obwohl sie wenig mehr tat, als gestenreich zu sprechen, aufmerksam zuzuhören und fröhlich zu lachen? Für gewöhnlich fand er Tiere deutlich interessanter als die hier ständig an- und abreisenden Touristinnen. Und zudem war seit geraumer Zeit eine von Amreis Jungstuten damit beschäftigt, an seinem Hemdsärmel herumzuknabbern.

Liv hatte schlecht geschlafen, was einerseits an ihrem schmerzenden Knöchel lag, andererseits daran, dass sie von einem Tierarzt geträumt hatte, der ihr den Blinddarm entfernen wollte. Dabei war er von vier Damen abgelenkt worden, von denen eine Ursula gewesen war.

Die junge Frau, Liv schätzte sie auf Anfang zwanzig, hatte ihr am Vortag ihr Zimmer gezeigt und ihr die üblichen Abläufe im Hotel erklärt. Dabei war ihr hübsches rundes Gesicht zwar dauerhaft von einem Lächeln geschmückt gewesen, doch dieses hatte weder ihre Augen erreicht noch ihre Stimmbänder zu einem warmherzigen Ton animiert. Wie es schien, war sie alles andere als erfreut darüber, dass Ben, für den sie sich offenbar gern mal weit aus dem Fenster lehnte, die neue Touristin von der Arztpraxis bis zum Hotel begleitet hatte. Davon war Ursula von den Binokel-Spielern – außer Theodor, der wohl meist schwieg – in Anwesenheit von Liv in Kenntnis gesetzt worden.

Eine weitere Frau in Livs Traum war jene mysteriöse Pferde-Amrei gewesen. Die beiden anderen Damen waren seltsam gesichtslos geblieben. Assistiert hatten bei der Operation ein kleiner Junge mit großen blauen Augen, dem man eine rote Vier auf die Stirn gemalt hatte, und eine schnatternde Graugans.

Liv war schweißgebadet aufgewacht – zu Recht, wie sie fand –, zumal auch noch ihre Großmutter aufgetaucht war, in deren Gesellschaft Liv die letzten Jahre verbracht hatte. Sie hatte einen weißen Arztkittel getragen und ein weißes Pferd hinter sich hergeführt, auf dem ein Reiter in feinem, ebenfalls weißem Zwirn gesessen hatte.

Inzwischen saß Liv an einem kleinen Tisch im Speiseraum des Hotels und genoss ein schmackhaftes, reichhaltiges Frühstück. Nebenbei beobachtete sie Ursula und deren Mutter Alma, die sie und die anderen Gäste bewirteten. Deren Anzahl hielt sich jetzt im späten April aber in einem überschaubaren Rahmen.

Am Tisch neben ihr saß ein älteres Ehepaar. Die beiden befanden sich, so vermutete Liv, noch im Halbschlaf, da sie kein Wort miteinander sprachen. Der Mann hatte sich hinter seiner Zeitung verkrochen, die er sich vermutlich eigens hatte nachschicken lassen, denn die vielen Seiten konnten unmöglich mit den Ereignissen aus einem so winzigen, langweiligen Nest wie Vierbrücken gefüllt sein. Es sei denn, die Zeitung enthielt gleich mehrere Artikel darüber, warum es hier fünf Brücken gab oder weshalb das touristenfeindliche Loch noch nicht geschlossen worden war. Hilfreich, so sinnierte Liv, wären auch Tipps, wie man die Leute hier auseinanderhalten konnte und bei welchem Leiden es sich empfahl, Dr. Bernhard Schuster oder doch besser Dr. Bernhard Schuster aufzusuchen.

Die Ehefrau des Zeitungslesers aß langsam und zelebrierte ihr Frühstück; sie kaute jeden Bissen mindestens dreißig Mal. Vermutlich war auch sie bei Livs Großmutter aufgewachsen.

Bei dem Gedanken an ihre Großmutter bedrängte etwas Livs Herz, was sie eindeutig als ein schlechtes Gewissen identifizierte. Was einerseits gut war, denn das musste nicht medizinisch behandelt werden und stellte sie damit nicht vor die Entscheidung, zu welchem Dr. Schuster sie gehen sollte. Andererseits verriet ihr dieses miserable Gefühl aber auch, dass sie gerade mal wieder dabei war, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen.

Liv beruhigte sich damit, dass ihre Großmutter inzwischen den Brief erhalten haben musste, den sie noch in Hamburg aufgegeben hatte. Darin hatte Liv ihr Vorhaben kundgetan, für einige Wochen die Stadt zu verlassen. Sie hoffte, dass damit zumindest ein Großteil der Wogen, die ihr Verschwinden geschlagen haben musste, geglättet worden war.

Ursula, mit einer großen Porzellankanne in der Hand, näherte sich den hinteren Tischreihen. Offenbar wollte sie Kaffee nachschenken, was Liv begrüßte. Sie schob sich den letzten Rest ihres Marmeladenbrots in den Mund und rückte auffordernd Tasse und Untertasse nah an die Tischkante.

Ursula schenkte der Dame am Nebentisch nach und wandte sich an den Zeitungsleser. Dieser schrak hoch, als er angesprochen wurde – offenbar war es ein Verbrechen, ihn während seiner Lektüre zu stören. Ursula zuckte ebenfalls heftig zusammen. Ihr entglitt die Kanne, die auf der Tischkante aufschlug. Klirrend zerbarst das Porzellan. Heißer Kaffee spritzte auf wie Wasser in einer Regenpfütze, wenn ein Kind hineinspringt.

Ursula wich reaktionsschnell zurück, sodass nur wenige Tropfen ihren roten Rock und die weiße Schürze trafen. Doch der Zeitungsleser schrie gellend auf. Taumelnd kam er auf die Füße; sein Stuhl fiel polternd zu Boden. Die Zeitung starb auf dem Tisch den Tod durch Ertrinken, obwohl die rot-weiß karierte Tischdecke sich große Mühe gab, den Kaffee rasch aufzusaugen.

„Sie unfähige dumme Gans!“, zeterte die Frau, ihr Schweigegelübde vergessend. „Gustav, das kommt davon, wenn man Urlaub bei Hinterwäldlern macht! Ich hatte dir gesagt, dass wir wieder nach München reisen sollten.“

Gustav zischte nur durch die Zähne und versuchte, die durchnässten Hosenbeine von seiner Haut wegzuziehen. Ursula rang hilflos die Hände, in ihren Augen über den hochroten Wangen schimmerten Tränen.

Bei diesem Anblick sprang Liv auf und kniff vor Schmerz die Lippen zusammen. Doch ihr verstauchter Knöchel hinderte sie nicht daran, den Krug mit Wasser, das sie zu ihrem Kaffee dazu bestellt hatte, zu ergreifen und den Inhalt über Gustavs Beine zu schütten. Erst quiekte er erschrocken auf, dann schloss er erleichtert die Augen.

„Sind hier denn alle verrückt?“, fauchte seine Ehefrau Liv an.

„Wohl eher hilfsbereit“, murmelte Liv auf Isländisch. Das brachte ihr weitere verwirrte Blicke ein, da sich inzwischen alle Frühstücksgäste dem unruhigen Schauplatz zugewandt hatten.

Nun gesellte sich Ursulas Mutter zu ihnen. Die dralle Frau hatte ebenfalls einen hochroten Kopf und fuchtelte mit den Händen herum. Sie goss einen Schwall Entschuldigungen über das Paar aus wie Liv zuvor das Wasser über den Mann, während sie mit der Hüfte Ursula beiseiteschob. Über deren pausbäckiges Gesicht rollten inzwischen doch die ersten Tränen, zumal der weibliche Gast sie erneut beschimpfte. Mit gesenktem Kopf und zitternd stand sie da und ließ die Beleidigungen wie Hagelkörner auf sich niederprasseln.

„Jetzt ist es aber gut!“ Liv schob sich zwischen die schimpfende Touristin und Ursula. „Das war doch nur ein Versehen. Ich denke, Ihnen ist ebenfalls schon das eine oder andere Missgeschick passiert, oder etwa nicht?“

Die Frau zeterte einfach weiter. Liv runzelte die Stirn. Offensichtlich waren hier deutlichere Worte vonnöten. „Es war übrigens die heftige Reaktion Ihres Ehemanns, die das Unglück heraufbeschworen hat. Ich finde es äußerst unangemessen, dass Sie dafür diesem armen Mädchen die Schuld geben und sie auf derart unfreundliche Weise beschimpfen.“

„Was erlauben Sie sich!“ Die Frau erhob sich nun ebenfalls und stemmte die Hände in die füllige Taille.

„Ich erlaube mir, ein Mädchen in Schutz zu nehmen, das –“

Ursula ergriff Liv am Arm und zog sie einfach weg. Irritiert schaute Liv auf die junge Frau hinunter, die einen guten Kopf kleiner war als sie.

„Mädchen? Denken Sie, ich bin noch ein Kind?!“, fuhr Ursula sie an.

„Was …? Ich habe keine Ahnung, wie alt Sie sind. Darum ging es mir doch gar –“

„Halten Sie einfach den Mund“, zischte Ursula mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen. „Sie machen alles nur noch schlimmer.“

„Sie müssen sich zur Wehr setzen, Fräulein Ursula. Diese Frau darf Sie nicht einfach –“

„Doch, das darf sie. Denn sie ist der Gast.“

„Aber –“

„Mischen Sie sich nicht in Angelegenheiten ein, die Sie nichts angehen!“ Ursula warf Liv einen vernichtenden Blick zu, ehe sie sich wieder neben ihre Mutter stellte, sich devot für ihren Fehler entschuldigte und Gustav anbot, ihn sofort zum Arzt zu geleiten. Alma unterstrich das Friedensangebot mit dem Hinweis, dieses Frühstück selbstverständlich nicht auf die Rechnung zu setzen.

Verwirrt und auch verletzt ergriff Liv ihre Gehhilfen, verließ den Gastraum und trat nach draußen. Zu hoffen, dass Ursula den Mann zu Ben statt zu Hardi geleiten würde, war wohl vergebens.

Sie humpelte über einen gekiesten Weg um das Gebäude herum und ließ sich schwer auf eine Holzbank fallen, die direkt an der Hausfassade des Anbaus stand. Durch das offene Fenster neben sich hörte sie das Klappern von Kochtöpfen und Geschirr. Der Duft nach gebratenem Fleisch und einem blumigen Spülmittel wehte herbei und vermengte sich mit dem nach morgenfeuchter Erde und Flieder, da Letzterer nicht weit entfernt auf der Wiese wuchs und eine Sitzecke mit weißen Metallstühlen vor neugierigen Blicken schützte.

„Habt ihr das gerade mitbekommen?“ Eine aufgeregte Frauenstimme drang durch das Fenster nach draußen, begleitet von einem seltsam hämischen Kichern.

„Dieses Fräulein Liv hat vielleicht Mumm“, glaubte Liv zu hören, war sich aber nicht sicher, da sie entschieden zu wenige Worte verstanden hatte.

„Oder sie ist einfach nur dumm.“

Das wiederum hätte Liv gern missverstanden.

Dieselbe Frauenstimme fuhr fort: „Der Hirschen hatte im letzten Jahr viel zu wenig Gäste. Die Weißens haben sich mit den ganzen Anbauten finanziell übernommen. Wenn diese Gäste jetzt verfrüht abreisen – und das werden sie wohl nach dem Debakel und der Aufmerksamkeit, die das Eingreifen der anmaßenden Fremden zusätzlich hervorgerufen hat –, fehlen noch mehr Einnahmen und …“

Liv schürzte die Lippen. Das Wort „anmaßend“ war frei von jeglichem schwäbischen Einschlag und deshalb ganz klar zu verstehen gewesen.