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Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht esaus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. «Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren», steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Jörg Baberowski
Stalins Herrschaft der Gewalt
VERLAG C.H.BECK
Stalins Gewaltherrschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer. Sie verhungerten, verschwanden im „Archipel Gulag“ oder wurden im Laufe der „Säuberungen“ von Partei, Staatsapparat und Militär ermordet. In seinem großen, berührenden Buch entwickelt Jörg Baberowski neue Perspektiven auf die stalinistischen Verbrechen und führt den Leser hinab in die paranoide Welt des sowjetischen Diktators.
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. „Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren“, steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
Jörg Baberowski, geb. 1961, ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Studien zur russischen und sowjetischen Geschichte.
Für Andrei
VORWORT
I. WAS WAR DER STALINISMUS?
II. IMPERIALE GEWALTRÄUME
1. Voraussetzungen
2. Revolutionen
3. Bürgerkriege
III. PYRRHUSSIEGE
1. Ökonomische Reformen
2. Der Staat im Dorf
3. Diktatur ohne Proletariat
4. Die Nationalisierung des Imperiums
5. Der Aufstieg Stalins
IV. UNTERWERFUNG
1. Neue Menschen
2. Feinde
3. Der Krieg gegen die Bauern
4. Todeszonen
5. Kommandowirtschaft
V. DIKTATUR DES SCHRECKENS
1. Macht und Gewalt
2. Die Unterwerfung der Parteielite
3. Die Zerstörung der Partei
4. Die Vernichtung des Offizierskorps
5. Die Selbstzerstörung des Staatsapparates
6. Die Allmacht des Despoten
7. Massenterror
8. Die nationalen Operationen
9. Das Ende des Massenterrors
10. Die Gewalt und ihre Situationen
VI. KRIEGE
1. Die Expansion der Gewalt
2. Der stalinistische Krieg
3. Krieg im Frieden
4. Götterdämmerung
VII. STALINS ERBEN
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Register
«Und wir sollten auch nicht das Naheliegende übersehen –daß Stalin es getan hat, weil es ihm gefallen hat.»(Martin Amis, «Koba der Schreckliche»)
«Es sollte Brauch sein, es sollte Kultur genannt werden», schreibt Martin Walser, «daß jemand, der etwas behauptet, das, was er behauptet, auch widerlegt.»[1] Schriftstellern läßt man solche Sätze durchgehen. Denn sie schreiben auf, was sich aus ihrer frei gewählten Erzählperspektive ergibt. Historiker aber müssen im Meinungsdienst Leistungen erbringen, die als Wissenschaft erkennbar sind. Das jedenfalls erwarten Leser, die in historischen Büchern nach Wahrheiten suchen, die ihnen Antworten auf ungelöste Fragen zu geben versprechen. Historiker wissen, wenn sie sich dazu entschließen, ein Buch zu schreiben, daß man sie als Anwälte von Thesen und Meinungen identifiziert und ihnen deshalb immer wieder abverlangt wird, Bekanntes vorzutragen. Es soll Historiker geben, die ihr Leben lang an Meinungen festhalten und sie in den Rang ewiger Wahrheiten erheben, nur weil sie diese Meinungen irgendwann einmal aufgeschrieben haben. Recht haben zu müssen, ist anstrengend. Noch anstrengender ist es, immer mit der gleichen Meinung recht haben zu müssen. Deshalb war ich froh, als ich unverhofft die Gelegenheit erhielt, Neues zu sagen und Altes zu verwerfen.
Als ich vor zwei Jahren gefragt wurde, ob ich mein 2003 erschienenes Buch «Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus» für eine Übersetzung ins Englische überarbeiten könne, wußte ich allerdings nicht, worauf ich mich einlassen würde. Ich hatte mir alles ganz einfach vorgestellt: Ich müßte nur den Text lesen, so dachte ich, und dann würde ich ergänzen, was seit 2003 zu diesem Thema Bedenkenswertes gesagt worden war. Aber je mehr ich las, desto größer war die Enttäuschung. Es war eine Qual, das eigene Buch zu lesen, dessen Sätze und Diktion mir nicht mehr gefielen, und ich glaubte, auch die Leser hätten es so empfinden müssen. Mein eigenes Buch entsprach mir nicht mehr. Alles, was ich seitdem über Stalin und den Stalinismus gelesen, gesagt und geschrieben hatte, stand in merkwürdigem Gegensatz zu jenen kräftigen Meinungen, die dem Buch eine Struktur gegeben hatten. Auf einen identifizierbaren Text wollte ich auch jetzt nicht verzichten. Unter gar keinen Umständen aber wollte ich wiederholen, was ich 2003 gesagt hatte, denn vieles von dem, was einmal für richtig gehalten werden konnte, erschien mir sieben Jahre später als Unfug. Das Buch sollte schöner und klarer werden, und zu diesem Zweck, das wurde mir sofort klar, müßte ich widerlegen, was ich einst geschrieben hatte. Schon nach wenigen Wochen arbeitete ich nicht mehr am alten, sondern am neuen Buch.
Seit 2003 hatte ich mehrere Jahre damit zugebracht, mir selbst zu erklären, wie es geschehen konnte, daß in der Sowjetunion der Stalin-Ära Millionen Menschen getötet, aus ihrer Heimat vertrieben, in Lager eingesperrt wurden oder verhungerten. 2003 hatte ich die Thesen des Soziologen Zygmunt Bauman noch für eine Offenbarung gehalten. Das Streben nach Eindeutigkeit, die Überwindung von Ambivalenz und die Ordnungswut des modernen Gärtnerstaates, schrieb Bauman, seien die Ursachen für die monströsen Vernichtungsexzesse des 20. Jahrhunderts gewesen. Eine schöne Idee, zweifellos, die aber nichts weiter als eine Behauptung blieb.
Je mehr ich über die Gewalt der Stalin-Zeit las, desto klarer wurde mir, daß meine früheren Interpretationen des Geschehens revidiert werden müßten. Stalin war, daran ließen die Dokumente, die ich inzwischen gelesen hatte, keinen Zweifel, Urheber und Regisseur des millionenfachen Massenmordes. Das kommunistische Experiment des neuen Menschen gab den Machthabern eine Rechtfertigung für die Ermordung von Feinden und Aussätzigen. Aber es schrieb ihnen den Massenmord nicht vor. Und so sprachen Stalin und seine Gefährten auch nicht von der schönen neuen Welt, wenn sie darüber berieten, was mit den vermeintlichen Feinden ihrer Ordnung geschehen sollte. Sie sprachen statt dessen über Techniken der Gewalt. Erst im Ausnahmezustand konnte ein Psychopath wie Stalin seiner Bösartigkeit und kriminellen Energie freien Lauf lassen. Der Traum von der kommunistischen Erlösung wurde im Blut der Millionen erstickt, weil sich die Gewalt von den Motiven löste und weil der Diktator Gewalt nur noch seinen Machtzwecken unterordnete. Es ging am Ende allein um die Anerkennung von Entscheidungsmacht, der Macht Stalins, Herr über Leben und Tod zu sein. Nur in der Atmosphäre der Paranoia und des Mißtrauens konnte es dem Despoten gelingen, anderen seinen Willen aufzuzwingen und seine Welt zur Welt aller zu machen.
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie die Welt Stalins und seiner Gefährten beschaffen war, und je mehr ich las, desto klarer wurde mir, daß Ideen nicht töten. Gewalt ist ansteckend. Sie kann von niemandem, der sie erlebt, ignoriert werden, ganz gleich, mit welchen Motiven sich ein Mensch in eine Gewaltsituation begibt. Man kann die Gewalt nicht von ihrem Anfang her verstehen, sondern nur in ihrer Dynamik. Denn Gewalt verändert Menschen, sie stellt die Welt auf den Kopf und zerstört das Vertrauen, das man braucht, um mit anderen in einer Gesellschaft leben zu können. Aber sie ist auch das Lebenselixier der Skrupellosen, die sich ermächtigen, zu tun, was andere nur zu denken wagen. Man muß nur versuchen, die Welt mit den Augen Stalins zu sehen, und schon wird, was wir uns niemals zumuten würden, zur Normalität. Nur davon spricht dieses Buch.
Warum schreibt man überhaupt ein Buch? Könnte man das Leben nicht auch auf andere Weise herausfordern? Jeder, der schreibt, weiß, daß am Ende nur wenige Menschen lesen werden, was man gern mitgeteilt hätte. Aber darauf kommt es gar nicht an. Wer schreibt, ist im Selbstgespräch und erfährt als Schreibender über sich mehr als über den Gegenstand, den er beschreibt. Mich hat die Gewalt bis in den Schlaf verfolgt, sie hat mir so sehr zugesetzt, daß ich mir an manchen Tagen wünschte, ich hätte an einem anderen Buch weiterschreiben dürfen. Und dennoch erfüllte mich das Schreiben über das Leben in der Gewalt auch mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit. Es gab kein Land, in dem die Klassengegensätze schlimmer, die Privilegien der herrschenden Kaste größer gewesen wären, kein Land, in dem Menschen in solcher Angst leben mußten wie in der Sowjetunion. Ich hingegen hatte niemals erleben müssen, was die Opfer erlitten hatten. «Die Lehre, die man aus dieser Art Erlebnis zieht», schrieb Arthur Koestler in seinen Erinnerungen, «erscheint, sobald man sie in Worte kleidet, immer im fahlen Gewand der ewigen Allgemeinplätze: daß der Mensch eine Realität ist und die Menschheit eine Abstraktion; daß man Menschen nicht als Zahlen in einer politischen Gleichung behandeln kann, weil sie sich wie die Zeichen für Null oder Unendlich verhalten, die alle mathematischen Berechnungen aus den Fugen bringen; daß der Zweck die Mittel nur innerhalb sehr enger Grenzen heiligt; daß die Ethik nicht nur eine Funktion sozialer Nützlichkeit ist und Nächstenliebe kein kleinbürgerliches Sentiment, sondern die Gravitationskraft, die jede Zivilisation zusammenhält.»[2] Und man könnte hinzufügen: daß es ein Glück ist, in einer Rechtsordnung zu leben, in der die Verschiedenen als Gleiche behandelt werden und die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Einklang gebracht wird. Wer auch nur für kurze Zeit in einer von Mißtrauen und Gewalt zerfressenen Gesellschaft gelebt hat, wird sofort begreifen, daß diese zivilisatorische Errungenschaft uns voreinander schützt. Wir sollten dafür dankbar sein, jeden Tag.
