Der stille Held - Michael Smith - E-Book

Der stille Held E-Book

Michael Smith

0,0

Beschreibung

Namen wie Scott und Shackleton sind Fans der polaren Entdeckungsgeschichte wohlbekannt. Doch wer kennt den irischen Bauernsohn Tom Crean, der gleich drei ihrer bedeutenden Antarktis-Expeditionen auf heldenhafte Weise unterstützte? Mit Scott und der Discovery stellte Crean einen neuen Südrekord auf, Scotts legendäres Wettrennen mit Amundsen begleitete er bis kurz vor den Pol und rettete dann mit einem spektakulären Alleinmarsch durch die Eiswüste sich und seinen Kameraden das Leben. Mit Shackleton durchquerte er unter unmenschlichen Bedingungen Südgeorgien, um Hilfe für die gestrandeten Männer der Endurance-Expedition zu holen. Indem Michael Smith die packende Geschichte Tom Creans erzählt, wirft er ein völlig neues Licht auf die Blütezeit der Polarerkundung und honoriert endlich die außergewöhnlichen Taten eines zu Unrecht vergessenen Helden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 582

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Smith

DER STILLE HELDTOM CREAN –ÜBERLEBENDER DER ANTARKTIS

Aus dem Englischen von Rudolf Mast

Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel An UnsungHero: Tom Crean – Antarctic Survivor bei The Collins Press, Cork.Die vorliegende Übersetzung basiert auf der 2019 bei Gill Bookserschienenen Jubiläumsausgabe.

Copyright © Michael Smith 2000, 2019

© 2021 by mareverlag, Hamburg

Lektorat Lisa Fabian, Hamburg

Karten Peter Palm, Berlin

Register Rainer Kolbe, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coverabbildung Frank Hurley / Royal Geographical Society via Getty Images

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-801-4

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-657-7

www.mare.de

INHALT

Vorwort

Ein Bauernsohn

Eine Zufallsbegegnung

Aufbruch ins Unbekannte

Auf dem Eis zu Hause

In die weiße Wüste

Erneuter Aufbruch

Sturmfahrt nach Süden

Hoffnungen und Pläne

Das letzte Ziel, das der Globus zu bieten hat

Wettlauf mit dem Tod

Eine vorhersehbare Katastrophe

Eine verhängnisvolle Entscheidung

Eine makabere Suche

Ehrung eines stillen Helden

Das Eis ruft

Gefangen

Ausgesetzt

Alle Mann in die Boote!

Am seidenen Faden

Eine heroische Leistung

Die Querung Südgeorgiens

Eine eigentümliche Erfahrung

Rückkehr nach Elephant Island

Leben und Tod

Krieg, Ehrungen und Heirat

Tom vom Pol

Erinnerungen

Anhang

Dank

Bibliografie

Bildquellen

Anmerkungen

Register

Karten

VORWORT

Mit ihrer Mischung aus sanften Hügeln und einer schroffen Küste, die weit in den Atlantik hinausragt, gehört die Dingle-Halbinsel in der Grafschaft Kerry zu den schönsten Regionen Irlands – Natur wie aus dem Bilderbuch. Aus aller Welt reisen Gäste an, um die dramatische Szenerie zu bewundern.

Ungefähr in der Mitte der Halbinsel, in einem vergleichsweise schlichten, unspektakulären Landstrich, liegt die kleine Ortschaft Anascaul, auf Irisch Abhainn An Scáil. In den Bergen über der Stadt wurde, so heißt es, der letzte irische Wolf getötet. Besucher, die die Hauptstraße von Anascaul benutzen, geraten eher beim Anblick eines der letzten Häuser ins Staunen, die sie bei ihrer Fahrt Richtung Westen ins beliebte Dingle und zu den Wellen des Atlantiks passieren, die sich an der Küste brechen. In dem Haus ist ein Pub mit einem höchst ungewöhnlichen Namen untergebracht: South Pole Inn. Der kleine, träge dahinfließende Fluss und die charmante Brücke aus Stein in unmittelbarer Nachbarschaft lassen an vieles denken, aber mit Sicherheit nicht an den Südpol.

Und doch: Man kann weder nach Anascaul hinein- noch aus Anascaul hinausfahren, ohne einen Blick auf das kleine Haus zu erhaschen und sich verwundert zu fragen, wie ein Wirtshaus in einem Dorf auf der irischen Dingle-Halbinsel, das von Feldern und Wiesen umgeben ist, an den Namen »South Pole Inn« geraten ist.

Wer sich die Zeit dafür nimmt, findet die Antwort auf einer kleinen grauen Schiefertafel, die über dem Eingang zum Pub hängt und folgende Inschrift trägt:

TOM CREAN

Antarktisreisender

1877–1938

Das South Pole Inn war das Zuhause von Thomas Crean, gebürtig aus Anascaul, der der ländlichen Gemeinde in der Grafschaft Kerry früh den Rücken kehrte und zu einem der bedeutendsten Akteure in der Geschichte der Polarexpeditionen am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde – dem Goldenen Zeitalter der Antarktisforschung.

Nur wenige Männer haben zur Erkundung der Antarktis mehr beigetragen als Tom Crean, und nur wenige wurden von ihren Kameraden, wie berühmt sie auch gewesen sein mögen, so respektiert wie der zurückhaltende Mann aus Kerry. Und doch ist Creans Beitrag zu den Errungenschaften des Goldenen Zeitalters lange unterbewertet, wenn nicht ignoriert worden.

Dieses Goldene Zeitalter der Antarktisforschung, das die ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts umfasst, hat einige der erstaunlichsten und bemerkenswertesten Geschichten und Persönlichkeiten hervorgebracht. Selbst hundert Jahre danach schlagen die Erlebnisse von Scott und Shackleton die Menschen noch immer in den Bann, vor allem wohl wegen der Tragik und des Heldentums, der Tapferkeit und Entschlossenheit, mit denen sie gespickt sind, und wegen der Gleichzeitigkeit von Erfolg und Scheitern, einer Dramatik, an die heutiges Vorstellungsvermögen kaum heranreicht.

Und doch wäre es falsch, anzunehmen, dass die Taten und Errungenschaften in der Antarktis, die wir heute mit dem Goldenen Zeitalter verbinden, allein Scott und Shackleton zuzuschreiben wären. An den Expeditionen dieser Jahre waren Männer beteiligt, die zwar nicht Offiziere oder Wissenschaftler, für den Erfolg dieser Unternehmungen aber unverzichtbar waren. Ihr Beitrag wurde später meist übergangen oder bestenfalls unter ferner liefen abgehandelt. Dabei waren diese Männer zwar weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig und bestimmt nicht weniger beeindruckend. Ein Mann von diesem Schlage ist Thomas Crean.

Crean war ein weit gereister Mann, der an drei der vier wichtigsten britischen Expeditionen in die Antarktis teilgenommen und sich für seine außergewöhnlichen Leistungen allerhöchsten Respekt erworben hat. Er war ein sympathischer und beliebter Kerl und einer der wenigen, die mit derselben Disziplin und Zuverlässigkeit sowohl Scott als auch Shackleton gedient haben.

Crean war ein einfacher und unkomplizierter Mann, der sich durch außergewöhnlich großen Mut und Selbstvertrauen auszeichnete, was ihn in die Lage versetzte, in der unwirtlichsten, physisch wie psychisch extrem zehrenden Gegend der Erde mehrfach schier unglaubliche Leistungen zu vollbringen. Er war gewissermaßen ein Serienheld.

Crean ist weiter vorgedrungen als die meisten jener Entdecker, deren Namen für das Goldene Zeitalter einstehen, und wenige haben derart unauslöschliche Spuren hinterlassen wie der Mann aus Irland. Es ist nur gerecht, dass sein Name auf dem antarktischen Kontinent verewigt ist, dort also, wo er seinen Ruhm begründet hat. Mount Crean, ein Berg in Viktorialand, der bis auf eine Höhe von 2550 Metern reicht, steht auf 159°30' W, 77°53' S. Der sechs Kilometer lange Crean-Gletscher mündet auf 37°1' W, 54°10' S in die Antarctic Bay, eine Bucht auf Südgeorgien, jener Insel, auf der Crean sich so heldenhaft verhalten hat.

Tom Crean ist nicht der Einzige, dessen Abenteuer von Historikern ignoriert worden sind. Auch über Männer wie Edgar Evans, William Lashly und Frank Wild, die gemeinsam mit Crean im Süden waren, ist die Geschichte hinweggegangen. Und doch waren es Männer wie sie, die jene berühmten Expeditionen, die den Schleier vom antarktischen Kontinent gerissen haben, erst ermöglichten. Oft haben sie dafür teuer bezahlt. Das britische Klassensystem degradierte sie zu Bürgern zweiter Klasse, aber das Goldene Zeitalter wäre ohne ihren Beitrag unvollständig geblieben.

Der Gerechtigkeit halber sei zugestanden, dass es für Historiker kein leichtes Unterfangen war und ist, die Geschichte von Männern wie Tom Crean zu erzählen, einem Mann, der vergleichsweise ungebildet war und anders als viele andere Forschungsreisende der Zeit weder Tagebuch geführt noch in nennenswertem Umfang Briefe an Freunde und Familie geschickt hat. Von Crean sind nur einige Briefe überliefert, sodass wir, um uns ein Bild von seinem Leben machen zu können, auf Äußerungen und Aufzeichnungen seiner Zeitgenossen angewiesen sind. Da er ein wichtiger Vertreter des Goldenen Zeitalters war, finden sich in den publizierten wie in den nicht publizierten Berichten über die drei Expeditionen, an denen er teilgenommen hat, glücklicherweise zahlreiche Belege für seine Heldentaten. Dass die bis dato nur unzureichend aufbereitet wurden, ist in Anbetracht der komplizierten Quellenlage aber verständlich.

