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Die Goldschmiedin Kayla wagt den Schritt, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und in der idyllischen Landschaft des Ostallgäus neu anzufangen. In einer lebhaften Wohngemeinschaft findet sie schnell ein Zuhause. Dort begegnet sie Josch, dem es gelingt, nach und nach die Mauer um Kaylas Herz zu durchbrechen. Aber die Schatten ihrer Vergangenheit lassen sie nicht los. Als Lio, eine obdachlose ältere Frau mit beginnender Alzheimererkrankung, in Kaylas Leben tritt, wird deren Alltag gehörig auf den Kopf gestellt. Mit ihrer Weisheit und Lebenserfahrung richtet Lio den Blick der Bewohner auf das, worauf es im Leben wirklich ankommt … Ein tiefsinniger Roman über den Wert des Lebens, die Bedeutung von Beziehungen und die Suche nach der eigenen Identität.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über die Autorin
Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.
www.elisabeth-buechle.de
Elisabeth Büchle
Tage wie Buchstabensuppe
Roman
Gerth Medien
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Der Bibelvers vor dem Nachwort ist der folgenden Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierte Fassung, © 2017 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
© 2025 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,
Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar
Erschienen im Juni 2025
ISBN 978-3-96122-695-5
Umschlaggestaltung: Hanni Plato unter Verwendung von Shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
www.gerth.de
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie schon mehrere Bücher aus meiner Feder gelesen haben, dann wissen Sie, dass meine Romane und ich in keine Schublade passen. In meinen Geschichten springe ich gern einmal von Schauplatz zu Schauplatz und nehme Sie in verschiedene Zeitepochen mit; mal bin ich historisch, mal zeitgenössisch mit Ihnen unterwegs. Ferner mute ich Ihnen verschiedene Subgenres zu und damit mal dramatische Szenen und viel Spannung, nur um Sie im nächsten Roman mit Herzenswärme und Wohlfühlmomenten zu beschenken. Darum wird es Sie vermutlich nicht weiter wundern, dass auch Tage wie Buchstabensuppe … anders ist!
Ich schreibe gern über das, was mich bewegt, und deshalb möchte ich Sie in diesem Roman auf eine Reise in unsere neue Heimat mitnehmen, in der man uns mit offenen Armen empfangen hat. Lassen Sie mich im Folgenden also ein bisschen vom Ostallgäu schwärmen …
Ich wünsche Ihnen viele überraschende Entdeckungen und hoffe, Ihnen beim Lesen das eine oder andere Schmunzeln zu entlocken!
Dunkelheit umfing sie. Sie warf einen letzten Blick zurück, doch das Drängen ihres Herzens, das zu viel hatte geben müssen und zu viel vermissen, war stärker als ihr Wunsch, zu bleiben.
Mit einem Wanderrucksack auf dem Rücken und einer Reisetasche in der Hand stieg sie die geschwungene Steintreppe zum Atrium hinunter. Das Haus lag in nächtlicher Stille, die antike Standuhr im Wohnzimmer hatte ihre drei tiefen Töne bereits in die Nacht ausgesandt.
Sie war bereit, sich zur Wehr zu setzen, den Kampf auszutragen … Auf die einzige Art, die ihr blieb – und von der sie sich den Sieg erhoffte.
Kräftig presste sie die Lippen zusammen und stieg weiter die Stufen hinab. Auf den karierten Fliesen des Eingangsbereichs angekommen, nahm sie sich nicht einmal die Zeit, ihre Jacke überzuziehen, sondern klemmte sie sich nur unter den Arm.
Mit wenigen Schritten war sie bei der wuchtigen Eichentür. Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum und zuckte zusammen, als dieses ein Knirschen von sich gab. Mit angehaltenem Atem stand sie da und wartete, doch das Geräusch war längst ungehört verflogen. Das Malmen des Sicherheitsriegels übertrumpfte das Knirschen sogar noch an Lautstärke. Wieder rührte sie sich nicht und lauschte, hörte aber nur ihren eigenen galoppierenden Herzschlag.
Behutsam zog sie die Tür auf. Kalte Luft schlug ihr entgegen und drängte ins warme Innere des Gebäudes, doch sie begrüßte die Veränderung wie einen lang vermissten Freund.
Auf der nahe gelegenen Hauptstraße waren trotz der nächtlichen Stunde noch Fahrzeuge unterwegs. Die Motorengeräusche vereinten sich zu einem steten leicht an- und abschwellenden Brummen, das sich zwischen den Fassaden der Stadthäuser hindurchdrückte. Die Straßenlaternen wetteiferten mit dem Mond und dem hier über der Stadt eher schüchtern anmutenden Sternenhimmel um die Wette.
Energisch zog sie die Tür ins Schloss und wusste, dass das Einschnappen in der stillen Halle einem Paukenschlag gleichen musste. Die Hoffnung blieb, dass niemand es hören würde, so wie die Hausbewohner stets die lauten Glockenschläge der Standuhr ignorierten.
Mit fliegenden Schritten eilte sie über die fünf flachen Stufen hinweg, und als die Sohlen ihrer Stiefel den Gehweg berührten, hüpfte ihr Herz vor Freude. Eine kalte Windbö ergriff sie, schob sie weiter voran. So also fühlte sich der erste Hauch von Freiheit an.
Sie wandte sich nach rechts und rannte los, obwohl hinter keinem der Fenster das Licht anging. Erst als sie fünf weitere Gründerzeitvillen hinter sich gelassen hatte und in eine Querstraße einbog, verlangsamte sie das Tempo. Ihr Atem ging hart, obwohl sie nicht unsportlich war. Die kalte Luft schien tief in ihrer Lunge etwas in Brand zu setzen. Ihr war es egal, ja, sie begrüßte das Brennen sogar. Weil es sich mit ihrer Sehnsucht verbrüderte.
Vorbei an mehreren geparkten Autos gelangte sie zu ihrem Fahrzeug. Sie warf das Gepäck in den Fußraum des Beifahrersitzes, umrundete den Wagen und stieg ein. Als der Motor zum Leben erwachte, kribbelte ihr ganzer Körper, ausgehend von den Finger- und Zehenspitzen bis mitten in ihr Herz. Wie Kohlensäurebläschen, die in einem Glas an die Oberfläche sprudelten, weil es sie in die Freiheit drängte.
Genau wie sie.
Einst hatte ich viele Namen.
Einst hatte ich viele Gesichter.
Einst lebte ich an vielen Orten.
Ich habe viel gehört und viel gesehen – manchmal zu viel.
Heute kennt niemand meinen Namen.
Heute sieht mir niemand ins Gesicht.
Heute lebe ich überall und nirgendwo.
Ich höre viel und sehe viel – und manchmal doch zu wenig.
Wer also bin ich?
Kayla warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In den vergangenen Wochen waren die Stunden nur so dahingeflogen, und sie hatte mehr in einen einzelnen Tag gepackt, als hineinpassen wollte.
An diesem Apriltag hatte sie jedoch viel Zeit zur Verfügung, also richtete sie den Blick auf den blauen Himmel über ihr. Für Kayla stand die Farbe Blau für Freiheit. Je unbelasteter sie sich fühlte, umso dunkler fiel das Blau vor ihrem inneren Auge aus. Deshalb mochte sie ein kräftiges Nachtblau viel lieber als das Lichtblau des Mondes, obwohl dieses in den Augen der meisten für Weite stand. Aber sie war nun mal nicht wie die meisten. Sie war sie, Kayla. Oder zumindest wollte sie das wieder sein.
Aufregung perlte durch sie hindurch und vermengte sich mit der Furcht vor der eigenen Courage. So viel stand auf dem Spiel. Eine ganze Zukunft. Ihre Zukunft.
Kayla ging auf die grasbewachsene Landzunge hinaus, die eine Einbuchtung des Lechs vom eigentlichen Fluss trennte. Direkt vor dem Bootshafenkiosk ankerte ein Floß aus Rundhölzern mit Bänken und Tischen darauf. Die beiden langen Ruder im Heck schaukelten sanft in den Wellen. Sie schienen ihr zuzunicken, als wollten sie ihr bestätigen, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Nachdenklich wandte sich Kayla ab und schlenderte zu einer der roten Parkbänke, die nicht zum Oberen Lechsee hin ausgerichtet waren, sondern zum Fluss. Der Lech sprudelte in einem faszinierenden Farbspektrum zwischen milchigem Blau und tiefem Smaragdgrün an ihr vorüber. Auf dem Wasser treibende Äste und eine Feder sowie quirlige Wasserwirbel deuteten auf eine Strömung hin, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich war. Schwäne und Blesshühner bevölkerten die Wasseroberfläche, in Ufernähe dümpelten einige Wildgänse, ein Pärchen Mandarinenten sowie erstaunlich große Möwen, die Kayla bisher ausschließlich an der Nord- und Ostsee verortet hatte.