Ohne die Hilfe von Freunden und Kollegen wäre ich an der Aufgabe, aus einem alten ein neues Buch zu machen, gescheitert. Ich danke Ulrich Herbert und Jörn Leonhard für die wundervolle Zeit, die ich im Frühjahr 2010 am «Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS)» verbringen durfte. Dort konnte ich über Gelesenes lange nachdenken und aufschreiben, was mir gefiel. Paul Gregory danke ich dafür, daß er mich 2008 zu einem zweiwöchigen Workshop an die Stanford University einlud und mir den Zugang zu den Archiven der Hoover Institution eröffnete. Von ihm kam auch die Anregung, ein neues Buch über den stalinistischen Terror zu schreiben. Paul las die erste Version des neuen Manuskripts und empfahl es für eine Übersetzung ins Englische. Shiva Baberowski, Adil Dalbai, Laura Elias, Sandra Grether, Laetitia Lenel und Felix Schnell lasen die letzte Fassung, machten Verbesserungsvorschläge und brachten mich auf Ideen, die mir selbst nicht eingefallen wären. Ohne ihre Hilfe hätte ich ein schlechteres Buch geschrieben. Anastasia Surkov half mir dabei, die Fußnoten und das Literaturverzeichnis in eine lesbare Ordnung zu bringen, Katharina Schmitten erstellte das Register und Benedikt Vogeler griff ein, wenn der Computer wieder einmal darüber entscheiden wollte, welches Buch geschrieben werden müsse. Sebastian Ullrich lektorierte nicht nur das Manuskript, er gab mir auch das Gefühl, etwas Nützliches geschrieben zu haben. Ihnen und allen meinen Mitarbeitern danke ich für die gute Laune und die Freude, die ich empfinde, wenn ich ihnen begegne. Aber auch außerhalb der Wissenschaft gibt es ein Leben. Ohne Liebe wäre es sinnlos. Danke, Shiva, daß es Dich gibt!
Ohne Andrei Doronin wäre ich in den Moskauer Archiven nie ans Ziel gekommen. Vor allem aber half er mir, Rußland auch mit seinen Augen zu sehen, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Nichts aber zählt mehr als die Freundschaft, die uns seit fast zwanzig Jahren verbindet. Ihr muß man sich einfach hingeben, ganz gleich, was geschieht. Ihm, dem Freund, ist dieses Buch deshalb in Dankbarkeit gewidmet.
Im ersten Band seines «Archipel Gulag» erzählt Alexander Solschenizyn folgende Episode aus dem Jahr 1937, dem Jahr des Großen Terrors:
«Eine Bezirksparteikonferenz (im Moskauer Gebiet) … Den Vorsitz führt der neue Bezirkssekretär anstelle des sitzenden früheren. Am Ende wird ein Schreiben an Stalin angenommen, Treuebekenntnisse und so weiter. Selbstredend stehen alle auf (wie auch jedesmal sonst der Saal aufspringt, wenn sein Name fällt). Im kleinen Saal braust ‹stürmischer, in Ovationen übergehender Applaus› auf. Drei Minuten, vier Minuten, fünf Minuten – noch immer ist er stürmisch und geht noch immer in Ovationen über. Doch die Hände schmerzen bereits. Die erhobenen Arme erlahmen. Die Älteren schnappen nach Luft. Und es wird das Ganze unerträglich dumm selbst für Leute, die Stalin aufrichtig verehren. Aber: wer wagt es als erster? Aufhören könnte der erste Bezirkssekretär. Doch er ist ein Neuling, er steht hier anstelle des Sitzenden, er hat selber Angst! Denn im Saal stehen und klatschen auch NKWD-Leute, die passen schon auf, wer als erster aufgibt! … Im kleinen, unbedeutenden Saal wird geklatscht … und Väterchen kann’s gar nicht hören … 6 Minuten! 7 Minuten! 8 Minuten! … Sie sind verloren! Zugrunde gerichtet! Sie können nicht mehr aufhören, bis das Herz zerspringt! Hinten, in der Tiefe des Saales, im Gedränge, kann einer noch schwindeln, einmal aussetzen, weniger Kraft, weniger Rage hineinlegen – aber nicht im Präsidium, nicht vor aller Augen! Der Direktor der Papierfabrik, ein starker und unabhängiger Mann, steht im Präsidium, begreift die Verlogenheit, die Ausweglosigkeit der Situation – und applaudiert – 9 Minuten! 10! Er wirft sehnsüchtige Blicke auf den Sekretär, doch der wagt es nicht. Verrückt! Total verrückt! Sie schielen mit schwacher Hoffnung einer zum anderen, unentwegt Begeisterung auf den Gesichtern, sie klatschen und werden klatschen, bis sie hinfallen, bis man sie auf Tragbahren hinausbringt! Und auch dann werden die Zurückgebliebenen nicht aufgeben! … Und so setzt der Direktor in der elften Minute eine geschäftige Miene auf und läßt sich in seinen Sessel im Präsidium fallen. Und – o Wunder! – wo ist der allgemeine, ungestüme und unbeschreibliche Enthusiasmus geblieben? Wie ein Mann hören sie mitten in der Bewegung auf und plumpsen ebenfalls nieder. Sie sind gerettet! Der Bann ist gebrochen! … Allein, an solchen Taten werden unabhängige Leute erkannt. Erkannt und festgenagelt: In selbiger Nacht wird der Direktor verhaftet. Mit Leichtigkeit werden ihm aus ganz anderem Anlaß zehn Jahre verpaßt. Doch nach Unterzeichnung des abschließenden Untersuchungsprotokolls vergißt der Untersuchungsrichter nicht die Mahnung: ‹Und hören Sie in Zukunft nie als erster mit dem Klatschen auf.›»[1]
Was Alexander Solschenizyn beschrieb, war Realität für Hunderttausende Menschen in der Sowjetunion des Jahres 1937: ein kollektives Irrenhaus, in dem Menschen sich verhielten, als hätten sie jeden Bezug zur Normalität verloren und alle sozialen Beziehungen aufgegeben. Jedermann konnte jederzeit Opfer des staatlich organisierten Terrors werden: als Mitglied einer stigmatisierten sozialen oder ethnischen Gruppe, durch Denunziation oder Zufall, oder weil es dem Diktator gefiel, Menschen zu töten und in Angst und Schrecken zu versetzen. Im Ausnahmezustand wurde das Denkbare zum Machbaren, der Terror grenzenlos, und die Gewalt löste sich von den Anlässen, die sie einst ausgelöst hatten. Sie wurde zur Normalität, für die Machthaber ebenso wie für die Untertanen. Im Ausnahmezustand, den der Diktator über das Land verhängt hatte, zerfielen alle sozialen Sicherungssysteme, die es Menschen unter friedlichen Umständen ermöglichen, sich vor Gewalt und willkürlicher Verfolgung zu schützen.
Für Kommunisten, die vom Anbruch einer neuen Zeit träumten, war die Gewalt ein unverzichtbares Instrument der Disziplinierung und Umerziehung unzivilisierter Bauernmassen. Für viele Opfer war sie das Ende von allem, weil sie Erwartungssicherheit, Rechtssicherheit und Vertrauen zerstörte, ohne die es ein Leben in der Gesellschaft nicht geben kann. Eine «Religion des Hasses, des Neids, der Feindschaft zwischen den Menschen» sei der Bolschewismus, schrieben Bauern aus dem Gebiet Kalinin, dem ehemaligen Twer, die sich im Jahr 1930 über ihre Erfahrungen mit den bewaffneten Organen des Sowjetstaates beklagten.[2] Sie sprachen aus, was Millionen täglich als Wirklichkeit erlebten. In der Sowjetunion Stalins konnten Menschen nach Belieben stigmatisiert, in Angst und Schrecken versetzt oder getötet werden, wenn die Schergen des Regimes danach verlangten. Die Zerstörungswut des Stalinismus kannte keine Grenzen, nicht einmal die Partei war am Ende noch ein Ort der Zuflucht. Sie zerstörte sich selbst, als die Säuberungen der dreißiger Jahre sich zu blutigem Terror potenzierten. Und es war Stalin, der die Destruktion unablässig ins Werk setzen ließ, weil er sich davon eine Totalisierung seiner eigenen Macht versprach.
Nicht einmal nach dem Ende des Großen Terrors kam die sowjetische Gesellschaft zur Ruhe. Denn auch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bekämpfte das Regime seine vermeintlichen Feinde mit exzessiver Gewalt: kriegsmüde Soldaten, Deserteure, Flüchtlinge und nationale Minoritäten, die es verdächtigte, mit dem deutschen Aggressor zu paktieren. Nach allem, was Stalin und seine Helfer ihren Untertanen schon angetan hatten, hatten sie Grund genug, mißtrauisch zu sein. Sie kultivierten den Terror als Herrschaftsstil, weil sie sich keine Ordnung vorstellen konnten, die Gehorsam ohne Androhung und Anwendung von Gewalt erzwang.