Doch bringt man nun Creans eigene Aufzeichnungen, die seiner Zeitgenossen sowie die Erinnerungen seiner Familienangehörigen zusammen, lässt sich aus diesen Einzelteilen ein genaues und treffendes Bild vom Leben eines bemerkenswerten Mannes zeichnen.

Seine Zeitgenossen hatten wenig Anlass, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Frank Debenham, der gemeinsam mit Crean an Scotts tragischer letzter Expedition teilnahm und später Gründungsdirektor des Scott Polar Research Institute in Cambridge wurde, dachte mit großer Warmherzigkeit an den Iren zurück:

Tom Crean war auf seine Art einzigartig; er erinnerte an eine Figur von Kipling oder Masefield, typisch für das Land, aus dem er stammte, und ein großer Gewinn für die drei Expeditionen, an denen er teilnahm. Ich muss nur einen Moment lang die Augen schließen, um mir seine adrette Gestalt und das Lächeln in Erinnerung zu rufen, mit dem er mich eines Morgens verabschiedete: »Leben Sie wohl, Sörr.«

Tom Crean auf einem Foto von Herbert Ponting, Kap Evans 1911. Ponting, der sich selbst nicht Fotograf, sondern Bildkünstler nannte, hat in diesem Foto Crean so eingefangen, wie es dessen Naturell entspricht: fröhlich, zuversichtlich und entschlossen.

Seit jenen denkwürdigen Zeiten ist Tom Crean leider in Vergessenheit geraten, ein unbeachteter und weitgehend unbekannter Mann geworden, dessen außergewöhnliche Erlebnisse und Leistungen späteren Generationen verborgen blieben. Doch mehr als die meisten verdient er es, dass seine Geschichte erzählt wird.

Jede Generation giert nach Helden, und Tom Crean hat das Zeug, für jede Generation ein Held zu sein.

EIN BAUERNSOHN

Thomas Crean erblickte am 20. Juli 1877 in Gurtachrane das Licht der Welt, einem abgelegenen Landstrich westlich von Anascaul auf der Dingle-Halbinsel in der Grafschaft Kerry, Irland. Das genaue Datum ist neuerdings mit Zweifeln behaftet, weil Nachforschungen den 25. Februar 1877 zutage förderten. In allen offiziellen Dokumenten, die sich in Creans Marineakte finden und die meist von ihm selbst ausgefüllt wurden, wird aber der 20. Juli 1877 als Geburtstag genannt. Die Gegend, in die er hineingeboren wurde, ist bis heute eine unspektakuläre Ansammlung von Wohnhäusern und Bauernhöfen inmitten sanfter grüner Hügel.

Der Kontrast zum feindseligen, eisigen antarktischen Kontinent, wo Crean seine beeindruckende Karriere erlebte, könnte kaum größer sein. Der Zufall wollte es, dass Edmund Hillary, der Erstbesteiger des Mount Everest, der ebenfalls die Antarktis bereist hat und zu den großen Abenteurern des 20. Jahrhunderts gehört, zwar deutlich später, aber doch zum selben Datum wie Crean geboren wurde.

Die Dingle-Halbinsel ist reich an Traditionen, deren Ursprünge bis zu den ersten Siedlern in Europa zurückreichen. Sie war ein Zentrum der Christianisierung, und obwohl Anglonormannen wie auch Engländer die Halbinsel zeitweise besetzt hielten, hat die Region über Jahrhunderte politischer und religiöser Unterdrückung und Verfolgung getrotzt. Die Menschen waren hart im Nehmen und nicht gewillt, sich unterkriegen zu lassen. So nimmt es nicht wunder, dass in Kerry besonders erbittert um den Erhalt der irischen Sprache gekämpft wurde. Bis heute zählt die Dingle-Halbinsel zu den Gaeltacht, jenen Gebieten, in denen noch Irisch gesprochen wird.

Am Ende des 19. Jahrhunderts war es auf der ganzen Halbinsel Umgangs- und Verkehrssprache, und Creans Eltern gehörten zu der letzten Generation, die mit Irisch als Muttersprache aufwuchs. Tom Crean wuchs bereits zweisprachig auf und lernte neben Irisch auch Englisch.

Er wurde in eine typische irische Großfamilie hineingeboren, die wie so viele Landbewohner in jener Zeit mit großer Armut und der ständigen Angst vor Missernten und Hungersnöten zurechtkommen musste. Der Name Crean ist in Kerry recht verbreitet und wahrscheinlich von Curran abgeleitet. Aber auch Creen und Curreen mögen Pate gestanden haben, denn auf Irisch wird der Name O Cuirin geschrieben.

Toms Eltern, Patrick Crean und Catherine Courtney, waren Bauern in Gurtachrane und setzten in den 1860er- und 1870er-Jahren zehn Kinder in die Welt. Ihr Leben war entbehrungsreich, ohne Luxus und mit geringen Aussichten, dem permanenten Kampf ums tägliche Brot zu entkommen.

Zum Zeitpunkt von Creans Geburt litt Irland noch unter den Folgen der großen Hungersnot drei Jahrzehnte zuvor, der – infolge einer Missernte beim Hauptnahrungsmittel Kartoffel – zwischen 800 000 und einer Million Menschen zum Opfer gefallen waren – ein Achtel der gesamten Bevölkerung. Diese Katastrophe lastete schwer auf der irischen Seele und veranlasste etwa zwei Millionen Menschen, das Land zu verlassen und ihr Glück in der Neuen Welt zu suchen. Wer blieb, fühlte sich in der Überzeugung bestärkt, dass Irland endlich Herr im eigenen Haus sein sollte.

Doch schon Ende der 1870er-Jahre drohte eine neue Hungersnot und schürte die Angst, der Schrecken könnte sich wiederholen. 1877, Creans Geburtsjahr, war extrem niederschlagsreich, was mit nur wenig Verzögerung katastrophale Folgen hatte, weil in den Jahren darauf die Kartoffelernte massiv litt. Weil gleichzeitig die Getreidepreise in den Keller fielen, steckten viele Farmer in der Armutsfalle, da sie sich die exorbitante Pacht, die ihnen die verhassten englischen Großgrundbesitzer auferlegten, nicht mehr leisten konnten. In vielen Bauernfamilien, insbesondere im Westen Irlands, ging der Hunger einher mit der Angst, von ihrem Grund und Boden vertrieben zu werden. Diese Menschen hätten sehr genau gewusst, was dreißig Jahre später ein Landsmann namens George Bernard Shaw meinte, als er die Armut das größte Übel und das schlimmste Verbrechen nannte.

Das Bauernhaus in Gurtachrane (Gort an Corráin) unweit von Anascaul, in dem Crean geboren wurde.

In diesem Klima aus drohender Hungersnot, schwindendem Einkommen und einer stetig wachsenden Familie mühten sich Patrick und Catherine Crean redlich, Tom sowie seine fünf Brüder und vier Schwestern großzuziehen. Fraglos hat diese Erfahrung dabei geholfen, den Jungen auf die Entbehrungen und Entsagungen vorzubereiten, die er bei seinen Aufenthalten in der Antarktis durchleiden musste.

Tom besuchte eine Zeit lang die Brackluin School, die katholische Schule in Anascaul, um sie, wie wohl die meisten Kinder seines Alters, so bald wie möglich wieder zu verlassen. Es war nichts Ungewöhnliches, wenn die Kinder bereits mit zwölf Jahren von der Schule abgingen, auch wenn die meisten blieben, bis sie vierzehn waren. So oder so ließ die Ausbildung, die sie erhielten, zu wünschen übrig und vermittelte ihnen kaum mehr als die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben. Wichtiger war es, dass die Kinder ihren Eltern bei der täglichen Arbeit halfen und nach Möglichkeit ihr Scherflein zum Lebensunterhalt beitrugen.

Wenn er in Anascaul war, wird Tom auch manches von dem mitbekommen haben, was sich in dem Ort abspielte, und diese Erlebnisse werden die Lust auf Reisen und Abenteuer geweckt haben.

Anascaul liegt genau dort, wo die Hauptstraße, die sich durch Dingle zieht, den Anascaul River kreuzt, jenen Fluss, der von den umliegenden Hügeln herabkommt. Seit jeher ist es ein Ort, an dem Reisende auf Reisende treffen.

Jahrhundertelang fanden in Anascaul Märkte statt. In seinem Buch über die Dingle-Halbinsel beschreibt Steve MacDonogh, wie wichtig diese Märkte lange Zeit für die Gegend waren. Und er erinnert daran, dass die Anglonormannen, auf die an vielen Orten in Irland derartige Handelsplätze zurückgehen, sich in erheblicher Anzahl in Anascaul und Umgebung niedergelassen haben. Tralee, eine der größeren Städte in Kerry, wurde im 13. Jahrhundert von Anglonormannen gegründet, Ballynahunt und Flemingstown, Dörfer in der Nähe, sollen ihre Existenz ebenfalls ihrer Anwesenheit verdanken.

Anascaul beherbergte jedes Jahr vierzehn solcher Märkte und Messen, die unterschiedlichste Menschen aus nah und fern anlockten. Das galt vor allem für die Pferdemärkte, die zweimal jährlich, im Mai und im Oktober, stattfanden. Sie gehörten zu den ältesten Veranstaltungen in der langen irischen Tradition des Pferdehandels und waren ein Magnet für Interessierte aus allen Landesteilen.

