Der sterbliche Gott - Jörg Baberowski - E-Book

Der sterbliche Gott E-Book

Jörg Baberowski

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Beschreibung

Seit jeher inszenierten sich Russlands Herrscher als allmächtige Autokraten, die ihr Land mit eiserner Faust regierten. In Wahrheit aber war diese Inszenierung nur eine Fassade, hinter der sich die Schwäche des Staates verbergen konnte. Das zarische Vielvölkerimperium war ein fragiles Gebilde, das im Modus der Improvisation beherrscht wurde, seit Peter I. es nach Westen geöffnet hatte. Wie aber gelang es den Zaren und ihrer Bürokratie, ein multiethnisches, schwach integriertes Imperium über zwei Jahrhunderte erfolgreich zusammenzuhalten? Jörg Baberowski erzählt Russlands Geschichte aus der Perspektive der Herrschaft und ihrer Zwänge. Ansprüche und Möglichkeiten fanden in Russland nur selten zueinander. Der autokratische Staat operierte im Modus der Improvisation, weil es ihm an Instrumenten der Integration fehlte. Davon aber wussten auch diejenigen, die ihn herausforderten. Es war die Kritik, die sich mit den liberalen Reformen Alexanders II. (1855–1881) ausbreiten konnte, die die Staatskrise überhaupt erst auslöste. Der sterbliche Gott, wie Thomas Hobbes den Leviathan genannt hat, lebt von der Illusion der Stabilität und Unerschütterlichkeit. Doch der sterbliche Gott ist verwundbar. Er ruht auf Voraussetzungen, die er selbst garantieren muss. Davon ist in diesem Buch die Rede: Von Krisen und ihrer Bewältigung. Und insofern weist die Geschichte, die Jörg Baberowski in diesem Buch erzählt, auch über Russland hinaus: Weil sie nach den Grundlagen staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen fragt und zeigt, wie schnell sie sich auflösen können. Wer verstehen will, was Macht und Herrschaft sind und warum sie in Russland andere Formen annahmen als im Westen Europas, der findet Antworten in diesem glänzend geschriebenen Buch.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jörg Baberowski

DER STERBLICHE GOTT

Macht und Herrschaft im Zarenreich

C.H.Beck

Übersicht

Cover

INHALT

Textbeginn

INHALT

Titel

INHALT

Widmung

Motto

KARTEN

Bildteil

I: DER STERBLICHE GOTT

II: TYRANNEN UND REFORMER

1. Die Selbstherrschaft

2. Herren und Knechte

3. Die verhinderte Emanzipation

III: KRITIK UND KRISE

1. Tauwetter

2. Väter und Kinder

3. Propagandisten und Terroristen

4. Die Diktatur des Herzens

5. Die Ermordung Alexanders II.

6. Alexander III. und die Wiederherstellung der Selbstherrschaft

IV: KRISE UND KRITIK

1. Im Dickicht der Städte

2. Das Dorf in der Stadt

3. Imperium auf Schienen

4. Zentrum und Peripherie

Imperium und Nation

Polen und die Westprovinzen

Die baltischen Provinzen und Finnland

Der Kaukasus

Sibirien

Zentralasien

Die Grenzen der imperialen Nation

5. Juden und Antisemiten

6. Herrschaft als Improvisation

V: RISSE IM FUNDAMENT

1. Die Hungersnot

2. Was tun? Gesellschaft in Bewegung

3. Das Volk und seine Interpreten

4. Agitatoren und Revolutionäre

5. Lenin oder der Wille zur Macht

6. Der fürsorgliche Staat

7. Schule der Revolution: Die Universitäten

8. Autokratie ohne Selbstherrscher

VI: RUSSLAND IM AUFRUHR

1. Augenblicke der Macht

2. Der Russisch-Japanische Krieg

3. Die Opposition erwacht

4. Erstes Blut: 9. Januar 1905

5. Die Ordnung zerfällt

6. Nikolai II. und die liberale Opposition

7. Das Wunder von Portsmouth

8. Das Oktobermanifest

9. Die Entfesselung der Gewalt

10. Reform oder Repression?

11. Improvisierter Terror: Die Staatsmacht schlägt zurück

12. Die Selbstbeschränkung der Herrschaft

13. Stolypin

VII: EPILOG

ANHANG

ANMERKUNGEN

I. Der sterbliche Gott

II. Tyrannen und Reformer

III. Kritik und Krise

IV. Krise und Kritik

V. Risse im Fundament

VI. Rußland im Aufruhr

VII. Epilog

LITERATURVERZEICHNIS

Quellen

Sekundärliteratur

BILDNACHWEIS

PERSONENVERZEICHNIS

PERSONENREGISTER

Zum Buch

Vita

Impressum

Für Dietrich Beyrau

«Was wir denken, ist nachgedacht, was wir empfinden, ist chaotisch, was wir sind, ist unklar. Wir brauchen uns nicht zu schämen, aber wir sind auch nichts und wir verdienen nichts als das Chaos.»

(Thomas Bernhard, Der Wahrheit auf der Spur, Berlin 2011, S. 70)

«Geschichtliche Ereignisse als solche enthalten nicht den mindesten Hinweis auf einen umfassenden, letzten Sinn. Die Geschichte hat kein letztes Ergebnis. Eine Lösung ihres Problems aus ihr selbst hat es nie gegeben und wird es nie geben, denn die menschliche Geschichtserfahrung ist eine Erfahrung dauernden Scheiterns … Die Welt ist noch dieselbe wie zu Zeiten Alarichs; nur unsere Mittel der Vergewaltigung und Zerstörung – wie auch des Wiederaufbaus – sind beträchtlich vollkommener geworden.»

(Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilserwartung. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004, S. 205)

KARTEN

Peter I. (1682–1725), Öl auf Leinwand von Paul Delaroche, 1838, Hamburger Kunsthalle

Reiterstatue Peters I., errichtet von Katharina II. in St. Petersburg

Katharina II. (1762–1796), Öl auf Leinwand von Fjodor Stepanowitsch Rokotow, 80er Jahre des 18. Jh., Eremitage, St. Petersburg

«Plan der Kayserlichen Residentz-Stadt St. Petersburg wie solcher Anno 1737 aufgenommen worden», aus dem «Russischen Atlas» von Joseph Nicolas de L’Isle, St. Petersburg, 1745

Winterpalast in St. Petersburg, Photographie zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Sommerschloss Peterhof in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, Photographie

Peter I. schneidet den Bojaren die Bärte ab, kolorierter Holzschnitt, um 1700

Nikolai I. (1825–1865), Öl auf Leinwand von Franz Krüger, 1852, Eremitage, St. Petersburg

Alexander II. (1855–1881), Photographie, um 1870

Alexander Herzen (1812–1870), Schriftsteller und Philosoph, Photographie, 1861

Boris Tschitscherin (1828–1904), Rechtsphilosoph und Professor für Staatsrecht an der Universität Moskau, Öl auf Leinwand von Wladimir Osipowitsch Sherwood, Ende des 19. Jh., Kunstgalerie Tambow

Timofei Granowski (1813–1855), Historiker und Professor für Geschichte an der Universität Moskau, Öl auf Leinwand von Pjotr Sacharow-Tschetschenez, 1845, Tretjakow-Galerie, Moskau

Michail Bakunin (1814–1876), Revolutionär und einflußreicher Vordenker des Anarchismus, Photographie, um 1860

Vera Figner (1852–1942), Terroristin und einflußreiches Mitglied der «Narodnaja Wolja», Photographie, 1880 (links)

Vera Sassulitsch (1849–1919), Terroristin und spätere Mitbegründerin der sozialdemokratischen Bewegung in Rußland, Photographie, in den 60er Jahren des 19. Jh. (rechts)

Michail Loris-Melikow (1824–1888), Diktator und Innenminister 1880–1881, Öl auf Leinwand von Iwan Aiwasowski, 1888, Staatliches Literaturmuseum, Moskau

Alexander Michailow (1855–1884), Mitglied der «Narodnaja Wolja» und strategischer Kopf der terroristischen Bewegung, Photographie, 1880

Konstantin Pobedonoszew (1827–1907), Oberprokuror des Heiligen Synods 1880–1905, Photographie, 1902

Alexander III. (1881–1894), Photographie

Alexander III. und Maria Fjodorowna mit den Kindern Nikolai, Xenia und Georgi (v. li.), Photographie, um 1878

Alexander III. und seine Nichte Maria Georgijewna, Photographie

Sergei Witte (1849–1915), Finanzminister 1892–1903 und Vorsitzender des Ministerkomitees 1903–1906, Photographie, 1905

Eröffnung des Denkmals für Zar Nikolai I. auf dem Isaaksplatz in St. Petersburg, Photographie, 1859

St. Petersburg im 19. Jahrhundert, Newski-Prospekt, Photographie

Das Industrierevier im Donbass, Photographie, um 1900

Fabrikanlage im Donbass, Photographie, um 1900

Baku, Altstadt, Photographie, Ende des 19. Jahrhunderts

Riga, Stadttheater im Zentrum, Photographie, Anfang des 20. Jahrhunderts

Scheichantaur-Moschee in Taschkent, Photographie, Ende des 19. Jahrhunderts

Buchara, zentrale Koranschule, Photographie, Ende des 19. Jahrhunderts

Der Pogrom von Kischinjow, Photographie, April 1903

Opfer des Pogroms von Kischinjow, Photographie, April 1903

Lew Tolstoi (1828–1910), Schriftsteller, Autor von «Krieg und Frieden», Photographie, Staatliches Tolstoi-Museum, Moskau

Die Hungersnot 1891, Bauern in einer Garküche, Photographie

Pjotr Struwe (1870–1944), Begründer des «legalen Marxismus» in Rußland, später theoretischer Kopf des russischen Liberalismus, Photographie, um 1912