Während des Krieges wuchs der Terror über die Grenzen des sowjetischen Imperiums hinaus. Er verwüstete aber nicht nur die von der Roten Armee besetzten Nachbarländer. Auch im Inneren der Sowjetunion feierte die Gewalt ungeahnte Triumphe: Das Regime sperrte aus deutscher Gefangenschaft zurückkehrende Soldaten und Zwangsarbeiter in Konzentrationslager, es nahm den Krieg gegen Bauern und ethnische Minderheiten wieder auf und zerstörte alle Hoffnungen, das Ende des Krieges werde auch das Ende der Gewalt sein. «Wir alle waren wie Kaninchen», erinnerte sich der Drehbuchautor Waleri Frid, «die das Recht der Schlange, uns zu verschlingen, akzeptierten.»[3] Stalins Terror verwandelte Millionen Menschen in seelische Krüppel, weil er sie zwang, sich in einer Ordnung des Mißtrauens und der Furcht einzurichten. Die soziale Ordnung des Stalinismus war eine Ordnung dauerhafter Gewalt. In ihr konnte nur überleben, wer die Regeln und Überlebenstechniken beherrschte, auf denen diese Ordnung beruhte. Erst als der Despot im März 1953 starb, konnten seine Nachfolger das Spiel mit der Gewalt beenden.
Dieses Buch spricht von den gewalttätigen Exzessen des Stalinismus und der Kultur, die sie ermöglichte. Deshalb wird in ihm auch keine Geschichte der Sowjetunion, sondern eine Geschichte des Stalinismus erzählt.[4] Vieles, was in einer Geschichte der Sowjetunion unverzichtbar gewesen wäre, hat in einer Geschichte der Gewalt keinen Platz. Auch über den Kommunismus als Ideologie hat dieses Buch nur wenig mitzuteilen. Denn der stalinistische Terror wurde zwar im Namen kommunistischer Ideen und Vorstellungen begründet und gerechtfertigt, aber nicht motiviert. Für Kommunisten haben sich im 20. Jahrhundert viele Machthaber gehalten, ohne daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, aus solchem Bekenntnis eine Lizenz zum Massenmord abzuleiten. Manche terroristischen Regime haben sich auf den Kommunismus berufen, aber nicht alle kommunistischen Regime waren terroristisch, wie zuletzt Stéphane Courtois im Vorwort zum «Schwarzbuch des Kommunismus» suggerierte.[5] Die stalinistische Ordnung wurde von der Allgegenwart des Terrors beherrscht. Aber wie ist dieser Terror zu verstehen? Woher kam die Gewalt, mit der die Machthaber die Gesellschaften des sowjetischen Vielvölkerimperiums überzogen? Und welche Verheerungen richtete sie an? Darauf möchte dieses Buch eine Antwort geben.[6]
Die Gewalttaten des Stalinismus wurden nicht aus Texten oder Ideen hervorgebracht. Sie entstanden an historischen Orten, die ihre epidemische Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten. Deshalb waren die kommunistischen Regime verschieden. Und dennoch haben alle bisherigen Versuche, die Essenz des Stalinismus zu bestimmen, von den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen abgesehen, unter denen die Gewaltexzesse ihre Form gewannen. Immerhin hatten die Vordenker der Totalitarismustheorie, Hannah Arendt und Carl J. Friedrich, die Beobachtung gemacht, daß sich die faschistischen und kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts von allen anderen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft unterschieden. «Die totalitäre Diktatur ist eine neuartige Entwicklung, noch nie hat es etwas ihr wirklich Entsprechendes in der Vergangenheit gegeben», schrieb Friedrich in seinem unmittelbar nach Stalins Tod erschienenen Buch über die Diktatur neuen Typs.[7] Friedrich war ein Zeitgenosse jener Diktaturen, deren Eigenschaften er zu beschreiben versuchte. Als das Buch über die totalitäre Diktatur erschien, hatte die Entstalinisierung in der Sowjetunion noch nicht begonnen. Friedrich hatte also kein Wissen vom Ende jenes Stalinismus, den er als Diktatur totalitären Typs beschrieb. Deshalb sei, wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb, nicht zu erkennen, «daß sich in der Sowjetunion oder im totalitären System etwas Entscheidendes geändert hat».[8] Wir wissen es natürlich besser, aber wir können dieses Wissen nicht gegen Friedrichs Analyse der totalitären Diktatur verwenden.
Gleichwohl waren totalitäre Diktaturen für Friedrich auch keine «statischen, fest umrissenen Gebilde». Sie seien im Gegenteil einer «ständigen Entwicklung unterworfen», sie entstünden weder zwangsläufig noch müßten sie für immer und ewig bleiben, was sie waren.[9] «Es ist zu vermuten», so Friedrich, «daß, wenn in England oder Frankreich eine kommunistische Diktatur errichtet würde, viele Einrichtungen der liberalen Ära lange Zeit fortdauern würden.»[10] Aber diese Einsicht widersprach allem, was in seinen Texten über die Wirklichkeit der stalinistischen Diktatur gesagt wurde. Sowohl Arendt als auch Friedrich sprachen vom totalen Staat, totaler Kontrolle und Unterwerfung und bestätigten damit vor allem die propagandistischen Selbstinszenierungen faschistischer und kommunistischer Herrschaft.[11]
Gegen die Konzeption von der totalitären Diktatur sind zahlreiche Einwände vorgetragen worden, vor allem, daß sie die Unterschiede zwischen den kommunistischen und faschistischen Diktaturen bis zur Unkenntlichkeit verwische. Solche Vorwürfe aber waren schlecht begründet, denn Friedrich hatte nicht von den Zielen, sondern von den Praktiken der Macht gesprochen.[12] Aber es gab auch überzeugende Kritik an der Totalitarismustheorie: Sie verwechsele die Ansprüche der modernen Diktaturen mit ihren tatsächlichen Praktiken, weil sie sich von den Selbstinszenierungen der Macht täuschen lasse, sie vermittle ein statisches Bild von der Herrschaft und sie habe über die Gesellschaft nur mitzuteilen, daß sie ein passives Opfer des totalen Staates gewesen sei. In der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus kam die Rede vom Ämterchaos auf, vom schwachen Diktator und von den gesellschaftlichen Nischen, die vom nationalsozialistischen Staat nicht unterworfen worden seien. Und auch die Zustimmung, die die Nationalsozialisten erfuhren, schien kein Beleg für die totale Beherrschung der Massen durch das Regime zu sein.[13]
In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die Totalitarismustheorie auch in der Geschichtsschreibung über die Sowjetunion in die Kritik. Die Bolschewiki hätten die Allmacht ihres Staates zwar unablässig behauptet und inszeniert, sie aber nicht ausgeübt, so lautete der Einwand, der gegen die Vorstellung vom totalen Staat vorgetragen wurde. Nirgendwo erreichte der stalinistische Staat eine totale Kontrolle über die Gesellschaften des Imperiums, und auch von der Beseelung der Untertanen durch die bolschewistische Ideologie konnte wenigstens jenseits der größeren Städte keine Rede sein. Nicht einmal im nationalsozialistischen Deutschland, das im Gegensatz zur Sowjetunion immerhin eine moderne Industrienation war, gab es eine totale Kontrolle der Gesellschaft. Man müsse sich deshalb, so haben die Kritiker gefordert, von der Vorstellung des totalen Staates verabschieden.[14] Vielmehr komme es darauf an, die gesellschaftlichen Umstände zu beschreiben, unter denen sich die stalinistische Ordnung entfalten konnte.
Die sogenannten «Revisionisten» wollten, was auch sie Stalinismus nannten, aus der Perspektive der Gesellschaft, «von unten» verstehen. Was war damit gemeint? Man müsse sich dem Geschehen in der Gesellschaft, in Dörfern, Fabriken und Parteizellen zuwenden, um zu begreifen, daß die Kontrollansprüche des Staates an der Wirklichkeit zerbrachen. Was Stalinismus genannt werden könne, sei in Wirklichkeit ein gesellschaftlicher Prozeß gewesen, den die bolschewistische Führung zu keiner Zeit kontrolliert habe. Nicht der Wille Stalins, und auch nicht das Programm der Bolschewiki, sondern der Ehrgeiz von Aufsteigern und Profiteuren, der Neid und die Unzufriedenheit von Denunzianten und der Machtkampf zwischen Interessengruppen, Verbänden und rivalisierenden Parteikomitees hätten das stalinistische System hervorgebracht. Deshalb sei der Stalinismus nicht nur «von unten» gekommen, sondern auch «von unten» gestützt worden. Die Revisionisten entdeckten also eine Sowjetunion, die nicht totalitär war.
