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China und Russland, Iran oder auch die Türkei – Autokraten nutzen im Kampf der Systeme eine Vielzahl von Strategien, um westliche Demokratien systematisch auszuhöhlen. Ihre neue Form eines stillen und verdeckten, aber effektiven Hybridkriegs hat längst die Bundesrepublik erreicht. Nach ihrem SPIEGEL-Bestseller "Die Moskau-Connection" zeichnen die beiden FAZ-Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem neuen Werk nach, wie die bedrohliche Achse autokratischer Staaten Deutschland angreift und welche Gefahren davon für unsere Gesellschaft und Institutionen ausgehen.
Sie kommen zu dem Schluss: Politik, Behörden und die meisten Bürger waren hierzulande lange Zeit viel zu blauäugig. Die Autokraten hatten und haben deshalb weiter leichtes Spiel, uns zu schwächen. Sie setzen eine neue Art von Agenten auf unserem Territorium ein, geben Morde in Auftrag und nutzen die Anfälligkeit kritischer Infrastruktur für Sabotageakte. Sie korrumpieren Entscheidungsträger, unterstützen extremistische Parteien oder Gruppen und instrumentalisieren Flüchtlingsströme als Waffe. Sie streuen über Auslandsmedien, Einflussportale und Trolle fragwürdige Narrative und säen Zweifel an unserer Demokratie. Und sie führen Cyber-Angriffe auf staatliche Institutionen durch. In der «Zeitenwende» wird der Westen durch einen verdeckten Krieg zunehmend bedroht, deshalb braucht es eine neue Robustheit und Aufklärung, um den Gefahren zu begegnen. Die Autoren zeigen, wie wir in Deutschland und Europa gegenzusteuern versuchen und welche Veränderungen nötig sind, um uns künftig effektiver zu schützen. Fest steht: Wir werden in dieser entscheidenden Auseinandersetzung einen langen Atem brauchen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Reinhard Bingener Markus Wehner
Der stille Krieg
Wie Autokraten Deutschland angreifen
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Einleitung
Allianz der Autokraten
Die Schwäche des Westens
Der hybride Angriff
Vordenker Gerassimow?
Ein Chamäleon aus dem Osten
Weshalb die Globalisierung hybride Gefahren verstärkt
Weshalb gerade Autokratien zu hybriden Mitteln greifen
Deutschland als Ziel
Gliederung
1 Von Wunderkindern und Honigfallen: Deutschland als Ziel von Spionage
Putins Wunderkinder
Putin und die russischen Geheimdienste
Die Illegalen sind unter uns
Die Ausweisung der Diplomaten-Agenten
Deutsche Spione für Russland
Peking spioniert für den «Chinesischen Traum»
Vom Wirtschaftskrimi zum Spionagethriller: Der Fall Marsalek
2 Das Kapern der Eliten: Die Fortsetzung der Moskau-Connection
Das Russland-Netzwerk in der CDU
Eine Russland-Konferenz der Adenauer-Stiftung
Der Journalist und sein russischer Oligarch
Halbherzige Zeitenwende
Ein Bundespräsident rettet sich
Seidenstraße bis Berlin
3 Lizenz zum Töten: Russlands politische Morde
Ein Mörder wird ausgetauscht
Ein Mord in Deutschland
In der Tradition des
KGB
Die Wiederkehr der Morde
Der Fall Skripal
Verdacht in Deutschland
4 Brände, zerstörte Kabel, Einmal-Agenten: Das neue Gesicht der Sabotage
Low Level, high risk
Eine Flut von Verdachtsfällen
Propaganda-Sabotage
Den Gegner kartieren
Kabel, Röhren und eine Schattenflotte
5 Die Armeen der Hacker: Moskau und Peking greifen im Cyber-Raum an
Die Raubzüge der Bären und der Pandas
Das Ökosystem der Hacker
Attacken auf den Bundestag und politische Parteien
Cyber-Nahkampf
Daten ohne Ende
6 Desinformation: Eine weiche Waffe trifft Deutschland hart
«Das Schlachtfeld sind die Köpfe»
«Doppelgänger»
Einmischung in Wahlkämpfe:
USA
und Deutschland
Propaganda für die Hamas, vom Kreml bezahlt
Wie
RT
in Deutschland immer weiter macht
Wie Desinformation wirkt
Ein Propagandazentrum in Berlin: Das Russische Haus
7 Putins Querfront: Die AfD und Sahra Wagenknecht
Moskaus rechtsextreme Internationale
Der Kreml und die AfD
Geld aus Moskau? Der Fall «Voice of Europe»
Partner Peking: Krah und die China-Connection der AfD
Ein Einflussagent in der AfD-Fraktion
Musik in Putins Ohren: Der Fall Moosdorf
Geschäfte im Lukaschenko-Reich: Der Fall Dornau
Querfront von Moskaus Gnaden? Sahra Wagenknecht und Russland
Hilfe aus der Community: Russischsprachige Deutsche für Moskau
Aktivisten und Influencer
8 Migration als Waffe: Wenn Diktaturen zu Schleusern werden
Das Beispiel der Tschetschenen
Statthalter Kadyrows in Deutschland
Tschetschenen in der organisierten Kriminalität
Kadyrow verfolgt Gegner im Ausland
Eine geplante Einwanderung
Das Innenministerium hatte es erkannt
Mit dem Fahrrad auf der Polarroute: Norwegen und Finnland 2015
Russlands Krieg in Syrien
Lukaschenkos Migrationsattacke auf die
EU
2021
Kritik an der Haltung der
EU
Nach dem Überfall auf die Ukraine: Polarroute, die zweite
Russland in Afrika: Das Beispiel Niger
Geglückte Reaktion: Der Angriff auf die Ukraine und die Migration
9 Wolfsgrüße aus Ankara: Erdogans Ethnopolitik
Wie der geopolitische Schwenk der Türkei bis in deutsche Moscheen wirkt
Was Erdogan unter Integration versteht
Machtmittel Religion
Schluss
Danksagung
Anmerkungen
Einleitung
1 Von Wunderkindern und Honigfallen: Deutschland als Ziel von Spionage
2 Das Kapern der Eliten: Die Fortsetzung der Moskau-Connection
3 Lizenz zum Töten: Russlands politische Morde
4 Brände, zerstörte Kabel, Einmal-Agenten: Das neue Gesicht der Sabotage
5 Die Armeen der Hacker: Moskau und Peking greifen im Cyberraum an
6 Desinformation: Eine weiche Waffe trifft Deutschland hart
7 Putins Querfront: Die AfD und Sahra Wagenknecht
8 Migration als Waffe: Wenn Diktaturen zu Schleusern werden
9 Wolfsgrüße aus Ankara: Erdogans Ethnopolitik
Bildnachweis
Personenregister
Zum Buch
Vita
Impressum
Ein deutscher Geschäftsmann übergibt im VIP-Bereich eines Moskauer Restaurants geheime Papiere des Bundesnachrichtendienstes an zwei Agenten des FSB.
Auf einer gefälschten Webseite der Sächsischen Landesbibliothek werden Besucher gebeten, Bücher russischer Autoren abzugeben, damit durch deren Verbrennung die Räume geheizt werden.
Ein deutscher Ingenieur wird verhaftet, weil er Informationen über deutsche Militärtechnologie an den chinesischen Geheimdienst geliefert hat.
Nach Deutschland reisen im Lauf von wenigen Jahren Zehntausende Tschetschenen ein, viele stellen heute eine hochproblematische Gruppe innerhalb der Organisierten Kriminalität dar.
Ukrainische Flüchtlinge sollen beim Versuch, eine russische Flagge anzuzünden, das Haus ihrer deutschen Gastfamilie in Brand gesetzt haben – die Meldung ist frei erfunden.