Für Anascaul am bedeutendsten aber waren die monatlich stattfindenden Markttage, die sich zu einer eigentümlichen Mischung aus Handel und Unterhaltung entwickelt hatten. Wobei, wie MacDonogh hervorhebt, die Unterhaltung nicht bloß eine Zugabe zu einem dem Kommerz gewidmeten Ereignis war, sondern, typisch irisch, dessen wesentlicher Bestandteil. MacDonogh beschreibt eine charakteristische Szene:

Glücksräder, Stände, an denen Plunder und Tand verkauft wurden, Frauen im Sonntagsstaat, Männer, deren Kleidung die Anzahl der Jahre wiedergab, die sie in der Fremde zugebracht hatten, Hütchenspieler, Bänkelsänger, Musikanten, Kuppler, Krämer und Bettler – in der Summe eine bunte Mischung von Menschen aus allen sozialen Schichten ebenso wie Gelegenheit für ein gutes Geschäft.1

In den Kneipen und an den Straßenecken machten Geschichten die Runde, und wie unter Iren üblich, wurden alte Anekdoten ausgegraben und in neuer Form erzählt – für die Fantasie eines jungen Bauernsohnes eine wahre Fundgrube. Und vor dem Hintergrund des entbehrungsreichen Lebens müssen die Geschichten aus fernen Ländern auf einen lebenshungrigen jungen Mann eine so große Anziehungskraft ausgeübt haben, dass der Wunsch, die Welt zu sehen, schließlich überhandnahm.

Zu dieser Zeit entschlossen sich mehrere von Tom Creans Brüdern, Kerry zu verlassen, und MacDonogh zufolge war es unter den Söhnen der Stadt guter Brauch, sich der britischen Navy anzuschließen.

Toms älterer Bruder Martin fand jenseits des Atlantiks bei der aufblühenden kanadischen Eisenbahn Arbeit. Michael ging zur See und mitsamt seinem Schiff unter. Cornelius, sechs Jahre älter als Tom, brachte es zum Polizisten in der Royal Irish Constabulary und wurde im Zuge der Auseinandersetzungen im Nordirlandkonflikt ermordet. Toms Schwester Catherine war ihrerseits mit einem Polizisten verheiratet. Zwei weitere Brüder, Hugh und Daniel, blieben in Kerry und setzten die bäuerliche Familientradition fort. Als ihr Vater Patrick starb, teilten Hugh und Daniel den Hof unter sich auf und verbrachten den Rest ihres Lebens in Gurtachrane.

Die Kindheit in den 1880er- und 1890er-Jahren auf dem elterlichen Bauernhof war kein Zuckerschlecken. Einige Durchsetzungskraft war nötig, um als eines von zehn Kindern zu bestehen, die miteinander und um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern kämpften. Patrick Crean hatte alle Hände voll zu tun, um die Familie zu ernähren, und so blieb ihm keine Zeit, seinen Kindern das Maß an Aufmerksamkeit zu geben, das heute von einem Vater erwartet wird.

Es war eine harte Schule, die die Kinder durchliefen. Tom Crean gab sie eine gehörige Portion Unabhängigkeit mit auf den Weg, und diese Unabhängigkeit war es, die ihn bei der ersten Gelegenheit das heimische Nest verlassen ließ.

Seinerzeit war es üblich, dass Musterungsoffiziere durchs Land reisten, um in den Dörfern geeignete junge Männer aufzuspüren und für den Dienst in der Navy zu verpflichten. Die britische Marine benötigte frisches Blut, und die Aussicht, das entbehrungsreiche Leben auf dem Land gegen eine Laufbahn als Seemann eintauschen zu können, schien vielen jungen Iren nur allzu verlockend. So brauchte es nicht viel, um sie zu einer Unterschrift zu bewegen. Zu jener Zeit unterhielt die britische Navy die größte und mächtigste Flotte der Welt, und das Ansehen, das sie genoss, war kaum zu steigern. Für einen jungen Mann wie Tom Crean muss die Verlockung, mit ihrer Hilfe den Unbilden des Landlebens zu entkommen, unwiderstehlich gewesen sein. Die Alternative, den erbarmungslosen Kampf ums tägliche Brot fortzusetzen, war schnell verworfen, und so nimmt es nicht wunder, dass Tom Crean das Elternhaus schon in jungen Jahren verließ.

Wie genau sich sein Abschied von zu Hause zugetragen hat, wissen wir nicht. Manches spricht aber dafür, dass er eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vater gehabt haben muss, weil durch seine Unachtsamkeit Vieh auf das Kartoffelfeld gelangt war und die wertvollen Jungpflanzen niedergetrampelt hatte. In der Erregung soll Tom geschworen haben, den Hof zu verlassen und zur See zu fahren.

Und so machte sich der junge Mann von gerade mal fünfzehn Jahren auf den Weg in die Bucht von Minard, wenige Meilen südwestlich von Anascaul, wo die Royal Navy einen Stützpunkt unterhielt. Begleitet von einem weiteren Jungen aus Anascaul namens Kennedy, trat Tom vor den Werbeoffizier und ließ sich von dessen Sonntagsreden so sehr beeindrucken, dass er sich ohne Umschweife dazu verpflichtete, in Königin Viktorias ruhmreiche Marine einzutreten.

Crean war zwar ein ungestümer, auf seine Unabhängigkeit bedachter junger Mann, aber da er nicht einschätzen konnte, wie der Schritt von seiner Familie aufgenommen werden würde, verzichtete er zunächst darauf, seinen Eltern davon zu erzählen. Das holte er erst nach, als die erforderlichen Unterschriften geleistet waren, weil damit jeder Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen, vergebliche Liebesmüh gewesen wäre.

Doch mit der Entscheidung, zur Marine zu gehen, tat sich ein neues Problem für ihn auf. Er besaß nicht nur kein Geld, sondern auch keine Kleidung, mit der er den Schritt in ein neues Leben hätte angehen können. Also borgte er sich hier eine kleinere Summe – von wem, wissen wir nicht – und dort einen Anzug. Im Juli 1893 trennte er sich von seiner abgetragenen Kleidung, schlüpfte in den geliehenen Anzug und verließ den elterlichen Hof.

Viel war es nicht, was er in sein neues Leben mitnahm. Zu den wenigen Dingen gehörte ein Skapulier, das an seinem Hals baumelte und sowohl für seinen christlichen Glauben als auch für seine Herkunft stand. Ein Skapulier besteht aus zwei viereckigen Stücken Stoff von circa fünf mal sechs Zentimetern Größe, die an einem Lederband befestigt sind. Es enthält ein Gebet, das dem Träger Trost und die Zuversicht schenken soll, dass er dereinst nicht in der Hölle schmoren wird. Dieser Gedanke wird Crean ermutigt haben, als er in sein neues Leben aufbrach. Das Skapulier sollte er jedenfalls bis zu seinem Tod nicht mehr ablegen.

Sein Weg führte ihn nach Queenstown (dem heutigen Cobh) unweit von Cork an der irischen Südküste. Begleitet wurde er von James Ashe, einem irischen Matrosen der Handelsmarine. James Ashe war ein enger Verwandter von Thomas Ashe aus Kinard, der zu einem der Anführer der Irisch-Republikanischen Bruderschaft wurde und Märtyrerstatus erlangte, als er sich 1917, auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die Briten, im Mountjoy Prison zu Tode hungerte.

Am 10. Juli 1893 wurde Tom Crean offiziell in die Royal Navy aufgenommen.2 Das war zehn Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag, und so hatte er das erforderliche Mindestalter noch nicht erreicht. Es steht zu vermuten, dass er, um unterschreiben zu dürfen, entweder geschwindelt oder sogar seine Papiere gefälscht hat.

Noch war Tom Crean in der Entwicklung und bei Weitem nicht so groß und kräftig, wie er uns auf späteren Fotos von seinen Reisen in die Antarktis begegnet. Wie aus Akten des Marineministeriums ersichtlich wird, maß der Bauernjunge mit dem braunen Wuschelkopf einen Meter und 72 Zentimeter, als er im Juli 1893 seine Unterschrift in die dafür vorgesehene Zeile setzte und sich als Schiffsjunge mit der Dienstnummer 174699 verpflichtete.3

Er wurde zur Marinebasis Devonport in Plymouth geschickt, wo er auf der HMS Impregnable seine Grundausbildung als Seemann erhielt.4

Die HMS Impregnable, das hölzerne Ausbildungsschiff, auf dem Tom Crean ab 1893 seine militärische Grundausbildung durchlief.

Für einen Jungen, der zum ersten Mal in seinem Leben fern von zu Hause war, war das Leben in der Marine nicht einfach. Es herrschten strenge Regeln, auf deren strikte Einhaltung unerbittlich geachtet wurde. Der Einstieg in ein Leben als Seemann geriet so zur ersten wirklichen Nagelprobe seiner Willens- und Charakterstärke – Eigenschaften also, die später zum Markenzeichen seines abenteuerlichen Lebens werden sollten.

Er überlebte die Grundausbildung nicht nur, er beendete sie offenbar erfolgreich, denn er wurde vergleichsweise früh befördert. Schon nach einem Jahr erklomm er die erste Sprosse auf der Karriereleiter und wurde zum Schiffsjungen 1. Klasse ernannt. Kurz darauf, am 28. November 1894, wurde er auf die HMS Devastation verlegt, ein Schiff der Küstenwache, das ebenfalls in Devonport stationiert war.5 Mit diesem Schiff fuhr Crean zum ersten Mal hinaus auf See.