Natürlich wird niemand bestreiten, daß das Regime keine Kontrolle über die zahlreichen Gesellschaften des Imperiums und ihre Lebensweisen ausübte, daß es an Kommunisten, Geheimpolizisten und Justizbeamten fehlte, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Auch wird niemand in Abrede stellen, daß sich die Gewalt aus lokalen Zwängen hervorbrachte, daß die regionalen Parteiführer Gewalt in vorauseilendem Gehorsam ins Werk setzten und «dem Führer entgegenarbeiteten».[15] Zahlreichen Menschen ermöglichte Stalins Revolution sozialen Aufstieg, materielles Auskommen und Machtgewinn. Und sie band diese Profiteure an das Regime und seine Ziele. Es gab Mitläufer und überzeugte Kommunisten, die aus eigener Initiative exekutierten, was die politische Führung ihnen nicht einmal abverlangt hatte. Nikita Chruschtschow, Leonid Breschnew, Alexei Kosygin und andere, die in den dreißiger Jahren Karriereleitern erklommen, waren nicht nur Geschöpfe der Mobilisierungsdiktatur. Sie waren auch ihre Stützen.[16]
In diesem Bild verschwimmt der Charakter der stalinistischen Diktatur allerdings bis zur Unkenntlichkeit. Manche Revisionisten bestritten überhaupt, daß es eine zentrale Strategie für die systematische Veränderung und Terrorisierung der Sowjetunion gegeben habe. Ihnen galten Stalin und seine Helfer allenfalls als Getriebene, die nur zu Reaktionen, nicht aber zu entschlossenem Handeln imstande waren. Können wir uns die millionenfache Ermordung von Menschen als einen ungesteuerten Prozeß vorstellen, in dem sich die Untertanen selbst und freiwillig terrorisierten? Kamen die Massentötungen, die Vertreibung von Völkern und das System der Zwangsarbeitslager «von unten»? Soll man wirklich glauben, die Kollektivierung, die Kulturrevolution und die Schrecken des Großen Terrors hätten sich aus Initiativen übereifriger Kommunisten und aus sozialen Konflikten hervorgebracht? Müßte man nicht auch nach den Voraussetzungen und Handlungsspielräumen fragen, die Menschen dazu bringen, anderen Menschen Gewalt anzutun? Auf diese Fragen fand die revisionistische Geschichte des Stalinismus keine befriedigende Antwort. Vor allem aber hatte sie über die Gewalt und ihre Verursacher überhaupt nichts von Belang mitzuteilen. In ihrer Deutung hätte sich auch ohne Stalin und seine Helfer alles so zutragen können, wie es sich zutrug.
Nun sprechen aber die Primitivität von Institutionen und die Abwesenheit des Diktators im lokalen Entscheidungsprozeß überhaupt nicht gegen die Möglichkeit, Terror einer zentralen Kontrolle zu unterwerfen. Denn wie soll man sonst verstehen, daß selbst der Massenterror des Jahres 1937 durch einen einfachen Zuruf Stalins offenbar mühelos beendet werden konnte?[17] Ohne den Willen der politischen Führung, Gewalt als Mittel der Politik ins Spiel zu bringen, wird man die Situation gar nicht erfassen, in der sich Menschen in reißende Wölfe verwandelten. In diesen Kontext gehören auch die ideologischen Rechtfertigungen, die es Tätern wie Opfern ermöglichten, der Gewalt einen Sinn zu geben, sie zu rationalisieren und auf diese Weise den alltäglichen Wahnsinn erträglich zu machen.
Das Regime konnte seinen Anspruch, totale Herrschaft auszuüben und in jeden Winkel des Vielvölkerreiches zu tragen, nicht durchsetzen. Aber die Bolschewiki hielten an der Durchsetzung dieses Anspruchs unbeirrt fest, auch wenn er Tag für Tag widerlegt wurde.[18] In diesem Bestreben, die Welt auf den Kopf zu stellen und Feinde aus ihr zu entfernen, wurden die öffentliche und die private Sphäre neu eingerichtet und nach repressiven Prinzipien geordnet. Die Suche nach Feinden, die Erzwingung von blindem Gehorsam und Konformität, die Mobilisierung von Zustimmung und Ressentiments und die Verbreitung von Furcht und Schrecken: das alles wurde zu einem Teil jener politischen Kultur, die stalinistisch genannt werden kann.
Die meisten Arbeiter und Bauern waren keine Kommunisten, und auch keine neuen Menschen, sie waren nicht einmal loyale Untertanen. Deshalb konnten die Bolschewiki sie mit dem Anbruch der neuen Ordnung auch nicht in Schaltstellen der Macht verwandeln und sie dazu bringen, freiwillig zu verinnerlichen, was dem neuen Menschen abverlangt werden mußte. Kein Bekenntnis zur neuen Ordnung, das öffentlich oder privat, in Tagebüchern und Briefen, abgegeben wurde, entstand unter frei gewählten Umständen, sondern unter den Bedingungen einer systematisch verzerrten Kommunikation. Denn wer öffentlich sprach, wußte, was gesagt werden durfte und mußte; und mancher, der aufschrieb, was er glaubte mitteilen zu müssen, tat es aus Furcht, oder weil er dem Irrsinn einen Sinn geben mußte. Irgendwann gab es also für die meisten Menschen, die in der Sowjetunion lebten, keinen anderen Kommunikationsraum mehr als die bolschewistische Ordnung. Sie mußten in ihr weiterleben, und sie konnten es nur zu den Bedingungen, die ihnen zur Verfügung standen. Denn die neuen Machthaber drängten sich in das Leben aller Untertanen und zwangen sie, sich für oder gegen die Sowjetmacht zu entscheiden, indem sie ihnen die Möglichkeiten des revolutionären Staates vorführten: Propaganda, Feste und Aufmärsche, kulturrevolutionäre Umerziehungskampagnen und die Androhung von Terror und Gewalt. Selbst dort, wo das Verlangen nach totaler Kontrolle nichts weiter als ein unerfüllbarer Anspruch blieb, war es unmöglich geworden, die neuen Machthaber zu ignorieren. Nicht einmal an den Rändern des Imperiums, in abgelegenen Gegenden und Dörfern war in den dreißiger Jahren noch ein Leben denkbar, das ohne Kommunisten auskam. Ohne den Anspruch der Bolschewiki, jeden Winkel des Vielvölkerreiches zu verändern und zu einem Teil ihrer eigenen Welt zu machen, wird das Gewaltgeschehen überhaupt nicht verständlich.
Die Macht der Bolschewiki bestand darin, daß sie die Untertanen in jedem Winkel des Imperiums dazu zwingen konnten, auf ihre Herausforderungen zu antworten. Die sowjetische Ordnung wurde für Millionen Menschen zu einem Teil ihrer Lebenswelt. Manche Historiker haben diesen Dialog so verstanden, als seien die Untertanen, indem sie an sich arbeiteten, zu sowjetischen Subjekten geworden. Sie hätten sich in der neuen Ordnung und ihrem Regelsystem nicht nur zurechtfinden müssen, sie hätten die Prämissen, auf denen diese Ordnung beruhte, vielmehr freiwillig internalisiert. Deshalb müsse man die Bekenntnisse, die Menschen einander zugerufen haben, als Wahrheiten über das Leben verstehen. Aber soll man wirklich glauben, in der sowjetischen Ordnung habe es für die Untertanen eine Wahl gegeben? Warum wurden Menschen gefoltert? Warum wurden in den dreißiger Jahren Millionen Menschen in Furcht und Schrecken versetzt, in Lager gesperrt und von Informationen abgeschnitten, warum am Ende sogar die Kommunisten getötet, wenn doch die Untertanen am «Selbst» arbeiteten und sich als sowjetische Menschen neu entwarfen? Darauf weiß eine Interpretation, die die Diktatur und ihre verkehrte Welt ausblendet, keine Antwort. Man könnte auch sagen, daß die sowjetischen Untertanen keine Schaltstellen, sondern Multiplikatoren der Macht waren, indem sie auf die Zumutungen, mit denen sie konfrontiert wurden, reagierten. Sie hatten keine andere Wahl: Sie mußten die Diktatur und die Lüge als einen Teil ihres Lebens akzeptieren lernen. «Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit», schrieb Hannah Arendt.[19]
«Ich war Kommunist», bekannte Arthur Koestler, der 1932 in die Sowjetunion gereist war, «aber ich fand das Leben in Rußland sehr bedrückend […] Die schmutzigen Straßen, die allgemeine Schäbigkeit und Armut, die grimmige Schulmeisterei in allem, was man zu lesen und zu hören bekam, die allgegenwärtige Atmosphäre einer staatlichen Besserungsanstalt. Dazu das Gefühl, von der Welt abgeschnitten zu sein. Die langweiligen Zeitungen, die nichts Kritisches oder Strittiges enthielten; kein Verbrechen, keine Sensation, keinen Skandal, nichts Menschliches, Allzumenschliches. Die dauernden Ermahnungen, der tierische Ernst, die stereotypische Einförmigkeit von allem und jedem, das allgegenwärtige Bild des Großen Bruders, der einen überall mit seinen Augen verfolgte. Die überwältigende Öde seines industrialisierten Neandertals.»[20] Nur in dieser Atmosphäre war es möglich, daß wenige, entschlossene Gewalttäter die Sowjetunion in ein Tollhaus verwandeln und die sozialen Beziehungen so verändern konnten, daß nichts mehr war wie zuvor.
Ein Land von «Flüsterern» sei die stalinistische Sowjetunion unter Stalin geworden, schreibt Orlando Figes.[21] Aber nicht nur die Untertanen wurden zu anderen. Auch das Regime blieb nicht, was es war. In der Konfrontation mit den Widrigkeiten des Imperiums veränderte es seine Herrschaftspraktiken. Man könnte auch sagen, daß die Gewalt an Intensität gewann, je größer den Bolschewiki der Widerstand erschien, der ihrem Projekt entgegengebracht wurde. Erst als das Leben im «industrialisierten Neandertal» mit totalitären Ansprüchen konfrontiert wurde, entstand jene ausweglose Situation, aus der sich die Bolschewiki mit Gewalt befreien zu können glaubten. Die Maßlosigkeit der Ziele widersprach den Vollzugsdefiziten eines vormodernen Regierungssystems, das den Gehorsam der Funktionsträger nur durch die Androhung von Gewalt erzwingen konnte. Nur unter solchen Umständen konnten die Machtgelüste eines einzelnen tödliche Wirkungen entfalten. Die bolschewistische Herrschaft verwandelte sich in eine Despotie, in der die Willkür des Diktators den Alltag der Funktionäre und ihrer Untergebenen strukturierte. Von dort aus breitete sie sich in alle Lebensbereiche aus. Solch eine Interpretation war immer schon denkbar. Belegt werden konnte sie aber erst, als sich die Archive den Historikern öffneten.