Wladimir Lenin (1870–1924), Revolutionär, Marxist und Führer der bolschewistischen Partei, Fahndungsphoto, 1895

Juli Martow (1879–1923), Marxist, führender Kopf der menschewistischen Partei, Photographie, 1910

Sergei Subatow (1864–1917), Chef der Ochrana in Moskau. Begründer des «Polizeisozialismus», Photographie

Nikolai II., Zar von Rußland 1894–1917 und George V., König von England 1910–1936, Photographie, 1913

Die Familie des Zaren, von links nach rechts: Tatjana, Alexandra (Ehefrau Nikolais II.), Anastasia, Maria, Nikolai II. und Olga, Photographie, 1910

Die Familie des Zaren, von links nach rechts: Nikolai II., Alexei, Olga, Maria, Tatjana, Alexandra (Ehefrau Nikolais II.), Anastasia, Photographie, 1915

Befestigungswall im Russisch-Japanischen Krieg, Photographie, 1904

Georgi Gapon (1870–1906), 3. v. li., Photographie, 1905

Der Petersburger «Blutsonntag», Photographie, Januar 1905

Fürst Pjotr Swjatopolk Mirski (1857–1914), Innenminister 1904–1905, Photographie, um 1904

Von links nach rechts: Sergei Witte, Baron Roman von Rosen, Theodore Roosevelt, Jutaro Komura (rechts außen) in Portsmouth, Photographie, August 1905

Pjotr Stolypin (1862–1911), Innen- und Premierminister 1905–1911, Photographie, um 1911

Iwan Goremykin (1839–1917), Innenmininster 1895–1899 und Premierminister 1905–1906 und 1914–1916, Photographie, um 1900

Plenarsaal der Duma, Photographie, 1911

Sitzung des Staatsrates, 1901, Öl auf Leinwand von Ilja Repin, 1903, Russisches Museum, St. Petersburg

Iwan Petrunkewitsch (1849–1928), Semstwo-Aktivist und prominentes Mitglied der liberalen Partei der Konstitutionellen Demokraten, Photographie, 1906

Pawel Miljukow (1859–1943), Historiker und Kopf der liberalen Bewegung in Russland, Vorsitzender der Partei der Konstitutionellen Demokraten, Photographie, 1915

Lew Trotzki (1879–1940), Vorsitzender des Arbeiterrates von St. Petersburg in der Peter-und-Pauls-Festung, Photographie, um 1906 (links oben) Wladimir Nabokow (1870–1922), Jurist und Mitglied im Führungskreis der liberalen Partei der Konstitutionellen Demokraten (rechts oben) Pjotr Durnowo (1843–1915), Innenminister 1905–1906, Photographie, um 1905 (unten)

I

DER STERBLICHE GOTT

«Hast Du vergessen, daß Ruhe und sogar der Tod dem Menschen lieber sind als die freie Wahl im Wissen von Gut und Böse? Wir haben Deine Opfertat korrigiert und sie auf Wunder, Geheimnis und Autorität gegründet. Und die Menschen haben sich gefreut, daß sie wieder geführt wurden wie eine Herde … Warum also bist Du gekommen, uns zu stören?»

(Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow. Neu übersetzt von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2015, 5. Aufl., S. 410, 414)

«Nichts erscheint erstaunlicher bei der philosophischen Betrachtung menschlicher Angelegenheiten», schrieb einst David Hume, «als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von Wenigen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der Menschen ihre eigenen Gesinnungen und Leidenschaften denen ihrer Herrscher unterordnen.»[1] Aber kaum weniger erstaunlich ist die Leichtigkeit, mit der scheinbar stabile Machtverhältnisse von wenigen Menschen erschüttert und beseitigt werden. Offenbar ist Macht kein Ding, das feste Formen annimmt, nicht etwas, was man besitzen und behalten kann. Aber was ist sie dann? Sie ist das, was Menschen aus ihr machen. Macht ist allgegenwärtig, sie ist überall, wo Menschen einander begegnen und miteinander zurechtkommen müssen. Immerzu entscheidet oder gehorcht irgend jemand, ganz gleich, ob man an Hierarchien Gefallen findet oder nicht. Es gibt keine machtfreien Räume, nicht einmal dort, wo auf den ersten Blick kein Zwang zu spüren ist.[2]

Die Macht gehört zur Grundbedingung menschlicher Existenz, sie ist weder gut noch böse. Sie ist das, was geschieht, wenn Menschen handeln. Dennoch ist die eigentliche Zeit der Macht nicht der Moment, in dem etwas geschieht, sondern die Reflexion darüber, was im nächsten Augenblick geschehen könnte. Denn was heute gewiß scheint, kann morgen schon in Frage stehen, und deshalb muß man darauf vertrauen, daß alles so kommt, wie man es erwartet. Jeder weiß, daß sich die Verhältnisse jederzeit ändern können, daß man mit dem Ernstfall stets rechnen muß. Die Fragilität von Machtverhältnissen ergibt sich aus der Einsicht, daß Menschen verletzungsmächtig und verletzungsoffen sind. Jeder kann töten, jedem kann das Leben genommen werden, und jeder weiß es. Auch der Mächtigste muß einmal schlafen, und selbst der Schwächste kann den Stärksten zu Fall bringen, wenn er listig genug ist, seine eigentlichen Absichten zu verbergen. Die Sorge um die eigene Existenz, die Furcht der Menschen voreinander, gehören zum Leben. «Zusammenleben heißt stets auch sich fürchten und sich schützen», wie der Soziologe Heinrich Popitz schreibt. Warum sonst umgeben sich Menschen mit Mauern, verschließen ihre Wohnungen und statten sich mit Waffen aus?[3] Thomas Hobbes hat auf diese Frage eine ernüchternd erhellende Antwort gegeben: Die Menschen hätten am Leben keine Freude, «wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern.»[4] Es gibt also auch ein Interesse daran, zu gehorchen und sich dem Willen anderer zu beugen. Man unterwirft sich, weil man sich nicht selbst um alles kümmern kann und die Sorge um die eigene Sicherheit in den Händen derer wissen will, die sich darauf verstehen, Ordnung zu schaffen. Wer nicht die Macht hat, Schutz zu gewähren, sagt Hobbes, kann auch keinen Gehorsam verlangen. Die Verbindung von Schutz und Gehorsam ist der Grund, auf dem dauerhafte Machtverhältnisse wachsen. Das ist wohl auch der Grund dafür, daß Menschen selbst dann gehorchen, wenn sie jenen, denen sie unterworfen sind, die Anerkennung verweigern. Jede Ordnung ist besser als keine. Furcht allein begründet noch kein Abhängigkeitsverhältnis.[5]

Sobald Menschen von selbst verrichten, was sie tun sollen, entstehen dauerhafte Machtbeziehungen. Jeder trägt die Macht nun mit sich selbst herum, aus Fremd- wird Selbstzwang, aus einer «Hier-und-Jetzt-Fügsamkeit», wie Popitz sagt, eine «Immer-wenn-dann-Fügsamkeit.»[6] Über sporadische Macht kommt erst hinaus, wem es gelingt, die Ausübung von Macht auf wiederholbare Situationen zu beziehen. Der Unterworfene muß wissen, daß sein Handeln in bestimmten Situationen immer wieder mit gleichen Sanktionen belegt wird. Dann werden sich in gleichartigen Situationen auch gleichartige Verhaltensweisen dauerhaft durchsetzen. Wer immer wieder vor den Herren den Hut zieht, hat verinnerlicht, worauf es ankommt. Niemand braucht jetzt noch einen Polizisten, der darauf verweist, was in Gegenwart der Herrschaft aufzuführen ist. Der Aufwand, den die Mächtigen zur Steuerung des Verhaltens betreiben, verringert sich, weil schon niemand mehr die Instrumente herzeigen muß, mit denen der Gehorsam notfalls erzwungen werden kann. Entscheidungen werden nicht mehr von Fall zu Fall getroffen, denn alle wissen, was in ihrem Handlungsfeld geboten ist. Machtfunktionen können nun delegiert werden: durch stellvertretendes Handeln, das durch die Vergabe von Privilegien belohnt wird. Nun verlängert sich die Abhängigkeitskette, das Verhalten wird normiert. Die Machthaber sparen Zeit, weil sie nicht mehr selbst anwesend sein müssen, um zu erzwingen, was sie von anderen erwarten. Das ist der Moment, in dem sich Macht in Herrschaft verwandelt.

Herrschaft ist institutionaliserte Macht, sie ist nicht länger an die Person gebunden, die sie verkörpert, sie verbindet sich vielmehr mit Funktionen und Rollen, sie orientiert sich an Verfahren und Ritualen. Herrschaft ist entpersonalisierte und formalisierte Macht. Sie ist Macht, die feste Formen annimmt, weil unzweifelhaft geworden ist, daß diejenigen, die regieren, nicht nur die Mittel, sondern auch ein Anrecht darauf haben, Zwang auszuüben.[7] Staaten erweisen ihre Überlebensfähigkeit, indem sie Gewalt in Kraft, in produktive Machtverhältnisse verwandeln. Unter solchen Voraussetzungen können Systeme auch dann überdauern, wenn Machthaber sterben oder ihre Stellvertreter ausgewechselt werden. Am Anfang aller Herrschaftsverhältnisse stehen nicht das Recht und die Gesellschaft, nicht Vertrag und Übereinkunft, wie Jacob Burckhardt sagt, sondern der Staat. Denn wie könnte der Streit um die richtige Beschaffenheit der Ordnung entschieden werden, wenn niemand imstande wäre, ihn zu beenden? In Wahrheit hätten die Philosophen des Vertrages, vor allem Rousseau, gar nicht zeigen wollen, was der Ursprung des Staates gewesen sei, sondern wie er beschaffen sein müßte, um ihren eigenen Vorlieben zu genügen. Was haben die Herren schon mit Verträgen zu schaffen?[8] «Auctoritas, non veritas facit legem – Autorität, nicht Wahrheit macht das Gesetz», schrieb deshalb Carl Schmitt.[9]

Alle Staaten wurden auf Gewalt und Unterwerfung gegründet, nicht auf Recht und Gesetz. Vom Selbstbild des modernen Staates, von den mythischen Erzählungen, die den Staat als den Vollstrecker des Zivilisationsprozesses und des Fortschritts, als den Garanten des Friedens unter den Menschen präsentieren, solle man sich nicht täuschen lassen, warnt der Politikwissenschaftler James Scott. Für viele Menschen sei er in fernen Zeiten keine Konstante, sondern eine Variable gewesen, für viele ein Instrument der Unterdrückung und Repression. Aber wer weiß schon von seinen Anfängen? Mit der Zeit verblaßt die Erinnerung an den blutigen Gründungsakt, an Unterwerfung und Repression. Was in grauer Vorzeit gestohlen wurde, wird nicht mehr zurückgefordert, weil sich der Schleier des Rechts und der Tradition über die Gewalt gelegt hat.