Über die ersten Jahre seiner Laufbahn ist wenig bekannt. Wir wissen aber von Beförderungen wie von Degradierungen, was vermuten lässt, dass der junge Mann sich mit dem ungewohnten neuen Leben an Bord gelegentlich schwertat. In den Quellen finden sich Belege dafür, dass Crean vom Leben als Seemann irgendwann derart ernüchtert war, dass er seinen Abschied einreichen wollte. Ein Autor behauptet gar, dass Crean unter dem schlechten Essen und der spartanischen Unterbringung so sehr litt, dass er mit dem Gedanken spielte, zu desertieren.6

Zweifelsohne richtig ist, dass die Navy in der Spätphase der Regentschaft Königin Viktorias ein Hort von Strenge und Unerbittlichkeit war. Traditionell eine der Säulen, auf die sich das britische Empire stützte, war die Royal Navy gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur mehr selbstgenügsam, ineffizient und veraltet. Die Entwicklung war bei Admiral Nelson stehen geblieben, und man setzte noch immer allein auf bedingungslose Disziplin und strikten Gehorsam. Es bedurfte weitreichender Reformen durch den gefürchteten Admiral Sir John »Jackie« Fisher, um die Navy rechtzeitig vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 zu reformieren.

Andererseits klingt es wenig glaubhaft, dass sich ein junger Mann, der soeben seiner armen ländlichen Heimat in den Bergen Kerrys entflohen war, die ihre Bewohner kaum ernähren konnte, über schlechte Nahrung und unbequeme Betten mokiert haben soll. Möglicherweise waren ganz andere Dinge für Creans Unzufriedenheit verantwortlich, Dinge, die eher seinem Alter geschuldet waren. Vielleicht litt er aber auch bloß unter Heimweh. Verbrieft jedoch ist, dass Crean einigen Trost daraus zog, dass weitere junge Iren an Bord waren, und so irgendwann beschloss, sich nicht unterkriegen zu lassen.

An seinem 18. Geburtstag, nach exakt zwei Jahren in der Navy, wurde Crean zum Gefreiten befördert. Seinen Dienst verrichtete er zu dieser Zeit auf der HMS Royal Arthur, einem Flaggschiff der Pazifikflotte. Ein knappes Jahr später, 1896, stand die nächste Beförderung an, und er wurde als Obergefreiter auf die HMS Wild Swan abkommandiert, ein mit fünfzig Metern Länge vergleichsweise kleines Versorgungsschiff, das vorwiegend im Pazifik operierte.

1898 entwickelte Crean offenbar den Ehrgeiz, etwas Neues zu erleben, und wechselte nach Devonport auf das Ausbildungsschiff HMS Cambridge, wo er den Umgang mit allerlei Geschützen lernte. Sechs Monate später, kurz vor Weihnachten 1898, wechselte er auf die HMS Defiance, die ebenfalls in Devonport lag und der Ausbildung von Torpedoschützen vorbehalten war. In Chatham, der größten Marinebasis der Navy, vervollständigte er schließlich die Ausbildung durch Schulung an weiteren Waffensystemen.7

In dieser Zeit erwarb sich Crean den Ruf, besonders zuverlässig zu sein, und die Beurteilung, die sich in seinen Akten findet, ist durchaus beeindruckend. Obwohl es in den Anfangsjahren einzelne Verstöße gegen die Disziplinarordnung gab, bewerten Creans Vorgesetzte sein Verhalten im Dienst als »ausgezeichnet«.

Etwa zu dieser Zeit – in den Jahren 1899 und 1900 – geriet Creans bis dahin nahtloser Aufstieg jedoch kurz ins Stocken, und in den Unterlagen findet sich der einzige verbriefte Makel, der seiner Laufbahn anhaftet. Ob sich darin eine allgemeine Unzufriedenheit ausdrückt oder ob Crean nach sechs Jahren Dienst in der Navy Sinn und Zweck seines Tuns aus den Augen verloren hatte, wissen wir nicht. Möglicherweise war es aber auch so, dass Crean, wie zahllose Seeleute vor und nach ihm, Opfer seines Alkoholkonsums geworden war, der Geißel der Seefahrt. Alkohol war ein fester Bestandteil des Alltags, und jeder Landgang mündete früher oder später in Gelagen, die oft aus dem Ruder liefen – mit entsprechenden Folgen für die Beteiligten. Auch Crean war kein Kostverächter, und der gesellige und kontaktfreudige junge Mann fühlte sich in Gesellschaft seiner trinkenden Kameraden wohl.

Ende September 1899 – Crean diente auf der HMS Vivid in Devonport – wurde er gleichwohl zum Obermaat ernannt. Es folgte eine kurze Zeit an Bord des Ausbildungsschiffes HMS Northampton, ehe Crean jenen Schritt vollzog, der sein Leben für immer verändern sollte.

Dieser erfolgte am 15. Februar 1900, als Obermaat Crean nach Australien und auf einen Torpedokreuzer mit einem ungewöhnlichen Namen abkommandiert wurde: HMS Ringarooma.8 Dieser Schritt war der Beginn einer neuen und gänzlich anderen Herausforderung, als der virile Zweiundzwanzigjährige sie kannte: die Begegnung mit den Härten einer Polarexpedition und Männern wie Scott, Shackleton, Wild, Evans und Lashly.

EINE ZUFALLSBEGEGNUNG

Im Jahr 1901 endete eine Ära, die das britische Reich lange geprägt hatte. Königin Viktoria, die dem Zeitalter, in dem England zu einem Weltreich wurde, den Namen gegeben hatte, starb am 22. Januar nach gut dreiundsechzig Jahren auf dem Thron. Aber es war auch das Jahr, in dem Großbritannien unter der Führung von Robert Falcon Scott den ersten Versuch startete, den letzten unerforschten Kontinent der Erde zu erobern: Antarktika.

Mit einem Durchmesser von 4500 Kilometern und einer Fläche von vierzehn Millionen Quadratkilometern ist Antarktika, noch vor Australien und Europa, der fünftgrößte Kontinent der Erde, der zehn Prozent der gesamten Landmasse einnimmt. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte nur eine Handvoll Menschen ihn betreten.

Antarktika ist eine riesige Insel ohne Verbindung zur übrigen Welt und von jeder Zivilisation durch den stürmischen Südlichen Ozean getrennt. Südamerika ist 1000 Kilometer entfernt, Australien gar 2500. Gut 99 Prozent der Landmasse sind durchgehend von Eis bedeckt, in dem etwa 70 Prozent des gesamten Süßwasservorkommens der Erde gespeichert sind. Hier wurden Windgeschwindigkeiten von bis zu 320 Stundenkilometern gemessen. Mit –89,6°C hält Antarktika den Kälterekord der Erde.

Hier gibt es keine Inuit, von denen sich lernen ließe, wie man unter solchen Bedingungen überlebt, und auch sonst sind hier so gut wie nie Menschen anzutreffen. Heimisch sind hier lediglich Pinguine, Robben und Wale sowie Organismen wie Algen, Flechten und Moose. Wer Antarktika erobern will, muss folglich Nahrung und Ausrüstung mitbringen. Doch es gibt noch weitere Ungewöhnlichkeiten: Auch wenn alles von Eis bedeckt ist, schneit es hier nur selten, und an den weitaus meisten Tagen des Jahres ist der Kontinent rund um die Uhr entweder in tiefste Dunkelheit getaucht oder von grellem Sonnenlicht überflutet.

Dass Antarktika kein Hirngespinst ist, sondern tatsächlich existiert, davon waren die Menschen schon in der Antike überzeugt. Gut zweitausend Jahre vor der Entdeckung geisterte die Terra Australis Incognita bereits durch die Mythologie. Griechische Philosophen pochten darauf, dass als Gegengewicht zu den Landmassen des Nordens ein Südkontinent erforderlich sei. Und weil die nördliche Hemisphäre unter dem Sternbild des Großen Bären, griechisch arktos, lag, wurde die dem Norden gegenüberliegende südliche Landmasse kurzerhand antarktikos genannt. So war der Name Antarktika geboren.

Berühmte Seefahrer wie Magellan oder Drake hatten schon im 16. Jahrhundert mit einer Fahrt Richtung unbekannter Südkontinent geliebäugelt, und zwei kühne französische Entdecker – Jean-Baptiste Bouvet de Lozier und Yves Joseph de Kerguelen-Trémarec – drangen im 18. Jahrhundert bis zu einigen subantarktischen Inseln vor. Doch es war James Cook, dem wohl bedeutendsten aller Entdecker, vorbehalten, als Erster den südlichen Polarkreis zu überqueren. Am 17. Januar 1773 näherte er sich Antarktika mit seinen beiden Schiffen Resolute und Adventure bis auf 120 Kilometer, allerdings ohne den Kontinent selbst zu Gesicht zu bekommen. Was er mit zurücknahm, war der Zweifel daran, dass die kalte und menschenfeindliche Umgebung weitere Erkundungen wert war.

Die erste überlieferte Sichtung der Antarktis wird einer Expedition unter Leitung von Edward Bransfield aus Cork, Irland, zugeschrieben. Zugetragen haben soll sie sich am 30. Januar 1820. Nahezu zeitgleich berichteten Fabian von Bellingshausen, seines Zeichens Offizier der Kaiserlich Russischen Marine, und der US-Amerikaner Nathaniel Palmer von ähnlichen Ereignissen. Wirklich sicher war sich jedoch keiner von ihnen, und so wird in den Annalen der Robbenfänger John Biscoe genannt, der im Januar 1831 den antarktischen Kontinent als Erster umrundete.

1841 gelangte Sir James Clark Ross erstmals an das Schelfeis, das den Kontinent umgibt, und segelte mit den Schiffen Erebus und Terror an der Eiskante entlang. Den beiden markanten Bergen, die über die Einfahrt in jenen Teil des Südpolarmeeres wachen, der später nach Ross benannt werden sollte, verlieh er die Namen, die auch seine beide Schiffe trugen. Die Insel, auf der sie stehen, wurde zum Anlaufpunkt zahlreicher britischer Expeditionen. Auch sie trägt heute den Namen ihres Entdeckers.