Zu Beginn der neunziger Jahre kam ans Licht, was zuvor verborgen gewesen war: die stenographischen Protokolle der Zentralkomiteesitzungen, der Schriftverkehr zwischen dem zentralen Parteiapparat und den Komitees in den Provinzen, die Korrespondenz und Aktenführung der Staatsbehörden und die Papiere Stalins, Molotows, Kaganowitschs und anderer politischer Führer. Sie ermöglichten uns eine Vorstellung von der Atmosphäre im inneren Kreis der Macht und zeigten eine Sowjetunion, die wir noch nicht kannten.[22] Vor allem aber belegen sie, was bislang im Zweifel gestanden hat: daß nämlich Stalin und seine treuesten Gefolgsleute die Gewaltexzesse der dreißiger Jahre nicht nur angeordnet, sondern systematisch ins Werk gesetzt und die Vasallen in den Provinzen gezwungen hatten, ihren Willen auf möglichst radikale Weise durchzusetzen. Stalin ordnete die Verhaftung und Tötung von Kulaken an, er sanktionierte die Deportation von mehr als zwei Millionen Bauern, die in Lager und Sondersiedlungen in Sibirien verschickt wurden. Nicht einmal der Abtransport der verhafteten Bauern wurde dem Zufall überlassen. Ohne die Anordnungen des Politbüros und den Willen Stalins wären die gewalttätigen Exzesse gegen die Bauern überhaupt nicht möglich gewesen.[23]
So stand es auch um den Massenterror der Jahre 1937 und 1938, der Stalins Handschrift trug und durch seine Anweisungen in Gang gehalten wurde. Im Juli 1937 verschickte der Diktator Telegramme an die Parteiführer in den Provinzen, in denen er genaue Anweisungen gab, wer zu erschießen und wer zu deportieren sei. Stalin unterschrieb Todeslisten, die ihm der Chef des NKWD, Nikolai Jeschow, in den Jahren 1937 und 1938 vorlegte. Allein 40.000 Menschen wurden auf diese Weise, im «Albumverfahren», getötet.[24] Nirgendwo wagten es die subalternen Beamten, Todesurteile ohne Zustimmung des Diktators zu vollstrecken. Sie mußten ihn um Erlaubnis fragen, wenn sie die Zahl der Opfer erhöhen wollten. Gewöhnlich stimmte Stalin solchen Bitten, die er als Loyalitätsbeweise verstand, auch zu. Selbst in den Lagern von Dalstroi in Magadan warteten die Tschekisten auf eine Erlaubnis des Kreml, bevor sie damit begannen, Häftlinge zu ermorden.[25]
Die stenographischen Protokolle des Zentralkomitees geben uns schließlich auch Auskunft über den Umgangs- und Sprachstil der führenden Bolschewiki. In ihnen präsentieren sich die Parteiführer als mitleidlose Vollstrecker, die keine Skrupel hatten, auszusprechen, was mit ihren Opfern geschehen sollte, und die sich zu ihren Taten bekannten. Sie sprachen im inneren Kreis der Macht über die Vernichtung von Feinden nicht anders als in der Öffentlichkeit, mit dem Unterschied freilich, daß die Legitimation des Mordprogramms, wie sie in der Öffentlichkeit vorgetragen werden mußte, am Hof des Despoten ohne Bedeutung war. Für Stalin und seine Freunde war der Einsatz von Gewalt eine selbstverständliche Handlungsoption. Deshalb sprachen sie auch nicht über Gründe und Zwecke.[26]
In den Jahren der sowjetischen Diktatur blieben die Unterdrückten, die Ausgeschlossenen, Stigmatisierten und Gefolterten stumm, weil das Regime alle Versuche unterband, über die Schrecken des stalinistischen Terrors öffentlich zu sprechen. Die Historiker mußten sich deshalb mit den Selbstinszenierungen des Regimes oder den Erinnerungen von Emigranten und Dissidenten zufriedengeben. In den Akten der Geheimpolizei und der Justizbehörden kamen nun aber auch die Opfer zu Wort, über die in der gleichgeschalteten Presse nichts zu lesen gewesen war. Man erfuhr nun, daß die Kollektivierung einem Bürgerkrieg mehr ähnelte als einer Unterwerfung, daß die Bauern Widerstand geleistet hatten und daß das Leben in der stalinistischen Sowjetunion für die meisten Menschen vor allem eine dauerhafte Armutserfahrung war.[27] Kurz: Es gab in der Sowjetunion zwar keinen starken Staat und keine totale Kontrolle. Aber es gab in ihr auch keinen «Stalinismus von unten». Wir müssen uns im Gegenteil einen schwachen Staat vorstellen, dessen Repräsentanten Gefallen an der Inszenierung des permanenten Chaos und der Gewalt fanden, weil sie nur so ihren Herrschaftsanspruch ständig in Erinnerung halten konnten.
Der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman hat die Vernichtungsgewalt der totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert als Phänomen der Moderne beschrieben. Der Sozialismus stalinistischer Prägung habe sich für die eigentliche Vollendung der Moderne gehalten. Sein Ziel sei es gewesen, die Unordnung zu überwinden, die das Kennzeichen unübersichtlicher, differenzierter Gesellschaften gewesen sei, und Unordnung in Eindeutigkeit zu verwandeln. Nichts sollte mehr dem Zufall überlassen bleiben, alles Handeln einem großen Plan zur Umbildung des Menschen untergeordnet werden. In diesem Sinn entsprachen die Bolschewiki dem Bild des Gärtners, der Unkraut jätet, wilde Landschaften in symmetrisch angelegte Parks verwandelt und entfernt, was nicht in den Garten gehört. Der sozialistische Menschenpark sollte aus modernen Europäern bestehen, neuen Menschen, die sich von den alten geistigen und kulturellen Ordnungen befreit hatten, die die Feste der neuen Machthaber feierten, ihre Kleider trugen und ihre Sprache sprachen. Das Himmelreich auf Erden kannte nur noch einen Menschen mit einer Sprache. Um ihn zu erschaffen, mußte das «rückständige» Vielvölkerreich in eine sozial und kulturell homogene Zone verwandelt werden. Die russischen Kommunisten, so müßte man mit Zygmunt Bauman sagen, waren gelehrige Schüler des Zeitalters der Vernunft. Was die Natur versäumt hatte, das sollte von Menschenhand vollbracht werden, alles schien möglich. Und damit war auch die Vorstellung in der Welt, daß der «Abfall» beseitigt werden mußte, der entstand, wenn Parks angelegt wurden.[28]
Mit Unterschieden kann leben, wer die Weltanschauung der anderen für eine ebenso ordentliche Welt hält wie die eigene, auch wenn sie sich vom eigenen Lebensentwurf unterscheidet. Wo die Möglichkeit, der andere könne auch recht haben, bestritten wird, sind alle Wege für einen Ausgleich verstellt. Für die bolschewistischen Machthaber gab es nur eine Interpretation der Welt, und diese vertraten sie selbst. Wer verstehen wolle, worin die Essenz des Bolschewismus bestand, schrieb Arthur Koestler, müsse sich vergegenwärtigen, daß die Partei und ihre Führer nicht eine schon bestehende Wahrheit aussprachen, sondern daß die Wahrheit von ihnen selbst ausging. Wer widersprach, war in jedem Fall ein Verräter.[29] Denn gegen eine Utopie kann die Erfahrung niemals recht behalten. Utopien frieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein, weil sie nur die mythische Zeit kennen. Sie erlauben nur solche Veränderungen, die ihre Interpreten zulassen. Deshalb ist das Leben in der Utopie eine dauernde Negation der Alltagserfahrung. Darin liegt die Ursache für die Kriminalisierung abweichenden Denkens und die Stigmatisierung all dessen, was dem neuen Ordnungsentwurf widersprach. Solch einen Willen zur Veränderung hatte es auch schon im späten Zarenreich gegeben. Aber im Gegensatz zu den Beamten in der zarischen Bürokratie wollten die Bolschewiki die Gesellschaften des Imperiums nicht nur verändern, ordnen und beherrschen. Sie ordneten ihr Projekt in ein Heilsgeschehen ein, in eine Teleologie der Erlösung. Der Sozialismus war demnach nicht einfach eine Ordnung, in der Untertanen gehorchten. Er war ein Gesellschaftsentwurf, der ohne Feinde auskommen wollte und sie dennoch permanent erzeugte. In diesem Bild gab es keinen Platz für Widerspruch und Widerstand. Wo er auftrat, mußte er im Auftrag des bolschewistischen Ordnungsprojekts vernichtet werden. Und weil die Bolschewiki davon überzeugt waren, daß ihre Feinde Repräsentanten feindlicher sozialer und ethnischer Kollektive waren, konnte die Gewalt alle Menschen treffen, die im Verdacht standen, einem solchen feindlichen Kollektiv anzugehören. Es war die Prädisposition der Bolschewiki für den rücksichtslosen Einsatz von Gewalt, die dem Streben nach Eindeutigkeit eine besondere Radikalität verlieh. Hätte es die Vorstellung, im Lauf der Geschichte müßten Schlachten geschlagen und Feinde niedergeworfen werden, nicht gegeben – die Bolschewiki hätten sie erfinden müssen, so sehr entsprach sie ihrer Mentalität des Kampfes.