Auf Rat der deutschen Behörden greifen Konzerne zu drastischen Schritten: Sie geben Mitarbeitern vor ihren Reisen nach China neue Notebooks und Smartphones, die nach der Rückkehr weggeworfen werden. Eine USB-Buchse im Hotelzimmer kann ausreichen, um Geräte zu infiltrieren.
Ein Internetportal in Berlin, das für die palästinensische Terrororganisation Hamas wirbt, wird verdeckt von Russland finanziert.
Ein Österreicher gibt von Moskau aus die Anweisung an einen Bulgaren in London, die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf einem amerikanischen Übungsplatz in Baden-Württemberg auszuspionieren.
Eine regimekritische russische Journalistin erkrankt im Berliner Exil aus unerklärlichen Gründen schwer, eine Vergiftung wird vermutet.
Zwei Russlanddeutsche werden verhaftet, weil sie Militärtransporte ausspionierten, um Anschläge zu begehen.
Der Krieg, von dem dieses Buch handelt, ist anders. Man hört ihn kaum, man sieht ihn kaum, denn er wird ohne Kanonendonner und Schützengräben geführt. Es ist ein stiller Krieg, der sich aus unzähligen kleinen Begebenheiten wie den gerade angeführten Szenen zusammensetzt, aber dasselbe Ziel hat wie jeder andere Krieg: Es geht darum, dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Urheber dieses stillen oder auch hybriden Kriegs sitzt im Kreml und will sich Deutschland und seine europäischen Nachbarn gefügig machen. Er setzt dabei sämtliche Methoden ein, die er beim sowjetischen Geheimdienst KGB gelernt hat. Sabotage, Spionage und Mord gehören dazu. Und es geht darum, ein Gefühl von Unsicherheit zu schüren, Verwirrung zu stiften, Zwietracht zu säen oder eine Figur aus dem Spiel zu nehmen und dafür eine andere Figur in eine Schlüsselposition zu hieven.
Am Anfang eines hybriden Krieges steht keine förmliche Kriegserklärung. Der Angreifer hat seine Attacke längst begonnen, während sich der Angegriffene zunächst weiter im Frieden wähnt. Der Angegriffene sieht vielleicht die einzelnen Nadelstiche, aber fügt sie nicht zu einem Gesamtbild zusammen. Deutschland befindet sich in genau dieser Lage. Weite Teile der Bevölkerung haben noch keinen Begriff davon, wie umfassend und weitreichend der Angriff auf ihr Land ist.
Dieser Angriff trifft Deutschland und seine europäischen Partner zudem in einer Zeit großer Verunsicherung. Denn die Vereinigten Staaten drohen als Garant ihrer Sicherheit auszufallen. Seit der ersten Wahl Donald Trumps im Jahr 2016, spätestens aber nach seiner Wiederwahl im Jahr 2024 kommt auch altgedienten Transatlantikern das Wort vom «Westen» nicht mehr so leicht über die Lippen wie zuvor. Denn Trump lässt nicht nur Zweifel an Amerikas Treue gegenüber seinen Bündnispartnern in der Nato aufkommen. Er sympathisiert auch offen mit Autokraten und kopiert ihre Methoden. Seine Angriffe auf die Institutionen der amerikanischen Demokratie folgen einem Muster, das auch bei Viktor Orbán und anderen Rechtspopulisten in Europa zu beobachten ist. Wladimir Putin hat all diese Entwicklungen nach Kräften befördert.
Der Herrscher im Kreml ist nur einer von mehreren Autokraten, die mit langem Atem daran arbeiten, die von den westlichen Demokratien dominierte Weltordnung zu zerbrechen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Allianz der Autokraten zu beschreiben. Man kann sie am Bündnis der beiden Männer Putin und Xi Jinping festmachen, das am 22. März 2023 besonders greifbar wurde. Nach einem dreitägigen Staatsbesuch in Moskau stieg der chinesische Staatspräsident damals gemeinsam mit Wladimir Putin die Stufen einer langen Treppe im Kreml herab. Unten an der Tür sagte Xi Jinping zum Abschied noch einige wenige Worte zu Putin: «Es gibt jetzt Veränderungen, wie wir sie in hundert Jahren nicht gesehen haben», so Xi. «Und wir bringen diesen Wandel gemeinsam voran.»
«Veränderungen, wie wir sie in hundert Jahren nicht gesehen haben»: Xi und Putin 2023 im Kreml
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine läuft zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Jahr. Xi Jinping war vermutlich die einzige Person, die Putin von diesem Krieg hätte abhalten können. Doch statt den Tod von hunderttausenden Menschen zu verhindern, lässt der Chinese Putin gewähren. Xi Jinping hilft dem Kreml sogar, indem er seine Kriegskasse durch den Kauf von russischem Gas und Öl füllt und Dual-Use-Güter an Russland liefert, die auch für militärische Zwecke genutzt werden können. Der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine passt offenkundig zu dem «Wandel», von dem der chinesische Staatspräsident spricht. Denn kommt Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine durch, könnte Xi Jinping dies später als Blaupause für einen Angriff auf Taiwan dienen. Peking teilt zudem den Wunsch Moskaus, den geopolitischen Rahmen zugunsten der Autokratien zu verschieben. China bringt in diese Interessenkoalition mehr als eine Milliarde Menschen und fortschrittliche Technologien ein, Russland das größte Territorium der Erde und bedeutende Bodenschätze. Machtpolitisch betrachtet bilden Putin und Xi Jinping ein perfect match.
Man kann den Rahmen der autokratischen Allianz aber noch weiter ziehen: Denn neben Russland und China haben weitere Länder ein Interesse, die jahrzehntelange Vormachtstellung der westlich geprägten Demokratien mit ihren hochentwickelten Marktwirtschaften zu durchbrechen, die sich im Club der G7 formiert haben. Als Gegengewicht dazu haben sich die sogenannten BRICS-Staaten zusammengeschlossen, zu denen neben China und Russland auch Indien, Brasilien, Südafrika und mittlerweile auch Iran und weitere Länder zählen. Auch die Türkei hat 2024 eine Aufnahme beantragt. Nicht alle BRICS-Staaten sind Autokratien. Aber anders als bei den G7 legen die BRICS keinen Wert auf die Einhaltung demokratischer oder rechtsstaatlicher Standards. Die innere Verfasstheit der Mitgliedsstaaten oder die Achtung der Menschenrechte scheint mehr oder minder egal – ein Hinweis darauf, wohin die Reise gehen soll.
Der Schulterschluss der Autokraten wird auch zunehmend öfter durch den Begriff CRINK beschrieben: Das Akronym steht für China, Russland sowie Iran und Nordkorea, die beide den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine militärisch direkt unterstützen, im Falle von Nordkorea sogar mit Soldaten. Die vier Länder, in denen die Herrschenden eine harsche Repression ausüben, haben sich zwar nicht formal zusammengeschlossen. In den vergangenen Jahren wird unter ihnen jedoch eine Zusammenarbeit gegen den Westen beobachtet, die sich immer weiter vertieft hat. Sogar von einem «neuen Kalten Krieg» wird in diesem Zusammenhang gesprochen.
Anders als der Kalte Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich dieser Systemkonflikt jedoch nicht aus der systemischen Opposition von Kapitalismus und Kommunismus erklären. Schon Iran mit seiner islamischen Theokratie durchbricht dieses Raster. Die Gemeinsamkeit der genannten Staaten entspringt also nicht einer von allen geteilten Ideologie. Die ideologische Ebene ist aber nicht bedeutungslos geworden: Nordkorea und China sind noch immer kommunistische Parteidiktaturen. Und Russland hat seine sowjetische Vergangenheit niemals richtig aufgearbeitet, dort werden die kommunistischen Symbole und Traditionen wieder zunehmend genutzt. Denn Russland ist unter Putin zu einem weltanschaulichen Zwitterwesen geworden, in dem bisweilen Hammer und Sichel auf Panzern wehen, die ein orthodoxer Priester zuvor mit Weihwasser besprenkelt hat. Diese ideologische Hybridität bildet ein verbindendes Element der neuen Allianz. Wie Russland unter Putin wird auch China unter der Herrschaft von Xi Jinping zunehmend nationalistischer und knüpft dabei an alte chinesische, konfuzianische Traditionen an, die Chinas Kommunisten zuvor noch vehement bekämpft haben. In Nordkorea wiederum bildet der Kommunismus die Hülle für die Herrschaft der Kim-Familie und ihren Personenkult. Und in Iran hat die islamische Theokratie längst Elemente des alten persischen Nationalismus integriert und bedient nicht zuletzt die materiellen Interessen der Anführer der Revolutionsgarden, die weite Teile der siechen Wirtschaft kontrollieren.
Solche kleptokratischen Verflechtungen sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis der antiwestlichen Herrschaftssysteme. Was für den Iran die Revolutionsgarden und für Nordkorea die Kim-Familie, sind in Russland Putins alte Geheimdienst-Kumpel, die «Silowiki», und in China der alte Parteiadel, dem auch Xi Jinping entstammt. Es wäre jedoch falsch, Russland und China nur als kleptokratische Systeme zu beschreiben. Putin wie auch Xi sind zwar keine Ideologen, die sich an einer weltanschaulichen Doktrin wie dem Marxismus orientieren. Sie sehen sich aber dennoch auf einer historischen Mission, deren Ziel in maximaler nationaler Stärke besteht. Putin will das alte russische oder sowjetische Imperium wiederherstellen, die Dominanz in Osteuropa wieder erringen und das östliche Mitteleuropa neutralisieren. Dafür nutzt Moskau wirtschaftliche Abhängigkeiten, aber auch militärische Interventionen oder unterstützt populistische Parteien und separatistische Bewegungen. Xi will China zur führenden globalen Wirtschafts- und Militärmacht machen, die den USA überlegen sein wird. Beide sind schon über siebzig und gewillt, ihre Mission noch zu Lebzeiten entscheidend voranzutreiben.
Für die «Achse der Autokraten» bildet das demokratische Gesellschaftsmodell allerdings eine bleibende Herausforderung. Denn die westlichen Demokratien haben wirtschaftlich und technologisch weiter eine starke Stellung. Und die kulturelle Attraktivität freier Gesellschaften ist weiterhin so groß, dass die Autokraten ihre Völker mit rigorosen Mitteln dagegen abschirmen. Sie wollen um jeden Preis das Schreckgespenst demokratischer Revolutionen verhindern, die seit der Orange Revolution 2004 in der Ukraine auch als Farbrevolutionen bezeichnet werden. Der Kampf mit den demokratischen Rechtsstaaten ist für die autokratischen Regime und ihre Machthaber daher immer auch ein Kampf um ihr eigenes Überleben.
In Moskau und Peking reifte schon vor der Wahl Donald Trumps die Erkenntnis, dass die Zeit, anders als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lange prognostiziert, nicht automatisch den Demokratien in die Karten spielt. Denn deren Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung und an der Weltbevölkerung sinkt, und damit auch ihr relativer Einfluss. Auf vielen westlichen Staaten lastet zudem eine hohe Verschuldung, und ihren Regierungen fehlt angesichts anspruchsvoller Bevölkerungen die Kraft zu Reformen. Anders als von manchen Experten angenommen hat auch der Siegeszug der sozialen Netzwerke nicht zum Sturz der Autokraten geführt. Die Plattformen haben stattdessen zu einer zunehmenden Unversöhnlichkeit im Inneren der westlichen Gesellschaften beigetragen. Diese schon länger zu beobachtende Entwicklung verdichtet sich auf dramatische Weise in der Person von Donald Trump, der die gesellschaftliche Polarisierung erfolgreich bewirtschaftet.
Das westliche Bündnis wirkt daher zumindest in den Augen der Autokraten geschwächt und brüchig. Sie haben ihre Chance ergriffen, aus der Defensive in die Offensive zu wechseln und ihren Status auf der Weltbühne neu zu verhandeln. Denn in vielen autoritären Regimen schlummern revanchistische Gelüste. Politiker wie Putin und Xi, aber auch Erdogan, leben in dem Bewusstsein, dass ihr Land mit der Weltgeschichte noch eine Rechnung offen hat. Und ihr Instinkt scheint ihnen zu raten: Der Zeitpunkt, sie zu begleichen, ist näher gerückt.
Der Krieg in der Ukraine ist die Konsequenz und der bisherige Kulminationspunkt dieser Entwicklung. Es kommt jedoch darauf an, den Blick nicht auf das dortige Kriegsgeschehen und eine mögliche Invasion Taiwans durch China zu verengen, sondern die beschriebene geopolitische Dynamik mitzudenken: Putin und Xi Jinping wollen die Grenzen in ihrer Nachbarschaft zu ihren Gunsten verändern. Aber der zitierte Satz des chinesischen Präsidenten am Fuße der Kremltreppe weist darauf hin, dass sie viel mehr wollen: Es geht ihnen um eine andere Weltordnung und ein Durchbrechen der langjährigen Dominanz des Westens. Dieses Ziel werden Putin und Xi Jinping aber kaum allein mit militärischen Mitteln erreichen, sondern nur durch eine strategische Kombination aus Instrumenten der Einflussnahme, insbesondere eine Schwächung der westlichen Staaten im Inneren.
Anders als in früheren Jahrhunderten lässt sich das aktuelle Geschehen nicht mehr durch das bloße Nachzeichnen von Truppenbewegungen auf einer Landkarte erfassen. Die Auseinandersetzung zwischen den Machtblöcken findet zwar auch an der Front in der Ukraine statt. Sie findet aber ebenso, und das ist in dieser spezifischen Ausprägung neu, mitten in den demokratischen Gesellschaften statt. Der Konflikt wird so von einer Angelegenheit der Außenpolitik zunehmend auch zu einer Sache der Inneren Sicherheit.
Diese Verflechtung zu erklären, ist das Anliegen dieses Buches. Dazu bedarf es eines theoretischen Rahmens. In der Debatte gibt es dafür mehrere Vorschläge, wobei sich das Konzept des «hybriden Krieges» zunehmend durchsetzt. Gegen den Begriff wurden schon früh Einwände vorgebracht. Zu schwammig und in der Sache nichts Neues, lautete das Argument im Kern. Diese Kritik hat ihre Berechtigung, sofern der Begriff unreflektiert verwendet wird. Deshalb sind einige einleitende Überlegungen notwendig, um ihn klarer einzuordnen.
Der Begriff des «hybriden Krieges» wurde zuerst von dem amerikanischen Marine-Oberst William Nemeth im Jahr 2002 verwendet. Nemeth beschrieb damals allerdings nicht die Strategie von Russland, sondern von dessen Gegnern im zweiten Tschetschenienkrieg ab 1999. Die beiden amerikanischen Marineoffiziere Frank G. Hoffman und James N. Mattis entwickelten den Begriff dann 2005 im Kontext des amerikanischen Engagements im Nahen und Mittleren Osten weiter. Hoffman und Mattis ging es darum, das amerikanische Militär für die irreguläre Kriegführung durch Akteure wie al-Qaida oder die Taliban zu sensibilisieren. Der Begriff der «Hybridität», der vom Lateinischen «hybrida» (Mischling) abgeleitet ist, hatte zuvor bereits in den Kulturwissenschaften eine steile Karriere gemacht, insbesondere durch Homi Bhabha. Der Harvard-Professor und Theoretiker des Postkolonialismus hat darauf hingewiesen, dass sich in einer globalisierten Welt immer mehr Menschen «in the midst of things» bewegen, also zwischen traditionellen Identitäten, zwischen mehreren Sprachen und zwischen den Ländern. Damit greife aber auch das auf Eindeutigkeit zielende und mit binären Zuordnungen operierende westliche Denken zunehmend weniger, argumentierte Bhabha.
In Europa gewann das Konzept des hybriden Krieges dann mit der russischen Annexion der Krim Anfang 2014 an Bedeutung. Das zeigt sich daran, dass zwei Drittel der mehr als 10.000 Publikationen über den hybriden Krieg bis 2019 nach der Annexion der Krim veröffentlicht wurden.[1] Die Art des russischen Vorgehens setzte damals eine breite Fachdebatte in Europa über hybride Kriegführung in Gang. Denn zunächst erkundeten kremltreue Motorradrocker von den «Nachtwölfen» die Lage auf der Krim und stachelten Proteste an, bevor die berühmten «grünen Männchen», also russische Soldaten ohne Hoheitszeichen, die Kontrolle über die Halbinsel übernahmen. In zahlreichen Publikationen wurde auf einen Auftritt des russischen Generalstabschefs Walerij Gerassimow im Januar 2013 hingewiesen, also gut ein Jahr vor der Krim-Annexion. Gerassimow führte damals vor der jährlichen Versammlung der Russischen Akademie der Militärwissenschaften aus, dass im 21. Jahrhundert eine «Auflösungstendenz der Unterschiede zwischen Krieg und Frieden zu beobachten» sei. Kriege würden nicht mehr förmlich erklärt und verliefen auch nicht nach dem bisherigen Muster. «Die Grundregeln des Krieges haben sich verändert», erklärte Gerassimow, «die Rolle der nichtmilitärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele ist gewachsen und übersteigt in vielen Fällen die Durchsetzungskraft der Waffen». Das Ziel sei, nichtmilitärische Mittel aus der Politik, der Wirtschaft oder der Kommunikation mit Protesten der Bevölkerung zu verbinden. Auch militärische Mittel kämen zur Anwendung, allerdings verdeckt. Der offene Gebrauch militärischer Waffen sei auf eine bestimmte Phase des Konflikts beschränkt, in der Regel auf die Schlussphase.
Im Rückblick schien Gerassimow in solchen Sätzen die Methoden der Krim-Annexion anzudeuten. Der Fokus seiner Rede lag aber gar nicht auf der Krim, sondern auf den «sogenannten Farbenrevolutionen in Nordafrika und dem Mittleren Osten». Es bleibt unklar, ob Gerassimow eher aus einer offensiven oder einer defensiven Perspektive sprach. Und der Begriff des «hybriden Krieges» taucht in der sogenannten Gerassimow-Doktrin gar nicht auf, bei der es sich, wie beschrieben, nicht um eine Militärdoktrin handelte, sondern um eine Rede, aus der einzelne Elemente später Eingang in die offizielle russische Militärdoktrin fanden.[2] Soweit bekannt, existieren auch weder in Russland noch in China oder anderen CRINK-Staaten Drehbücher für ihren hybriden Krieg, geschweige denn ein gemeinsamer Masterplan. Der «hybride Krieg» ist vielmehr ein westliches Konzept, um das Handeln dieser Staaten zu verstehen. Zu dem Begriff gibt es einige Alternativen wie «nicht-lineare Kriegführung», «asymmetrischer Krieg» oder «Schattenkrieg». Auch der Einwand, dass die Einbeziehung nichtmilitärischer Mittel in einem Krieg keineswegs etwas Neues, sondern vielmehr den Normalfall der Militärgeschichte darstellt, ist berechtigt.
Die Kritik geht allerdings fehl, wenn sie die Fortentwicklung des Konzepts des «hybriden Krieges» außer Acht lässt, die nach der Krim-Annexion vor allem in Osteuropa, dem Baltikum und Skandinavien betrieben wurde. Dort, etwa am European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) in Helsinki, wurde bereits vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 ein geeigneter analytischer Rahmen zum Verständnis der hybriden Bedrohung durch Russland, China und andere Staaten geschaffen, der inzwischen auch in anderen westlichen Ländern zunehmend Verbreitung findet.
Zu den Entwicklern dieses Konzepts zählt auch der deutsche Bundeswehr-Oberst und Staatswissenschaftler Johann Schmid, der mittlerweile am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam lehrt. «Wichtig ist: In hybriden Kriegen findet eine horizontale Entgrenzung des Gefechtsfeldes statt», erklärt Schmid.[3] Ein Wirtschaftskrieg allein ist also noch kein hybrider Angriff. Zu diesem wird er erst durch die Kombination von Angriffen auf mehreren Sektoren. Die Auseinandersetzung findet also zugleich als Wirtschaftskrieg, als Propagandakrieg, im Cyber-Raum oder durch Unterwanderung statt. Und häufig lässt sich gar nicht eindeutig ausmachen, wo das Gravitationszentrum des Konflikts liegt. Im Unterschied zur klassischen Kriegführung liegt es zumindest nicht primär auf dem militärischen Schlachtfeld. Schmid nennt das die «nichtmilitärische Zentrierung» hybrider Auseinandersetzungen.
Johann Schmid, Countering Hybrid Threats
Es wäre jedoch ein Missverständnis, militärische und hybride Auseinandersetzung als reine Gegensätze zu begreifen, wie dies in der deutschen Debatte häufiger geschieht. Dabei wird übersehen, dass zwischen dem Krieg in der Ukraine und den verdeckten Angriffen auf Nato-Staaten eine Klammer besteht und auch primär hybriden Auseinandersetzungen häufig eine militärische Komponente innewohnt. Es geht dann jedoch weniger darum, den Gegner durch einen Sieg auf dem Schlachtfeld zu bezwingen, um ihn dann in einem Eisenbahnwaggon eine Kapitulation unterschreiben zu lassen. Hybride Akteure zielen stattdessen auf die inneren Angelegenheiten des Gegners, damit er falsche Entscheidungen trifft. Oder gar keine. Sie manipulieren den Entscheidungsalgorithmus ihres Gegners.
Schon vor mehr als 2500 Jahren schrieb der chinesische Militärstratege Sunzi (auch Sun Tzu), der beste Krieg sei derjenige, den man gewinne, ohne dafür zu den Waffen greifen zu müssen. Sunzi warb damit keineswegs für Gewaltlosigkeit. Er plädierte vielmehr dafür, den Gegner durch das Abschneiden von lebenswichtigen Ressourcen, durch Spionage und Intrigen entscheidend zu schwächen und erst dann aus einer Überlegenheit heraus den entscheidenden militärischen Angriff zu führen.
Gerade westliche Länder tun sich jedoch schwer, hybride Kriegführung als solche zu erkennen. Das westliche Bild vom Krieg ist weiterhin stark von den napoleonischen Feldzügen und den Weltkriegen geprägt. Auch die tief in der abendländischen Geistesgeschichte verwurzelte Lehre vom gerechten Krieg und die hohe Wertschätzung des Völkerrechts in der westlichen Welt machen das Begreifen der hybriden Kriegführung schwerer, denn sie gehen von einer halbwegs eindeutigen Unterscheidung zwischen einem Kriegs- und einem Friedenszustand aus. Obwohl schon Clausewitz wusste, dass der Krieg ein «wahres Chamäleon» ist und auch die vermeintlich klassischen Kriege im Westen bei kritischer Betrachtung viel weniger klassisch waren als angenommen, neigt man im Westen zu solchen binären Denkmustern. Hybride Akteure entziehen sich jedoch diesen Zuschreibungen. Sie fühlen sich wohl, wenn die Kategorien verwischen und ins Tanzen geraten. Und je weiter man nach Osten geht, desto stärker ist diese Tendenz im militärstrategischen Denken verankert, hat Schmid beobachtet. China oder Russland haben nach seiner Auffassung ein «ganzheitlicheres» Verständnis von Konflikten. Hybride Akteure machen sich das schablonenhafte Denken im Westen sogar zunutze, indem sie ihre Angriffe gezielt auf Schnittstellen oder Bereiche geteilter oder unklarer Zuständigkeiten richten.
Dies ist ein wichtiger Grund dafür, warum hybride Kriegführung für autokratische Regime in ihrer Auseinandersetzung mit westlichen Staaten gegenwärtig das bevorzugte Mittel ist. Denn demokratische Rechtsstaaten bieten mit ihrem hohen Grad an Formalisierung und Komplexität zahlreiche Angriffsflächen, die sich von ihren Gegnern nutzen lassen. Man operiert über nationale Grenzen und Jurisdiktionsbereiche hinweg oder beutet Lücken in der Gesetzgebung aus. Auch die Schnittstellen zwischen den Behörden oder in föderalen Systemen lassen sich ausnutzen. Dies gilt in besonderem Maß in Deutschland, wo nicht nur Militär und Polizei aus historischen Gründen besonders strikt voneinander getrennt, sondern auch die Kompetenzen im Bereich der Geheimdienste und der inneren Sicherheit bewusst auf mehrere Ebenen und Behörden verteilt wurden.
Auch die digitalen Technologien bieten hybriden Akteuren zusätzliche Handlungsmöglichkeiten. Denn im Cyber-Raum verlieren die räumlichen Grenzen zwischen Ländern an Bedeutung. Im Optimalfall wirkt man auf die inneren Prozesse eines Landes ein, ohne vor Ort zu sein und sich der Gefahr einer Strafverfolgung auszusetzen. Im digitalen Raum lässt sich meistens auch gar nicht beweisen, wer exakt der Urheber des Schadens ist. Dieser Aspekt der Abstreitbarkeit («plausible deniability») ist in hybriden Auseinandersetzungen von besonderer Bedeutung: Unrechtsstaaten können ohne weitere Probleme behaupten, nichts mit einer Sache zu tun zu haben, während Rechtsstaaten oft kaum Gegenmaßnahmen ergreifen können, solange sie keinen festen Beweis für das Gegenteil in der Hand haben.
Auch die stark gestiegenen Migrationsbewegungen bieten vielfältige Optionen. Da autoritäre Staaten in der Regel ein wenig attraktives Ziel sind, leben in den demokratischen Gesellschaften oft deutlich mehr Menschen mit Herkunft aus diesen Ländern als umgekehrt. Die teilweise fortbestehenden Loyalitäten dieser Minderheiten lassen sich nutzen. Man kann sie aufwiegeln, als Drohpotential nutzen oder einzelne Angehörige für spezielle Operationen anwerben. Es lassen sich zudem Flüchtlingsströme gezielt herbeiführen oder die negativen Folgen von Migration so verstärken, dass sie für die gegnerischen Gesellschaften zur Belastung werden. Auch das gezielte Aufhetzen verschiedener Gruppen gegeneinander gehört zum Repertoire hybrider Einflussnahme. Die zunehmende globale Vernetzung bietet für hybride Akteure eine solche Fülle von Optionen, dass dafür auch der Begriff des «Konnektivitätskriegs» ins Spiel gebracht wird. Auch wenn man die Auseinandersetzung mit den Autokratien nicht darauf verengen sollte, ist dies ein wichtiger Aspekt. Denn die zunehmende Konnektivität auf der Welt ist ein wichtiger Grund dafür, warum eine hybride Konfliktführung zunehmend attraktiv erscheint. Die Kritik am Konzept des hybriden Kriegs, nach der Kriege schon immer auf mehreren Ebenen geführt wurden, wird dieser spezifisch modernen Ausprägung nicht gerecht.
In hybriden Auseinandersetzungen geht es häufig um das Ausnutzen von Asymmetrien. Die Autokratien bewegen sich dafür gezielt auf Feldern, in denen sie gegenüber Demokratien im Vorteil sind. Dazu gehört auch, keine Skrupel vor Mord und Korruption zu haben. Autokraten müssen dafür häufig nicht einmal neue Fähigkeiten erwerben. Sie wenden einfach diejenigen Verhaltensweisen, die sie im Umgang mit ihren Gegnern im Inneren perfektioniert haben, außerhalb der eigenen Grenzen an. Ein solcher Methodenexport verspricht gleich doppelten Nutzen. Durch die Zahlung von Schmiergeldern erreicht man die eigenen Ziele im Land des Gegners und destabilisiert zugleich dessen wirtschaftliches und politisches System. Autokratien können solche Methoden weit besser verdecken und geheim halten als Demokratien, in denen Regierungen und Unternehmen durch die Institutionen des Rechtsstaats und freie Medien kontrolliert werden. Für hybride Akteure bietet sich sogar an, diese Attraktivitätsmerkmale der Demokratien als Einfallstor zu nutzen: Das Recht auf Meinungsfreiheit lässt sich nutzen, um soziale Netze mit Propaganda und Lügen zu fluten oder im Land des Gegners Medien aufzubauen, die das eigene Narrativ verbreiten. Eine plurale Demokratie lässt sich destabilisieren, indem man radikale Kräfte stärkt, gewogene Politiker mit Geld und Gefälligkeiten unterstützt oder missliebigen Politikern gezielt schadet.
Russland und China sind auch nicht bloß Regime, in denen Putin und Xi Jinping die Macht in ihren eigenen Händen konzentriert haben. Es sind zugleich Staaten, in denen die Geheimdienste und im Falle Chinas die Organisationen der Kommunistischen Partei alle Bereiche von Staat und Gesellschaft durchdrungen haben. Anders als in demokratischen Rechtsstaaten sind die Geheimdienste nicht mit institutionellen Beschränkungen konfrontiert, da es nur pro forma eine Gewaltenteilung gibt. Sie können daher ungehindert in Staatsanwaltschaften und Gerichten, in Parlamenten, wissenschaftlichen Einrichtungen, Unternehmen, Verbänden und Medien agieren und sie für sich nutzen. Für hybride Operationen in den westlichen Ländern bietet das einen immensen Vorteil. Hinter einem Diplomaten, einem Geschäftsmann, einem Sportfunktionär, einem Forscher oder sogar einem vermeintlichen Oppositionellen kann sich immer ein Mann oder eine Frau mit Geheimdienstkontakten oder -aufträgen verbergen. Dabei muss es sich gar nicht um einen offiziellen Agenten handeln. Häufig dienen rein privat oder geschäftlich scheinende Kontakte dazu, wichtige Informationen zu bekommen oder eine spätere Rekrutierung durch Geheimdienste anzubahnen.
In diesem hybriden Krieg stellt Deutschland ein besonders wichtiges Ziel für die autokratischen Regime in Russland und China dar. Das liegt daran, dass Deutschland als bevölkerungsreichstes Land der EU und als weltweit drittstärkste Wirtschaftsnation ohnehin eine Schlüsselrolle einnimmt. Für China ist Deutschland ein wichtiger Handelspartner und Absatzmarkt, zugleich gibt es enge wissenschaftliche Beziehungen. Der chinesische Markt ist für deutsche Branchen, allen vorweg die Autoindustrie, von entscheidender Bedeutung. Mit seiner Marktführerschaft in vielen technischen Bereichen ist Deutschland zentral für Chinas Ambitionen, binnen der nächsten zwei bis drei Jahrzehnte wirtschaftlich und militärisch zur führenden Weltmacht zu werden – und damit auch ein wichtiges Ziel für Spionage. Zu Russland hat Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verbindung. Die deutsche Schuld am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg im Osten, die sozialdemokratische Ostpolitik, auch die Dankbarkeit für Michail Gorbatschows Rolle während der Wiedervereinigung wirken bis heute nach. In der deutschen Wirtschaft und Politik bildete sich nach 1990 ein besonderes Geflecht von engen Beziehungen zu Russland heraus. Unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, der eine Freundschaft mit Wladimir Putin pflegte, ging die notwendige politische Wachsamkeit gegenüber den Zielen des Kremls verloren. Deutschland geriet in eine fatale Abhängigkeit von Russland, nicht nur durch russisches Gas und Öl. Russland nutzte über viele Jahre alle Möglichkeiten der Einflussnahme, um wirtschaftliche wie zivilgesellschaftliche Kontakte für staatliche Propaganda und Einflussoperationen zu instrumentalisieren. Angeblich unabhängige Organisationen wie der Petersburger Dialog oder das Deutsch-Russische Forum wurden letztlich zu Instrumenten der russischen Staatsführung. So haben sich nicht nur die Randparteien des linken und rechten Spektrums durch ihre Russlandnähe ausgezeichnet, sondern auch die Parteien der politischen Mitte, vor allem SPD und CDU/CSU. Die innenpolitische und außenpolitische Verhärtung des russischen Systems, die Bedrohung durch Russland wurde lange schlicht ignoriert, bis hin zur russischen Vollinvasion in die Ukraine Anfang 2022. Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht werden von Russland unterstützt, da sie Narrative des Kremls teilen, prorussische Propaganda verbreiten und zumindest im Fall der AfD das Ziel teilen, das demokratische System von innen auszuhöhlen. Ihre Erfolge bei Wahlen in Deutschland werden vom Putin-Regime als strategischer Erfolg betrachtet.
Zugleich hat Deutschland mit drei bis vier Millionen russischsprachigen Menschen eine erhebliche Bevölkerungsgruppe, die ein besonderes Ziel russischer Propaganda ist. Natürlich ist diese Gruppe, zu der Russlanddeutsche, jüdische Kontingentflüchtlinge und auch Einwanderer aus vielen anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion gehören, überaus vielfältig und besteht keineswegs hauptsächlich aus Sympathisanten des Putin-Regimes. Doch lassen sich Teile dieser Gruppe von russischer Propaganda beeinflussen und manche Personen als Akteure für hybride Aktionen in Deutschland gewinnen.
Dieses Buch hat sich als Ziel gesetzt, die hybride Kriegführung vor allem Russlands und Chinas gegen Deutschland zu beschreiben und anhand von Beispielen aus den vergangenen Jahren anschaulich zu machen. Dazu ist eine Vorbemerkung erforderlich: Zu den Eigenarten hybrider Auseinandersetzungen gehört, dass ihre Urheber sich nicht durch Hoheitszeichen zu erkennen geben, sondern verdeckt agieren, um die erwähnte «plausible deniability» zu wahren. Die Zuschreibung erfolgt daher in aller Regel durch westliche Akteure und ist oft mit Unsicherheiten behaftet. Die Autoren haben die Berichterstattung zu den geschilderten Fällen breit ausgewertet und zahlreiche Gespräche mit Personen aus den Sicherheitsbehörden und der Politik geführt, um das Risiko falscher Zuschreibungen zu minimieren. Es gehört jedoch zur Natur hybrider Operationen, dass sich diese Gefahr nicht ganz vermeiden lässt. Dies gilt in beide Richtungen: Es dürfte sowohl verdeckte Operationen geben, die nicht als solche erkannt werden und daher auch in diesem Buch keine Erwähnung finden. Daneben könnte es aber auch Vorgänge geben, die als verdeckte Operationen bewertet werden, obwohl sich später herausstellt, dass sie keine waren. Dabei das richtige Maß zu finden, Einflussoperationen als solche zu benennen, aber zugleich keine unnötigen Ängste zu schüren, gehört zu den immanenten Herausforderungen in hybriden Konflikten.
Manuskript beendet am 01.06.2025
Es ist der 1. August 2024, als der größte Gefangenenaustausch seit dem Ende der Sowjetunion zwischen Russland, den USA und Deutschland im türkischen Ankara stattfindet. Zu den russischen Spionen, die an diesem Tag in Moskau ankommen, gehören Artjom Dulzew und Anna Dulzewa. Putin empfängt Anna Dulzewa mit Blumen am Flughafen in Moskau, umarmt sie, Tränen werden vergossen.
Heimkehr der Illegalen: Putin und die Familie Dulzew 2024 am Flughafen Moskau
Das Ehepaar, das im Dezember 2022 in Slowenien verhaftet wurde, hat jahrelang unerkannt für Russland spioniert. Sie sind sogenannte Illegale. Wegen der aufwendigen Vorbereitung und dem hohen Risiko ihres Einsatzes gelten solche Agenten als die Königsklasse der russischen Spionage. Um sie und ihre Verwendung kümmert sich Putin persönlich. Der russische Präsident ist stolz auf sie, nennt sie «Wunderkinder».
Die Dulzews, beide 1984 geboren, geben sich in Slowenien als Auswanderer aus Argentinien aus. Sie lebten seit etwa 2003 in dem südamerikanischen Staat, mit dem Ziel, die dortige Staatsbürgerschaft zu erhalten, was ihnen 2015 gelingt. Im Jahr 2017 siedeln sie ins slowenische Ljubljana über. Artjom Dulzew nennt sich Ludwig Gisch, ist angeblich in Namibia geboren. In Ljubljana betreibt er eine Softwarefirma, besucht unter anderem auch eine IT-Messe in Baden-Württemberg. Seine Frau «Maria Rosa Mayer Muñoz» ist als Kunsthändlerin tätig. Sie besitzt eine Online-Galerie namens 5’14, arbeitet auch mit Künstlern aus Deutschland zusammen. Ein Überfall auf der Straße habe sie dazu gebracht, Argentinien zu verlassen, erzählen die Dulzews ihren Bekannten in der slowenischen Hauptstadt. Das Ehepaar lebt mit seinen beiden Kindern ein Leben in einem Einfamilienhaus, die Nachbarn beschreiben sie als normal und nett, zur argentinischen Diaspora in Ljubljana haben sie keinen Kontakt. Bei ihrer Rückkehr nach Moskau haben die Eheleute ihre Kinder dabei, einen neun Jahre alten Sohn und eine elf Jahre alte Tochter. Sie haben in ihrem ganzen Leben kein Wort Russisch gesprochen, nur Spanisch und Englisch, gingen in Ljubljana auf die Britische Internationale Schule. Erst auf dem Flug nach Moskau erfahren sie davon, dass ihre Eltern in Wirklichkeit Russen sind. Auch den Mann, der sie am Flughafen so freundlich mit Blumen begrüßt, kennen sie nicht.
Von Slowenien aus sind die Dulzews in verschiedenen europäischen Ländern unterwegs, um Informationen zu sammeln, leiten auch andere Agenten an. Im Dezember 2022 geht ihr ruhiges Leben zu Ende, als die Polizei das Einfamilienhaus stürmt und das Ehepaar verhaftet. Die Ermittler finden nach der Festnahme des Spionage-Paars mehrere hunderttausend Euro, die in einem Kühlschrank versteckt sind und vermutlich dazu dienen sollten, andere Spione oder Quellen zu bezahlen.[1]
Moskau hat die Praxis der Illegalen nie aufgegeben. Es geht dabei um Agenten, die unter einer falschen Identität über viele Jahre, mitunter Jahrzehnte, im Ausland leben, Informationen sammeln, Aufträge erledigen und selbst Quellen führen. In der Regel führen sie ein bürgerliches, unauffälliges Leben, gehen gewöhnlichen Berufen nach und sind nur sehr schwer zu enttarnen. Auf ihren Einsatz werden sie über Jahre in verschiedenen Zentren des Auslandsgeheimdienstes SWR in Russland vorbereitet. Schätzungen gehen von sechs bis zehn Jahren aus. Die Ausbildung sieht Spracherwerb, aber auch technische Unterweisungen vor, sowie den Umgang mit Waffen oder die Rechtskunde der Länder, in denen sie eingesetzt werden sollen. Anders als russische Geheimdienstmitarbeiter, die offiziell an den Botschaften akkreditiert sind oder sich als Diplomaten ausgeben, genießen die Illegalen keinen diplomatischen Schutz. Wenn sie auffliegen, drohen ihnen hohe Haftstrafen.
Illegale Agenten werden schon kurz nach Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 eingesetzt. Der Sowjetstaat wird damals von kaum einem Land anerkannt, viele Regierungen stehen dem kommunistischen Regime in Moskau feindlich gegenüber. Es gibt nur wenige offizielle diplomatische Vertretungen, an denen Spione unter dem Deckmantel von Diplomaten hätten unterkommen können. Die Vorläufer des KGB entsenden deshalb Agenten mit gefälschten Biografien, um die geplante sozialistische Revolution in den kapitalistischen Staaten voranzutreiben, aber auch, um Oppositionelle und Dissidenten aus dem eigenen Land auszuspähen oder zu töten. Der KGB verfeinert diese Praxis im Kalten Krieg immer mehr, betreibt dabei hohen finanziellen und personellen Aufwand für sein Illegalen-Programm. In Ländern in Südamerika oder auch in Afrika, die einen europäischen Bevölkerungsanteil aufweisen, sucht der Geheimdienst auf Friedhöfen nach Gräbern verstorbener Kinder oder Jugendlicher. Meist ist es einfach, die Daten der verstorbenen Person zu nutzen, um sich Geburtsurkunden und anschließend wiederum echte Ausweispapiere zu beschaffen. Diese Legenden werden dann benutzt, um mit ihnen Agenten in ein bestimmtes Zielland zu schicken. Nach der Auflösung der Sowjetunion setzt der russische Auslandsgeheimdienst SWR diese Praxis fort, wie zu KGB-Zeiten führt sein Direktorat S die Agenten direkt. Auch der russische Militärgeheimdienst GRU setzt nach 50 Jahren Pause seit einigen Jahren wieder Illegale ein. Unter den russischen Personen, die im August 2024 ausgetauscht werden, sind auch zwei mutmaßliche GRU-Agenten.
Die grundsätzliche Ausrichtung der russischen Politik wird von Wladimir Putin persönlich bestimmt und in der Präsidialverwaltung geplant und koordiniert. Eine herausragende Stellung im System Putin nehmen die Geheimdienste ein, die als Nachfolger des sowjetischen Dienstes KGB in Russland und im Ausland tätig sind. Aufgrund ihrer Bedeutung in Putins Herrschaftssystem sind ihre Angehörigen auch als Russlands «neuer Adel» bezeichnet worden, ein Begriff, der auf Nikolaj Patruschew, Putins Nachfolger als Chef des Geheimdienstes FSB, zurückgeht. Heute bestimmen Leute aus den Geheimdiensten alle Institutionen Russlands; schon in den ersten Amtszeiten Putins war die Mehrheit der wichtigsten Politiker und hohen Staatsbeamten mit den Geheimdiensten eng verbunden. Welche Dienste sind das? Das ist zunächst der mächtige Inlandsgeheimdienst FSB, den Putin einst selbst als Direktor leitete. Er wuchs von etwa 80.000 zu Beginn von Putins Amtszeit auf heute rund 350.000 hauptamtliche Mitarbeiter und beschränkt sich in seinen vielfältigen Aktivitäten nicht auf Russland, sondern ist auch im Ausland aktiv. Dazu kommt der politische Auslandsdienst SWR, der für die Spionagetätigkeit in anderen Ländern zuständig ist und nach Angaben westlicher Nachrichtendienste zwischen 12.000 und 15.000 Mitarbeiter haben soll. Das sind Agenten an den Auslandsvertretungen Russlands, die zum großen Teil unter dem Deckmantel von Diplomaten arbeiten; auch die sogenannten «Illegalen», die mit falscher Identität oft jahrzehntelang im Verborgenen tätig sind, werden vom SWR angeleitet. Der dritte Dienst ist der militärische Auslandsdienst GU, besser bekannt unter seinem früheren Namen GRU. Er geht aggressiver und gewalttätiger als der SWR vor und beschränkt sich keineswegs auf das Militärische. Mit dem Einsatz der «grünen Männchen» auf der Krim bei der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel 2014 hat er unter Beweis gestellt, welch wichtige Rolle er für die neue Art der Kriegführung spielen kann. Sein Spionagenetz, das er in der Ukraine aufgebaut hatte, konnte er allerdings bei der Invasion in die Ukraine 2022 nicht erfolgreich aktivieren. Für ihn sollen etwa 45.000 Personen tätig sein.
Die Fäden der drei Geheimdienste laufen in der Präsidialadministration und bei Putin persönlich zusammen. Alle drei Dienste berichten über ihre Erkenntnisse und Operationen an den Präsidenten. Putin liest jeden Tag als Erstes die Lagemeldungen von FSB, SWR und GRU, die für ihn aufbereitet werden. Er soll auch zum Teil persönlich bestimmen, welche Operationen durchgeführt werden sollen. Die Geheimdienste sind für ihn nicht nur dafür da, Informationen zu sammeln und zu bewerten, sondern sollen eine aktive Rolle für die russische Außenpolitik spielen. Sie sind die wichtigsten Instrumente im Kampf um russischen Einfluss in der Welt, vor allem durch die hybride Kriegführung.[2]
Im Allgemeinen herrscht zwischen den russischen Geheimdiensten Abschottung und Konkurrenz. Es geht dabei auch darum, wer die Ziele, die von Putin und der Präsidialverwaltung vorgegeben werden, am besten und schnellsten erreichen kann. Oft herrscht deshalb ein Wettlauf, wer einen Auftrag erhält oder am schnellsten ausführt. Neben dem Wetteifern gibt es aber auch eine Zusammenarbeit der Dienste. Angesichts der angespannten Situation durch den Krieg in der Ukraine scheint die Konkurrenz eher zurückgetreten zu sein. Gemeinhin gelten Operationen der GRU als riskanter, rabiater und weniger gut abgedeckt als jene des FSB.
Anders als zunächst viele westliche Staaten vermuteten, behielt der Kreml nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das gesamte Arsenal geheimdienstlicher Tätigkeit aus der Zeit des Kalten Krieges bei. Das gilt auch für Deutschland, unabhängig davon, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD eine «strategische Partnerschaft» mit dem Putin-Regime eingeht, an der auch seine Nachfolgerin Angela Merkel von der CDU festhält. Deutschland erlebt schon 13 Jahre vor dem Gefangenenaustausch 2024 einen spektakulären Fall mit einem Ehepaar, das fast ein Vierteljahrhundert in der Bundesrepublik als Illegale für die Sowjetunion und dann für Russland spionierte. Anfang August 2011 erfährt das Bundesamt für Verfassungsschutz von den Amerikanern und einem osteuropäischen Partnerdienst von der Existenz eines Agentenpärchens. Die Fachleute von der deutschen Spionageabwehr sind schockiert. Viele hatten nicht geglaubt, dass die Sowjetpraxis der Illegalen noch existiert.
In Deutschland führen die beiden Agenten ausgerechnet den Familiennamen «Anschlag». Obwohl sie 23 Jahre lang in Deutschland leben, bleibt die wahre Identität von Andreas und Heidrun Anschlag verborgen, nicht einmal ihre russischen Vornamen Sascha und Olga gelten als gesichert. Er führt ein unauffälliges Leben als Ingenieur, arbeitet bei verschiedenen Automobilzulieferern in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg, sie als Hausfrau und Mutter. Es ist ein Leben mit einer Tochter, einem Einfamilienhaus, drei Autos und regelmäßigen Urlauben. Die Anschlags besitzen österreichische Pässe, die sie offenbar durch Schmiergeldzahlungen 1984 in der Steiermark erhalten haben. Zugleich erhalten sie in all den Jahren Befehle aus Moskau und liefern dorthin Informationen.
Das bürgerliche Leben der Familie endet am 18. Oktober 2011 im hessischen Marburg-Michelbach und im baden-württembergischen Balingen. Beamte der deutschen Spezialeinheit GSG9 verhaften Andreas Anschlag gegen drei Uhr morgens in seiner Zweitwohnung in Balingen, wo er für ein Technikunternehmen arbeitet. Gut drei Stunden später stürmt die GSG9 das Wohnhaus des Ehepaars in Marburg. Sie verhaften Heidrun Anschlag just in dem Moment, in dem sie über einen Kurzwellenempfänger Funksprüche aus Moskau empfängt. Diese Funksprüche, die sie mit einem Gerät in der Größe einer Brotdose seit Jahren empfängt, sind kaum zu knacken, weil sie verschlüsselt sind. Wer den Code nicht kennt, kann die Töne nicht entziffern.
Andreas Anschlag reiste im Juni 1988 aus Mexiko nach Deutschland ein. Laut seinem gefälschten österreichischen Pass wird er 1959 in Argentinien geboren, seine fiktiven Eltern stammen aus der Tschechoslowakei. Seine spätere Frau folgt Andreas Anschlag zwei Jahre später nach Deutschland, unter dem Namen Heidrun Freund, angeblich 1965 im peruanischen Lima geboren. Ihre fiktiven Eltern stammen aus der DDR. Ihr Pass ist wie jener ihres Ehemanns in der Steiermark von einem Standesbeamten ausgestellt worden. Dort sollen auch andere Scheinidentitäten russischer Illegaler geschaffen worden sein. Anfang September 1990 heiraten die beiden im Kurort Altaussee im Salzkammergut. Andreas Anschlag, Deckname «Pit», studiert seit Ende 1990 in Aachen Maschinenbau an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule. Bald bringt seine Frau, Deckname «Tina», die Tochter zur Welt. Ihren «südamerikanischen» Akzent erklärt das Paar Bekannten mit dem Hinweis auf ihre Kindheit in Peru und Argentinien. Nach 15 Semestern schließt Anschlag 1998 sein Studium in Aachen ab, nimmt einen Job bei einem Autozulieferer an, bezieht eine Wohnung in Meckenheim bei Bonn. Wie bei späteren Arbeitgebern achtet er darauf, dass er oft ins Ausland reisen kann, nach Süd- und Nordamerika und in europäische Länder. Dort kann er Leute treffen, von denen in Deutschland keiner etwas wissen darf. Niemand schöpft Verdacht, dass der freundliche und zuverlässige Mitarbeiter ein Geheimnis haben könnte. Nur mancher Kollege wundert sich, dass Anschlag es ablehnt, einen Dienstwagen zu fahren, und es vorzieht, die Reisen ins europäische Ausland mit dem eigenen Wagen zu machen. So muss er keine Rechenschaft über die gefahrenen Kilometer ablegen. Die Automobilbranche ist für Anschlag der Einstieg in die Welt der Technik. Er bewirbt sich mehrfach bei Rüstungsbetrieben, wird aber nicht angenommen. Finanziell geht es den Anschlags gut. Neben der deutschen Firma zahlt der SWR ihm 4300 Euro im Monat, ihr 4000 Euro. Bis zu ihrer Festnahme haben sie rund 700.000 Euro gespart.
Nach Feierabend ist Andreas Anschlag oft unterwegs. Er nimmt an Veranstaltungen politischer Stiftungen teil, die der CDU oder der FDP nahestehen, geht zu Vorträgen der Clausewitz-Gesellschaft und der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik. Auf den Veranstaltungen schaut er sich nach Leuten um, die er dem russischen Auslandsgeheimdienst zur Anwerbung empfehlen kann: etwa Spitzenbeamte aus dem Verteidigungsministerium oder dem Militärischen Abschirmdienst. Informationen über sie senden die Anschlags per Satellit und Funk nach Moskau. In der Anfangszeit nutzen sie auch Erdlöcher als «tote Briefkästen», die von Geheimdienstmitarbeitern der russischen Botschaft in Bonn geleert werden. Später kommuniziert Heidrun Anschlag mit der Moskauer Zentrale über verschlüsselte Kommentare zu Filmen auf YouTube. Ihr User-Name ist «Alpenkuh 1», Moskau antwortet unter «Christianofootballer».
Etwa zwei Dutzend Mal trifft sich Andreas Anschlag mit dem Mitarbeiter des niederländischen Außenministeriums Raymond Poteray, meist in Amsterdam oder Den Haag. Er bekommt von dem Mann, der wegen seiner Spielsucht ständig in finanziellen Schwierigkeiten ist, geheime Dokumente, etwa über die Raketenabwehr der Nato und über das aktuelle Vorgehen des Bündnisses im Kosovo, in Afghanistan und Libyen. Dafür erhält Poteray bis zu 7000 Euro pro Lieferung. Als er im März 2012 in Wien ein Flugzeug nach Bangkok besteigen will, wird er festgenommen. Man geht davon aus, dass er in Wien einen Stopp einlegte, weil die Russen dort ein konspiratives Postfach zur Kommunikation mit der Moskauer Zentrale unterhielten.
Deutschland versucht damals, die Anschlags auszutauschen. Anfang März 2012 besucht ein Abteilungsleiter aus dem Kanzleramt mit einem Mitarbeiter den russischen Botschafter Wladimir Grinin in der Botschaft Unter den Linden. Die Bundesrepublik bietet an, die Anschlags nach Russland abzuschieben. Dafür sollen zwei Spione, die für die Amerikaner gearbeitet hatten, in Russland freikommen. Einer von ihnen ist ein ehemaliger Abteilungsleiter des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB, der in Russland zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde. Der Botschafter kann das nicht entscheiden, so etwas macht Putin persönlich. Die Russen reagieren über Monate nicht, sind nicht interessiert. Der Preis ist ihnen zu hoch. Ein Prozess in Deutschland hat zudem Vorteile für die russische Seite. So kann Moskau erfahren, was die deutschen Ermittler über den SWR erfahren haben, welche Methoden sie eingesetzt haben und ob möglicherweise andere illegale Agenten gefährdet sind.
Für die damals noch leidlich guten deutsch-russischen Beziehungen ist der Fall ein Tiefschlag. Die deutsche Seite fürchtet, dass sich noch mehr illegale Agenten hier aufhalten. Man sei sich sicher, dass es weitere solche Pärchen geben muss, heißt es aus der Spionageabwehr im Bundesamt für Verfassungsschutz. Nur mit einer gewissen Dichte an solchen illegalen Agenten scheint deren Arbeit sinnvoll. Doch Konsequenzen für die Beziehungen zu Moskau hat die Sache nicht.