Eine internationale Expedition unter der Führung des Belgiers Adrien de Gerlache stieß zwischen 1897 und 1899 mit der Belgica tief Richtung Südpol vor, bis sie in der Bellingshausensee unweit der Antarktischen Halbinsel, die hier wie ein ausgestreckter Finger Richtung Südamerika zeigt, vom Eis gestoppt und eingeschlossen wurde.

Nur ausgesprochen widerwillig und mit bangem Herzen fügten sich de Gerlache und seine Männer in das Unausweichliche und verbrachten als erste Menschen überhaupt den Winter in Antarktika, wo die Sonne sich vier Monate lang nicht zeigt. Die Strapazen, die bittere Kälte und die nicht enden wollende Dunkelheit forderten ihren Tribut. Ein Besatzungsmitglied starb während des Winters, zwei weitere büßten den Verstand ein.

Zu denen, die mit heiler Haut davonkamen, gehörten ein fünfundzwanzigjähriger Norweger namens Roald Amundsen sowie ein dreiunddreißigjähriger Amerikaner namens Frederick Cook. Amundsen, der wohl bedeutendste Polarreisende der Geschichte, durchfuhr später als erster Mensch die Nordwestpassage und erreichte den Südpol einen Monat vor seinem britischen Rivalen Captain Scott, der dabei sein Leben ließ. Cook, ein ebenso launischer wie talentierter Mann, bestand wider besseres Wissen bis zu seinem Tode darauf, eher am Nordpol gewesen zu sein als Robert Peary, dem das Verdienst, der Erste gewesen zu sein, tatsächlich zukommt.

Die ersten Menschen, die nicht nur die Antarktische Halbinsel, sondern den eigentlichen Kontinent betreten haben, waren vermutlich acht Besatzungsmitglieder des Walfängers Antarctic, der am 24. Januar 1895 Kap Adare erreichte. Wer von ihnen zuerst antarktisches Festland betrat, ist nicht überliefert und umstritten, aber der norwegische Naturforscher Carsten Borchgrevink behauptete, er sei vor seinen Kameraden aus dem Beiboot an Land gesprungen, weshalb die Ehre, der Erste gewesen zu sein, ihm zufalle. Später ließ Borchgrevink von der Behauptung ab und beschrieb seine Leistung nun damit, dass er der Leiter der ersten Expedition gewesen sei, die freiwillig und vorsätzlich auf Antarktika überwintert habe.

Borchgrevink landete 1899 unweit der Einfahrt in die Robertson Bay, die zwischen der Adare-Halbinsel und der Festlandküste Antarktikas liegt. Aus Material, das er aus Europa mitgebracht hatte, errichtete er dort zwei Hütten, in denen die zehnköpfige Gruppe den Winter verbrachte. Jene Hütte, die den Männern als »Wohnzimmer« diente, steht heute noch. Die Erträge von Borchgrevinks Aufenthalt waren bescheiden und beschränkten sich im Grunde auf einen Ausflug auf das Ross-Schelfeis.

Den ersten planmäßig angelegten Versuch, Antarktika zu erobern, hatte einige Jahre zuvor der Engländer Sir Clements Markham unternommen, der Jahrzehnte zuvor bereits die Arktis bereist hatte. Damals befand sich Markham, der im zarten Alter von dreizehn Jahren die Schule verlassen hatte und in die Navy eingetreten war, an Bord der Assistance, die sich in den Jahren 1850 und 1851 an der vergeblichen Suche nach Sir John Franklin beteiligt hatte. Der war 1845 mit zwei Schiffen und insgesamt 129 Mann Besatzung aufgebrochen, um die Nordwestpassage zu durchfahren, und seither verschollen.

Dieses Ereignis hatte Markham geprägt, hatte durch ihn aber auch gravierende Folgen für die Expeditionen, die das britische Königreich in der Folge Richtung Nordpol, später auch Richtung Südpol unternahm. Die Rolle, die Britannien im Goldenen Zeitalter spielte, wäre eine andere gewesen ohne Clements Markham, einen nicht nur wegen seines stattlichen Backenbartes charakteristischen Vertreter der Regierungszeit Königin Viktorias.

Markham, ein sturköpfiger und aufbrausender Mann, der an Winston Churchill denken lässt, machte die Erkundung der Polargebiete zu seiner persönlichen Angelegenheit, die ihm fast zur Obsession wurde. Mit an Fanatismus grenzender Leidenschaft setzte er seine Überzeugungs- und Überredungskünste ein, um sicherzustellen, dass Großbritannien neue und größere Expeditionen Richtung Südpol auf die Beine stellte, und zwar zu einer Zeit, in der sich andernorts niemand dafür interessierte. Zugleich drängte er darauf, dass solche Expeditionen künftig unter dem Kommando der Navy standen, um so einer ungläubig dreinblickenden Welt die Unerschrockenheit und Überlegenheit des britischen Königreichs zu demonstrieren.

Besonders am Herzen lag ihm, dass sich künftige Expeditionen typisch britischer Methoden bedienten, die sich auf früheren Reisen bewährt hatten, allen voran von Menschen gezogene Schlitten. Von modernen Errungenschaften wie Schlittenhunden und Skiern hielt er nichts, auch wenn Hunde deutlich schneller und ausdauernder waren und im Fall der Fälle einander oder sogar den Menschen als Nahrung dienen und so noch nach dem Ableben zum Erfolg der Mission beitragen konnten.

Doch Markham war ein Hundenarr, und obwohl andere Nationen, insbesondere die Norweger, gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Hunden gemacht hatten, lehnte er es ab, sie als Nutz- und Lasttiere zu verwenden. Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass auch Scott, der auf seinen beiden Reisen zum Südpol nur sehr halbherzig auf die Hilfe von Hunden setzte, massiv von Markham beeinflusst war. Und so blieb es dabei, dass die Teilnehmer britischer Expeditionen ihren Proviant und ihre Ausrüstung selbst durch Eis und Schnee schleppen mussten – eine entsetzliche und qualvolle Plackerei, die die Männer zu Lasttieren degradierte.

Obwohl er kein offizielles Amt bekleidete, gerierte sich Markham, der auch vor Intrigen nicht zurückschreckte, als Sachverwalter der britischen Interessen an beiden Polen. Doch bis die erste Expedition Richtung Antarktis aufbrechen konnte, sollten fast zwei Jahrzehnte vergehen. In seinen Erinnerungen an die Ereignisse im Vorfeld der Discovery-Expedition schrieb Markham:

1885 begann ich, mein Augenmerk auf die Erforschung der Antarktis zu lenken, aber es dauerte sechzehn Jahre, bis meine Bemühungen zum Erfolg führten.1

Der Erfolg, auf den Markham anspielte, ist die britische Antarktisexpedition der Jahre 1901 bis 1904, mit der zugleich das erste Kapitel von Großbritanniens Beitrag zum Goldenen Zeitalter der Polarexpeditionen geschrieben wurde. 1885, als Markham dieses Kapitel in Angriff nahm, war Tom Crean acht Jahre alt, Scott, Markhams Protegé, sechzehn.

Markham bereitete die Eroberung der Antarktis mit großer Entschlossenheit und Bestimmtheit vor, insbesondere als es an der Zeit war, den Anführer und Leiter der ersten Expedition zu bestimmen. Auch wenn der vermutlich nicht seine erste Wahl war, entschied er sich für einen jungen Navy-Offizier, der die britische Flagge zum Südpol tragen sollte. Sein Name: Robert Falcon Scott.

Markham hatte einige Jahre lang in der Navy nach geeigneten Kandidaten Ausschau gehalten und sich kurz vor der Jahrhundertwende für Scott entschieden. Dabei geholfen hatte ihm eine Zufallsbegegnung unweit des Buckingham Palace im Juni 1899. In seinem berühmten Buch Die Reise der Discovery erinnerte sich Scott wie folgt:

Anfang Juni verbrachte ich ein paar dienstfreie Tage in London, wo ich die Buckingham Road entlangschlenderte, als ich auf der anderen Straßenseite plötzlich Sir Clements entdeckte. Ich begleitete ihn bis nach Hause. An diesem Nachmittag habe ich zum ersten Mal davon gehört, dass eine Expedition in die Antarktis geplant war.2

Zwei Tage später bewarb er sich offiziell als Kommandeur der Expedition. Markham wird ihm auf diese oder jene Weise vermittelt haben, dass er für diesen Posten zumindest infrage kam. Offiziell ernannt wurde Scott allerdings erst ein Jahr später, am 30. Juni 1900. Da war er zweiunddreißig Jahre alt und stand am Beginn einer Karriere, die ihn zur Legende werden ließ.

Markham versuchte derweil, die Summe von 90 000 Pfund zusammenzubringen, die er für die Expedition benötigte – auf heutige Kaufkraft umgerechnet 4,7 Millionen Pfund und der größte Betrag, der im Vereinigten Königreich je für eine Polarexpedition veranschlagt wurde. Entsprechend schwer fiel es Markham, das Geld aufzutreiben, und es erforderte viel Geduld, lange Gespräche und großes politisches Geschick, bis das Ziel erreicht war. Nun konnte Markhams Traum in Erfüllung gehen.

Die Nationale Britische Antarktisexpedition, so der Name, war startklar, einschließlich eines neuen, eigens für den Zweck erbauten Schiffes, der 52 Meter langen Discovery. Deren Bug war mit Eisen beschlagen, der Rumpf an den Seiten mit besonders dicken Holzplanken belegt, um gegen das Eis bestehen zu können. Die Reise war als Mischung aus Expedition und wissenschaftlicher Forschungsreise angelegt, ein Umstand, der zu erheblichen Spannungen unter den Geldgebern führte, hier der Königlichen Geografischen Gesellschaft, dort der Königlichen Gesellschaft. Den Streit um die vordringlichsten Aufgaben der Reise legte Markham bei, indem er ihn eigenmächtig entschied. Unmissverständlich beharrte er darauf, dass der Sinn und Zweck der Expedition vor allem »die Erkundung des Landesinneren von Antarktika« war.