Herrschaft beruht auf kollektiver Amnesie, die Verbrechen der Vergangenheit werden zu treuen Weggefährten, wie der britische Soziologe Terry Eagleton sagt. Nun schieben sich blumige Rechtfertigungen in den Vordergrund. Der Staat wird als eine Einrichtung vorgestellt, die auf die Welt kam, um ungeordnetes Leben der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen. Man sagt nun, der Staat sei durch Vertrag in die Welt gekommen, durch Tradition geheiligt oder von der Geschichte mit einer Mission beauftragt worden. Wenn der Staat seine Machtfülle entfalten will, muß er sich in ein Kunstwerk verwandeln. Denn Traditionen wirken ohne Begründungen, sie beziehen ihre Geltung aus Gefühl und Gewohnheit. Das Volk braucht Trost und Zuversicht, es braucht den Mythos, nicht die Wahrheit.[10] Denn niemand soll der Lüge auf die Spur kommen. Von Generation zu Generation wird die Erzählung vom Staat und seinen Frieden stiftenden Funktionen weitergegeben, bis niemand die Ursprungslüge mehr durchschaut und niemand sie mehr in Frage stellt. Jede Beschwörung von Gemeinschaft ruht auf dem Fundament der Lüge. Sie soll aus einem Haufen von Menschen eine hierarchisch gegliederte Vereinigung Gleichgesinnter machen, die geboren wurden, um zu gehorchen. Man muß den Menschen einreden, daß sie Brüder füreinander seien, daß es der Zweck des Staates sei, daß die einen gehorchen und die anderen befehlen, wie Platon Sokrates sagen läßt.[11] Jeder Befehl beruft sich nun auf den Souverän, den sterblichen Gott, dessen Existenz durch Vertrag geheiligt ist. Erst jetzt erweist sich, daß der Staat ein ewiges Anrecht darauf hat, Steuern und Rekruten zu fordern und Loyalität von jedermann zu verlangen.

Die Tyrannen aber sind ebenso unfrei wie die Untertanen, die sie bedrücken, weil ihre Untaten sie keinen ruhigen Schlaf finden lassen. Stets auf der Hut, eilen sie von einer Schandtat zur nächsten, weil sie niemandem trauen können. Macht, die auf sich hinweisen muß, ist schwach und gefährdet, das Leben der Herren wie der Untertanen stets in Gefahr. Herrschaft, die von Recht und geregeltem Verfahren strukturiert wird, stattet hingegen auch das Leben der Fürsten und Könige mit Erwartungssicherheit aus. Sobald sich Rechtsregeln in die gesellschaftliche Ordnung integrieren und Orientierung schaffen, werden Machtbeziehungen für alle Beteiligten berechenbar.[12] Die Repräsentanten der Herrschaft strahlen nun eine überindividuelle Aura aus: durch Kleidung, Sprache, Mimik und Rituale, die jedermann zu Bewußtsein bringen, daß die Macht durch sie und ihre Handlungen hindurchspricht und daß durch Tradition geheiligt ist, was sie tun.[13] Die Verstetigung von Herrschaft durch Repräsentation sichert nicht nur das Überleben des Souveräns, sie wirkt auch traditionsbildend. Was immer der Anfang eines Herrschaftsverhältnisses gewesen sein mag: Übereinkunft, Unterwerfung, Versklavung – am Ende zählt nur, daß institutionalisierte Macht Ordnungssicherheit schafft, die Lebensführung regelt und Rechtfertigungen präsentiert, die für glaubhaft gehalten werden können.

Sobald sich die staatliche Monopolisierung von Zwangsmitteln durchgesetzt hat, verwandelt sich körperliche in latente Gewalt, in souveräne Herrschaft. Souveräne Herrschaft verfügt über das Vermögen, sich selbst zu beschränken, weil sie nicht mehr unter dem Zwang steht, sich ununterbrochen selbst behaupten zu müssen. Sie leistet sich den Luxus, die Zügel zu lockern, moralischen Überlegungen und rationalen Argumenten Raum zu geben und das Zusammenleben in eine vernünftige, rechtliche Form zu gießen.[14] Die Herrscher können auf Drohungen verzichten, wenn sich Befehle und Sanktionen mit Traditionen aufladen und Ungehorsam als Verstoß gegen Recht und gute Sitten wahrgenommen wird. Herrschaft, die gesichert ist, macht also die freiwillige Abrichtung der Untertanen zu ihrer effektivsten Waffe. So trägt jeder den Herrn in sich und ist zugleich sein eigener Knecht. Mit Hegel könnte man auch sagen: «Was der Knecht thut, ist eigentlich Thun des Herrn.»[15]

Macht hat, wer warten kann. Dauerhafte Machtbeziehungen entfalten sich erst, wenn Außenstehende vom Machtzentrum und von seinen bürokratischen Filialen abhängig werden und um Gunstbeweise buhlen. Gesichert sind sie, wenn die Machtordnung innerlich anerkannt, der Legitimation der Ordnungsstifter Glauben geschenkt wird. Solche Anerkennung hängt von der Fähigkeit der Mächtigen ab, Ordnung zu stiften. Ordnung aber, und das heißt Erwartungssicherheit oder Regelvertrauen, herrscht erst, wenn alle Beteiligten wissen, was geboten ist und was nicht, womit sie rechnen können und was sie tun müssen, um sich Vorteile zu verschaffen oder Belohnungen zu sichern. Das gelingt nur, wenn sich soziale Beziehungen von lokalen Kontexten lösen, also überall gilt, was versprochen worden ist.[16] Regelvertrauen entsteht nur, wenn soziales Handeln auch dann vorhersehbar ist, wenn jene, die Entscheidungen treffen, unbekannt sind. Die Bürokratie entwickele ihre Effizienz dort um so «vollkommener», sagt Max Weber, je mehr sie sich «entmenschlicht», je mehr sie sich in ihrem Handeln von Gefühlen löst.[17]

Überall und zu jeder Zeit kommt den Verhältnissen, in denen sich die Unterworfenen eingerichtet haben, ein eigener Ordnungswert zu, ganz gleich, wie sie beschaffen sind, ob man sich ihnen freiwillig fügt oder gezwungen wird. Denn auch die anderen müssen tun, was einem selbst abverlangt wird. Ordnungssicherheit verbessert die Lebensqualität, selbst dann, wenn die Bürokratie in seelenloser Routine systematisch lebensfremde und unsinnige Verordnungen vollstreckt und ihre Beamten, durch Korpsgeist vereint, jeden Sinn für individuelle Verantwortung vermissen lassen. Jeder kann sich mehr oder weniger mit den Verhältnissen arrangieren und Vorkehrungen für ein gutes Leben treffen.[18] Die meisten Menschen haben ein Interesse daran zu gehorchen, weil eindeutige Machtverhältnisse sie von Entscheidungszwängen entlasten, denen sie unterworfen wären, wenn sie für ihre Lebensführung selbst Verantwortung tragen müßten. Sie müßten Informationen auswählen, interpretieren und verarbeiten. Dafür aber sind sie in der modernen, bürokratisch strukturierten Welt nicht gerüstet, und deshalb teilen sie sich die Verarbeitung von Informationen. Wie viele Menschen brechen im Laufe ihres Lebens innerlich mit der politischen Ordnung und ihren Repräsentanten, und wie viele Menschen ziehen es dennoch vor, sich gehorsam ins Unvermeidliche zu fügen, weil sie ihre Existenz nicht aufs Spiel setzen wollen und weil sie fürchten, die Revolte könne ihnen am Ende größeren Schaden zufügen als der Regierung, deren Befehlen sie sich widerwillig beugen?[19]

In solcher Abhängigkeit entstehen dauerhafte Autoritätsbindungen: die Anerkennung von Überlegenheit und das Verlangen, vom Überlegenen selbst anerkannt zu werden. Die Autoritätsbindung aber vollzieht sich an den Orten, an denen Menschen zu Hause sind. Denn der Mensch ist nicht körperlose Vernunft, er ist mit anderen Menschen und mit der Überlieferung in der Welt, in die sein Leben geworfen ist. Die Freiheit hat einen Ort und eine Zeit, sie ist gebunden an die Lebenswelt, in der sie sich verwirklicht. Sein eigener Herr kann deshalb nur sein, wer empfindet, daß sich alles, was verordnet wird, im gleichmäßigen Strom des täglichen Lebensvollzuges bewegt, wer spürt, daß die eigene Existenz Anerkennung im Anderen findet. Wer verstehen will, was Herrschaft ist und wie sie empfunden wird, muß sich an den historischen Ort begeben, an dem sie spürbar wird.[20]

Die Menschen beugen ihre Knie nicht nur aus Angst, sondern auch deshalb, weil sie die Autorität derer, die über sie herrschen, anerkennen. Autorität erwachse nicht aus dem Gehorsam, so Hans-Georg Gadamer, sondern aus der Erkenntnis. «So ist die Anerkennung von Autorität immer mit dem Gedanken verbunden, daß das, was die Autorität sagt, nicht unvernünftige Willkür ist, sondern im Prinzip eingesehen werden kann.»[21] Im politischen Raum ist Macht darauf angewiesen, sich durch Hinweise auf ihre Rechtmäßigkeit zu legitimieren und sich mit Autorität auszustatten. Wer gehorchen muß, möchte glauben, daß es gute Gründe für seine Unterwerfung gibt. Herrscher, die erklärten, sie seien an der Macht, weil sie könnten, was sie wollten, brächten sich um ihre Legitimation. Es reicht nicht, nur mitzuteilen, daß Macht behauptet sei, weil man sie behaupten wolle und könne. Mythos und Herrschaft müssen auf eine Weise in einer Erzählung miteinander verbunden werden, daß sich die Unterworfenen in ihr wiederfinden können. Wer seine Machtansprüche hinter einer plausiblen Geschichte verbirgt, stiftet Tradition und kann durch Autorität erreichen, was Despoten, die sich auf die Kraft des Immer-schon-so-Gewesenen nicht verlassen können, erzwingen müssen. Sobald Macht sich in Kultur verwandelt, erkennen die Menschen die Instrumente gar nicht mehr, die sie einst in die Unterwerfung gezwungen haben, weil sie hinter den Fassaden der Repräsentation verschwunden sind. Die Kultur ist ein Medium der Macht, weil sie persönliche Autorität in weiche Gewänder hüllt. Irgendwann hält man es für selbstverständlich, daß Herrschaft auf solche und keine andere Weise übertragen wird.

Wer Autorität hat, kann auf Gewalt verzichten und ohne Waffen erzwingen, was er will. Gewalt ist laut, Autorität leise, weil der Abhängige die Perspektiven der Autorität übernimmt und sich in ihrem Licht beurteilt. Richard Sennett spricht von der Autorität als einem Versuch, Machtverhältnisse zu interpretieren. «Im Alltag ist Autorität kein Ding. Sie ist ein Interpretationsvorgang, der die Festigkeit eines Dinges anstrebt.»[22] Autorität ist innerlich akzeptierte Abhängigkeit, sie ist Ansehensmacht. Solange niemand imstande ist, sie herauszufordern, muß sie nicht auf sich verweisen, um zu wirken. In diesem Sinn ist Autorität zwar Ausdruck eines Ungleichgewichts, weil der eine anerkannt wird und der andere sich unterwirft. Sie beruht aber weder auf Gewalt noch auf der Kraft des Arguments, sondern allein auf der freiwilligen Anerkennung von Überlegenheit.[23]

Autoritätsbindungen entstehen und vergehen, und es hängt von den Leistungen ab, die jemand erbringt, ob man ihm folgt. Wer in einer rechtlich befriedeten Umgebung zu Hause ist, wird sich Heerführern und Gewalttätern wahrscheinlich nicht freiwillig unterwerfen, weil die meisten Menschen Ordnungs- und Erwartungssicherheit nicht aufs Spiel setzen wollen. Menschen, die auf dem Schlachtfeld zurechtkommen müssen, werden anderen Gefolgschaftsbindungen den Vorzug geben. «Ein fähiger Heerführer», so Hobbes, «ist zur Zeit eines herrschenden oder drohenden Krieges sehr teuer, im Frieden jedoch nicht. Ein gelehrter und unbestechlicher Richter ist in Friedenszeiten von hohem Wert, dagegen nicht im Krieg.»[24] Und dennoch gibt es keine Ordnung, die nicht auch auf Autorität beruhte. Wo Ordnungen in Gefahr sind, ist Autorität überhaupt die letzte Ressource, auf die sich der Frieden noch berufen kann: die Autorität des Königs, des Demagogen, des Retters oder Diktators, die kompensiert, was die Institutionen nicht mehr leisten. Anders gesagt: Macht gründet sich auf Versprechen oder Drohungen, Autorität auf Bewährung in der Vergangenheit. Man weiß, was jemand zu leisten imstande ist, und deshalb erkennt man seine Überlegenheit an. Autorität ist Macht, die aufgrund von Kompetenzen ausgeübt wird.[25]

Vor dem Richterstuhl der Vernunft aber kann alles in Frage gestellt werden, auch der Herrschaftsanspruch des Staates. Seit sich die Menschen von der Allmacht göttlicher Ordnungen befreit haben, sind sie nur noch mit sich selbst befaßt. Sie wissen um den menschlichen Grund, um die Machbarkeit der Macht, um ihre Fragilität und Begründungspflicht. Je mehr die Zweifel wachsen, desto stärker wird das Bedürfnis, Befehl und Gehorsam in einen Sinnzusammenhang zu bringen, der verstanden werden kann. «Die moderne Welt beginnt dort», so Odo Marquard, «wo der Mensch methodisch aus seinen Traditionen heraustritt.»[26] Nun läßt sich Herrschaft nicht mehr durch die Beharrungskraft dessen, was einfach da ist, legitimieren. Legitimität wird durch Argumente, Zustimmung und Beifall erzeugt, und Macht hat, wer die Tatsachen widerlegen kann. Die Götterbilder mögen noch so vortrefflich sein, Christus und Maria so würdig wie nie dargestellt sein, wie Hegel sagt, «es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.»[27] Der moderne Staat ist ein Menschenwerk, das sich auf die «legitimen Fundamente göttlichen Rechts», so Carl Schmitt, nicht mehr berufen könne, seit die Aufklärung alle Geltung vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht habe. Als neutrale Gesetzesmaschine, der es nur noch auf den Gehorsam ankommt, aber nicht mehr darauf, was die Untertanen glauben oder meinen, verliere der Staat die Herrschaft über die Gedanken. Schon Hobbes hatte geschrieben, daß es den «sterblichen Gott, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken», nichts angehe, was die Untertanen denken, glauben oder fühlen. Diese Selbstbeschränkung aber hat Konsequenzen, weil der Staat den Bürgern einen Raum zugesteht, zu dem er sich keinen Zugang mehr verschaffen kann. Dort ist der Mensch frei. Aber der freie Mensch, der sich seines Gottes entledigt hat, ist ohne Erklärung allein gelassen worden. Die Ungewißheit wird zu seiner eigentlichen Heimat.[28]

Der Tod Gottes erhebt den Menschen zum Maßstab seiner selbst. Denkbares wird nun zum Machbaren, alles kritisierbar, alles veränderbar. Nichts wird mehr unmittelbar empfunden, so wie die Gegenstände der Natur, die uns umgeben. Alles am Menschen ist Kritik und Deutung, Beweis und Beleg, nichts mehr versteht sich von selbst. Das naive Vertrauen darauf, daß die Welt vortrefflich eingerichtet worden sei, ist unwiederbringlich verloren. Wer immer den Staat in seine Hände bekommt, ist deshalb rechenschaftspflichtig, weil jeder weiß, daß der Staat eine äußerliche, entseelte Vorrichtung, ein abstraktes Normenwerk ist, das sich nicht mehr vergöttlichen läßt.[29] Und was von freien, vernunftbegabten Menschen in die Welt gesetzt worden ist, kann auch jederzeit in Frage gestellt werden. Herrschaft, gleich welcher Art, ist begründungspflichtig.

Der Leviathan ist sterblich. Aber erst aus der Neutralität des sterblichen Gottes kann die Gewissensfreiheit der Untertanen erwachsen und als Anspruch gegen jegliche Bevormundung formuliert werden. Wenn die Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat nur noch an das rationale Interesse gebunden ist, sein eigenes Leben zu erhalten, kann sie auch jederzeit wieder aufgekündigt werden. Die Menschen wissen, daß sie die Schöpfer ihrer eigenen Freiheit sind und daß nichts mehr für die Ewigkeit gemacht ist.[30] Jede Kritik behauptet, alles Recht auf ihrer Seite zu haben, und bisweilen erliegt sie auch der Versuchung, ihre Auslegung des Geschehens für allgemeinverbindlich zu erklären. Der Streit der Weltanschauungen läßt sich durch keinen neutralen Richter mehr entscheiden, der latente Bürgerkrieg ist das Schicksal aller Aufklärung. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Mit ihm muß jede Gesetzesmaschine zurechtkommen. Man mag Gott durch die Geschichte ersetzen, um die Menschen von der Verantwortung für ihre Untaten zu entlasten, aber wer kann schon wissen, was die Geschichte will? Denn auch sie ist von Menschenhand gemacht und verlangt nach Auslegung und Deutung. Aus dieser Ambivalenz erwächst Unsicherheit. Es liegt im Wesen der Krise, schreibt Reinhart Koselleck, daß eine Entscheidung fällig, aber noch nicht gefallen ist und daß ungewiß ist, welche Entscheidung fallen wird. Es ist die Kritik, die die Krise hervorbringt, nicht umgekehrt.[31] Revolutionen sind nur die radikalste Konsequenz jenes Freiheitsdenkens, das aus der Ungewißheit und der Heillosigkeit der Welt kommt.

Solange Ordnungen nicht zu einer Frage werden, die auf eine Antwort wartet, bleibt die Welt stabil. Selbst Unzufriedenheit ist noch kein hinreichender Grund, um dem sterblichen Gott den Gehorsam aufzukündigen. Noch in der Stunde des Aufruhrs verrichten die meisten Menschen ihr Tagwerk, als sei überhaupt nichts geschehen. Die Anerkennung einer Ordnung beruht am Ende gar nicht auf politischen Überzeugungen, sie kann sich vielmehr an ihnen «vorbeientwickeln,» wie Popitz sagt.[32] Man kann also eine Ordnung aus vielerlei Gründen ablehnen und sich ihr dennoch fügen, weil ihr Ordnungswert im Alltagsleben evident geworden ist, weil die Verbindung von Schutz und Gehorsam der Grund ist, auf dem Herrschaft gedeiht. So ist es überall und zu allen Zeiten. Am Ende zählt für die meisten Menschen Ordungssicherheit mehr als das Verlangen nach Freiheit und Selbstverwirklichung. Denn die Verschiebung der Grenzen, die den Raum des Erlaubten abstecken, ist mit Risiken für Leib und Leben verbunden. Deshalb warten die Unschlüssigen ab, was geschieht, ob sich die einen oder die anderen durchsetzen, bevor auch sie eine Entscheidung treffen. Jeder weiß, daß diejenigen, die entschlossen, organisiert und im Besitz der Kommunikationsinstrumente und Waffen sind, einen Vorteil gegenüber jenen haben, die in keiner organisierten Verbindung zueinander stehen. Ideen mögen die Herzen erwärmen und die Leidenschaften entfachen. Aber nicht sie sind es, die über Sieg und Niederlage entscheiden, sondern der Wille und das Vermögen, Gelegenheiten zu ergreifen. Wäre allein das Leid der Menschen der Ursprung der Revolte, die Revolutionen dürften überhaupt kein Ende nehmen. «Eine zahlenmäßig kleine, aber durchorganisierte Gruppe von Menschen», so Hannah Arendt, «kann auf unabsehbare Zeiten große Reiche und zahllose Menschen beherrschen.»[33] Die Stunde der Revolte bricht erst an, wenn die Herren schwach und unentschlossen sind, wenn die innere Zersetzung des Staatsapparats so weit fortgeschritten ist, daß ein leichter Stoß genügt, um ihn zum Einsturz zu bringen. Und so kommt es, daß manche Regime überleben, obwohl sie Leid und Elend verursachen, und andere untergehen, obwohl es eigentlich keine guten Gründe dafür gibt. Selbst in seinen «soziologischsten Augenblicken», schreibt der amerikanische Historiker Crane Brinton, ist das revolutionäre Geschehen immer noch vom Zufall und seinen Möglichkeiten bestimmt.[34] Es sind Gelegenheiten, die Revolutionen machen.

Es ist das Schicksal aller Herrschaft, daß sich die Vereinheitlichung der Normen, ihre Kontrolle und Durchsetzung nur gegen Widerstand erreichen lassen. Denn alle Machtverhältnisse müssen mit der Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns zurechtkommen, damit, daß niemand weiß, was geschehen könnte, und deshalb ist Macht fragil und rechtfertigungsbedürftig. Auch der Mächtigste fürchtet sich vor dem Ungehorsam, denn er weiß nicht, ob sich in der Herde der Schafe nicht doch noch ein Wolf verborgen hält. «Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangs begabt ist», so Hannah Arendt, «kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht.»[35] Gott hat den Menschen gemacht, damit ein Anfang sei, wie Augustinus sagt. Mensch sein heißt, anfangen zu können, vom Anfang bestimmt zu sein. Das Geborensein ist die Grundbedingung menschlicher Existenz. Man wird in die Welt hineingeworfen und muß in ihr auf je eigene Weise zurechtkommen. Mit jedem neuen Menschen, der geboren wird, kommt potentiell Unvorgesehenes in die Welt. Anfangen zu können heißt, jederzeit alles anders machen zu können. «Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.»[36] Handeln und neu anfangen sind in diesem Sinn ein und dasselbe. Diese Spontaneität des menschlichen Handelns ist der Ursprung aller Unberechenbarkeit, die menschliches Leben auszeichnet.

Und dennoch sind die Menschen nicht die Regisseure ihres Lebens. Was immer sie auch tun mögen: Sie sind Fäden in einem Gewebe, das sie nicht selbst gemacht haben und in das auch die Handlungsfäden all der anderen Menschen eingezogen sind, mit denen sie zurechtkommen müssen. Jede Handlung hat Folgen, die man bestenfalls berechnen, aber nicht bestimmen kann. «Das ursprüngliche Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen. Das, was von seinem Handeln schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht die Impulse, die ihn selbst in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die er verursachte.»[37] Wer nein sagt oder rebelliert, wer durch sein Handeln das Alltagsleben aus dem Gleichgewicht bringt, erzeugt Zwänge, die sich auch auf das eigene Leben auswirken. Denn jeder Anspruch auf Selbstbestimmung stößt auf konkurrierende Ansprüche. Das Geschehen bringt sich erst aus der Pluralität und Unberechenbarkeit vieler Handlungen hervor. Handeln heißt, sich den Konsequenzen des eigenen Tuns aussetzen zu müssen, weil jedes Tun eine Antwort provoziert. «Handeln und Dulden gehören zusammen, das Dulden ist die Kehrseite des Handelns.»[38]

Wer lange an der Macht ist, wird bequem, weil Gewohnheit und Trägheit die Sinne betäuben. Der Gedanke, daß auch ihr Herrschaftsanspruch in Frage gestellt werden könnte, erscheint den Mächtigen vollkommen abwegig. Denn offenbar haben sich alle freiwillig in das System der Selbstabrichtung eingefügt. Worüber soll man sich also Sorgen machen? Aber dann geschieht plötzlich, womit niemand gerechnet hat: daß Wortmächtige Einspruch erheben, der Gehorsam verweigert und bestritten wird, was doch immer schon so gewesen war. Die Revolte ist wie das Wunder. Sowenig wie Gott das Weltall durch immerwährende Gesetze regiert, so wenig wird das Leben von immerwährendem Recht strukturiert. Es kommt der Tag, an dem das Unvorhergesehene geschieht und den Lauf des Lebens unterbricht, ein Geschehen, das vom Recht überhaupt nicht erfaßt wird. Es unterbricht den Zusammenhang von Recht und Ordnung, auf den sich der Vernunftglaube beruft. Der Ausnahmefall ist der Zustand, der uns überhaupt erst verstehen läßt, auf welchen materiellen und technischen Voraussetzungen Ordnungen und ihre Normen beruhen.[39]

Nur tritt dieser Ausnahmefall gewöhnlich erst ein, wenn sich Gelegenheiten eröffnen, die Herrschaft nicht nur in Frage zu stellen, sondern auch herauszufordern. Die Revolte entsteht nicht im Moment der schlimmsten Unterdrückung und des größten Elends, sondern in jenem Moment, in dem sich der Handlungsraum öffnet und dehnt, wenn die Staatsgewalt von ihren Repressionsinstrumenten keinen rücksichtslosen Gebrauch mehr machen will oder kann, wenn der Unmut sich ungehindert Bahn bricht. Die Verhältnisse haben sich gebessert, aber allen scheint es so, als hätten sie sich verschlechtert, weil die Kritik sie in ein schlechtes Licht rückt. «Die Regierung, die durch eine Revolution vernichtet wird, ist fast stets besser als die unmittelbar voraufgegangene», schrieb einst Alexis de Tocqueville, «und die Erfahrung lehrt, daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt. Nur ein großes Genie vermag einen Fürsten zu retten, der es unternimmt, seinen Untertanen nach langer Bedrückung Erleichterung zu gewähren. Das Übel, das man als unvermeidlich in Geduld ertrug, erscheint unerträglich, sobald man auf den Gedanken kommt, sich ihm zu entziehen. Alles, was man alsdann an Mißbräuchen beseitigt, scheint das noch Übrige nur um so deutlicher zu zeigen und läßt es schmerzlicher empfinden: Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter.»[40]

Darum geht es in diesem Buch: Um Situationen, in denen Herrschaft in Frage gestellt, herausgefordert, erschüttert und verteidigt wird, in denen außergewöhnliche Menschen in das Geschehen eingreifen, weil die Institutionen nicht mehr leisten, wozu sie einst auf die Welt gekommen waren. Es geht um die Technik staatlichen Machterhalts, um Unterwerfung und Kooperation, um Kritik und Krise, Revolution und Konterrevolution. Schon die Zeitgenossen haben sich darüber gewundert, daß sich die fragile Herrschaft der Zaren über einen Zeitraum von drei Jahrhunderten am Leben erhalten konnte, um dann im Februar 1917 in wenigen Tagen zusammenzubrechen. Wie läßt sich verstehen, daß eine kleine, isolierte europäische Elite das Bauern- und Vielvölkerreich nicht nur unter ihrer Kontrolle hielt, sondern ihm auch ihren Gestaltungswillen aufzwang und entgegen jeder Erwartung ihre Macht gegen Widerstand behaupten konnte? Warum konnte sich das Staatsmodell Peters I. wider jede Erwartung durchsetzen, und wie läßt sich verstehen, daß das Imperium an seiner Überdehnung und seinen inneren Wirren nicht zerbrach, sogar das Revolutionsjahr 1905 unbeschadet überstand? Dieses Rätsel läßt sich nur lösen, wenn beschrieben wird, wie Menschen anfangen, wie sie einen Faden in das Handlungsgewebe einziehen und was geschieht, wenn plötzlich Unvorgesehenes in den alltäglichen Lebensvollzug eingreift und den Weltenlauf unterbricht. Nichts ist vorherbestimmt, es hätte auch anders kommen können, wenn die Menschen in bestimmten Situationen anders gehandelt hätten. Das menschliche Handeln in der Zeit ist eine Aneinanderreihung von Zufällen, reinen Augenblicken, die sich zu einem Geschehen verdichten, über das die Handelnden keine Verfügung haben, und dessen Konsequenzen sie nicht kennen, auch wenn die Historiker sie später in eine kohärente Erzählung fassen, so, als ließe sich ein beliebiger Anfang mit einem Ende kausal verknüpfen, von dem die Zeitgenossen gar nichts wissen konnten. «Die wirkliche Geschichte», schreibt Hannah Arendt, «in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfaßt ist.»[41] Erst in Situationen, in denen Menschen einander begegnen und Entscheidungen treffen, wird das Ineinandergreifen anthropologischer Voraussetzungen und historischer Möglichkeiten sichtbar und spürbar. Menschliches Handeln läßt sich deshalb nur in der Beschreibung seines Vollzugs verstehen, in Geschichten, die der Geschichte nicht bedürfen.

***

Wer ein Buch schreibt, ist mit sich allein. Schreiben heißt, sich selbst in ein Geschehen hineinzuversetzen und sich in Geschichten zu versenken, Wörter und Sätze zu finden, die den Gedanken gerecht werden, die zum Ausdruck kommen sollen. Aber man macht auch die Erfahrung, daß sich das Buch irgendwann von selbst schreibt, daß es Macht über den Autor gewinnt, sein einmal gefunderer Stil ihn zwingt, dem erzählten Geschehen eine Form zu geben, über die er nach und nach die Verfügung verliert. Tag für Tag fließen die Sätze daher, die sich zu einem Textmassiv verdichten, das man selbst kaum noch überblickt. Sobald der Autor das bedruckte Papier herausgibt, gehören ihm die Geschichten nicht mehr, die er erzählt. Das Buch ist immer das Buch des Lesers, der mit seinem Inhalt verfahren mag, wie es ihm gefällt. Jetzt kann es geschehen, daß der Text anders verstanden wird, als der Autor ihn selbst versteht, und daß Antworten auf Fragen gegeben werden, die niemand gestellt hat. Daran ist nichts zu ändern, denn so ergeht es jedem, der die Welt schreibend herausfordert. Und dennoch kann nichts die Freude darüber trüben, etwas geschaffen, zu Ende gebracht zu haben, ganz gleich, ob Leser und Kritiker daran Gefallen finden.

Ich habe vielen Menschen zu danken, ohne deren Unterstützung ich wahrscheinlich nie an ein Ende gekommen wäre. Heinrich Meier lud mich ein, ein Jahr als Fellow der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in München zu verbringen. Ein größeres Geschenk hätte man mir nicht machen können. Die unbeschwerte Zeit des Nachdenkens, Lesens und Schreibens bringt einem zu Bewußtsein, was die Universität sein könnte, wenn sie sich auf ihre eigentliche Bestimmung besänne. Ich danke Detlef Felken für die Gespräche, die wir in München miteinander geführt haben, und die Freundschaft, die zwischen uns entstanden ist, und Michael Hochgeschwender dafür, daß er mich in meiner Münchener Zeit an seinem Colloqium und seinem reichhaltigen Wissen teilhaben ließ. Sebastian Ullrich hat mich ermuntert weiterzuschreiben, als ich schon darüber nachdachte, das Unternehmen einzustellen. Es schien mir alles gesagt. Ihm ist es zu verdanken, daß über die Geschichte der Herrschaft in Rußland nun doch mehr geschrieben werden durfte, als ursprünglich vereinbart worden war, und er hat mich in meiner Auffassung bestärkt, daß der Lebensvollzug erst recht verständlich wird, wenn er sich in Geschichten zum Ausdruck bringt.

Jede Erzählung gewinnt ihre Kraft durch Form und Stil. Ich habe Alexander Schnickmann dafür zu danken, daß er eine erste Fassung des Textes las und kommentierte. Stephan Speicher und Sarah Matuschak lasen die endgültige Version und griffen ordnend und korrigierend in den Text ein, wo immer er sich zu verlieren drohte. Ohne ihre Hilfe hätte ich ein schlechteres Buch geschrieben. Martin Stoyanov, Bennet Ledwig und Xi Zhang besorgten Literatur, halfen mir bei der Vervollständigung des Literaturverzeichnisses und der Beschaffung der Photos. Tatjana Kohler korrigierte die Fußnoten mit großer Sorgfalt. Antje Pausder und Alicja Picz führten das Kommando über das Sekretariat. Ihnen allen bin ich sehr zu Dank verpflichtet.

Von Dietrich Beyrau habe ich gelernt, worauf es ankommt, wenn man sich das Leben nicht verderben lassen möchte. Ohne sein Wissen und sein Verständnis von der Sache, um die es in diesem Buch geht, ohne seine Offenheit und Toleranz, seine fröhliche und unverkrampfte Haltung, hätte mein Leben wahrscheinlich eine andere Wendung genommen. Ihm, dem Lehrer und Leser, ist dieses Buch gewidmet.

II

TYRANNEN UND REFORMER

«Rußland ist ein Land, wo man das Großartigste um des geringfügigsten Resultates willen thun kann.»

(Astolphe de Custine, Russische Schatten. Prophetische Briefe aus dem Jahre 1839, Nördlingen 1985, S. 20–21)

1. Die Selbstherrschaft

«Wie Tugend in einer Republik, Ehre in einer Monarchie vonnöten ist, so ist unter einer despotischen Regierung Terror nötig. Tugend ist hier nicht notwendig, und Ehre wäre hier gefährlich. Die ungeheure Macht des Herrschers geht hier vollkommen auf jene über, denen er sie anvertraut. Leute mit starkem Selbstgefühl und -wert wären hier imstande, Revolutionen zu entfachen. Deshalb muß hier Terror den Mut aller niederhalten und die geringste Regierung des Ehrgeizes ersticken. Eine maßvolle Regung kann ihre Zügel lockern, sooft sie will und ohne Gefahr. Sie erhält sich durch ihre Gesetze und ihre Eigenkraft. Wenn aber bei einer despotischen Regierung der drohende Arm des Herrschers einen Augenblick nicht zu sehen ist, wenn er die Inhaber der höchsten Stellungen nicht auf der Stelle vernichten kann, ist alles verloren: denn die Triebkraft der Regierung, der Terror nämlich, ist nicht mehr vorhanden, und das Volk hat keinen Schirmherrn mehr.» So schrieb Montesquieu in der Mitte des 18. Jahrhunderts über das Wesen der Despotie. Sei der Wille des Herrschers erst einmal bekannt, so müsse er in seinen Staaten widerspruchslos befolgt werden; stirbt er, ohne daß jemand an seine Stelle treten könnte, ist es um die Despotie geschehen. «Der Mensch ist Kreatur und gehorcht einer Kreatur, die befiehlt.»[1]

Alles, so Montesquieu, ist auf den Herrscher ausgerichtet, sein Wort Gesetz. Nach seinem Tod ist der Nachfolger an nichts anderes gebunden als an seinen eigenen Willen. Kein Gesetz und keine Tradition verpflichten ihn, die Rechte seiner Diener und Untertanen zu achten. Er erteilt Privilegien, gewährt aber keine Rechte. Er mag Herrscher von Gottes Gnaden sein. Im Dienst von Recht oder Überlieferung sieht er sich nicht. Die Erhaltung des Staates ist die Erhaltung des Herrschers. Deshalb ist seine Innen- und Außenpolitik auch nichts anderes als eine Verlängerung des Willens, jeder Statthalter, jeder Vollstrecker des höchsten Willens, selbst ein Despot. Der Palast ist das Zentrum der Macht, jede Herrschaft nur so stark wie der Wille desjenigen, der sie ausübt. «Ein derartiger Staat ist in der bestmöglichen Lage, wenn er sich verhalten kann, als ob er allein auf der Welt wäre, umgeben von Wüsten und getrennt von den anderen Völkern, die er Barbaren nennt. Da er sich auf seine Bürgerwehr nicht verlassen kann, zerstört er tunlichst einen Teil seines Gebietes selbst.»[2]

Schon Montesquieu hatte den Zusammenhang zwischen der Größe des Territoriums und der Beschaffenheit der Herrschaft erkannt. «Voraussetzung für ein ausgedehntes Reich», schreibt er, «ist eine despotische Autorität des Regierenden. Schnelle Entschlüsse müssen die Entfernungen der Orte innerhalb des Geltungsbereiches überbrücken. Terror muß die Saumseligkeit des Provinzgouverneurs oder des Beamten in der Ferne unterbinden. Das Gesetz soll einem einzigen Kopf entspringen. Es muß unablässig wechseln, ganz wie die Vorkommnisse, die sich in einem Staat stets im Maß seiner Ausdehnung häufen.»[3] Es war, als hätte Montesquieu das russische Leben vor Augen gehabt, als er eine Verbindung zwischen Räumen und der Beschaffenheit politischer Herrschaft herstellte.

In früher Zeit waren Rußlands Herrscher keine Könige, seine Eliten allenfalls mobile Krieger, Gefolgsleute, die Dienst leisteten, aber keine Grundherren, die auf Gütern lebten. Sie suchten die Nähe des Zaren, weil nur im Zentrum der Macht Entscheidungen getroffen und Privilegien gewährt wurden. Deshalb definierten sich Adlige nicht über den Besitz von Land und die Verfügung über Leute, sondern über den Dienst für den Herrscher, auch wenn sich die Güter in ihrem erblichen Besitz befanden. Zwar muß der Herrscher jederzeit damit rechnen, daß die Gefolgsleute sich ihm widersetzen. Sie spielt er gegeneinander aus, er setzt Aufsteiger in einflußreiche Ämter ein, vergrößert auf diese Weise den Kreis loyaler Diener und minimiert das Risiko, getötet zu werden. Die Moskauer Großfürsten waren Meister im Spiel der Intrigen, allen immer einen Schritt voraus. Schon Iwan III. (1462–1505) hatte den alten Bojarenadel durch Dienstleute ersetzen lassen, die er mit Privilegien ausstattete und an Orten einsetzte, mit denen sie und ihre Verwandtschaft nicht verbunden waren und aus denen er die alteingesessene Elite deportieren ließ. Nowgorod ließ er entvölkern und neu besiedeln. Dessen Adel wurde ins Innere des Moskauer Staates geschafft. Dieses Prinzip des «Teile und herrsche» setzte sich erfolgreich durch, eben weil der Dienstadel nichts weiter als eine Kriegerkaste war, deren Mitglieder keiner Korporation angehörten, die Ansprüche auf Teilhabe hätte begründen können. Im alten Europa erwarben sich Adlige zu dieser Zeit Verfügungsrechte über Land und Leute, Lehen verwandelten sich in erblichen Besitz. Daraus erwuchsen all die ständischen Abwehrrechte, die der Macht der Fürsten und Könige Grenzen zogen. In Rußland hingegen gelang es den Herrschern, den alten Adel zu entmachten, ihn um seinen Besitz zu bringen und Aufsteiger an sich zu binden. Im Jahr 1550 verlieh Zar Iwan IV. (1547–1584) in der Umgebung von Moskau Landgüter an 1064 sogenannte «Bojarensöhne», verarmte und besitzlose Dienstleute. Adlig war seither überhaupt nur noch, wer Dienst leistete und sich in Gehorsamkeit übte. Und so kam es, daß der Zar seine eigentliche Schwäche dadurch kompensierte, daß er die Zahl der Edelleute stetig vermehrte und eine Elite schuf, deren Mitglieder nicht durch gemeinsame Interessen miteinander verbunden waren und die als Dienstleute einen Gewinn davon hatten, dem Moskauer Großfürsten und später dem Zaren zu gehorchen.[4]

Wer keine Informationen erhält, weil die Kommunikationswege lang und primitiv sind, weil es keine Boten oder Statthalter gibt, denen man trauen kann, will sich von Vermittlern, auf die er gleichwohl angewiesen ist, unabhängig machen. Denn das Mißtrauen ist allgegenwärtig, der Herrscher weiß nicht, wem er glauben darf und was er erwarten kann. Aber er weiß, daß auch die Untertanen und die Satrapen in den Provinzen ahnungslos sind, sich aber vor Strafen fürchten, die jederzeit verhängt werden könnten. Was führt der Despot im Schilde, wie werden sie leben, was dürfen sie tun und was nicht, fragen sie tagein, tagaus. Die Angst wird zu ihrem zuverlässigsten Ratgeber. Sie sagt ihnen, daß sie gehorchen müssen, wenn sie ihre Unabhängigkeit und ihr Leben nicht aufs Spiel setzen wollen. Denn die Gewalt schlägt immer wieder zu und führt allen vor Augen, daß die Angst der Vater des Gehorsams ist. Das Verhalten der Höflinge ist stilbildend, es soll die Untertanen anstecken nachzuahmen, was am Hof geschieht. Deshalb ist es das Ziel aller Machthungrigen, einen Platz in der Nähe des Herrschers zu finden, weil sie nur dort wirklich im Bild und in Sicherheit sind. Die Untertanen überwachen einander freiwillig, einer denunziert den anderen, weil niemand in Verdacht geraten will, ein Verräter zu sein. Die kollektive Solidarhaftung bewirkt, daß sich jeder selbst Gewalt antut, weil gewiß ist, daß für den Ungehorsam des einen alle werden bezahlen müssen. Wozu also braucht der Tyrann schon Informationen, wenn er doch auch so erreicht, was er will?[5] «Wer nicht groß genug ist, zu regieren, wird hier, vor lauter Weite, ein Tyrann», hat Joseph Roth zweihundert Jahre später über die russische Wirklichkeit gesagt.[6]

Die Allmacht des Herrschers erzeugt ihre eigentlichen Wirkungen aber erst, wenn sie sich hinter Mauern verbirgt, sich mit Geheimnissen umgibt, die niemand erahnt. Deshalb ist die Despotie auf die Isolation des Herrschers angewiesen. Niemand soll ihn sehen, niemand seine übernatürlichen Fähigkeiten in Zweifel ziehen. Als gottähnliche Kreatur ist der Despot allgegenwärtig, ohne sichtbar und hörbar zu sein. Man stellt ihn in öffentlichen Zeremonien als jemanden aus, der außergewöhnliche Qualitäten besitzt, sich durch Kleidung, Habitus und Wohnsitz von gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Es kommt auf die künstliche Distanz zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen an, die um jeden Preis und mit allen Mitteln aufrechterhalten werden muß. Der Palast ist nicht nur das Wahrzeichen seiner Macht, er ist auch ein Raum, der seinem Schutz dient und durch seine Abgeschiedenheit die Distanz erweitert. Nur als entrückte Person kann der Despot das Wort des Gebieters aussprechen, nur als Repräsentation des Abwesenden, des Unsichtbaren Übermensch bleiben. Seine ganze Existenz ist auf Vervielfältigung angelegt, jede seiner Äußerungen und Handlungen nichts als Befehl.[7]

«Seine Gewalt braucht der Großfürst gleich sowohl über die Geistlichen als über die Weltlichen; er verfügt aus freier Willkür über aller Leben und Gut.»[8] So beschrieb Sigmund von Herberstein, der Gesandte Kaiser Maximilians I., im Jahre 1549, was er 35 Jahre zuvor am Hofe des Moskauer Großfürsten gesehen und gehört hatte. Es schien ihm, als seien die Herrscher an nichts und niemanden gebunden, Herren über Leben und Tod, an deren Hof Sklaven, aber keine Edelleute dienten. Zar Iwan IV., den man auch den «Gestrengen» (Groznyj) nannte, litt zweifellos an Verfolgungswahn, war ein krankhaft sadistischer Mann, der seine Grausamkeit jedoch keinesfalls blindwütig, sondern mit Bedacht einsetzte. Denn er hatte natürlich, wie alle Herrscher vor ihm, gute Gründe, den Gefolgsleuten aus dem Hochadel, den Bojaren, zu mißtrauen. Und so faßte er im Jahr 1564, nachdem ihn sein Vertrauter Fürst Andrei Kurbski verraten hatte und nach Polen geflohen war, den Entschluß, seine Herrschaft von jeglicher Abhängigkeit zu befreien. Iwan IV. entfaltete ein raffiniertes System des «Teile und herrsche» und ein grausames Regiment des Terrors, das keinen anderen Zweck verfolgte, als sich aller Beschränkungen zu entledigen, die mächtige Bojaren ihm noch auferlegen wollten. Im Jahr 1564 teilte er sein Reich in zwei Zonen ein: in der einen, der «Semschtschina», galt das Regiment des alten Bojarenadels, in der anderen, der «Opritschnina», herrschte nur der Wille des Zaren, der sich nun mit eigens angeworbenen und ihm treu ergebenen Dienstleuten umgab. Mit ihrer Hilfe verwüstete Iwan IV. alle Gebiete des Moskauer Staates, die zur «Semschtschina» gehörten, und versetzte den Bojarenadel in Furcht und Schrecken.

Die «Opritschniki» trugen schwarze Kutten mit Kapuzen, Reisigbesen und Hundeköpfe als Insignien staatlicher Strafgewalt. Iwan verlangte von seinen Gefolgsleuten, sich ihm bedingungslos zu unterwerfen, Verrat sogleich zu melden und selbst Mitglieder ihrer Familien auszuliefern, wenn der Zar es ihnen befahl. Niemand durfte sich mit Menschen verbinden, die nicht zum Kreis der «Opritschniki» gehörten. Allein dem Herrscher verantwortlich, fielen die schwarzen Reiter in die Territorien ein, die von den Bojaren beherrscht wurden, brandschatzten, plünderten und töteten Zehntausende. Sie brannten die Güter der Bojaren nieder, töteten das Gesinde, Frauen und Kinder. Iwan schöpfte sogleich neuen Verdacht, beschuldigte Adlige und Geistliche, mit äußeren Feinden im Bund zu stehen und ihm nach dem Leben zu trachten. Sobald der Verdacht ausgesprochen worden war, fielen die apokalyptischen Reiter über die Verräter her und verhängten ein grausames Strafgericht über sie. Allein in Nowgorod fielen Tausende Einwohner einem Massaker der «Opritschniki» zum Opfer. Iwan selbst tötete Menschen mit eigener Hand, er ließ Bojaren, aber auch Männer seiner Gefolgschaft aus einer Laune heraus zu Tode foltern, rösten, in siedenes Wasser werfen oder pfählen, tötete den eigenen Sohn, ergötzte sich an den abscheulichsten Gewaltorgien.[9]

Man mag sich über die selbstzerstörerische, scheinbar sinnlose Gewalt wundern, auch darüber, daß der Terror am Ende auch die Schergen verzehrte. Doch war die Selbstverwüstung keineswegs nur Ausdruck pathologischer Gewalttätigkeit. Iwan IV. hatte sein Reich in Trümmer gelegt, aber die alte auch durch eine neue Elite ersetzt, die für ihre Loyalität reichlich mit Land und Privilegien belohnt wurde. Der Terror war ein Ausdruck schwacher Staatlichkeit und Kontrolle, er kompensierte, was die Institutionen nicht hergaben. Aus der Schwäche aber bezog der Herrscher seine eigentliche Kraft, weil er weder durch Recht noch durch Tradition daran gehindert werden konnte, seinen eigenen Staat zu zerstören. Der Terror ermöglichte es dem Herrscher, sich von mächtigen Bojaren zu emanzipieren, Aufsteiger und Hofleute niederer Herkunft an sich zu binden und ihnen einzuimpfen, daß Widerstand, gleich welcher Art, grausam bestraft werden würde. Fünfhundert Jahre später kam es zu einer Wiederauflage solch scheinbar irrationalen Terrors, als Stalin die Elite des sowjetischen Staates auslöschte. Die Zeitgenossen hielten Stalins Terror für das Werk einer selbstzerstörerischen Paranoia, die den Staat vernichtete, auf den Herrschaft doch angewiesen war. Stalin selbst aber handelte mit Bedacht, er wußte, daß er sich von Gefolgsleuten, Rechtsvorschriften und Institutionen völlig frei machte, daß sein Reich auf dem Fundament des Schreckens ruhte. Und er selbst ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er Iwan den Schrecklichen für die Konsequenz schätzte, mit der dieser Verrat und Illoyalität bestrafte.[10]

Die Gesetze sind den Tyrannen gleichgültig, es macht ihnen Freude, sie zu brechen, sie erwarten unbedingte Unterwerfung, sie danken es den Getreuen aber nicht. Was sie erregt, das ist die Freude daran, andere ihre Unterlegenheit spüren zu lassen. Aber der Tyrann weiß, daß man ihn verabscheut. Erst verleihen ihm der Haß und die Ohnmacht der Untertanen Energie. Fieberhaft beobachtet er, was die vermeintlichen Verschwörer tun. Aber irgendwann zerstören Mißtrauen und Anspannung sein seelisches Gleichgewicht. Nicht vor den Untertanen fürchtet er sich, sondern vor der Palastrevolte. Und er hat allen Grund dazu, weil nur im Palast die Macht noch zu Hause ist und in Frage steht. Die Gefahr, gestürzt zu werden, ist dort am größten, wo sich die Macht den Anschein gibt, grenzenlos zu sein. Zum Kennzeichen der Tyrannei gehört die «Ohnnmacht und Vergeblichkeit», wie Hannah Arendt sagt, zu der sie die Herrschenden wie die Beherrschten verurteilt.[11] Auch Iwan wurde am Ende ein Opfer der Angst, mit der er sein Reich regierte. Seine Augen schweiften stets unruhig umher, nichts blieb seiner Aufmerksamkeit verborgen, stets fürchtete er, erdolcht oder vergiftet zu werden. Wer epidemischer Gewalt Räume öffnet und dann die Kontrolle über sie verliert, muß damit rechnen, ihr nächstes Opfer zu werden. Nur von Schmeichlern, Hochstaplern und Henkern, die ihn lobten und priesen, jeden seiner Wünsche erfüllten, sei er noch umgeben gewesen, schreibt der russische Historiker Ruslan Skrynnikow. Aber welchem Heuchler hätte er im Angesicht des Terrors denn noch Glauben schenken sollen?[12]

Es ist das Schicksal der Despotie, daß ihre Gewalt zwar Ruhe, aber keinen Frieden erzeugt. In ihr herrscht eine große Stille, aber sie ist nur die Ruhe vor dem Sturm, der stets erwartet wird. Hier sind nicht die Gesetze, sondern die Bajonette des Militärs, die Gefängnisse und Richtstätten Garanten der Macht. Auf dem Grund der Despotie wächst keine Ordnung, die Rechte schützt. Alle sind unfrei, selbst der Tyrann, weil auch er nicht weiß, wer ihm nach dem Leben trachten könnte, wer lügt und wer die Wahrheit sagt und wem er sein Vertrauen schenken darf. Jeder Versuch, der Existenz eine dauerhafte Form zu geben, ist vergeblich. Man lebt für den Augenblick, denn jeder Tag könnte der letzte sein.[13] «Und wenn der Fürst zittert», schrieb der Marquis Astolphe de Custine über den russischen Staat, «langweilt er sich nicht. Er lebt also zwischen Furcht und Ekel.»[14]

Schon die Zeitgenossen haben sich darüber gewundert, mit welcher Rücksichtslosigkeit und Brutalität die russischen Herrscher jedem ihren Willen aufzwangen, ohne auf Widerspruch oder Widerstand zu stoßen, auch nachdem sich das Zarenreich bereits Europa zugewandt hatte. Als Peter I. (1682–1725) Rußland nach Westen öffnete, verordnete er nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Land eine Roßkur besonderer Art. Wer den europäischen Monarchien auf Augenhöhe begegnen wollte, so glaubte er, könne sich nicht länger in Selbstbescheidung üben. Europa war Rußlands Maßstab geworden, und was vor Jahrzehnten noch für selbstverständlich, für nicht erklärungsbedürftig gehalten wurde, galt nunmehr als rückständig. Aus selbst verschuldeter Nichtigkeit, so glaubte der Zar, könne man sich nur durch den Willen zu Macht und Tat befreien, indem aus dem Westen Europas herbeigeschafft wurde, was Rußland zu seinem Glück zu fehlen schien. Reinhard Wittram, Peters kundigster Biograph, hat über die petrinische Revolution gesagt, daß sie sich aus dem Zusammenspiel zufälliger Momente hervorgebracht habe, «dem Ineinandergreifen drängender, materieller Bedürfnisse, neuer Möglichkeiten und anspringender geistiger Federkraft mit dem Unberechenbaren der außerordentlichen Person.»[15]

Die Unberechenbarkeit der «außerordentlichen Person» aber konnte in Rußland nur deshalb zum Umdenken aller Werte führen, weil hier das Wort des Herrschers Gesetz und Vermächtnis war. Der Zar selbst war Urheber jener allumfassenden Erschütterung, die er dann mit eiserner Hand und rücksichtslosem Zugriff zu bewältigen versuchte. Im April 1697 war er mit großem Gefolge in den Westen Europas gereist, als dort noch niemand wußte, wie man einem Herrscher aus dem fernen Rußland begegnen solle. Peter gab sich als einfaches Mitglied der russischen Gesandtschaft aus, um im Schatten seiner Begleitung begierig aufzunehmen, was sich ihm in den baltischen Provinzen, in den deutschen Ländern, in den Niederlanden, in England und in Österreich zeigte. Schon die Zeitgenossen müssen die Absurdität der Inszenierung gespürt haben, weil nicht nur jedermann wußte, daß Peter niemand anderes war als der Zar selbst, sondern weil er auch jeden in seiner Umgebung an Größe überragte und sich von vier kleinwüchsigen Menschen begleiten ließ. Mehr als ein Jahr verbrachte der Zar im Ausland. Er wies den Gefolgsleuten, die ihn begleiteten, Aufgaben zu. Sie sollten Festungen, Kriegsschiffe und Industrieanlagen inspizieren, die Sitten und Gebräuche der Europäer studieren. Er selbst erlernte auf einer Werft in Amsterdam das Handwerk eines Zimmermanns und machte sich mit der Technik des Schiffsbaus vertraut. Wissbegierig nahm er auf, was sich in seiner Umgebung zutrug, besuchte Werkstätten, Werften, Hospitäler, Museen und anatomische Theater, ließ sich in England den Geist der Gesetze und den Nutzen des Parlaments erklären, sprach mit Hofleuten, Architekten, Juristen und Bischöfen, damit sie den Schleier lüfteten und das Geheimnis ihres Wohlstandes und Erfolgs verrieten, mitteilten, wonach es den Herrscher aus dem fernen Rußland so sehr verlangte.[16]

Was immer im Westen Europas auch zu besichtigen war, Peter nahm es sogleich in Augenschein und prüfte es mit kindlicher Neugier auf seine Tauglichkeit. Jacob von Staehlin, ein Universalgelehrter aus dem schwäbischen Memmingen, der seit 1735 Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften war, beschrieb, wie der Zar im Jahr 1716 auf seiner zweiten Reise in die Niederlande mit seinem Gefolge in Wittenberg einzog. Peter habe Kirchen und Klöster und die Wohnung Martin Luthers besichtigt, dessen revolutionäre Tatkraft er bewunderte, und im Laden eines Schmieds kunstvoll gefertigte Vorhängeschlösser erstanden. «Unersättlich war die Wißbegierde Peters des Großen und sein Verlangen, dieselbe bei aller Gelegenheit zu stillen. Auf seinen Reisen pflegte er überall bei dem mindesten Gegenstande einer natürlichen oder anderen Merkwürdigkeit auszusteigen und die Sache in Augenschein zu nehmen. Kam er auf seiner Reise durch einen Flecken oder ein Städtchen, das kaum dem Namen nach bekannt war, so pflegte er allzeit anzuhalten und sich zu erkundigen, ob sich etwas Sehenswürdiges darinnen befinde. Sobald man ihm die Frage bejahte und etwa darzusetzte, es sei eben nichts Besonderes oder Außerordentliches, so antwortete er immer: ‹Wer weiß, vielleicht nur in euren, aber nicht in meinen Augen›».[17]

Europas Kultur und Lebensstil waren für Peter zum Richtmaß seiner Reformen geworden. Er soll am Ende selbst erwogen haben, die Sprache der Holländer zur Amtssprache in Rußland zu erheben. Kein Einwand, kein Korrektiv hätten Peter von der fixen Idee abbringen können, Rußland nach diesem Vorbild neu einzurichten.[18] In Europa hatte Peter mit eigenen Augen gesehen, wozu technisches Wissen, Bildung und aufgeklärter Lebensstil nützlich sein konnten, und er verstand, daß sich auch die militärischen Möglichkeiten durch solches Wissen erweitern ließen. Rußland war nicht Europa, es erschien ihm als ein Ort der Rückständigkeit und Barbarei, aber es sollte in wenigen Jahren werden, was Europa schon lange war. Die Rückständigen würden geschlagen, dachte der Zar, aber sie hätten das Privileg des Zu-spät-Gekommenen, sie könnten imitieren, was die Erfolgreichen sich mühsam hätten erarbeiten müssen. Als er im August 1698 nach Rußland zurückkehrte, begann er sofort damit, seinem Reich einen neuen Anstrich zu verleihen und es in das System der europäischen Großmächte einzufügen. Seine Herrschaft lebte seither vom Import, von Nachahmung und Kopie, die sich in den Dienst des Machtstaates und des Krieges stellten.[19]