Der bolschewistische Anspruch, die Gesellschaften des Imperiums zu durchdringen und zu verändern, blieb unvermittelt. Er konnte sich nur ausnahmsweise wirklich durchsetzen, weil sich dem Gesellschaftsentwurf der Machthaber Widerstand entgegenwarf, weil konkurrierende Interpreten der Wirklichkeit den Bolschewiki den Zugang zu den Köpfen der Untertanen versperrten und weil die Kommunisten sich an manchen Orten nur im Medium der Gewalt Gehör verschaffen konnten. Die hegemoniale Kultur fand nur mühsam einen Weg in das Bewußtsein der Untertanen. An vielen Orten blieben die Machthaber stumm, auch wenn sie in der öffentlichen, medialen Inszenierung des Politischen den Eindruck erweckten, als sprächen sie und das Volk in einer Sprache. Vom Volk trennte sie eine unsichtbare, aber hohe Mauer. Sie ließ sich im Verständnis der Machthaber nur überwinden, wenn man die bedrohlichen «dunklen Massen», Bauern und Arbeiter, einer brutalen Disziplinierungs- und Erziehungsdiktatur unterwarf. Deshalb war der stalinistische Terror vor allem eine Antwort auf das Unvermögen der Machthaber, ihren totalen Anspruch durchzusetzen. So kam es, daß am Ende auch die Funktionäre in den Provinzen in den Sog der Gewalt gerieten, weil sie bei der Durchsetzung der bolschewistischen Staatlichkeit und der Beseitigung von Feinden versagt hatten. Offenbar war der Stalinismus nur dort eine Möglichkeit, wo die triste Realität den übersteigerten Erwartungen nicht gerecht wurde.
Aber ist mit diesem Hinweis auch schon das Ausmaß der Gewalt hinreichend erklärt? Denn was Bauman als Projekt der Moderne beschreibt, trifft auf die Machtpraktiken in der stalinistischen Sowjetunion überhaupt nicht zu. Die Gesellschaften des Vielvölkerimperiums waren ebensowenig modern wie die Techniken, die das Regime zur Erreichung seiner Ziele einsetzte. Modern waren allenfalls seine Vorstellungen von übersichtlichen Ordnungen. Selbst wenn zuträfe, was Bauman behauptet, daß nämlich die Vernichtungsexzesse der modernen Diktaturen kein Ausdruck der Barbarei, sondern «legitime Kinder des modernen Geistes» gewesen seien, müßte doch die Frage beantwortet werden, wie aus Ideen Mordtaten wurden.[30] Von eindeutigen Ordnungen hatten auch andere Regierungen in anderen Ländern geträumt, ohne daß sie ihre Träume mit der Tötung von Millionen Menschen verbunden hätten. Und wie soll man verstehen, daß nicht nur der «menschliche Abfall» beseitigt, sondern auch Kommunisten, Militäroffiziere, Staatsbeamte und Mitglieder des Politbüros getötet wurden? Offenbar konnte jeder ein Opfer des stalinistischen Terrors werden, und es war dabei am Ende ganz unerheblich, woher die Opfer kamen, was ihnen vorgeworfen wurde und welcher gesellschaftlichen Statusgruppe sie angehörten. «Ambivalenz ist, glaube ich, das Hauptmerkmal meiner Nation», schrieb der Dichter Joseph Brodsky in seinen Erinnerungen an Petersburg. «Es gibt keinen russischen Henker, der sich nicht davor fürchtet, eines Tages Opfer zu werden, und kein Opfer, auch nicht das bemitleidenswerteste, das sich nicht (wenn auch nur insgeheim) die geistige Fähigkeit eingestehen würde, Henker zu werden.»[31]
Zwischen der Moderne und jener monströsen Gewalt, die von Nationalsozialisten und Kommunisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfacht wurde, besteht kein kausaler Zusammenhang. Die Moderne ist nicht Urheber des totalitären Vernichtungsterrors. In der modernen Welt geht es auch geregelt zu: In ihr gelten rechtsstaatliche Ordnungen, es herrschen Regeln, die von Behörden garantiert und durch partizipatorische Verfahren vermittelt und ins Werk gesetzt werden. Der einzelne konditioniert sich für das Leben in der Gesellschaft, er richtet sich ab, ohne daß ihn staatliche Institutionen dazu zwingen müßten, und darin wissen er und andere, was erlaubt und was untersagt ist. Die Herrschaft der Kategorien, der Regeln und der Disziplin ist weder für den Staat noch für den Bürger eine Ermächtigung, anderen nach Belieben ihren Willen aufzuzwingen. Die Techniken der Selbstabrichtung sind Vorrichtungen, die den Machbarkeitswahn in Grenzen halten. Jeder Bürger, der in der modernen Welt lebt, weiß, daß er nicht nur ein Sklave, sondern auch ein Meister jener eindeutigen Ordnungen ist, denen er sich unterwerfen muß. Er kann den anderen daran hindern, sich über die gemeinsam verabredeten Regeln hinwegzusetzen; und in der täglich eingeübten Selbstbeschränkung untersagt er sich selbst, anderen seinen Veränderungswillen aufzuzwingen und sie dabei, wenn es ihm gefällt, um ihr Leben zu bringen. Vor allem aber kann der moderne Mensch sich in Räume zurückziehen, die nicht überwacht werden. Er kann im Privaten bei sich sein, er kann in andere Rollen schlüpfen, und er kann sich dem Druck der öffentlichen Disziplinierung entziehen. Darin besteht die eigentliche Errungenschaft des modernen Staates: daß er die Kommunikation zwischen Menschen verdichtet, daß er Partizipation ermöglicht, Regeln schafft, die jeder anzuerkennen bereit ist, daß er die Bürger einer Disziplinierung unterwirft, die sie als Ausdruck ihres eigenen Willens empfinden, und daß er es Menschen erlaubt, sich dem Druck der Gemeinschaft zu entziehen. Das alles ist in vormodernen Lebenswelten nicht denkbar und durchsetzbar, und deshalb hat der totalitäre Staat leichtes Spiel, die autoritären Vorstellungen vormoderner Gesellschaften für seine zerstörerischen Zwecke zu mobilisieren.[32]
Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß die grausamsten Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts nicht in den bürgerlichen Gesellschaften, sondern in den vormodernen, staatsfernen Räumen ihre größten Triumphe feierten, dort, wo sich der Hybris des modernen Interventionsstaates nichts entgegenstellte. Denn es ist doch offenkundig, daß sich die schlimmsten Exzesse dort ereigneten, wo sich von der modernen Staatlichkeit nur wenig zeigte und der Krieg das Leben strukturierte. Der modernen Hybris blieb der Erfolg immer dann versagt, wenn sie sich gegen bürgerliche Sicherungssysteme durchsetzen mußte. Seine tödlichen Wirkungen entfaltete das moderne Streben nach Eindeutigkeit vor allem dort, wo dem Machbarkeitswahn und dem Vernichtungswillen fanatisierter Ideologen keine Grenzen gesetzt wurden: in den staatsfernen, vormodernen Gewalträumen. Sie waren der eigentliche Ort des modernen Massenterrors. «Man kann kaum glauben», vertraute die Moskauer Schülerin Nina Lugowskaja Ende Dezember 1934 ihrem Tagebuch an, «daß es im zwanzigsten Jahrhundert einen Winkel in Europa gibt, wo sich mittelalterliche Barbaren eingenistet haben und so wilde, archaische Vorstellungen so merkwürdig mit Wissenschaft, Kunst und Kultur einhergehen.» Davon hat die Eindeutigkeitssoziologie Baumans, in der sich die Vormoderne als friedfertige Idylle präsentiert, keinen Begriff.[33]
Der stalinistische Terror war nicht ohne Anlaß, aber er gewann seine monströse Dynamik unter Umständen, die nicht modern waren. Es gab in der Sowjetunion keine Bürokratie, keine bürgerliche Gesellschaft, keinen Rechtsstaat und keine Institutionen, gegen die sich die Gewaltorgie der bolschewistischen Machthaber hätte durchsetzen müssen. Seit 1914 war das Imperium nicht mehr zur Ruhe gekommen. Der Erste Weltkrieg, der Bürgerkrieg und die gewaltsame Unterwerfung der staatsfreien Räume durch die Bolschewiki hatten das Vielvölkerreich in den permanenten Ausnahmezustand versetzt. Die Sowjetunion war ein Land im Krieg. Unter diesen Umständen konnte niemand die Bolschewiki daran hindern, zu tun, wonach ihnen der Sinn stand. Es war das Kennzeichen der stalinistischen Gewaltherrschaft, daß sie die neue Welt mit den Möglichkeiten der alten Welt hervorbringen wollte und dabei jedes Maß verlor.
Die Sowjetunion der dreißiger Jahre wurde nicht von Bürokratien und ihren Regelwerken beherrscht, sondern von Patronen und Klienten regiert. Über allen erhob sich der Diktator, der seine Herrschaft auf die Loyalität seiner Vasallen in den Provinzen stützte. Hier sollte in Erinnerung gerufen werden, daß die Untertanen des Vielvölkerreiches keine gemeinsame Sprache besaßen und die kommunikativen Möglichkeiten begrenzt waren. Diese Hindernisse versuchte das Regime über die Personifizierung seiner totalen Ansprüche zu überwinden, indem es die Exekution des Ordnungsprojekts in die Hände zuverlässiger Personen legte.[34] Stalin vertraute nur solchen Personen, die er kannte, die in seiner Nähe gearbeitet hatten oder zum Umfeld seiner treuesten Freunde gehörten. Damit die Vasallen ausführten, was von ihnen verlangt wurde, spielte der Diktator sie gegeneinander aus, ließ sie kontrollieren und überwachen oder sprach einen Verdacht gegen sie aus, gegen den sie sich nur behaupten konnten, wenn sie dem Despoten Opfer brachten und ihm ihre Loyalität bewiesen. In diesem Milieu kam es darauf an, daß die führenden Bolschewiki einander die Treue hielten, daß Verrat bestraft und Wohlverhalten belohnt wurden. Erst in der Atmosphäre des Mißtrauens, des Verdachts und der Furcht konnten Gerüchte verbreitet, Verschwörungen «aufgedeckt» und Gewalttaten verübt werden. Wer in dieser Gesellschaft überleben wollte, mußte sich dem Diktator bedingungslos unterwerfen und ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen.
Stalins Herrschaft orientierte sich am Modell der Mafia. Dieses Modell beruhte auf der permanenten Erzeugung psychischen Drucks. Aber es beruhte auch auf der mentalen Zurichtung der Gefolgsleute, die ebenso wie der Diktator mit der Gewalt aufgewachsen waren und sie für eine alltägliche Ressource politischen Handelns hielten. Fast alle bolschewistischen Täter hatten im vorrevolutionären Untergrund oder während des Bürgerkrieges Gewalt erlitten und selbst verübt, bevor sie in den inneren Kreis der Macht aufstiegen.[35] Ihr unmittelbares, körperliches Verhältnis zur Gewalt bereitete sie darauf vor, Widersacher und Feinde skrupellos zu töten. Es half ihnen aber auch, die Regeln zu internalisieren, die an Stalins Hof galten, und den psychischen Druck auszuhalten, den der Diktator in seiner Umgebung ausübte. Wjatscheslaw Molotow und Lasar Kaganowitsch, die zu den treuesten und brutalsten Gefolgsleuten des Diktators gehört hatten, mochten sich auch im Rückblick von den Verbrechen, die sie begangen hatten, nicht distanzieren. Sie bekannten sich vielmehr zu ihnen. Nur einmal fürchtete Kaganowitsch, er werde für die Taten, die er begangen hatte, mit dem Leben bezahlen müssen. Als er im Machtkampf des Jahres 1957 unterlag, bat er Nikita Chruschtschow, ihn nicht foltern und töten zu lassen, so wie es ihm zweifellos widerfahren wäre, wenn er sich Stalin widersetzt hätte. Aber der «eiserne Lasar» erhielt eine milde Strafe. Nachdem Chruschtschow ihn 1957 aus dem Politbüro entfernt hatte, wurde er als Direktor einer Asbestfabrik in den Ural abgeschoben. Schon bald holte ihn auch dort die Vergangenheit ein, als ihn ein Mitarbeiter der Fabrik mit den Verbrechen, die er unter Stalin begangen hatte, konfrontierte: Er sei ein Mörder und Krimineller, der sich mit dem Blut der Opfer befleckt habe. «Kein einziger Zentimeter Ihrer Haut ist rein. Alles ist voller Blut.» Der «eiserne Lasar» hatte kein schlechtes Gewissen. Er sah sich im Recht und antwortete: «Es mußte so sein.» («Tak nado bylo.»)[36]
Wahrscheinlich konnten sich die stalinistischen Funktionäre eine Welt ohne Gewalt überhaupt nicht vorstellen. In den Milieus, in denen die Phantasien der Bolschewiki Wirklichkeit werden sollten, potenzierten sich die Gewalttaten zu Gewaltorgien apokalyptischen Ausmaßes. Mit dem bloßen Hinweis auf die ideologische Zurichtung der Machthaber und die Anwendung utopischer Sozialtechniken ist für das Verständnis des Stalinismus also noch nichts gewonnen.
Stalin gab dem Stalinismus nicht nur seinen Namen. Ohne ihn hätte es auch keinen Stalinismus gegeben, so wenig wie das System des Nationalsozialismus ohne Hitler denkbar gewesen wäre. Das bolschewistische Ordnungsprojekt führte nicht zuletzt deshalb in den Massenterror, weil der Diktator ein Gewalttäter aus Leidenschaft war. «Und wir sollten auch nicht das Naheliegende übersehen», schrieb der englische Schriftsteller Martin Amis, «daß Stalin es getan hat, weil es ihm gefallen hat. Er konnte nicht anders.»[37] Ohne Stalins kriminelle Energie, seine Bösartigkeit und seine archaischen Vorstellungen von Freundschaft, Treue und Verrat wären die Mordexzesse der dreißiger Jahre kaum möglich gewesen. Der Exzeß war die Lebensform des Diktators. Jede Tötungsaktion wurde in dem Wissen vollbracht, daß der Despot im Kreml Gefallen an ihr fand. Es besteht, mehr als 15 Jahre nach Öffnung der zentralen Archive in Moskau, kein Zweifel mehr an der Urheberschaft des Terrors. Stalin setzte seine Unterschrift unter die Terrorbefehle, mit denen das Regime Millionen Menschen ins Verderben schickte, aber er erwartete auch, daß die Täter ihn um Erlaubnis baten, bevor sie Menschen umbrachten, deren Tod er nicht ausdrücklich befohlen hatte. Er trieb seine Gefolgsleute und Schergen zu Höchstleistungen bei der Verfolgung vermeintlicher Feinde an, er schonte nicht einmal Freunde und Verwandte. Der Schlüssel zur Erklärung der exzessiven Gewalt ist also der Diktator selbst. Terror sei die einfachste und effizienteste Methode gewesen, um die Gesellschaft zu disziplinieren und in Angst und Schrecken zu halten, urteilte Oleg Chlewnjuk in seinem Buch über Stalin und seinen inneren Kreis.[38] Und deshalb konnte der Diktator seine Gewalttaten im Hinweis auf Nützliches rechtfertigen. Es lag in der Logik des stalinistischen Terrors, daß er alle Grenzen überschritt, weil der Despot im Kreml nicht aufhören konnte, ein Gewalttäter zu sein. Erst mit dem Tod des Diktators kam die Terrormaschine zum Stillstand. Deshalb war der Tod des Despoten auch das Ende des Stalinismus.
Wer im Frieden lebt, möchte daran glauben, daß die Gewalt, die andere zu erleiden haben, eine vorübergehende Störung ist. Man behilft sich mit Hinweisen auf edle Motive, auf Notwendiges und Unabänderliches, um die Irritation zu überwinden, die das Foltern und Töten auslöst. Und auch die Opfer versuchen, der erlittenen Gewalt einen Sinn zu verleihen, der sie nicht um den Verstand bringt. Wer Verletzung, Haft und Schmerz erlitten, den gewaltsamen Tod von Freunden und Verwandten erlebt hat, wird den Gedanken, das alles sei zufällig geschehen, nicht ertragen können. Die Gewalt soll auf Gründen beruhen, die man verstehen kann.[39] So verfahren auch die Täter, die vor sich und ihrer Umgebung rationalisieren müssen, was sie anderen angetan haben. Täter versuchen, sich zu rechtfertigen, damit Opfer und Beobachter verstehen, warum sie nicht anders handeln konnten. Sie verweisen, wenn man sie zur Verantwortung zieht und zur Rechtfertigung zwingt, auf den Befehlsnotstand oder die tödlichen Konsequenzen, die eingetreten wären, wenn sie sich Befehlen widersetzt hätten. So haben nach dem Tod Stalins auch Nikita Chruschtschow und Anastas Mikojan über ihre Beteiligung an den Gewaltexzessen der dreißiger Jahre gesprochen. Andere haben, weil sie sich für ihre Verbrechen niemals verantworten mußten, auf edle Motive, auf die Überwindung von Rückständigkeit oder die Abwehr von Gefahren hingewiesen, um den Terror mit Sinn auszustatten. Noch Jahrzehnte nach dem Tod Stalins rechtfertigte Molotow die Gewalt, indem er den Sieg im Zweiten Weltkrieg mit dem Terror der dreißiger Jahre in Verbindung brachte. Der Massenterror sei notwendig gewesen, denn er habe die Sowjetunion vor inneren Feinden und äußeren Gefahren geschützt. Das Schreckliche rechtfertigte sich im Verweis auf das Notwendige.[40]
Aber waren die Rechtfertigungen des Jahres 1975 auch die Motive des Jahres 1937? Es fällt schwer, das zu glauben. Denn wozu ließen Stalin und seine Helfer Kinder und Greise töten? Warum zerstörten sie die Kommunistische Partei? Warum mußten die Henker des NKWD sterben, nachdem sie ihre blutige Arbeit verrichtet hatten, und warum wurden am Ende auch Mitglieder des Politbüros erschossen, die nicht einmal im Verdacht standen, sich gegen den Diktator verschworen zu haben? Selbst wenn Stalin und seine Helfer überzeugt gewesen wären, von inneren und äußeren Feinden umgeben zu sein, – warum leiteten sie daraus eine Berechtigung ab, Millionen von Menschen verhaften, deportieren oder töten zu lassen? Die Antwort lautet: weil die öffentlich vorgetragenen Rechtfertigungen des Diktators von seinen eigentlichen Motiven ablenken sollten. Menschen können aus unterschiedlichen Gründen das gleiche tun. Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Tat und Motiv.
«Indessen haben wir erlebt», schrieb Imre Kertész, «daß Reiche von Ideologien beherrscht wurden, die sich in praxi als bloße Wortspiele entpuppten, wobei gerade ihr Wortspielcharakter sie tauglich, das heißt zum wirksamen Instrument des Terrors gemacht hat. Wir haben erlebt, daß Mörder und Opfer sich gleichermaßen über die Leere, über die Bedeutungslosigkeit solcher ideologischer Befehle im klaren waren: und gerade dieses Bewußtsein verlieh den im Namen solcher Ideologien verübten Greueltaten jene besondere, unvergleichliche Schändlichkeit und pervertierte die von solchen Ideologien beherrschten Gesellschaften bis hinab an die Wurzeln. Mörderische Salven, mehr noch die bloße Faust, ‹der mörderische Stockhieb› mit dem gleichzeitigen Gebrüll eines wahrhaft mörderischen Unsinns haben sich als das genüßlichste Machtgefühl erwiesen, das vernunftschädigende Morden hat ein orgiastisches Glücksgefühl erzeugt, das dem Menschen und seiner Zukunft wahrhaft apokalyptische Perspektiven eröffnet.»[41] Von ihm spricht dieses Buch.
Der Versuch der Bolschewiki, die Sowjetunion nach ihren Vorstellungen zuzurichten, setzte das Bemühen des zarischen Staates fort, die Bevölkerung des Imperiums zu registrieren, zu homogenisieren und zu unterwerfen. Seit Peter I. (1682–1725) Rußland dem Westen geöffnet hatte, stand die politische Herrschaft des Zarenreiches im Dienst einer ehrgeizigen Modernisierung. Nichts sollte bleiben wie es war. Auf ihre Weise fühlten sich auch die Bolschewiki diesem Erbe verpflichtet. Schon immer hatten die Eliten von der Europäisierung und Zivilisierung ihres Landes geträumt, wenngleich sie zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches darunter verstanden. Stets bemaßen sie den Fortschritt nicht an den Möglichkeiten ihres heterogenen Landes, sondern daran, wie sehr es ihrem Bild von Europa ähnelte. Das russische Leben aber fügte sich in die Begriffe nicht ein, die sich die Herrschenden von ihm machten. Peter I. habe seine Untertanen in Engländer und Deutsche verwandeln wollen, anstatt Russen aus ihnen zu machen, schrieb der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau im «Contrat social». «Er hat seine Untertanen daran gehindert, jemals das zu werden, was sie hätten werden können, indem er ihnen einredete, sie seien, was sie nicht sind.»[1]
Rußlands Verwestlichung, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begann und in den Großen Reformen Alexanders II. (1855–1881) ihren Höhepunkt erreichte, war ein Werk des absolutistischen Staates. Was ihm an Voraussetzungen fehlte, versuchte er auf dem Verordnungsweg selbst herzustellen. Es gab in den ländlichen Regionen des Imperiums außer den Gutsbesitzern keine Vermittler, die das Anliegen der Autokratie hätten vertreten können. Der zarische Staat beanspruchte absolute Macht über jedermann, aber er konnte seine Ansprüche selten durchsetzen. Aus diesem Dilemma gab es nur einen Ausweg: Die Bevölkerung mußte Aufgaben, die der Staat nicht erfüllen konnte, selbst wahrnehmen. Unter der Zarin Katharina II. (1762–1796) wurde das Imperium in Gouvernements eingeteilt, seine Bevölkerung registriert, hierarchisiert und in ständischen Korporationen organisiert. Nunmehr sollten Kaufleute und Adlige ausführen, wozu die staatlichen Behörden nicht imstande waren. Rußlands Absolutismus lebte also von Voraussetzungen, die er nicht garantieren konnte. Als Kreaturen des absolutistischen Staates entwickelten Adelskorporationen, Kaufmannsgilden und Handwerkerzünfte kein Eigenleben, und nur selten fielen ihre Interessen mit jenen des Staates zusammen.[2] Es fehlte ihnen an regionaler Verwurzelung, an Traditionen und Bindekräften, die Autonomie und Machtansprüche hätten begründen können. Macht und Ansehen erwarb nur, wer sich im Glanz des Autokraten sonnen konnte. Das war auch das Selbstverständnis der meisten Adligen. Ehrgeizige und Gebildete zog es an den Zarenhof, in die Nähe des inneren Machtzirkels, weil sie dort in den Genuß von Privilegien kamen, die ihnen das öde Provinzleben vorenthielt. In der Abgeschiedenheit aber, jenseits der Hauptstadt, entstand wenig, woran die zarische Staatsgewalt hätte Gefallen finden können. Die ständischen Wahlbeamten waren ungebildet und korrupt. Für die anspruchsvollen Aufgaben in Justiz und Verwaltung, mit denen die Zentrale sie beauftragte, waren sie nicht zu gebrauchen.[3] Rußlands Herrscher wollten viel erreichen, aber sie hatten keine Instrumente, um Wünschbares in Machbares zu verwandeln. Jetzt erst machten sie die Entdeckung, daß Rußland rückständig war.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war die Autokratie eine europäische Macht, ihr Daseinsgrund die Überwindung von Rückständigkeit. Deshalb standen Rußlands Aufklärer vor großen Aufgaben, weil sie den Graben, der zwischen ihren Ansprüchen und ihren Möglichkeiten lag, überwinden mußten. Sie wurden zu Modernisierern und Erziehern, die den Allmachtsanspruch des Autokraten zur Verwirklichung ihrer Ziele instrumentalisierten. Aufgeklärte Bürokraten – so hat man jene Männer europäischer Bildung, die in den Ministerien Nikolaus’ I. (1825–1855) und Alexanders II. wirkten, später genannt. Sie einte das Band einer gemeinsam erworbenen Fachausbildung, eine geradezu fanatische Hingabe an den Dienst und die Überzeugung, Europas Gegenwart werde die Zukunft Rußlands sein. Nicht wirtschaftlicher Zwang oder sozialer Protest, sondern die Sehnsucht der Eliten nach europäischen Verhältnissen erzeugten jene Atmosphäre, in der die Großen Reformen Alexanders II. möglich wurden.[4] Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Trennung von Verwaltung und Justiz, schließlich auch die Einführung der Wehrpflichtarmee und der kommunalen Selbstverwaltung in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts schöpften weder aus den Bedürfnissen noch aus den Traditionen der Untertanen. Sie waren das Produkt eines Gedankenexperiments, dem die Wünsche der Bevölkerung wenig bedeuteten. Das konnte angesichts der Sprach- und Machtlosigkeit der Gesellschaft von Besitzenden und Gebildeten (obschtschestwo) auch nicht anders sein. Das symbolische Kapital konzentrierte sich im Umkreis des Zaren, dort, wo Bildung, Kommunikations- und Organisationsfähigkeit Machtwirkungen entfalten konnten. Niemand hätte die aufgeklärten Beamten an der Ausführung ihres ehrgeizigen Vorhabens, Staat und Gesellschaft zu verändern, hindern können. Sie mußten nichts weiter tun, als den Selbstherrscher für ihre Ziele zu gewinnen.
Rußlands Herrscher waren Eroberer, die sich die Unterwerfung des fremden Imperiums zur Lebensaufgabe gemacht hatten. Symbolisch brachte sich diese Präferenz in der öffentlichen Präsentation der Monarchie zum Ausdruck. Die Szenarien der Macht zeigten das Herrscherhaus nicht als «russische», sondern als «europäische» Dynastie. Nicht einmal in den nationalen Inszenierungen Alexanders III. (1881–1894) und Nikolaus’ II. (1894–1917) spiegelten sich die Bedürfnisse des Volkes, sondern der Geist des europäischen National- und Anstaltsstaates.[5] Das Selbstverständnis der Monarchie und die Modernisierungsstrategien ihrer aufgeklärten Beamten ergänzten einander vortrefflich.
Was in manchen Ländern Europas gelingen mochte, stieß in Rußland an Grenzen. Das autokratische Konzept der «mission civilisatrice», verstanden als Homogenisierung und Zivilisierung unterschiedlicher Lebenswelten, ließ sich mit der Heterogenität des Imperiums nicht in Einklang bringen, weil es voraussetzte, was noch zu gewinnen war. Rußlands Modernisierung war für die meisten Untertanen eine Veranstaltung des Zwanges, weil es nur selten gute Gründe dafür gab, sich den Angeboten der Eliten freiwillig zu unterwerfen. Warum sollten Bauern die Uniform des autokratischen Staates tragen, Steuern zahlen und Gesetze befolgen, wenn sich für sie daraus keine Verbesserung ihrer Lebensumstände ergab? Der Fremdzwang verwandelte sich nur selten in Selbstzwang, Bauern und Arbeiter wurden weder zu Russen noch zu Bürgern, weil sie nicht Teil der Gesellschaft werden konnten, deren Konventionen und Regeln sie befolgen sollten. An den Rändern des Imperiums, bei den Nomaden Zentralasiens und den Bewohnern des Kaukasus, hatte die zarische Modernisierung jene Trennung zwischen den Kulturen, die sie überwinden sollte, überhaupt erst sichtbar und fühlbar gemacht. Denn sie bestand auf der Einheit des Imperiums und produzierte doch nur Differenz und Zerrissenheit. Von den Erfolgen moderner Disziplinierungstechniken war in Rußland wenig zu spüren, und die Eliten wußten, das es so war.[6]
Der interne Kolonialismus des zarischen Staates erzeugte kulturelle Differenz, weil er die Bauern zu Fremden machte, um sie in Russen und Europäer zu verwandeln. Deshalb gelang es ihm auch nicht, die Untertanen erfolgreich zu bekehren. Denn auf eine Veränderung der Lebensumstände wird man sich gewöhnlich nur einlassen, wenn sie nicht mit einer kulturellen Selbstaufgabe verbunden ist, wenn man die Seinen nicht verraten muß, um ein anderer werden zu können. «Wenn ich das Gefühl habe», schrieb der arabische Essayist Amin Maalouf, «daß meine Sprache verachtet, meine Religion verspottet, meine Kultur herabgewürdigt wird, dann reagiere ich damit, daß ich die Attribute meiner Andersheit demonstrativ zur Schau trage.»[7] Das aber war das Kennzeichen der zarischen Modernisierung: daß sie als interner Kolonialismus auftrat, der von den Unterschichten viel verlangte, ihnen aber wenig zu geben hatte. Und weil die staatsbildenden Reformen die Lebensumstände der meisten Untertanen nicht verbesserten, sondern sich in ihrem Alltag allenfalls in der Gestalt von Steuerbeamten, Polizisten, Rekrutierungsbehörden, fremden Gesetzen und Richtern bemerkbar machten, blieben sie nur ein Torso.
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