Ebenso eigenmächtig ordnete er an, dass Scott vornehmlich den Bereich des Rossmeeres erkunden sollte, den sechzig Jahre zuvor der Namensgeber Sir James Ross befahren hatte und der bis heute aufs Engste mit den Leistungen der britischen Polarforschung während des Goldenen Zeitalters verbunden ist.

Markham plante und projektierte nicht nur das große Ganze, sondern nahm Einfluss auf jedes noch so kleine Detail. So entwarf er höchstpersönlich eine einen knappen Meter lange, dreieckige Flaggen, die die Männer, die sich vor die Schlitten spannten, auf ihrem Marsch übers Eis bei sich tragen und in unentdeckte Gebiete mitnehmen sollten.

Am 31. Juli 1901 – die Streitigkeiten waren weitgehend beigelegt – trat die Discovery die kurze Fahrt von London zur Isle of Wight an, wo sie im Rahmen der Cowes Week vorgestellt werden sollte. Dort erwartete sie ein königlicher Empfang. Noch stand das Land unter dem Schock, den der Tod Königin Viktorias nach ihrer so langen Amtszeit ausgelöst hatte. Ihr designierter Nachfolger Edward VII. und dessen Frau Königin Alexandra kamen am 5. August an Bord der Discovery, um die an der Expedition beteiligten Männer zu verabschieden. Scott zeigte sich tief beeindruckt.

Der Besuch war vergleichsweise zwanglos, wird allen, die dabei waren, aber unvergesslich bleiben, weil sich die königlichen Hoheiten selbst an Kleinigkeiten überaus interessiert zeigten und uns für die Umsetzung unserer Pläne von Herzen alles Gute wünschten. Und obwohl wir unser Land eigentlich ohne viel Aufhebens verlassen wollten, fühlten wir uns durch den Besuch Seiner Majestät und die aufrichtige Anteilnahme an unserem Vorhaben überaus geehrt.3

Die Discovery, in der Markhams Ehrgeiz seine Erfüllung fand, die aber auch den Grundstein für Englands führende Rolle im Goldenen Zeitalter und den Heldenstatus von Scott legte, verließ am Mittag des 6. August 1901 die Isle of Wight. Es sollte gut drei Jahre dauern, bis sie wieder heimische Gewässer erreichte.

Auf der anderen Seite der Erde hatte Tom Crean zu dieser Zeit die Hälfte einer zweijährigen Dienstzeit an Bord der HMS Ringarooma absolviert, eines Torpedokreuzers der P-Klasse, der zur britischen Flotte gehörte, die das Seegebiet zwischen Neuseeland und Australien kontrollierte. Und diese Ringarooma sollte zum Sprungbrett für Creans bemerkenswerte Laufbahn als Polarfahrer werden.

Der für ein Schiff der Royal Navy eigentümliche Name verdankt sich einer Vereinbarung zwischen Großbritannien und Australien in der Spätphase der Amtszeit Königin Viktorias, in der sich Australien dazu verpflichtete, den Bau von fünf Kriegsschiffen für die Royal Navy zu finanzieren – unter der Voraussetzung allerdings, dass sie im genannten Seegebiet eingesetzt wurden. Eines dieser Schiffe war die Ringarooma, die 1890 vom Stapel lief und wie die vier anderen von der Royal Navy betrieben wurde, aber einen Namen bekam, den sich die Australier ausgesucht hatten.

Obermaat Crean war am 15. Februar 1900 auf die Ringarooma gekommen, hatte sich aber schon bald Ärger mit seinen Vorgesetzten eingehandelt. Am 18. Dezember wurde er wegen nicht näher beschriebenen Fehlverhaltens zum Obergefreiten degradiert, ein Dienstgrad, den er in den kommenden zwölf Monaten behalten sollte.4

Im November 1901 steuerte Scotts Expedition Neuseeland an, den letzten Außenposten der Zivilisation vor den unerforschten Regionen des Südens. Und ohne es zu wissen, sehnte Tom Crean die Ankunft der Discovery förmlich herbei.

Die genauen Umstände, die dazu führten, dass Crean sich der Expedition anschloss und so zu einem Hauptdarsteller auf der Bühne der Polarforschung wurde, sind umstritten. Fast alle Berichte, die über die Jahre in Büchern, Illustrierten und Zeitungen erschienen, machen einen tragischen und viel beachteten Unfall dafür verantwortlich, bei dem ein anderer Seemann sein Leben verlor. Der Vollmatrose Charles Bonner kam kurz vor Weihnachten 1901 in der neuseeländischen Stadt Lyttelton zu Tode, wo die Discovery für die Fahrt gen Süden ausgerüstet wurde. Und doch kann Creans Aufstieg aus der Anonymität des Mannschaftsdecks zu einem illustren Mitglied der Discovery-Expedition mit diesem Unglück nichts zu tun haben. Crean war bereits an Bord, als Bonner starb, und schon knapp zwei Wochen zuvor hatte er sich durch seine Unterschrift verpflichtet. Dass aus dem Seemann ein Entdecker und Polarreisender wurde, ist einer gänzlich anderen Fügung des Schicksals geschuldet, die allerdings bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.

Dass Crean mit der Expedition überhaupt in Berührung kam, ist damit erklärt, dass die Ringarooma und ein Schwesterschiff, die HMS Lizard, von der Admiralität den Auftrag bekommen hatten, Scott und seinen Männern bei ihrem Aufenthalt in Neuseeland jede erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen. Das Logbuch der Ringarooma nennt als Zeitpunkt der ersten Sichtung der Discovery vor der neuseeländischen Küste Freitag, den 29. November, um 4:45 Uhr.5 Crean wird ebenso wie seine Kameraden erpicht gewesen sein, das Schiff, das vor einer der großartigsten Reisen aller Zeiten stand, mit eigenen Augen zu sehen.

Die Discovery-Expedition zu einem der letzten blinden Flecke auf der Weltkarte hatte in der englischsprachigen Welt für Furore gesorgt. Nicht wenige sahen darin ein Symbol für die Kraft und Leistungsfähigkeit des britischen Königreiches, das mit dem Ende des Viktorianischen Zeitalters und sich abzeichnenden Umbrüchen in Ländern wie Südafrika und Irland an Glanz verloren hatte.

Später an diesem 29. November erreichte die Discovery die Bucht von Lyttelton südlich von Christchurch, und Kapitän Rich von der Ringarooma machte sich umgehend daran, den Befehl der Admiralität in die Tat umzusetzen. Er teilte einige Männer ein, die Scott bei seinen Vorbereitungen für die Weiterreise unterstützen sollten. Dazu gehörten Arbeiten am Rumpf und am Rigg ebenso wie ein Kurzaufenthalt im Trockendock, den ein hartnäckiges Leck erforderlich machte, durch das ein Teil des Proviants ungenießbar geworden war.

Aus dem Logbuch der Ringarooma geht hervor, dass die erste Gruppe von Männern am 3. Dezember 1901 auf die Discovery delegiert wurde.6 Möglicherweise gehörte Crean schon zu dieser Gruppe, vielleicht wurde er aber auch später auf die andere Seite der Bucht geschickt, wo die Discovery im Dock lag, denn laut Logbuch herrschte vom 3. bis zum 20. Dezember ein reger Verkehr von Seeleuten, die morgens die Ringarooma verließen, um sich auf der Discovery nützlich zu machen, und am späten Abend nach getaner Arbeit zurückkehrten.

Als einer dieser Helfer konnte sich Crean vergleichsweise schnell mit der Discovery und der Stimmung an Bord vertraut machen. Das könnte als Erklärung dafür herhalten, dass er freiwillig auf ein Schiff wechselte, das im Begriff war, für zwei oder gar drei Jahre in eine weitgehend unbekannte Weltgegend vorzustoßen.

Und doch war eine weitere Laune des Schicksals nötig, um Crean neben Männer wie Scott, Shackleton, Wilson, Evans und Wild ins Scheinwerferlicht zu rücken, einige der führenden Figuren des Goldenen Zeitalters, die sich sämtlich an Bord der Discovery und in Lyttelton befanden.

Creans Stunde war gekommen, als Harry J. Baker, ein Crewmitglied der Discovery, seinem Kapitän ein massives Problem einbrockte. Und interessanterweise kommen Baker und sein Verhalten in zeitgenössischen Berichten kaum vor.

Baker, der offenbar ein Querulant war, hatte aus Gründen, die wir nicht kennen, einen Unteroffizier geschlagen und sich anschließend aus dem Staub gemacht. So stand Scott unversehens mit einem Mann weniger da. Bis zur Abfahrt blieben nur noch wenige Tage, und in seiner Not wandte sich Scott an Captain Rich von der Ringarooma.

Scott verzichtete darauf, den Baker-Vorfall in seinem Reisebericht zu erwähnen, ja, sein Name wird in dem zweibändigen Werk nicht ein einziges Mal erwähnt – nicht einmal in der Crewliste. Es ist, als habe ein Mann dieses Namens nie existiert. Und doch war es die nur unzureichend dokumentierte Fahnenflucht von Harry J. Baker, die dafür sorgte, dass Tom Crean auf der Bildfläche der Polarforschung und -erkundung erschien.