Sie setzte sich auf eine der Bänke und bewunderte das junge Grün der Uferbäume und das sanfte Blau des Himmels über den leuchtend weißen Schneeflächen der karstigen Berge.
In Kaylas Herzen rührte sich etwas – als zöge dort ein lauer Frühlingswind ein, der die Spuren der Vergangenheit verwehen wollte. Wie sehr Kayla sich doch genau das wünschte!
Sie sog den Geruch des Wassers ein, der angereichert war mit dem herben Duft von sich zersetzendem Laub und regennassen Bäumen. Ab heute würde sie in dieser kleinen Ortschaft wohnen, die in eine hinreißende Landschaft gebettet war; umgeben von Seen, Bächen und Flüssen, Bergen, Wäldern und hügeligen Weiden. Den Mittelpunkt bildete die hauptsächlich in Weiß gehaltene Kirche Mariä Heimsuchung. Das Gotteshaus thronte wie eine Königin auf einem der vielen Hügel, über die sich die Häuser von Lechbruck am See ausbreiteten.
Kayla atmete nochmals bewusst tief ein und verspürte ein ihr unerklärliches Gefühl von Geborgenheit und Weite. Und dies, obwohl sie hier fremd war und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben überdimensional groß und deshalb völlig unrealistisch. Dennoch wollte sie sich daran festklammern – zumindest so lange, bis sie sich nicht mehr halten konnte. Denn sie brauchte diesen Neuanfang beinahe so dringend wie die Luft zum Atmen.
Nach einem erneuten Blick auf die Uhr riss sie sich von dem bezaubernden Anblick los, schritt an der örtlichen Schule vorbei, querte die Durchfahrtstraße und folgte einer kurvenreichen Straße einen Hügel hinauf. Vom Gehen wurde ihr warm, also zog sie ihre Strickjacke aus und zwirbelte ihr dunkles schulterlanges Haar hoch, sodass der Wind ihr den Nacken kühlte.
Sie ließ die letzte Kurve hinter sich und sah sich dem in den Hang gebauten ehemaligen Bauernhaus gegenüber, vor dem sie rund eine Stunde zuvor den Sprinter geparkt hatte. Inmitten von gepflegten Häusern, die allesamt weiße Fassaden und die hier üblichen hölzernen Verschalungen und Balkone aufwiesen, wirkte ihr neues windschiefes Zuhause … als stamme es aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Mit der schwarz verwitterten Holzfassade und den Balkonbrüstungen, die von Glyzinien und wildem Wein umrankt waren, erschien es Kayla hier seltsam fehl am Platz. Der steil ansteigende Vorgarten war mit Gras, Klee und Gänseblümchen bewachsen und zur Straße hin von einer Natursteinmauer begrenzt.
„Es passt zu mir“, stellte sie flüsternd fest.
„Ach, da bist du ja.“ Die Stimme ihrer Vermieterin ließ Kayla herumwirbeln und von der Straße auf den Gehweg treten, damit sie an dem Transporter vorbeisehen konnte. Ihre Mundwinkel hoben sich nicht, obwohl sie sich insgeheim darüber amüsierte, wie spielerisch die Einwohner hier zwischen Du und Sie wechselten. Noch hatte Kayla nicht durchschaut, wen man wann duzte und wen nicht, aber vielleicht entschieden das die Menschen hier auch einfach aus dem Bauch heraus.
Aus dem Bauch heraus … Sie fand die Vorstellung, dass auch sie ab sofort wieder spontane Entscheidungen treffen durfte, einfach herrlich, ja, befreiend. Glücklich machend.
„Grüß Gott“, schob Rosi Breitbacher hinterher und fuhr sich durch das dunkelbraune Haar. Die etwa Fünfzigjährige hatte einen kräftigen Körperbau, und ihr heftig gehender Atem verriet Kayla, dass sie kurz vor ihr den Berg heraufgekommen war.
„Ich habe den Umzugswagen gesehen, aber du warst nicht da.“ Rosi bemühte sich um eine akzentfreie Aussprache, was ihr nicht wirklich gelang. Und das rollende R ließ sich ohnehin nicht verbergen.
„Ich war im Rathaus und habe mich angemeldet, anschließend bin ich noch am See spazieren gegangen. Beim Floß und so.“
„So, am Bootshafen warst du.“ Rosi rasselte mit dem Schlüsselbund, bevor sie zwei Schlüssel davon löste und sie Kayla hinhielt.
Mit wild klopfendem Herzen nahm Kayla sie entgegen. Es war also wirklich wahr! Sie durfte fortan hier leben. Einen Neuanfang wagen.
Sie konzentrierte sich schnell wieder auf das, was Rosi ihr mitzuteilen versuchte.
„Hausschlüssel und Zimmerschlüssel. Sie kommen zurecht?“
„Ähm, ja.“ Kayla nickte, wunderte sich aber, dass Rosi nicht gemeinsam mit ihr ins Haus ging, sondern ihr die Schlüssel hier draußen übergab.
„Na, dann wünsche ich ein gutes Ankommen und Einleben. Pfiat di!“ Noch während sie das sagte, drehte sich Rosi um und stapfte davon. Heute war die sonst so gesellig wirkende Frau entweder in Eile oder hatte einen schlechten Tag.
Unangenehm berührt rieb sich Kayla den Nacken, schob das Gefühl aber energisch beiseite. Sie trat durch das offene Gartentürchen und stieg die verwitterten Steinstufen hinauf, die stellenweise von einem Teppich aus weiß und violett blühenden Bodendeckern geschmückt waren. Die Nachmittagssonne beschien die rauen dunklen Holzlatten an der Fassade. Kayla genoss die Wärme, die sie abgaben.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss der verwitterten Eingangstür mit den zwei milchigen kleinen Glasscheiben, konnte ihn jedoch nicht drehen. Als sie probehalber die Klinke herunterdrückte, ließ sich die Tür öffnen. Erstaunt darüber, dass diese nicht abgeschlossen war, betrat Kayla den dunklen Flur der ehemaligen Pension, die inzwischen einer Gruppe junger Leute als WG diente.
Im Erdgeschoss war es still, aber aus einem der oberen Stockwerke wehte Klaviermusik herbei. Umschmeichelt von den sanften Tönen und dem friedlichen Dämmerlicht des Flurs, schloss Kayla die Augen. Sie kannte die eingängige Melodie, konnte sie aber nicht zuordnen. Komplex und dennoch voller Leichtigkeit, erfüllte sie das alte Haus mit Leben, Behaglichkeit und Wärme.
Kayla ging die Treppe hinauf, wobei jede einzelne Stufe unter ihren Schritten knarrte, als wolle sie in das Klavierstück einstimmen. Sie musste ein Stück den Flur des ersten Stockwerks entlanggehen, dessen Boden ebenfalls aus dunklen Holzdielen bestand, ehe sie zur zweiten Treppe gelangte. Auch diese stieg sie hinauf, begleitet von erneutem, sogar noch lauter tönendem Stufenknarren.
Im Dachgeschoss gab es zwei Zimmer, ihres und das einer anderen jungen Frau. Gesehen hatte Kayla bisher keinen ihrer neuen Mitbewohner.
Sie ging an der Treppenbrüstung entlang nach links und drückte die Klinke herunter. Auch ihre Zimmertür war unverschlossen, also betrat sie ihr kleines Reich – und schreckte zurück. Entgegen ihrer Erwartung standen noch etliche Möbel im Raum, durch den Luftzug spielten Staubmäuse auf dem hellen Laminat Fangen. Zerknüllte Papiertaschentücher, alte Modezeitschriften und sonstiger Unrat der Vormieterin lagen verstreut auf dem Boden herum. Es roch muffig und nach Schweiß.
„Okay …“, sagte Kayla gedehnt und voller Unbehagen. Eigentlich hatte sie eine geräumte, besenreine Unterkunft erwartet. Dass dem nicht so war, erklärte Rosis Schlüsselübergabe direkt auf der Straße.
Kayla schob die Schlüssel in die Gesäßtasche ihrer Jeans und ging zu jenem Holzsprossenfenster im Raum, das ihr über das benachbarte Haus hinweg einen Blick auf den See gewährte. Sie öffnete es und begrüßte die hereinströmende klare Frühlingsluft. Ihr nächster Gang führte sie zum zweiten Fenster. Auch dieses riss sie auf, ehe sie die Balkontür öffnete.
Sie betrat den Holzbalkon, dessen rustikale Brüstung so morsch wirkte, als würde sie einzig von den knorrigen Zweigen der Glyzinie zusammengehalten. Das Dach ragte gut zwei Meter über den Balkon hinaus, die beiden Seiten des Spitzdaches trafen sich genau in der Mitte über dem Vorbau, sodass sie eine Art Zelt bildeten.
Kayla liebte diesen lauschigen Platz schon jetzt, vor allem aber den Blick über die Häuser von Lechbruck hinweg auf die Hügel und bewaldeten Berghänge und bis hinauf zu den Ammergauer Alpen. Ein Stück weiter rechts, verborgen hinter Hügelkuppen und Wäldern, lagen der Forggensee und Füssen, dahinter begann Österreich.
„Ich nehme mal nicht an, dass du diesen Einrichtungstrend befürwortest?“, sagte eine tiefe Stimme, deren Klang Kayla als rostig einstufte.
Sie wirbelte herum und trat rasch zurück in ihr Zimmer. Im Türrahmen stand eine junge Frau, deren Haarfarbe nicht klar zu benennen war, da sie aus blauen, rosafarbenen, blonden und schwarzen Strähnen bestand. Kayla schätzte ihren Gast, vermutlich die Mitbewohnerin von nebenan, auf Anfang bis Mitte zwanzig, also etwas jünger, als sie selbst es war.
„Ähm, nein“, brachte Kayla stockend hervor. Sie war verärgert, denn sie wollte ihr neues Leben nicht mit altem Müll beginnen, zumal es nicht ihr eigener war.
„Servus, ich bin Mia.“
„Kayla, hallo.“ Sie musterte den ersten Gast in ihrem neuen Zuhause, der Bayrisch mit italienischem Akzent sprach. Es klang charmant, die Reibeisenstimme tat ein Übriges, um in Kayla ein Gefühl von Heiterkeit und Leichtigkeit aufsteigen zu lassen. Sie ließ es tief in ihr Herz fallen, begrüßte es wie einen lang verschollenen Bekannten.
„Warte kurz.“ Mia drehte sich um und stürmte regelrecht davon. Ihr weiter farbenfroher Rock, den sie zu einem eng anliegenden schwarzen Top trug, umwehte sie wie eine Blumenwiese, deren Blüten in einer Windbö tanzten. Ihre Schritte wurden von einem melodischen Klimpern begleitet, das Kayla nicht so recht einordnen konnte.
Die Treppenstufen knarrten, die neue Melodie im Haus wurde leiser und verlor sich. Irgendwo schlug eine Tür zu, dann näherte sich das Knarren wieder, diesmal langsamer. Schließlich flatterte die junge Frau zurück in Kaylas WG-Zimmer.
Mia warf ihr zwei grellgelbe Gummihandschuhe zu, sie selbst trug ihre bereits. Ein blauer Müllsack folgte, der jedoch nicht so weit flog wie die Handschuhe und deshalb mit einem leisen Flüstern auf dem schmutzigen Boden landete. Den Besen, Mias nächstes Wurfgeschoss, erwischte Kayla gerade noch am Stiel, ehe er polternd zu Boden gefallen wäre.
„Wir packen den ganzen Müll da rein, anschließend entsorgen wir die Möbel.“
„Entsorgen? Wird die Vormieterin sie nicht abholen?“
„Nein. Sie kommt nicht mehr her.“ Mia nickte gewichtig und fuhr fort: „Ich habe uns telefonisch Unterstützung organisiert, damit wir zwei deine Sachen nicht allein hochtragen müssen. Sie kommt heute Abend. Bis dahin haben wir den Raum leer, sauber und die Wände samt Holzvertäfelung gestrichen.“
„Ich … du willst …“ Völlig perplex schüttelte Kayla den Kopf. Diese Mia, die sie gerade einmal fünf Minuten kannte und die sie an die quirligen Strömungswirbel im Lech erinnerte, wollte ihr einfach so helfen?
„So kannst du hier jedenfalls nicht einziehen. Und ja, ich finde, dass es schönere Freizeitbeschäftigungen gibt. Aber es hilft ja nichts, du musst hier heute Nacht schlafen können. Also los!“ Mia schob mit ihren weißen Sneakern einen Teil des Unrats zusammen, hockte sich hin und schaufelte ihn regelrecht in die Mülltüte. Da Kayla unmöglich zusehen konnte, wie die fremde Frau ihr Zimmer auf Vordermann brachte, gab sie sich einen Ruck und kehrte mit dem Besen immer neuen Müll zu Mia hinüber.
Der aufgewirbelte Staub brachte sie beide zeitgleich zum Niesen. Mia lachte darüber schallend, an Kaylas Lippen zupfte ein zaghaftes Lächeln, dem sie allerdings nicht nachgeben konnte. Zu lächeln hatte sie verlernt.
Sobald sie den gröbsten Schmutz im Müllsack eingefangen hatten, wandten sie sich den Möbeln zu. Mia stemmte die Hände in die schlanke Taille und schürzte die Lippen. Sie schien einen Moment lang nachzudenken, dann deutete sie auf einen sechseckigen Nachttisch aus Furnierholz in einem glänzenden, nicht sonderlich schönen Braunton. „Der macht den Anfang. Pack mal mit an.“
Gemeinsam nahmen sie das erstaunlich schwere Möbelstück hoch, doch als Mia nicht in Richtung Treppenhaus ging, sondern auf die Balkontür zusteuerte, fragte Kayla: „Was hast du vor?“
„Ich habe keine Lust, das Gerümpel zwei Stockwerke runterzutragen. Du etwa? Wozu hat Gott die Schwerkraft erfunden?“
„Aber …“
„Komm schon, kein Mensch will diese kaputten Möbel mehr haben.“
Sie trugen das sperrige Teil hinaus auf den Balkon und wuchteten es auf die Brüstung. Kayla vernahm das Knacken einiger Äste und bedauerte die Glyzinie.
„Achtung!“, rief Mia lauthals und klang weniger warnend als vielmehr übermütig. „Hässliches Möbel von oben!“ Sie gab dem Nachttisch einen Schubs, sodass er über die breite Balustrade kippte. Nur den Bruchteil eines Augenblicks später erfolgte der krachende Aufschlag auf der abschüssigen Wiese, begleitet von einem unschönen Splittergeräusch.
Kayla und Mia beugten sich synchron über das Geländer und spähten in den Garten hinunter. Den Nachttisch hatte es in seine Einzelteile zerlegt.
Unwillkürlich stieg ein perlendes Lachen in Kayla auf, das aber nicht ihre Lippen erreichte. Sie hatte in den vergangenen Wochen versucht, ihr Leben zu entrümpeln und von all dem Ballast zu befreien, der es beinahe erstickt hätte. Das hatte sich als extrem anstrengend erwiesen, doch letztlich war es ihr gelungen. Wie viel einfacher wäre es wohl gewesen, wenn sie all das, was sie hatte loswerden wollen und müssen, aus einem imaginären Fenster hätte werfen können? Dies hätte auch verhindert, einige der bereits entsorgten Dinge wieder willkommen zu heißen und in alte Muster zu verfallen. Manche Schritte hatte Kayla mehrmals gehen müssen …
„Meinst du, wir bekommen auch den Schreibtisch hier raus?“, wandte sie sich an ihre tatendurstige Mitbewohnerin.
„So gefällst du mir!“ Mia lachte, klatschte mehrmals auffordernd in die Hände, sodass die gelben Handschuhe wie aufgeschreckte Vögel wirkten, und tänzelte förmlich zurück ins Zimmer. „Für die Balkontür ist der aber zu groß.“ Sie umrundete den Schreibtisch, der mehr aus Metall denn aus Holz bestand.
„Ich habe einen Werkzeugkasten im Transporter.“
„Worauf wartest du dann noch? Husch, husch!“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht bedeutete Mia ihr, sich schleunigst auf den Weg zu machen.
Voller Leichtigkeit im Herzen – ein Gefühl, das sie so lange entbehrt hatte, dass es Kayla zunächst verwunderte, ehe sie es willkommen heißen konnte – hüpfte sie regelrecht die Stufen hinunter. Beim Sprinter angekommen, dauerte es geraume Zeit, bis sie den blauen Metallkasten im Laderaum gefunden hatte.
Wieder zurück im oberen Stockwerk, traf sie Mia in der Tür zu dem kleinen Badezimmer an, das sie sich teilen würden.
„Ich habe“, sagte Mia, obwohl sie Kayla den Rücken zuwandte, „alles entsorgt, was Bibi hat stehen lassen. Und ich habe geputzt. Aber schau es dir ruhig noch mal genau an.“ Sie räumte das Feld, doch Kayla, die Mias Arbeit weder überprüfen noch bewerten wollte, folgte ihr auf dem Fuße zurück in ihr neues Reich über den Dächern Lechbrucks.
Mia plauderte munter weiter: „Bibi und ich hatten uns ständig in der Wolle, weil wir so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Chaos-Bibi gegen Penibel-Mia.“
„Und wer hat gewonnen?“, fragte Kayla leicht irritiert, da sie den bunten Schmetterling nicht mit dem Attribut penibel unter einen Hut brachte.
Mia stieß Kayla lachend mit dem Ellenbogen in die Seite. „Penibel-Mia. Ganz einfach deshalb, weil sie aus jeder Diskussion als Siegerin hervorgeht.“
Kayla nickte, nahm einen Schraubendreher aus dem Werkzeugkasten und zerlegte den Tisch in seine Einzelteile.
„Wow, du kannst das ziemlich gut“, kommentierte Mia anerkennend.
„Ich arbeite viel mit Werkzeug, meistens allerdings mit filigranerem als dem hier.“
„Was machst du denn beruflich?“, wollte Mia wissen, ergriff die soeben abgeschraubte Tischplatte und warf sie – begleitet von einem weiteren Warnruf – über die Balkonbrüstung. Ohne auf Kaylas Antwort zu warten, erzählte sie dann: „Ich bin Musicaldarstellerin. Außerdem spiele ich Klavier und Kontrabass. Ich gehöre zum Ensemble des Füssener Festspielhauses.“
„Oh!“, stieß Kayla bewundernd und fasziniert zugleich aus und reichte ihr eines der geschwungenen Metallbeine. „Ich bin Goldschmiedin und –“
„Sag bloß, du bist die, die am Brotmarkt in Füssen das kleine Ladenlokal gemietet hat!“
„Woher …? Ja, das bin ich.“
„Ich jobbe nebenbei in einem Blumengeschäft. Deshalb weiß ich, dass der Laden jetzt an jemand Neues vermietet ist. Vorher war da eine Änderungsschneiderei.“ Mia hob ihren langen Rock an und offenbarte an jedem Fuß ein Kettchen aus gehämmerten goldfarbenen Metallblättchen – und damit den Ursprung der Melodie, die sie beständig umgab. „Die findest du dann wahrscheinlich ziemlich … billig?“
„Warum denn?“, fragte Kayla nach einem Blick auf die Fußkettchen. „Ich finde, das Klimpern passt zu dir, und die Anhänger sind richtig hübsch.“ Sie reichte Mia ein weiteres Metallteil. „Außerdem fertige ich auch Modeschmuck an. Mir gefällt beides: die Arbeit mit hochwertigen Materialien genauso wie die mit weniger wertvollen, bei denen ich nicht so sehr aufpassen muss und meiner Fantasie freien Lauf lassen kann.“
„Sprecht ihr gerade von Mias Fußfesseln?“
Kayla zuckte ob der tiefen Bassstimme zusammen. Offenbar ging in diesem Haus jeder ein und aus, wie es ihm passte.
„Josch! Du bist schon da?“ Mia, bereits auf dem Balkon angekommen, ließ das Metallteil einfach fallen, stürmte an Kayla vorbei und sprang dem großen breitschultrigen Mann förmlich in die Arme. Der war darauf vorbereitet, denn er fing sie auf, stellte sie aber sofort wieder auf die Füße und trat einen Schritt zurück. Kayla vermutete in dem Neuankömmling mit der sonoren Stimme einen Kollegen von Mia.
„Fußfesseln? Ich dachte immer, das wäre ein Kuhglockenersatz“, meldete sich ein weiterer männlicher Gast zu Wort. Auch er wurde stürmisch von Mia begrüßt, sobald Josch den Türrahmen freigegeben hatte. Mia stellte ihn Kayla als Theo vor. Im Gegensatz zu Josch, der blonde Locken hatte und überraschend braun gebrannt war, war er dunkelhaarig und wirkte eher blass.
Theo zwinkerte Kayla zu und sagte: „Mia liebt es, Gegenstände aus dem Fenster zu werfen. Offenbar hat sie dich damit angesteckt.“
Besorgt presste Kayla die Lippen zusammen. Das, was sie da machten, war nicht ganz ungefährlich, allerdings ging sie davon aus, dass Mia einschätzen konnte, ob sich dort unten jemand aufhielt oder nicht. Außerdem fand sie die Sache mit den Kuhglocken grenzwertig, wenn nicht gar beleidigend. Doch der farbenfrohe Wirbelwind schien sich nicht daran zu stören. Mit einer übertrieben theatralischen Geste warf Mia das, was zuvor auf dem Balkon gelandet war, über die Brüstung.
„Hat Chaos-Bibi all das Gerümpel zurückgelassen?“, fragte Josch, während er eine Kommode hochwuchtete und zur Balkontür trug. Offenbar hatte auch er keine Lust, die schweren Möbel durch das extrem enge Treppenhaus zu tragen.
„Hat sie“, kam Mia ihr mit einer Antwort zuvor, denn Kayla war noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, dass zwei wildfremde Männer ihr ungefragt zur Hand gingen.
„Wie wäre es, wenn Kayla, Josch und ich hier für Klarschiff sorgen und du, Theo, zum Baumarkt fährst, um Farbe und Malerutensilien zu besorgen?“, schlug Mia vor.
„Kann ich gern machen!“, meinte Theo und zog den Autoschlüssel hervor.
„Stopp, Mia! Du überrollst Kayla“, ging Josch dazwischen und wandte sich an sie. „Ist dir das überhaupt recht? Immerhin ist das dein Zimmer.“
Angenehm überrascht hob Kayla die Augenbrauen, gleichzeitig flutete eine böse Erinnerung ihre Gedanken, bedrängte ihr Herz und zog Schmerz hinter sich her. Sie zwang sich, all diese Gefühle weit von sich zu schieben. Schließlich wollte sie nicht, dass die negativen Eindrücke aus der Vergangenheit hier ebenfalls einzogen. Aber durfte sie zulassen, dass Mia das Kommando übernahm?
Kayla zögerte kurz, dann nickte sie. Immerhin hatte sie jetzt die Wahl, auf Mias Vorschlag einzugehen oder nicht. „Ich bin dankbar für eure Hilfe, also ja.“
„Und welche Farbe soll Theo mitbringen?“
Kayla betrachtete die etwa einen Meter hohe dunkelbraune Holzvertäfelung, die an allen vier Zimmerwänden angebracht war, wobei sie unter dem Fenster zum See hin von einem Heizkörper verdeckt wurde. Sie entschied, dass das Holz unbedingt graublau gestrichen werden sollte, der Wandputz und die Decke cremeweiß. Theo nahm die Bestellung entgegen.
In den folgenden Stunden säuberten und strichen sie das Zimmer. Dank des milden Aprilwetters, das kräftiges Lüften erlaubte, trocknete die Farbe schnell. Während die Landschaft draußen in abendlicher Dämmerung versank, stellten sie die Möbel vorerst einige Zentimeter von den Wänden entfernt auf. Dabei halfen nicht nur Mia, Josch und Theo, sondern auch weitere Freunde des Trios, die sich als Bastian, Andreas und Bernadette vorstellten, aber nur Basti, Andi und Betti gerufen wurden.
Betti hatte Pizzabrötchen mitgebracht, die nur noch in den Backofen geschoben werden mussten, dazu einen Feldsalat mit Fetawürfeln. So kam es, dass Kayla später am Abend zwischen ihren fröhlichen Helfern auf der Eckbank in der WG-Wohnküche saß.
„Wer bist du eigentlich?“ Basti, ein schwarzhaariger Typ mit Brille und funkelnden blauen Augen, beugte sich über den Tisch zu Kayla vor.
Diese Frage, nachdem er bereits mit ihr die Holzverkleidung gestrichen und Bücherkisten durch das melodiös knarrende Treppenhaus geschleppt hatte, hätte Kayla beinahe zu einem Kichern verleitet. Aber nur beinahe.
„So eine tiefenpsychologische Frage aus deinem Mund?“ Theo lachte schallend auf.
„Manchmal hat er solch überraschende Anwandlungen“, meinte Betti gelassen. „Sie halten ungefähr fünfzehn Sekunden an.“ Schwungvoll stellte sie einen weiteren Teller mit Pizzabrötchen auf den Tisch, der zudem mit unzähligen Flaschen und Gläsern sowie mit Tellern, Gewürzdosen und Besteck vollgestellt war. Der Dampf der überbackenen Brötchen waberte der niedrigen Holzdecke entgegen und wurde vom heimeligen orangefarbenen Licht flackernder Kerzen beschienen.
„Ich frage doch nur, weil –“ Weiter kam Basti nicht, da Mia im selben Moment ihr Glas umstieß, dessen Inhalt sich über seinen Oberschenkel ergoss.
„Entweder setzt du dich das nächste Mal neben jemand anderen“, polterte er los, „oder du musst damit rechnen, dass ich dir die Arme an der Stuhllehne festbinde.“
„Und schon ist er dahin, der wohlmeinende, aufmerksame und mitfühlende pseudopsychologische Eindruck“, spottete Betti.
„Misslungener Täuschungsversuch“, attestierte auch Andi.
Kayla musterte den kräftig gebauten Mann mit dem rotbraunen Haar, den sie auf Mitte zwanzig schätzte. Bis auf eine höfliche Begrüßung und einige Anweisungen während des Bettaufbaus hatte er noch nicht viel gesagt. Andi konnte kräftig zupacken, das hatte Kayla schnell festgestellt, aber auch, dass er sich lieber im Hintergrund hielt. Allein dieser Charakterzug machte ihr den jungen Mann äußerst sympathisch.
Josch war ans Spülbecken getreten und griff nach dem Spüllappen. Mit einem lauten „Hey“ forderte er Bastis Aufmerksamkeit ein. Der nickte dankbar, und Josch warf ihm das Wischtuch zu.
Basti fing es auf und zischte protestierend, da Wasser aus dem vollgesogenen Lappen spritzte. Jetzt war nicht nur sein linkes Hosenbein nass, sondern auch sein Pullover. „Du bist ein wahrer Freund!“, rief er Josch über das Gelächter hinweg zu.
Der antwortete mit einem Grinsen, das perfekt zu seinem lässigen Auftreten passte. Mit seinem gebräunten Teint, den wilden blonden Locken, dem Dreitagebart und dem einnehmenden Lächeln, das regelmäßige weiße Zähne offenbarte, würde er sich mit einem Surfbrett unter dem Arm perfekt in eine Strandszene einfügen.
Basti wandte sich wieder an Kayla. „Ich habe nur gefragt, wer du bist, weil ich vorhin als Letzter dazugekommen bin und mir niemand deinen Namen verraten hat.“
Mia prustete los, Betti schüttelte den Kopf und Andi klopfte Basti so kräftig auf die Schulter, dass der Inhalt des Glases in Bastis Hand nun auch noch auf sein trockenes Hosenbein schwappte.
So zufrieden und glücklich wie seit Jahren nicht mehr lehnte sich Kayla auf der Eckbank zurück und beobachtete die Interaktion des Freundeskreises, in den Mia sie ganz selbstverständlich hineingeschubst hatte. Sie sog das Gelächter und die spöttischen, aber gutmütigen Bemerkungen förmlich in sich auf. Selbst als sich die Gespräche um Themen drehten, deren Hintergründe sich ihr entzogen, störte sie das nicht. Es war schön, Teil eines vergnüglichen Abends unter Freunden zu sein. Dass es Zeit brauchte, um die jungen Leute besser kennenzulernen, war ihr klar, ebenso wie die Tatsache, dass der Kontakt auch schnell wieder einschlafen konnte. Aber für den Moment war sie einfach nur glücklich!
Diese Küche, die sich optisch irgendwo zwischen den 1960ern und dem ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre bewegte, könnte ein Lieblingsplatz für sie werden.
Im nächsten Augenblick wurde Kayla schmerzlich bewusst, dass ihre Vergangenheit nicht nur in vielerlei Hinsicht herausfordernd und bedrückend gewesen war, sondern sie zudem auch in eine tiefe Einsamkeit geführt hatte.
Ein Hahnenschrei weckte Kayla, gleich darauf schlich sich der hölzern klingende Ruf eines Kuckucks durch die einen Spaltbreit geöffnete Balkontür. Genauso sanft, aber dennoch um Aufmerksamkeit heischend, drängte das Morgenrot herein.
Kayla drehte sich auf den Rücken und blickte zur frisch gestrichenen Zimmerdecke hinauf. Diese war makellos weiß; nicht der kleinste Riss, kein Loch oder Fleck waren zu sehen. Eigentlich sollte sie das fröhlich stimmen, denn genauso unbelastet wollte sie in ihr neues Leben starten, allerdings kamen ihr die Tränen – weil sie zwar viel gewonnen, aber zugleich auch eine Menge verloren hatte. In ihrem alten Leben war ihr die Liebe zur Belastung geworden, und allein daran zu denken, riss ihr Herz in Fetzen.
Sie stand auf; fühlte sich matt, ja, nahezu erschlagen. Dabei war sie zu jung, um sich so alt zu fühlen. So verbraucht. Und irgendwie … missbraucht.
Das Gebälk knackte, im Haus fiel eine Tür zu, Kinderlachen perlte herbei. Die ungewohnte Geräuschkulisse fügte die Fetzen ihres Herzens wieder zusammen, da sie Kayla an ihren Neuanfang erinnerte, den sie sich sehnlichst herbeigewünscht hatte. Die Naht schmerzte zwar, aber das, so hoffte Kayla, würde bald vergehen. Sie würde weiterkämpfen, in dem Wissen, dass sie rechtzeitig die Flucht ergriffen hatte, ehe ihre Seele tieferen Schaden hatte nehmen können. Alles andere konnte jetzt heilen.
Energischer, als sie sich fühlte, trat sie hinaus auf den Balkon. Noch bildete die Glyzinie ein wirres Geflecht aus knorrigen Ranken, die sich an die Brüstung klammerten – oder diese zusammenhielten. Aber bald schon würde erstes Grün sprießen, und schließlich würden sich die Blüten in einem tiefblauen Wasserfall über das Holz ergießen. Genauso stellte Kayla sich ihr neues Leben vor.
Mit einem Blick auf die Berge, die wegen der aufgehenden Sonne in ein Mosaik aus Licht und Schatten getaucht waren, wobei die Schneefelder sich strahlend weiß vom Gestein abhoben, breitete Kayla die Arme aus. Mit ihnen umfasste sie den See, den Fluss, die Hügel und Wälder und die Weite des Himmels. Dies hier oben könnte definitiv ihr Lieblingsplatz werden.
Im Stillen flehte sie Gott an, ihr die Kraft für den neuen Tag zu schenken, denn sie wusste: Sie konnte nur einen nach dem anderen angehen, füllen und leben.
Es war kurz nach acht Uhr morgens, als Kayla die Eingangstür ihres neuen Zuhauses ins Schloss zog. Sie linste an den beiden Holzkisten in ihren Armen vorbei, während sie den Weg zu ihrem Miettransporter in Angriff nahm. Dort angekommen, schob sie die Kisten auf die ansonsten leere Ladefläche.
„Servus. Du bist die Neue in der Alpenblick-WG, nicht wahr?“
Kayla wirbelte um die eigene Achse. Wie oft man sie hier wohl noch völlig unvermittelt ansprechen würde? Und wieder wurde sie einfach geduzt. Sie sah sich einer Frau Mitte dreißig mit blondem Kurzhaarschnitt und einer übergroßen Brille gegenüber.
„Ich bin Linda. Mit meinem Mann Peter und unseren drei Kids wohne ich gleich nebenan, in dem Haus mit dem durchgehenden Balkon.“
„Kayla, hallo – oder vielmehr servus. Und ja, ich bin gestern hier eingezogen.“
„In das Zimmer von Chaos-Bibi?“
Kayla nickte etwas überfordert. Offenbar kannte hier jeder jeden, zumindest in dieser Straße. Obwohl auch ihr vorheriger Wohnort keine Großstadt gewesen war, hatte sie die wenigsten Nachbarn beim Namen gekannt. Mehr als drei Worte, wenn man sich begegnete, wurden dort selten gewechselt.
„Ich muss los“, brachte sich Linda in Erinnerung. „Die Kids in den Kindergarten und zur Schule bringen und dann weiter zur Arbeit. Falls du mal was brauchst, frag einfach.“
„Das ist sehr nett, vielen Dank.“
Die Nachbarin winkte Kayla im Davoneilen zu und stieg in das Auto, in dem bereits die Kinder auf sie warteten.
Beim Blick auf ihre Armbanduhr stellte Kayla fest, dass sie den Leihwagen mit Verspätung abgeben würde. Wenn es schlecht für sie lief, musste sie nun für einen ganzen Tag mehr bezahlen.
Sie fuhr die rund zweiundzwanzig Kilometer durch eine wildromantische Landschaft hinüber nach Schwangau, tankte und parkte den Transporter neben ihrem alten Toyota auf dem Parkplatz des Mietwagenverleihs. Als sie sich bei dem Mann hinter dem Tresen für ihr Zuspätkommen entschuldigte, winkte der nur ab. „Das kommt schon mal vor, wenn man mitten im Umzug steckt. Du hast vollgetankt?“
„Ja, hab ich.“
„Dann ist doch alles bestens. Pfiat di!“ Damit war sie entlassen.
Erleichtert lud Kayla die beiden Kisten in den Kofferraum ihres roten Kleinwagens und fuhr ins Füssener Stadtzentrum. Zweimal verfuhr sie sich, da die Fußgängerzonen und verwinkelten Gassen wie ein Labyrinth auf sie wirkten, ehe sie rückwärts vor die Eingangstür ihres Ladengeschäfts rangierte.
Sie stellte den Motor ab, beugte sich über den Beifahrersitz und begutachtete die Glastür und das Schaufenster, das sie schon mit weißen Backsteinen und dunkelblauen Samttüchern dekoriert hatte. In großen goldenen Lettern stand dort „KAYLAden“auf der Scheibe. Der Anfangsbuchstabe war gespiegelt und mit dunkelblauer Farbe zu einem Schmetterling ergänzt. Die orangefarbene Fassade des gegenüberliegenden Ladengeschäfts und das zurückhaltendere Gelb eines Gasthausesmit Apéro-Bar spiegelten sich im Glas.
Kayla stieg aus und atmete tief durch. Dabei drängte sich ihr einmal mehr der Eindruck auf, dass sie in den vergangenen Jahren eigentlich durchgängig die Luft angehalten hatte. Es roch nach einem Neuanfang inmitten von Häuserfronten, die an diesem Morgen eine kühle Feuchtigkeit ausstrahlten.
In der Wohnung über dem KAYLAden war ein Fenster geöffnet, von dort war ein Klappern zu vernehmen, gleichzeitig umtanzte Kayla der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Prompt knurrte ihr Magen, da sie kein Frühstück zu sich genommen hatte. Entsprechend hastig schloss sie die Ladentür auf.
Das Läuten eines Klangspiels über der Tür, das noch vom Vormieter stammte, begrüßte sie. Im Verkaufsraum roch es immer noch nach dem Scheuermittel, mit dem Kayla die blauen und weißen Bodenfliesen geschrubbt hatte, obwohl das schon zwei Wochen her war. Also ließ sie die Tür offen und wuchtete die Kisten auf die Holztheke, deren Tresen sie ebenfalls dunkelblau gestrichen hatte.
Bis auf das vorbereitete Schaufenster und die ausladende Theke war der Ausstellungsraum leer. Die beiden Holzkisten, gefüllt mit den Schmuckstücken, die Kayla noch vor dem Umzug angefertigt hatte, waren die ersten Möbel, die sie aufstellen wollte, um ihre Werke zu präsentieren.
Sie ging an dem angrenzenden winzigen Büroraum vorbei und öffnete die Hintertür. Diese führte in einen Innenhof, der auf allen Seiten von roten Backsteinfassaden mit weißen Sprossenfenstern begrenzt war.
Kayla trat hinaus auf das feuchte Kopfsteinpflaster und richtete den Blick hinauf zu dem quadratischen Fleckchen Himmel, das sich ihr hier zum Betrachten bot. In einer der Wohnungen, die an den Hinterhof angrenzten, hörte jemand Radio. Der Sprecher verkündete gerade, dass der Himmel bald zuziehen würde und der Tag neblig und grau zu werden drohte.
Die nächste Stunde verbrachte Kayla damit, die mit blauem Samt ausgelegten Präsentationsflächen im Schaufenster mit ihren Schmuckstücken zu versehen. Dabei ging sie mehrmals hinaus auf die Gasse, um die Wirkung der Auslagen zu prüfen.
Als ihr Magen sie erneut lautstark darauf aufmerksam machte, dass sie ihm viel zu lange keine Beachtung geschenkt hatte, beschloss sie, eine der hiesigen Bäckereien aufzusuchen und sich dort ein Frühstück zu gönnen.
Sie ging am Lautenmacherbrunnen vorbei und betrachtete die farbenfrohen Auslagen der benachbarten Geschäfte, ehe ihr knurrender Magen ihr riet, etwas mehr Eile an den Tag zu legen. Sie brauchte nicht weit zu gehen, bis ihr der verheißungsvolle Duft von frischem Brot in der Nase kitzelte. Allerdings musste sie beim Betreten des Ladens jemandem ausweichen, der links neben der Eingangstür saß. Er hatte verfilztes graues Haar und hüllte sich in einen langen Mantel, der an der Schulter einen Riss aufwies und nicht eben sauber war. Darunter schauten eine braune Hose mit ausgefranstem Saum und ein Paar robuste schwarze Stahlkappenschuhe hervor.
Betroffen fragte sich Kayla, ob der Mann trotz der nächtlichen Kälte hier geschlafen hatte. Jedenfalls atmete er noch, soweit sie das beurteilen konnte.
Sie betrat die Bäckerei und wurde von warmer Luft und einer Duftfülle willkommen geheißen, die ein seltsam heimeliges Gefühl in ihr wachrief. Sie ging zur Theke, wo eine ältere Dame ihr kurz darauf ein Frühstück zubereitete und es an den kleinen Tisch brachte, an dem Kayla sich mittlerweile niedergelassen hatte.
Mit geschlossenen Augen genoss sie den ersten Schluck ihres Cappuccinos – und erschrak umso mehr, als die Frau hinter der Theke mit lauter Stimme rief: „Verschwinde von hier! Du schreckst mir die Kunden ab.“
Kayla riss die Augen auf und sah zu, wie der Obdachlose sich mühsam hochrappelte. Er wirkte schmächtig und taumelte, als er der Aufforderung nachkam. Allerdings schleppte er sich nur über die Straße und setzte sich an die gegenüberliegende Hauswand.
Bestürzt aufgrund von so viel Leid, war es Kayla mit einem Mal unmöglich, ihr süßes Stückchen und den Kaffee zu genießen. Sie bezahlte an der Theke und nahm noch zwei belegte Brötchen und eine Flasche Wasser mit. So beladen querte sie die Straße und ging in einigem Abstand, da sie die Reaktion des Obdachlosen nicht einschätzen konnte, vor dem Mann in die Hocke. Er roch streng; in der Plastiktüte, die er bei sich trug, vermutete sie Schnapsflaschen.
Kayla hatte noch nie mit jemandem gesprochen, der auf der Straße lebte, und wusste im Grunde nichts über das Leben und den Alltag obdachloser Menschen. Sie verstand auch nicht, warum man in einem Sozialstaat wie Deutschland nicht versuchte, Hilfe zu erhalten, um sein Leben halbwegs wieder in den Griff zu bekommen. Ein Bekannter hatte ihr einmal gesagt, dass manch Obdachloser irgendwann nicht mehr in einen geregelten Alltag mit festem Wohnsitz und einer Arbeitsstelle zurückkehren wollte. Ob das stimmte, konnte sie nicht beurteilen; wie so oft traf derlei Verallgemeinerung sicher nicht auf jeden zu. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie herausfordernd es sein konnte, einen eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Umzukehren ging nicht selten mit Kämpfen, Enttäuschungen und einer Menge Gegenwind einher.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie leise, doch da der Mann nicht reagierte, räusperte sie sich und wiederholte die Worte mit fester Stimme.
Der Angesprochene hob den Kopf. Das verfilzte lange Haar verdeckte fast vollständig sein Gesicht, dennoch sah Kayla graublaue Augen, erstaunlich schmale, ebenfalls ergraute Augenbrauen und eine Menge Falten in dem blassen Gesicht. Der Mann musste bereits älter sein.
„Ich habe hier etwas für Sie.“ Kayla stellte die Wasserflasche vor seinen Füßen ab. Da der Boden feucht war, wollte sie die Brötchentüte nicht einfach dazulegen, also hielt sie ihm diese mit ausgestrecktem Arm hin.
Zierliche Finger tauchten aus dem fleckigen Ärmel des Mantels auf, gefolgt von einem Handrücken, der mit Sonnenflecken überzogen war. Da sie sich vor einer Berührung fürchtete, ließ Kayla die Tüte ein wenig zu früh los, doch der Mann bekam sie gerade noch zu fassen.
„Danke. Gott segne dich!“
Kayla, bereits im Begriff, sich aufzurichten, verharrte in der Bewegung. Die weiche, melodische Stimme gehörte unverkennbar zu einer Frau!
„Ähm … haben Sie hier auf der Straße übernachtet? Obwohl es so kalt ist?“
„Mancherorts ist es nicht kalt.“
Kayla nickte irritiert. Bedeutete das, dass die Frau einen geschützten Schlafplatz kannte?
„Du bist Kayla, nicht wahr?“
„Woher …? Ich meine …“
Von der Obdachlosen kam ein leises Kichern, das zu Kaylas Verwunderung seltsam ansteckend wirkte.
„Ich habe dir zugesehen, wie du das Schaufenster mit Backsteinen beladen hast. Hoffentlich stehen die nicht bildhaft für das, was du sonst noch mit dir herumschleppst.“
Kayla stutzte, erwiderte aber nichts. Sie war viel zu erschrocken darüber, dass die Frau sie beobachtet haben musste, ohne dass Kayla ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Und überhaupt … Weshalb zeigte die Fremde sich besorgt über die Last, die Kayla in ihrem Herzen trug, obwohl sie selbst ihr Leben auf der Straße verbrachte?
„Ich muss dann mal wieder an die Arbeit“, sagte sie etwas unbeholfen, da die Frau nun schweigend auf die Brötchentüte starrte. Auf Kayla wirkte sie, als sei sie in Gedanken sehr weit weg. In einer Vergangenheit, die besser war, als die Gegenwart es je für sie sein könnte?
„Sieh an, jemand hat mir etwas zu essen gebracht“, murmelte die Frau und öffnete die Papiertüte. Da sie Kaylas Anwesenheit völlig auszublenden schien, richtete Kayla sich auf und ging davon, wobei sie sich mehrmals zu der über der Tüte kauernden Gestalt umdrehte.
Zurück in ihrem Ladengeschäft, ließ sie die Eingangstür erneut offen stehen; die Tür zum Innenhof hatte sie erst gar nicht geschlossen, in der Hoffnung, dass der Geruch des Reinigungsmittels dadurch rascher verflog. Dem war auch so, allerdings hatte Kayla nun einen unerwarteten Gast in Gestalt einer jungen Katze im Laden. Deren Fell war wild gemustert mit weißen, karamellfarbenen, braunen und schwarzen Flecken. Das Tier sah aus, als hätte es ein Regal mit Farbeimern umgeworfen und sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen können.
Den Umgang mit Tieren nicht gewohnt, versuchte Kayla, den Eindringling aus der Hintertür zu scheuchen, doch die Katze schoss an ihr vorbei und verkroch sich unter der Theke. „Na, das läuft ja super“, brummte Kayla und ging in die Hocke. Wie nur konnte sie den ungebetenen Gast schnellstmöglich wieder loswerden?
Ein Klimpern aus der anderen Richtung ließ sie aufschauen. Mia stand im Türrahmen, bekleidet mit einer aquamarinfarbenen Haremshose, durch die sich Goldstreifen zogen, und dem üblichen schwarzen Top. In der einen Hand hielt sie eine überdimensional große Stofftasche, in der anderen jene grüne Schürze, die sie bei der Arbeit im Blumenladen trug.
„Du liebst offenbar einen minimalistischen Einrichtungsstil“, stellte Mia fest, nachdem sie den Blick durch den Raum hatte schweifen lassen.
„Ich bin ja noch nicht fertig“, entgegnete Kayla amüsiert.
„Dann bin ich beruhigt. Was suchst du denn da unten?“
„Eine Katze ist durch die Hintertür reingehuscht – wo immer sie auch hergekommen ist. Im Hinterhof gibt es keinen Durchgang oder eine Tür, nur Fenster.“
„Na, das reicht doch für eine Samtpfote.“ Mia legte Tasche und Schürze auf den Boden und hockte sich neben Kayla. „Oh, ist die hübsch! Du solltest sie behalten.“
„Die gehört sicher jemandem. Außerdem wüsste ich gar nicht, was man bei einer Katze alles beachten muss.“
„Keine Angst, das wird sie dir sehr schnell beibringen. Katzen sind die Königinnen der Haustiere.“
„Die hier sieht eher wie der Hofnarr aus.“
Mia setzte sich kichernd auf den Boden, streckte ein Bein aus und spielte an einem ihrer Fußkettchen. Es dauerte nicht lange, bis die Katze, angelockt durch die Bewegung, das Aufblitzen der Goldplättchen und vielleicht auch durch das leise Klimpern, unter dem Tresen hervorkam. Mia nahm das Tier hoch und setzte es sich auf den Schoß. „Sie sieht gepflegt aus, also wirst du sie leider nicht behalten können. Aber rechne besser damit, dass sie dich häufiger besucht. Vermutlich hat deine Vormieterin sie gefüttert.“
„Na gut“, murmelte Kayla und strich mit den Fingerspitzen über das seidenweiche Fell. Die Königin des Hinterhofs bedankte sich mit einem rollenden Schnurren.
„Sie mag dich, Kayla.“
„Du meinst, sie mag meinen Laden.“
„Na, siehst du! Schon hast du jemanden, der regelmäßig vorbeikommen wird.“
Kayla verspürte ein vergnügtes Kribbeln in den Wangen. Sie sah zu, wie Mia sich aufrappelte, das Tier hinaustrug und beim Hereinkommen die Tür hinter sich schloss.
„Ich muss gleich zur Arbeit. Gibt es noch etwas, wobei ich dir helfen kann?“ Trotz des Angebots sah sich Mia zweifelnd um, was Kayla ihr nicht verübeln konnte. Der Raum wirkte leer; bis auf die beiden Kisten mit Schmuck hatte sie ja nichts hergebracht.
„Heute wollte ich nur das Schaufenster bestücken, den Ausstellungsraum vermessen und dann einkaufen gehen.“
„Was hast du denn so geplant?“ Mia beugte sich über die Backsteine und den blauen Samt im Schaufenster.
Kayla gesellte sich zu ihr, allerdings wandte sie den Blick in den Raum hinein und versuchte in Worte zu fassen, was ihr vorschwebte. „Ich möchte noch mehr weiße Steine besorgen, um damit hier in der Mitte drei quadratische … Inseln zu bauen. Darauf drapiere ich die weniger wertvollen Stücke. Als Dekoration will ich Holz benutzen: Äste, Baumscheiben, eine Wurzel und so weiter. An die rückwärtige Wand soll ein einfaches, rustikales Holzregal. Als Deko wieder Holz, doch dort will ich es weiß streichen.“
„Als Kontrast, aber farblich im Einklang mit den Backsteininseln. Klingt gut.“ Mia bedeutete Kayla mit einer Handbewegung, dass sie fortfahren solle.
„Das Problem ist, dass ich für die wertvollen Ausstellungsstücke eigentlich eine Glasvitrine brauche. Dafür habe ich noch keine Lösung gefunden.“
Mia beugte sich an Kayla vorbei und blickte zum Tresen. „Es gibt in manchen Cafés doch diese Glasbehälter für Torten. Mit mehreren runden Etagen, die sich drehen.“
„Ich muss meinen Schmuck aber nicht kühlen.“
„Eben. Vielleicht kommst du günstig an eins dieser Dinger ran, weil die Kühlung kaputt ist. Der Tresen ist groß, da würde so ein Glasgestell prima draufpassen.“
Kayla wandte sich ebenfalls dem wuchtigen Möbelstück zu. „Ich könnte das Metallgerüst mit weißer Lackfarbe ansprühen und die Einlegeböden mit blauem Samt bespannen. Die Idee ist gut. Danke, Mia.“
„Ich finde, es fehlt noch was … Das besondere KAYLAden-Etwas.“
Kayla nickte beipflichtend und deutete hinauf zur Holzdecke. „Ein Sternenhimmel aus Lichterketten über die gesamte Fläche.“
„Oh ja!“ Mia klatschte begeistert in die Hände, zog ihr Smartphone hervor und eilte zur Tür. „Ich rufe gleich mal die anderen an.“
„Aber –“
„Du kannst die Backsteine unmöglich allein schleppen. Oder die vielen Lichterketten aufhängen. Irgendjemand hat bestimmt Zeit, mit dir zum Baumarkt zu fahren. Alle anderen kommen dann später dazu und helfen mit. Wir lieben unsere Projekte!“
Mia hatte sich so schnell Schürze und Tasche geschnappt und war aus dem Laden gestürmt, dass Kayla keine Zeit zum Widersprechen blieb. Aber konnte sie wirklich schon wieder die Hilfe von Mias Freundeskreis in Anspruch nehmen?
Sie biss sich auf die Unterlippe und zuckte mit den Schultern. Wer nicht herkommen wollte, konnte ja daheimbleiben – wobei Kayla nicht wusste, ob das überhaupt jemand wagen würde, wenn Mia um Unterstützung bat.
Beschwingt, wie sie gleichermaßen erstaunt und erfreut feststellte, verließ auch sie den KAYLAden, um das Auto aus dem Stadtzentrum herauszufahren.
Inzwischen waren in Füssens Straßen deutlich mehr Menschen unterwegs, sodass sie größtenteils nur im Schritttempo vorankam, zumal manch ein Passant abrupt stehen blieb, um ein besonders hübsches Gebäude zu betrachten.
„Das wird sicher noch interessant, wenn erst mal die Urlaubssaison startet“, murmelte Kayla vor sich hin und bremste scharf ab, da direkt vor ihr eine bunt gemusterte Katze die Straße in einer gemütlichen Selbstverständlichkeit querte, als gehöre sie ihr ganz allein.
Kayla beugte sich über das Lenkrad. Ob das die Hinterhofkönigin war? Jedenfalls sah sie ihr verblüffend ähnlich.
„Arbeitest du eigentlich auch?“ Kayla warf dem Mann neben sich einen fragenden Blick zu.
„Sicher“, meinte Josch gelassen, während er weitere Backsteine auf den gemieteten Anhänger wuchtete und sich anschließend die robusten Arbeitshandschuhe zurechtzog. Dabei grinste er sie an.
Kayla blinzelte überrascht. Beim Anblick von Joschs Lächeln schlugen vermutlich viele Frauenherzen höher. Ihres nicht. Dafür sandte es eine Menge Warnsignale aus, schmerzend wie Nadelstiche.
„Ich arbeite in der Füssener Klinik. Als Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie.“
„Das ist ein sehr … verantwortungsvoller Beruf.“
Josch breitete die Arme aus. Der Wind zerzauste seine Locken, das Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Sieh mich an: Ich bin die Verkörperung von Verantwortungsbewusstsein!“
„Was für ein Tag“, sagte Kayla trocken. „Ich habe heute auch schon die Verkörperung von Königlichkeit getroffen.“
Joschs Grinsen vertiefte sich nochmals, seine braunen Augen funkelten vergnügt. Beides verblasste jedoch, als Kayla nachdenklich hinzufügte: „Und traurigerweise auch die Verkörperung einer gescheiterten Existenz. Wobei ich mir da nicht so sicher bin. Vielleicht war es auch die Verkörperung einer gescheiterten Gesellschaft.“
„Was ist denn passiert?“, fragte Josch, ging aber gleichzeitig wieder dazu über, die Backsteine zu verladen.
Während Kayla die Schachteln mit den Lichterketten auf die Rückbank räumte, berichtete sie von ihrer Begegnung mit der obdachlosen Frau.
„Frauen sind seltener unter den Wohnungslosen zu finden“, meinte Josch daraufhin und wischte sich mit dem Ärmel seines dunkelblauen Shirts den Schweiß von der Stirn. „Wobei die Zahl wohl ansteigt. Ich war erstaunt, als ich kürzlich gelesen habe, dass das Durchschnittsalter betreuter Obdachloser bei zweiunddreißig liegt.“
„Kein Wunder, bei geschätzten vierzigtausend Jugendlichen, die auf der Straße leben“, sagte Kayla, die sich, während sie auf Josch gewartet hatte, im Internet schlaugemacht hatte.
„Bedauerlich“, murmelte er, und Kayla vernahm aufrichtiges Mitgefühl in seiner Stimme. Anders als sein saloppes Auftreten annehmen ließ, war dieser Sunnyboy vermutlich richtig gut in seiner pflegerischen Tätigkeit.
Sie verstaute noch drei Behälter mit weißer Farbe zwischen den Steinen und streifte sich dann ebenfalls Arbeitshandschuhe über, um sich der Backsteine anzunehmen. „Der Anhänger hält das Gewicht hoffentlich aus? Und dein Auto auch?“
„Keine Sorge.“ Josch schob den leeren Einkaufswagen beiseite und zog den nächsten heran. Währenddessen warf Kayla einen prüfenden Blick nach oben. Über den Berggipfeln, die sich hinter den dicht bewaldeten Hügeln erhoben, hingen dunkelgraue Wolken, die einer nachlässig zusammengerollten Wolldecke glichen. Es sah bedenklich nach Regen aus, der ihrer Fracht zwar nichts anhaben konnte, aber Kayla wollte ungern nasse Steine in ihrem Laden aufstellen.
„Keine Sorge, wir schaffen das noch vor dem Regenguss.“
Josch hatte die Falten auf ihrer Stirn richtig gedeutet. Ehe Kayla etwas erwidern konnte, erklang eine Mundharmonika-Melodie, die sie sofort als den Titelsong von Spiel mir das Lied vom Tod erkannte. Josch griff schnell nach seinem Smartphone und warf ihr einen seltsam betretenen Blick zu, dessen Grund sich ihr sogleich erschloss. Sie jedoch amüsierte der schwarze Humor des Intensivpflegers.
Josch gab sich am Telefon recht einsilbig. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, lächelte er Kayla allerdings strahlend an. „Basti ist Feuer und Flamme für deine Idee mit der Holzdekoration und dem rustikalen Holzregal! Er kommt später im KAYLAden vorbei und nimmt Maß.“
„Ähm …“ Mit gerunzelter Stirn schaute Kayla Josch an.
„Er schreinert das Regal für dich und besorgt zudem Baumscheiben und was immer du sonst noch aus dem Sägewerk gebrauchen kannst.“
„Arbeitet er dort? Oder ist er Schreiner?“ Kayla bedauerte es, am Vorabend allein die Zuhörerin gegeben zu haben, anstatt Mias Freunde zumindest ein wenig auszufragen. Aber wie hätte sie auch ahnen sollen, dass ihr einige von ihnen am darauffolgenden Tag schon wieder ihre Hilfe anbieten würden? Im Grunde hatte sie nicht einmal zwingend mit einem Wiedersehen gerechnet, immerhin waren die jungen Leute Teil von Mias farbenfrohem Universum, nicht ihrem.
„Er kann das, glaub mir“, beteuerte Josch. „Im Umgang mit Holz ist er ein richtiger Künstler.“
„Also ist er Schreiner?“
„Nein, Buchhalter.“
Kayla blinzelte einmal, dann ein zweites Mal. In ihrem Inneren hüpfte etwas, und vor einigen Jahren hätte sie jetzt wohl schallend losgelacht. Sie vermisste es schmerzlich – die Befreiung der Endorphine, das Kribbeln der Stimmbänder, die Zwerchfellexplosion. Die Sehnsucht danach wertete sie als ein gutes Zeichen. Allerdings wusste sie nicht so recht, wie ernst sie das, was Josch gerade gesagt hatte, wirklich nehmen durfte.