Vollmatrose Baker, fünfundzwanzig Jahre alt und gebürtig aus Sandgate in Kent, scheint schon auf der Überfahrt von England mehrfach unangenehm aufgefallen zu sein und war bei seinen Kameraden nicht sonderlich beliebt. Der einzige Beleg für sein Fehlverhalten findet sich aber in einem handschriftlichen Brief von Scott an die Königliche Geografische Gesellschaft vom 18. Dezember 1901, als die Discovery im Begriff war, sich von Neuseeland zu verabschieden.7 Der Brief entstand drei Tage vor Bonners tödlichem Unfall und kurz bevor sich mit dem Matrosen Sinclair ein weiteres Besatzungsmitglied unerlaubt vom Dienst entfernte. Sinclair hatte immerhin einen ehrenhaften Grund vorzuweisen, denn mit der Fahnenflucht zog er die Konsequenzen daraus, dass er sich für Bonners Tod verantwortlich fühlte.

In seinem Brief kam Scott auch darauf zu sprechen, dass Baker schon früher für Ärger gesorgt hatte. Dort schrieb er: »Baker war ein guter Seemann, aber bei seinen Kameraden alles andere als beliebt.«8

Einen Vorgesetzten zu schlagen war ein Vergehen, das unter keinen Umständen geduldet werden konnte, und Scott ordnete an, Baker umgehend in Arrest zu nehmen. In seinem Brief an die Königliche Geografische Gesellschaft hieß es dazu:

Nachdem Baker den Unteroffizier geschlagen hatte, habe ich ihn darüber informiert, dass er unmöglich an Bord bleiben könne – woraufhin er Reißaus nahm. Ich erließ umgehend einen Haftbefehl und setzte auf seine Ergreifung eine Belohnung aus, aber er war und blieb verschwunden.9

Sir Clements Markham hielt seine eigene, deutlich verkürzte Version der Ereignisse fest – fraglos aufgrund von Informationen, die von Scott stammten. In seinen Memoiren heißt es über Baker: »In Lyttelton als ungeeignet aussortiert. Fahnenflüchtig. Bei seinen Kameraden unbeliebt.«10 Einige Seiten später fällt das Urteil über denselben Mann noch kürzer aus: »In Lyttelton desertiert. Ungeeignet.«11

Auch das Logbuch der Ringarooma liefert uns keine weiteren Informationen zu den Umständen, die zu Creans Wechsel auf die Discovery führten. Aber es belegt, dass der Wechsel vor Bonners tödlichem Unfall erfolgte. Am 9. Dezember hieß es dort schlicht: »Obergefreiten Crean auf die SS Discovery abkommandiert.«12

Aus Aufzeichnungen, die von der Discovery-Expedition stammen und heute von der Königlichen Geografischen Gesellschaft aufbewahrt werden, geht hervor, dass Crean am 10. Dezember 1901 zur Besatzung stieß. In dem besagten Brief Scotts an die Gesellschaft hieß es dazu:

Mit Billigung des Admirals hat Captain Rich von der Ringarooma mir freundlicherweise einen Mann namens Crean überlassen, der das verlustig gegangene Besatzungsmitglied (Baker) ersetzt.13

Der von einem Bauernhof stammende Seemann gehörte nun zu einer Elite, deren Ziel eine noch weitgehend unbekannte Region der Welt war. Dafür wurde er mit der Heuer entlohnt, die einem Obergefreiten zustand: zwei Pfund, fünf Shilling, sieben Pence im Monat (nach heutigem Stand etwa 120,70 Pfund). Bis heute herrscht die Ansicht vor, dass sich Crean in den Tagen kurz vor Weihnachten 1901 freiwillig für den Dienst auf der Discovery gemeldet hat, ein Beleg dafür findet sich in den Marineunterlagen jedoch nicht.

Überliefert ist hingegen eine Anekdote, laut der ein Besatzungsmitglied der Ringarooma gehört haben will, wie Crean sich für den Posten meldete, woraufhin er ihm gesagt haben soll: »Ich hätte nicht gedacht, dass du so verrückt bist, freiwillig eine Reise ans Ende der Welt mitzumachen.« Crean soll geantwortet haben: »Ich war ja auch verrückt genug, von der anderen Seite der Welt hierherzukommen.«

Weil Crean zu jenen Männern gehörte, die täglich zum Arbeitseinsatz auf der Discovery fuhren, wird er gewusst haben, dass seit Bakers Angriff auf den Unteroffizier ein Posten vakant war. Doch es mag auch weitere Motive gegeben haben. Ein Seemann, der sich für eine solche Reise freiwillig meldete, verdiente sich damit den Respekt und die Bewunderung der Kameraden. Und wer sich auch nur halbwegs in der Geschichte der Navy auskannte, wusste, dass seit den Tagen von Cook und anderen mit einer solchen Reise in aller Regel eine Beförderung verbunden war.

Im Entschluss, sich freiwillig zu melden, äußern sich aber auch das Crean eigene Selbstvertrauen und der Glaube an seine Fähigkeiten. Denkt man das Streben nach Unabhängigkeit hinzu, das er schon in frühester Kindheit entwickelte, hat man die Puzzleteile zusammen, aus denen sich seine Charakterstärke erklärt.

Dass Crean mit großer Wahrscheinlichkeit freiwillig auf die Discovery wechselte, belegt nur, wie wahllos die Schiffsbesatzungen in den Anfangsjahren der Polarexpeditionen letztlich zusammengestellt waren. Wie Crean hatten auch die meisten Kameraden keinerlei Erfahrung mit den Bedingungen, die sie erwarteten, und keinerlei Ausbildung erhalten, die sie auf die vor ihnen liegenden Entbehrungen vorbereitet hätte. Ihre »Qualifikation« bestand in erster Linie darin, dass sie etwas erleben wollten; was sie reizte, war die Aussicht, im Wortsinn Neuland zu betreten. In Creans Fall kam hinzu, dass er zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort war.

Bestandene Feuertaufe. Nach der Rückkehr aus der Antarktis im September 1904 nimmt die Besatzung der Discovery Aufstellung für ein Erinnerungsfoto. Crean sitzt in der hintersten Reihe (8. von links). Auf der Discovery waren einige der führenden Vertreter des Goldenen Zeitalters versammelt: Robert Scott (vorn, 8. von links), Ernest Shackleton (vorn, 5. von links, mit vor der Brust verschränkten Armen), Edward Wilson (vorn, 6. von links), Frank Wild (hinten, 3. von links), William Lashly (hinten, 7. von links) und Edgar »Taff« Evans (hinten, 10. von links).

Das Durchschnittsalter der Besatzung der Discovery betrug lediglich siebenundzwanzig Jahre, sodass Crean, der vierundzwanzig Lenze zählte, an Bord viele Gleichaltrige vorfand. So gesehen war die Reise ins Ungewisse, von der niemand wusste, wie lange sie dauern würde, für jemanden, der sein Geburtsdatum im Dunkeln gelassen hatte, um mit fünfzehn Jahren bei der Navy das Abenteuer zu suchen, eine willkommene Herausforderung.

In seiner fast zweijährigen Dienstzeit auf der Ringarooma hatte sich Crean bei seinen Kameraden beliebt gemacht. Sie dankten es ihm, indem sie Geld sammelten und ihm ein Abschiedsgeschenk mit auf den Weg gaben, ein Fotoalbum mit einer Widmung, die viel über das Ansehen verrät, das Crean genoss.

Für Thos Crean, überreicht von seinen Kameraden der HMS Ringarooma als Zeichen des Respekts, der guten Wünsche für sein weiteres Wohlergehen und eine sichere Heimkehr, aus Anlass seines Aufbruchs in die Antarktis als Freiwilliger auf dem britischen Schiff Discovery am 20. Dezember 1901.

Ein weiterer Talisman, der Crean auf seine Reise gen Süden begleitete, war das kleine Skapulier, das nach wie vor an einem Lederband um seinen Hals baumelte.

AUFBRUCH INS UNBEKANNTE

Die Vorbereitungen für die Verabschiedung aus Neuseeland beflügelten die Männer, und Scott plante, am 21. Dezember 1901 von Lyttelton, dem Hafen von Christchurch, aus in See zu stechen und in Port Chalmers, dem Hafen von Dunedin, einen letzten Zwischenhalt einzulegen, um den Kohlevorrat für die Fahrt über den tückischen Südlichen Ozean aufzustocken. Doch der Start des gewagten Unterfangens war infolge des tödlichen Unfalls von Charles Bonner alles andere als gelungen.

Der Tag der Abfahrt hatte gut begonnen, die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Die Einheimischen hatten die Ankunft der Discovery in Neuseeland mit großem Interesse verfolgt, und nun waren Tausende von ihnen in den kleinen Hafen gekommen, um Scott und seinen Begleitern Lebewohl zu sagen. Der Wunsch, einen letzten Blick auf die Entdecker zu werfen, war so verbreitet, dass Sonderzüge eingesetzt werden mussten, um die Schaulustigen aus dem nahen Christchurch heranzukarren. Im Hafen angekommen, wurden sie von Kapellen, tutenden Schiffssirenen und einer begeisterten Menschenmenge empfangen, die den mutigen Männern zuwinkte und sie hochleben ließ.

Der Bischof von Christchurch kam an Bord, hielt eine kurze Andacht ab und segnete die Forschungsreisenden. Kurz darauf geleiteten das Kriegsschiff Lizard und Creans früheres Schiff, die Ringarooma, die schwer beladene Discovery aus dem Hafen von Lyttelton hinaus. Scott berichtete gar von fünf weiteren, feierlich geflaggten Dampfern, die mit Menschen vollgepackt waren und sie auf den ersten Metern ihrer langen Reise begleiteten.

Auf Kais und Molen standen begeisterte Menschen dicht gedrängt. Es war tatsächlich eine würdige Verabschiedung.1

William Lashly, der Heizer, der gemeinsam mit Crean in die Annalen der Arktiserkundung eingehen sollte, sprach von »Hunderten«, die die Discovery hochleben ließen, und ergänzte:

Unser Aufenthalt in Lyttelton war anstrengend, aber schön. Die Menschen hier scheinen mir sehr nett und hilfsbereit zu sein. Und sie gehen offenbar davon aus, dass uns vor der Abfahrt etwas Unterhaltung guttun könnte. Die Verabschiedung war sehr herzlich. Alle Schiffe, die im Hafen lagen, haben uns bis an den Ausgang der Bucht begleitet, uns Gottes Segen und eine wohlbehaltene Rückkehr gewünscht.2

Doch dann kam Bonner zu Tode. Bonner, der junge Seemann, der erst dreiundzwanzig Jahre alt war und aus Bow im Londoner East End stammte, war im Juni 1901 von der HMS Jupiter auf die Discovery gewechselt. Er gehörte zu den ersten Männern, die Scott für seine Expedition rekrutierte.

Die emotionale Verabschiedung scheint den Seemann zum Leichtsinn verführt zu haben. Er hatte bereits stark dem Alkohol zugesprochen, und während die Discovery langsam den Hafen von Lyttelton verließ, kletterte er von seinem Platz im Krähennest zum Topp des Großmastes, um von dort einen exklusiven Ausblick auf die Vorgänge tief unter ihm zu genießen. Was dann geschah, hielt Scott in seinem Buch fest:

Hoch oben auf dem Flaggenkopf sitzend, hatte er wie die anderen gewinkt und gejubelt, bis er sich in einem Anflug von Übermut aufrichtete und sich nur noch an dem dünnen Flaggenstock im Topp halten konnte. Was genau dann geschah, werden wir nie erfahren; vielleicht war es eine Welle, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Zu uns, die wir an Deck standen, drang ein lauter Schrei, und als wir aufblickten, sahen wir eine Gestalt, die auf uns zuraste und dabei den Flaggenstock aus dem Topp fest umklammerte. Dann landete sie kopfüber auf der Ecke eines eisernen Deckshauses. Der Tod trat unmittelbar ein.3

Lashly, stets ein Mann der klaren Worte, notierte in seinem Tagebuch:

Er verlor das Gleichgewicht, als das Schiff in der ersten Welle überholte, und stürzte auf das Deck, den Flaggenstock noch in der Hand.4

Edward »Bill« Wilson, seines Zeichens Schiffsarzt und Zoologe auf der Discovery, hielt fest, dass viele der hartgesottenen Seeleute das Ereignis als Tragödie empfanden, an der sie schwer zu schlucken hatten. Seinem Tagebuch vertraute er an, dass viele Männer »weinten wie Kinder«, und der Schiffszimmermann James Duncan meinte, der Unfall habe »die Stimmung an Bord nachhaltig verschlechtert«.5 Matrose Sinclair, der Bonner wohl eine Flasche Whisky gegeben hatte, bevor der in den Großmast aufgeentert war, klaute sich daraufhin etwas Zivilkleidung zusammen und verschwand. Scott beschrieb den Vorfall als »eine jener Tragödien, die einem die harte Wirklichkeit des Lebens in Erinnerung rufen«, und wusste zu berichten, dass auf dem ganzen Schiff »Trauer und Betroffenheit« lasteten. Bonner wurde am 23. Dezember, kurz nach der Ankunft in Port Chalmers, bestattet. Und wie zum Beweis der These von der »harten Wirklichkeit des Lebens«, in diesem Falle des entbehrungsreichen Lebens, das unter Deck der Schiffe der britischen Navy zur Zeit König Edwards herrschte, führte Scott in seinem Bericht an die Königliche Geografische Gesellschaft aus, dass »Bonners persönliche Habe und die wenigen Kleidungsstücke, die ihm gehörten«, an Bord der Ringarooma verkauft werden sollten. Der Erlös, so der knappe Kommentar, »dürfte sehr gering ausfallen«.

Für Bonner kam nun aber nicht Crean an Bord, sondern Jesse Handsley aus Gloucester, der gemeinsam mit Crean auf der Ringarooma gedient und sich ebenfalls freiwillig gemeldet hatte.

Der Abschied von Port Chalmers am Weihnachtsabend 1901 fiel ungleich verhaltener aus als der von Lyttelton drei Tage zuvor, denn noch standen alle unter dem Eindruck des Todes von Bonner. Das Schiff, bis oben hin mit Kohle, Proviant und lebendem Vieh bepackt, verabschiedete sich um 9:30 Uhr Ortszeit von der Zivilisation und dampfte schwerfällig davon. Louis Bernacchi, der Physiker der Expedition, notierte, dass »kein Winkel und keine Nische des Schiffes ungenutzt geblieben« waren, sodass »die Freibordmarke so weit unter Wasser lag, dass sie in Vergessenheit geriet«. Die Verhältnisse an Bord beschrieb er als »ein Durcheinander, das eines Schiffes unwürdig war«.

Auch wenn dieser zweite Aufbruch still und leise verlief, ließ es sich die Ringarooma nicht nehmen, die Discovery auf den Weg zu bringen, und so konnte Crean seinen Kameraden persönlich Lebewohl sagen. Bis die Discovery aus dem Süden zurück sein und wieder in Lyttelton festmachen würde, sollten zweieinhalb Jahre vergehen.

Der Weihnachtstag 1901 verlief sicherlich anders, als Crean und die anderen Männer es sich je hätten erträumen lassen. Die Discovery bewegte sich langsam Richtung Süden – an Bord die erste britische Expedition, die wieder Richtung Antarktis fuhr, seit Sir James Clark Ross es sechzig Jahre zuvor zuletzt gewagt hatte. Nach Feiern war offenbar niemandem zumute, die Stimmung an Bord eher nachdenklich. Die Erinnerung an Bonners Tod war noch zu frisch, und einige der traditionell abergläubischen Seeleute werden den Unfall als schlechtes Omen für die gesamte Reise aufgefasst haben.

In der Gewissheit, dass er mindestens ein Jahr lang keinen Kontakt mit der Zivilisation haben würde, notierte Scott:

Den Weihnachtstag verbrachten wir in den endlosen Weiten des Südlichen Ozeans, aber der Abschied von unserem Freund lag erst so kurz zurück, dass niemandem von uns nach Feiern zumute war, und so verstrich der Tag ereignislos.6

In Gedanken an den Tod Bonners wurde das traditionelle Weihnachtsessen vertagt und am 5. Januar nachgeholt. Da hatte die Discovery den südlichen Polarkreis bereits gequert. Der Schiffszimmermann Duncan, der aus Dundee stammte, dem Heimathafen der Discovery, beschrieb die melancholische Stimmung, die zum Jahreswechsel an Bord herrschte, während das Schiff sich durch den Südlichen Ozean arbeitete, wie folgt:

Der Neujahrsmorgen begann mit gutem Wetter und ließ mich an die Lieben daheim denken, die gut 25 000 Kilometer entfernt sind. Wir befinden uns so weit im Süden wie seit einem Jahrhundert kein Schiff mehr und fernab jeglicher Zivilisation. Wann wir zurückkehren, steht in den Sternen. Hoffen wir das Beste.7

Immerhin war der Discovery gutes Wetter beschieden, was in Anbetracht der überquellenden Decks und des berüchtigten Reviers, in dem sie sich befanden, ein echter Glücksfall war. Der Südliche Ozean ist das wind- und wellenreichste Gewässer der Erde, und ein starker Sturm wäre für das Schiff eine ernsthafte Bedrohung gewesen. Scott war sich der Tatsache bewusst, dass schlechtes Wetter »extrem unangenehme Folgen« gehabt hätte, und innerlich darauf eingestellt, im Falle eines Falles die Decksladung aufzugeben – ein Wirrwarr aus Proviantkisten, Kohlehalden, fünfundvierzig verängstigten Schafen sowie dreiundzwanzig heulenden Hunden.

Den ersten Eisberg sichteten die Männer der Discovery am 2. Januar 1902 auf 65°30' südlicher Breite. Tags darauf querten sie den südlichen Polarkreis, der auf 66°33'55" S verläuft, und hielten sich Bernacchi zufolge an die alte Sitte, die es den Matrosen erlaubt, den aus diesem Anlass fälligen Drink auf dem Tisch der Messe stehend zu sich zu nehmen. Man stelle sich den kräftig gebauten Crean vor, wie er zum ersten Mal an diesem Ritual teilnimmt. Viele weitere Male sollten folgen.

Die erste Sichtung von Antarktika fand laut Logbuch am 8. Januar 1902 um 22:30 Uhr statt. Scott notierte:

Wer nicht an Deck war, kam angelaufen, um einen ersten Blick auf den antarktischen Kontinent zu werfen. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel über dem südlichen Horizont und beleuchtete die Szenerie taghell.8

Bernacchi, dessen Wurzeln in Italien lagen, äußerte sich ausführlicher und emotionaler zu dem Ereignis, obwohl er der Einzige an Bord war, der sich nicht zum ersten Mal in diesen Breiten aufhielt. Er hatte als Physiker die Expedition des Norwegers Carsten Borchgrevink mitgemacht, die 1899 an Bord der Southern Cross zum ersten Mal in der Geschichte einen Winter in der Antarktis verbracht hatte. Doch auch beim zweiten Mal hatte die Landschaft, die sich vor ihm auftat, nichts von ihrer Faszination verloren.

Der Anblick, der sich uns bot, war von einer überwältigenden, nicht für möglich gehaltenen Schönheit, und so blieben wir bis zum nächsten Morgen an Deck.9

Ungeachtet der langen Dauer der Expedition, zeichnete Bernacchi in seinem Buch The Saga of the Discovery ein durchweg positives Bild vom Alltag an Bord, ein Bild, das nicht in allen Punkten mit dem übereinstimmt, was andere berichteten. Bei ihm hieß es etwa: