Der Tag vor der Revolution - Ursula K. Le Guin - E-Book

Der Tag vor der Revolution E-Book

Ursula K. Le Guin

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Beschreibung

Fünfundzwanzig Science-Fiction-Geschichten aus vier Jahrzehnten in der Neuübersetzung durch Karen Nölle. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Ursula K. Le Guin das Genre der Science Fiction so tiefgreifend beeinflusst wie sonst kaum jemand. Sie hat ökologische und feministische Themen eingebracht und durch ihren unverwechselbaren Stil und mit ihrer unbegrenzten Imaginationskraft zahlreiche Autor*innen beeinflusst. Viele der hier neu übersetzten Geschichten waren noch nie oder sind schon seit langem nicht mehr auf Deutsch erhältlich. Der vorliegende Band ist ein einzigartiger Zugang zum Werk einer der größten amerikanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. »Wir können Ursula K. Le Guin nicht aus dem Land der unveränderlichen Sterne zurückrufen, aber glücklicherweise hat sie uns ihr facettenreiches Werk, ihre hart erarbeitete Weisheit und ihren grundlegenden Optimismus hinterlassen. Ihre vernünftige, kluge, gewitzte und lyrische Stimme ist heute notwendiger denn je.« Margaret Atwood

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Seitenzahl: 1162

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ursula K. Le Guin

Der Tag vor der Revolution

25 Science-Fiction-Storys

Erzählungen

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Nölle

 

Über dieses Buch

 

 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Ursula K. Le Guin das Genre der Science Fiction so tiefgreifend beeinflusst wie sonst kaum jemand. Sie hat ökologische und feministische Themen eingebracht und durch ihren unverwechselbaren Stil und mit ihrer unbegrenzten Imaginationskraft zahlreiche Autor*innen beeinflusst. Viele der hier neu übersetzten Geschichten waren noch nie oder sind schon seit langem nicht mehr auf Deutsch erhältlich. Der vorliegende Band ist ein einzigartiger Zugang zum Werk einer der größten amerikanischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ursula K. Le Guin (1929–2018) gilt als die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction. Sie wurde mit zahlreichen Literatur- und Genrepreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem National Book Award für ihr Lebenswerk. Ihre Bücher beeinflussten viele namhafte Autoren, darunter Salman Rushdie und David Mitchell ebenso wie Neil Gaiman und Ian M. Banks.

Impressum

 

 

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung ihrer Arbeit

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 1969-2025 Ursula K. Le Guin

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Lektorat: Hannes Riffel

Covergestaltung und -abbildung: Johannes Wiebel|punchdesign, unter Verwendung von Motiven von AdobeStock

ISBN 978-3-10-492019-1

 

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Inhalt

Im Labyrinth

»Science Fiction lese ich nicht.«

Neun Leben

Die aus Omelas fortgehen

Das Gesichtsfeld

Psychiatrisches Patientengespräch, 18. Juli. S. Shapir, Geraint Hughes.

Die Verfasserin der Akaziensamen und weitere Auszüge aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Therolinguistik

Manuskript, gefunden in einem Ameisenhaufen

Ankündigung einer Forschungsreise

Geleitwort der Präsidentin der Gesellschaft für Therolinguistik

Schrödingers Kater

Intrakom

Der gewandelte Blick

Labyrinthe

Der erste Bericht des schiffbrüchigen Fremdlings an den Kadanh von Derb

Wunschphantasien

Sie entnamt sie

Der erste Kontakt mit den Gorgoniden

Der Tag vorder Revolution

Darf ich mich vorstellen?

Der König von Winter

Der Tag vor der Revolution

Weiter als Weltreiche und langsamer

Die Geschichte der Shobys

Nach Ganam tanzen

Noch eine Geschichte oderEin Fischer am Binnenmeer

Nicht gesuchte Liebe

Einleitung

Nicht gesuchte Liebe

Berglandbräuche

Der Fall Seggri

Kapitän Aolao-olaos Bericht

Aus den Notizen der Mobilen Gerindu’uttahayudetwe’menrade Frohsinn für einen Bericht an das Ekumen, 93/1334

Verfehlte Liebe

Autobiographische Skizze des mobilen Ardar Dez

Volljährig werden in Karhide

Tag der Vergebung

Ein Mann des Volkes

Stse

Kathhad und Ve

Yeowe

Die Befreiung einer Frau

1. Shomeke

2. Zeskra

3. Die Stadt

4. Yeowe

Nachwort

Boote auf dem Fluss der Zeit

Quellenverzeichnis

Im Labyrinth

»Science Fiction lese ich nicht.«

(1994)

Leute, die keine Science Fiction lesen, und selbst manche, die sie schreiben, unterstellen gern oder tun so, als entstammten die darin enthaltenen Ideen sämtlich einer intimen Kenntnis von Himmelsmechanik und Quantentheorie und wären nur für Leser zu verstehen, die bei der NASA arbeiten und ihren Videorecorder programmieren können. Den Schreibenden schenkt diese Phantasie ein Gefühl von Überlegenheit, den Nicht-Lesenden hingegen eine Ausrede. »Ich verstehe dieses Zeug einfach nicht«, jammern sie und suchen Zuflucht in den tiefen, gemütlichen, sauerstoffarmen Grotten der Technophobie. Es ist sinnlos, ihnen zu sagen, dass auch nur ganz wenige Science-Fiction-Autoren »dieses Zeug« verstehen. Auch wir finden auf unseren Videokassetten oft zwanzig Minuten I Love Lucy und einen halben Ringkampf, dabei wollten wir eigentlich nur eine Folge von Masterpiece Theatre aufnehmen. Die meisten wissenschaftlichen Ideen in der Science Fiction sind absolut zugänglich und durchaus allen vertraut, die weiter als bis zur sechsten Klasse gekommen sind, und sie werden schließlich nach der Lektüre nicht abgefragt. Im Übrigen sind diese Bücher keine verkappten akademischen Vorträge. Sie sind keine von einem satanischen Mathematiker erfundenen Textaufgaben, sondern Geschichten. Sie sind Erzählliteratur, die mit Themen spielt, weil sie interessant, schön und für das Menschsein relevant sind. Das Wort »Science« in dem hässlichen, unzutreffenden Oberbegriff für das Genre ist nur ein Attribut, eine dienende Beifügung zu »Fiction«.

In meinem Roman Die linke Hand der Dunkelheit beispielsweise ist die zentrale »Idee« weder wissenschaftlich, noch hat sie mit Technik zu tun. Es handelt sich um eine physiologische Phantasie – eine körperliche Veränderung. Die Menschen der erfundenen Welt Gethen haben kein Geschlecht. Sie sind fast immer geschlechtlich neutral und erleben nur einmal im Monat eine Phase der Brunft, mal männlicher, mal weiblicher Prägung. Gethener können sowohl Kinder zeugen als auch bekommen. Diese Erfindung mag einem befremdlich, pervers oder faszinierend erscheinen, aber zu ihrem Verständnis oder zum Mitvollzug der im Roman durchgespielten Verwicklungen ist gewiss kein besonderer wissenschaftlicher Intellekt vonnöten.

Ein weiteres Element im Buch ist das Klima auf dem Planeten, der sich mitten in einer Eiszeit befindet. Eine ganz einfache Idee: Es ist kalt, sehr kalt; es ist immer kalt. Die Auswirkungen, Komplexitäten und Resonanzen ergeben sich durch die Detailarbeit an der Vorstellung.

Die linke Hand der Dunkelheit unterscheidet sich von einem realistischen Roman nur insofern, als er von den Lesenden verlangt, pro tem eine narrative Wirklichkeit zu akzeptieren, die auf begrenzte, spezifische Weise modifiziert ist. Statt unter zwiegeschlechtlichen Menschen in einer Zwischeneiszeit auf der Erde (wie, sagen wir, in Stolz und Vorurteil oder jedem beliebigen anderen realistischen Roman) befinden wir uns auf Gethen unter Androgynen in einer Eiszeit. Es ist nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, dass beide Welten imaginär sind.

In der Science Fiction sind solcherlei Parameterveränderungen, selbst wenn sie spielerisch und ornamental sind, wesentlich für die Struktur und den Charakter des Werkes. Ob sie in erster Linie als Selbstzweck dienen oder aber als Metapher oder Symbol, immer werden sie romanhaft ausgestaltet und in die Gesellschaft und die Psychologie der Figuren, die Beschreibungen, Handlungen, Emotionen, Auswirkungen und Bilderwelten eingearbeitet. Beschreibungen sind (um den Begriff von Clifford Geertz zu übernehmen) in der Science Fiction tendenziell »dichter« als in realistischen Romanen, die sich auf vermeintliche gemeinsame Erfahrung berufen. Aber dem Geschehen zu folgen, ist nicht schwerer als in anderen komplexen Erzählungen. Die Welt von Gethen ist weniger vertraut, aber im Grunde unendlich viel einfacher als die Welt der englischen Gesellschaft vor zweihundert Jahren, die Jane Austen uns so lebendig vor Augen führt. Wir finden uns in beiden Welten erst nach und nach zurecht, da wir sie nur durch Worte, durch die Lektüre erleben können. Alle Romane bieten uns Welten, in die wir nicht auf andere Weise gelangen können, sei es, weil sie in der Vergangenheit angesiedelt sind oder an fernen oder erfundenen Orten, oder weil sie Dinge beschreiben, die wir nicht erlebt haben, oder weil sie uns in Geisteswelten führen, die anders sind als unsere. Manche Leute empfinden diesen Weltenwechsel, das Ungewohnte, als unüberwindbare Hürde, andere als Abenteuer und Vergnügen.

Leute, die keine Science Fiction lesen, aber es zumindest ehrlich probiert haben, kritisieren sie häufig als inhuman, elitär und eskapistisch. Die Figuren seien zugleich konventionalisiert und außergewöhnlich, entweder Genies, Weltraumhelden, Superhacker oder androgyne Aliens, und dadurch drücke sie sich um das herum, womit sich normale Menschen im Leben herumschlagen, und versage deshalb an einer wesentlichen Funktion von Literatur. Jane Austens England möge uns fern sein, aber die Menschen dort seien unmittelbar von Belang und interessant – durch das Lesen über sie würden wir Dinge über uns selbst erfahren. Hat Science Fiction irgendetwas zu bieten außer Selbstflucht?

Das Pappfigurensyndrom war ein Phänomen der frühen Science Fiction, das ja, aber es gibt schon seit Jahrzehnten Autorinnen und Autoren, die dieses Genre zur Erkundung menschlicher Charaktere und Beziehungen nutzen. Zu diesen gehöre ich. Manchmal bietet ein imaginärer Schauplatz die besten Möglichkeiten zur Ausgestaltung bestimmter Charaktereigenschaften und Schicksale. Zugleich aber stellen viele zeitgenössische Erzählungen nicht die Zeichnung von Figuren in den Mittelpunkt. Das ausgehende Jahrhundert ist kein Zeitalter der Individualität wie einst das elisabethanische oder viktorianische. Für unsere Geschichten, die realistischen wie die anderen, mit ihren unzuverlässigen Erzählern, den sich auflösenden Erzählperspektiven, multiplen Wahrnehmungs- und Sichtweisen, ist Charaktertiefe oft nicht die Hauptsache. Dank ihrer immensen Metaphernvielfalt hat die Science Fiction vielen Autoren bei diesen Erkundungen jenseits der Grenzen von Individualität neue Wege eröffnet – als Sherpas an den Steilhängen der Postmoderne.

Was das Elitäre betrifft, könnte Szientismus das Problem sein: die Verwechslung von technologischer Beschlagenheit mit moralischer Überlegenheit. Der Imperialismus der Hochtechnologie ist genauso überheblich wie der alte rassistische Imperialismus: Menschen, die nicht auf der »Höhe der Zeit« sind oder nicht die richtigen Geräte besitzen, zählen für Technophile nicht. Sie sind Proleten, Masse, gesichts- und bedeutungslos. Literatur und Geschichtsschreibung handeln nicht von ihnen. Sie handeln von den Jungs mit den echt abgefahrenen, echt teuren Spielsachen. So dass »Leute« rein funktional definiert nur diejenigen sind, die Zugang zu einer extrem aufwendigen, schnell wachsenden industriellen Technologie genießen. Und die »Technologie« selbst ist auf ebendiese Gattung beschränkt. Ich habe gehört, wie ein Mann mit vollem Ernst sagte, die US-amerikanischen Ureinwohner hätten vor der Eroberung über keinerlei Technologie verfügt. Wie wir wissen, ist gebrannte Keramik ein natürlicher Bodenschatz, werden Körbe im Sommer reif und ist Machu Picchu einfach so gewachsen.

Die Menschheit auf die Erzeuger/Verbraucher einer komplexen industriellen Wachstumstechnologie zu begrenzen, ist etwas vollkommen Absonderliches, vergleichbar einer Gleichsetzung der Menschheit mit Griechen, Chinesen oder der britischen Oberschicht. Es schließt ein wenig zu viel aus. Erzählliteratur hingegen kommt nicht umhin, fast alle Leute auszuschließen. Ein Roman über komplexe Technologie darf genauso gut die (sagen wir mal) anders Technologisierten ausschließen, wie ein Roman über Vorstadtaffären die innerstädtischen Armen ignorieren darf oder es für einen auf die männliche Psyche zentrierten Roman legitim ist, Frauen auszublenden. Ausschlüsse wie diese können allerdings als Zeugnis davon interpretiert werden, dass Vorteil zugleich Überlegenheit bedeutet oder dass die Gesellschaft nur aus der weißen Mittelschicht besteht oder dass allein Männer es wert sind, über sie zu schreiben. Moralische und politische Aussagen per Ausschluss oder Auslassung werden dadurch legitimiert, dass sie bewusst geschehen, insoweit die Kultur der Schreibenden ein entsprechendes Bewusstsein zulässt. Was letztlich eine Frage der Verantwortung ist. Eine Leugnung schriftstellerischer Verantwortung, willentliche Unbewusstheit, ist elitär und beeinträchtigt tatsächlich einen Großteil unserer Literatur in allen Genres, einschließlich des Realismus.

Die Ansicht, dass es der Science Fiction durch ihren Gebrauch von Metaphern aus anderen Welten, Raumfahrt, Zukunft und durch ihre Erfindung von Technologien, Gesellschaften oder Lebewesen an menschlicher Relevanz für unser Leben fehle, teile ich nicht. Wo ernstzunehmende Autoren von ihnen Gebrauch machen, werden diese Bilder und Metaphern zu Bildern und Metaphern für unser Leben, legitime erzählerische, symbolische Mittel, Dinge zu sagen, die anders nicht über uns, unser Dasein und unsere Lebensführung hier und jetzt zu sagen wären. Die Science Fiction erweitert mithin das Hier und Jetzt.

Was finden Sie interessant? Manche Leute interessieren sich nur für andere Menschen. Manche machen sich tatsächlich nichts aus Bäumen oder Fischen oder Sternen oder daraus, wie Maschinen funktionieren oder warum der Himmel blau ist; sie sind ausschließlich menschenzentriert, oft ermutigt durch ihre Religion; ihnen werden weder Wissenschaft noch Science Fiction gefallen. Wie alle Wissenschaften, mit Ausnahme von Anthropologie, Psychologie und Medizin, ist die Science Fiction nicht ausschließlich menschenzentriert. Sie interessiert sich auch für andere Lebewesen und Aspekte des Daseins. Sie kann durchaus von zwischenmenschlichen Beziehungen handeln – das große Thema realistischer Prosa –, aber eben auch von der Beziehung zwischen einem Menschen und etwas anderem, einem andersartigen Wesen, einer Idee, einer Maschine, einer Erfahrung, einer Gesellschaft.

Schlussendlich sagen mir manche Leute, sie würden keine Science Fiction lesen, weil sie deprimierend sei. Das ist verständlich, wenn sie zufällig an eine Serie warnender Post-Holocaust-Geschichten geraten sind, oder an Leute, die sich, einem Trend folgend, im Jammern überbieten oder sich eine Überdosis kapitalistischen Realismus der Spielarten sleaze-metal-punk-virtual-noir reingezogen haben. Häufig aber, denke ich, ist der Vorwurf Ausdruck einer Scheu oder einer Traurigkeit in den Lesenden selbst: ein Misstrauen gegenüber Veränderungen, gegenüber der Phantasie. Viele Leute reagieren wirklich mit Angst und Schwermut, wenn sie gezwungen werden, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die ihnen nicht völlig vertraut sind; sie haben Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn es nicht von etwas handelt, was sie kennen, lesen sie es nicht; wenn es eine andere Farbe hat, ist es ihnen zuwider; wenn es nicht von McDonald’s ist, essen sie es nicht. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Welt existiert hat, bevor sie da waren, dass sie größer ist als sie und ohne sie weitergehen wird. Sie mögen Geschichte nicht. Sie mögen Science Fiction nicht. Sollen sie eben bei McDonald’s essen und im Himmel glücklich werden.

Nachdem ich mich nun eingehend darüber geäußert habe, warum einige Leute Science Fiction nicht mögen, will ich sagen, warum ich sie mag. Ich mag fast alle Arten von Erzählliteratur, im Wesentlichen der gleichen Eigenschaften wegen, von denen keine genrespezifisch ist. Aber zu den Eigenschaften, die mir in und an der Science Fiction gefallen, gehören unter anderem die folgenden: Lebendigkeit, Aufgeschlossenheit, Präzision der Phantasie; Verspieltheit, Vielfalt und Metaphernstärke; Freiheit von konventionellen literarischen Erwartungen und Manierismen; moralische Ernsthaftigkeit; Geist; Leidenschaft und Schönheit.

Lassen Sie mich einen Moment bei dem letzten Wort bleiben. Die Schönheit einer Geschichte kann geistiger Natur sein, wie die Schönheit eines mathematischen Beweises oder der Struktur eines Kristalls; sie kann ästhetisch sein, die Schönheit eines gelungenen Werks; sie kann menschlich sein, emotional, moralisch; meistens ist sie alles drei. Kritiker und Rezensenten von Science Fiction aber behandeln die Geschichte häufig, als wäre sie lediglich eine Darstellung von Ideen, als ginge es ihr allein um die intellektuelle »Botschaft«. Diese Verkürzung wird den komplexen, kraftvollen Verfahren und Experimenten vieler Werke der zeitgenössischen Science Fiction nicht gerecht. Die Autoren arbeiten sprachlich als Postmodernisten, und die Kritiker hinken Jahrzehnte hinterher, wenn sie kein Wort über die Sprache verlieren und taub sind für die Bedeutung von Klang, Rhythmus, Rekursion, Struktur – als wäre ein Text lediglich ein Träger für Ideen, eine Art Gelatinehülle für Pillen. Das ist naiv. Und es geht vollkommen an dem vorbei, was ich an der besten Science Fiction am meisten liebe, an ihrer Schönheit.

Neun Leben

(1969)

Im Innern war sie lebendig, außen hingegen tot, ihr Antlitz ein schwarzbraunes Netz aus Falten, Wulsten, Rissen. Sie war kahl und blind. Die Zuckungen in Libras Antlitz waren bloße Verfallserscheinungen. Darunter, in den schwarzen Höhlen, den Hohlräumen unter der Haut, knirschte und gärte es weiter, dauerten chemische Albträume über Jahrhunderte fort. »Gott verfluche diesen furzenden Planeten«, murmelte Pugh, als die Kuppel bebte und nur ein Kilometer entfernt im Südwesten eine Beule platzte, die silbrigen Eiter über den Sonnenuntergang verspritzte. Die Sonne ging seit zwei Tagen unter. »Ich freu mich drauf, mal wieder ein menschliches Gesicht zu sehen.«

»Danke«, sagte Martin.

»Deins ist auch menschlich«, erwiderte Pugh, »aber ich seh’s schon so lange, dass ich’s nicht mehr sehe.«

Im Kommunikator knisterten Radvidsignale, verklangen, kehrten als Gesicht und Stimme wieder. Das Gesicht füllte den Bildschirm aus, die Nase eines assyrischen Königs, die Augen eines Samurai, die Haut bronzen, die Augen eisenfarben: jung, makellos. »Sehen so Menschen aus?«, fragte Pugh ehrfürchtig. »Das hatte ich vergessen.«

»Sei still, Owen, das Mikro ist an.«

»Forschungsbasis Libra, bitte melden, hier ist die Fähre der Passerine.«

»Hier Libra. Strahl steht. Fähre kann kommen.«

»Ausstoß in sieben E-Sekunden. Bleibt dran.« Auf dem Schirm nur noch Schnee.

»Sehen sie alle so aus? Martin, wir beide sind hässlicher als ich dachte.«

»Sei still, Owen …«

Martin verfolgte die Landekapsel zweiundzwanzig Minuten lang per Signal, dann erspähten sie sie durch die aufgehellte Kuppel, ein kleiner sinkender Stern im blutroten Osten. Die Landung verlief glatt und geräuschlos, da die dünne Atmosphäre von Libra wenig Schall übertrug. Pugh und Martin verschlossen das Kopfstück ihrer Schutzanzüge, schlüpften durch die Luftschleuse der Kuppel und rannten mit Riesenschritten – Nijinsky und Nurejew – auf die Fähre zu. Hundert Meter östlich von ihr schwebten im Abstand von vier Minuten drei Ausrüstungsmodule zu Boden. »Steigt aus«, sagte Martin über den Sender im Anzug. »Wir warten vor der Tür.«

»Kommt rein, das Methan ist kein Problem«, sagte Pugh.

Die Luke ging auf. Der junge Mann, den sie auf dem Bildschirm gesehen hatten, wand sich mit einer sportlichen Drehung hinaus und sprang auf den weichen Sand und die Schlacke von Libra. Martin schüttelte ihm die Hand, aber Pughs Blick hing an der Luke, aus der ein zweiter junger Mann mit der gleichen eleganten Drehung hinuntersprang, gefolgt von einer jungen Frau, die mit der gleichen eleganten Drehung und einem kleinen Hüftschwung aus der Luke trat und sprang. Alle waren hochgewachsen, bronzen, schwarzhaarig, mit hohem Nasenrücken, Lidfalte. Alle hatten das gleiche Gesicht. Jetzt wand sich ein Vierter mit eleganter Drehung aus der Luke und sprang. »Martin Bach«, sagte Pugh, »wir haben es mit einem Klon zu tun.«

»Richtig«, antwortete einer von ihnen. »Wir sind ein Zehnerklon. Mein Name ist John Chow. Sie sind Leutnant Martin?«

»Ich bin Owen Pugh.«

»Alvaro Guillen Martin«, sagte Martin förmlich und verneigte sich leicht. Eine weitere Frau sprang heraus, mit dem gleichen schönen Gesicht. Martin starrte sie an, die Augen verdreht wie ein erschrockenes Pony. Offenbar hatte er noch nie über das Klonen nachgedacht und erlitt nun einen technologischen Schock. »Ganz ruhig«, sagte Pugh im argentinischen Dialekt, »das sind bloß überzählige Zwillinge.« Er stellte sich dicht neben Martin. Und war selbst über die Berührung froh.

Fremden zu begegnen, ist schwer. Auch der extrovertierteste Mensch spürt bei der Begegnung noch mit dem scheuesten Fremden eine gewisse Angst, auch wenn er es vielleicht nicht merkt. Wird er mich lächerlich machen, mein Selbstbild zerstören, mir zu nahe treten, mich vernichten, verändern? Wird er anders sein als ich? Ja, das auf jeden Fall. Das Erschreckende ist die Fremdheit des Fremden.

Nach zwei Jahren auf einem toten Planeten, dem letzten halben Jahr als Zweierteam allein, nur man selbst und ein weiterer – danach fällt es noch schwerer, einem Fremden zu begegnen, und mag er noch so willkommen sein. Man ist jeglicher Andersartigkeit entwöhnt, hat den Kontakt verloren; und deshalb lebt die Angst wieder auf, die Urangst, die alte Scheu.

Der Klon, fünf männliche und fünf weibliche Wesen, hatte in ein paar Minuten erledigt, wofür ein einzelner Mensch wohl zwanzig gebraucht hätte: Pugh und Martin begrüßt, einen kurzen Blick auf Libra geworfen, die Fähre entladen, alles zum Einzug bereit gemacht. Sie liefen los, und die Kuppel füllte sich mit ihnen, ein Bienenhaus voll goldener Bienen. Sie summten und brummten leise, erfüllten jede Stille, den ganzen Raum mit einem honigbraunen Schwarm menschlicher Präsenz. Verwirrt betrachtete Martin die langgliedrigen jungen Frauen, und sie lächelten ihm zu, drei auf einmal. Ihr Lächeln war sanfter als das der Männer, aber nicht weniger strahlend und selbstbezogen.

»Selbstbezogen«, murmelte Owen Pugh seinem Freund zu, »das ist es. Stell dir vor, du bist zehnmal du. Jede Bewegung mal neun, bei jeder Entscheidung neun Mal ja. Es wäre wundervoll.« Aber Martin schlief. Auch alle John Chows waren gleichzeitig eingeschlafen. Die Kuppel war von ihren ruhigen Atemzügen erfüllt. Sie waren jung, sie schnarchten nicht. Martin seufzte und schnarchte; sein schokoriegelfarbenes Gesicht entspannte sich im Nachschimmer von Libras endlich untergegangenem Zentralgestirn. Pugh hatte die Kuppel aufgehellt, und die Sterne blickten herein, darunter auch Sol, ein großes Lichterensemble, ein funkelnder Klon. Pugh schlief und träumte von einem einäugigen Riesen, der ihn durch die schwankenden Hallen der Hölle verfolgte.

 

Von seinem Schlafsack aus beobachtete Pugh, wie der Klon erwachte. Binnen einer Minute waren alle außer einem Pärchen aufgestanden, einem Mann und einer Frau, die eng umschlungen in einem Schlafsack lagen und noch schliefen. Der Anblick löste in Pughs Innerem einen Schock von der Stärke eines Libra’schen Erdbebens aus, ein äußerst starkes Zittern. Er merkte es nicht, sondern glaubte vielmehr, sich darüber zu freuen; ein solches Behagen war auf dieser toten, hohlen Welt sonst nicht zu haben. Allen, die sich liebten, nur das Beste. Einer der anderen trat auf das Pärchen. Es wurde wach, und die Frau setzte sich verschlafen und rotwangig auf, mit nackten goldenen Brüsten. Eine ihrer Schwestern flüsterte ihr etwas ins Ohr; sie blickte zu Pugh hinüber und verschwand im Schlafsack; in einer anderen Ecke guckte jemand böse, und aus noch einer anderen rief eine Stimme: »Himmel, wir sind es gewohnt, allein in einem Zimmer zu schlafen. Hoffentlich fühlen Sie sich nicht gestört, Captain Pugh.«

»Nein, im Gegenteil«, erwiderte Pugh halb wahrheitsgemäß. Dann musste er, nur mit den Shorts bekleidet, in denen er schlief, aufstehen und fühlte sich wie ein gerupfter Hahn, picklig, weiß und dürr. Selten hatte er Martin so um seine füllige Bräune beneidet. Das Vereinigte Königreich hatte die Hungerjahre gut überstanden und weniger als die Hälfte seiner Bevölkerung verloren: ein durch strenge Lebensmittelkontrolle erlangter Rekord. Schwarzmarkthändler und Hamsterer waren hingerichtet worden. Jeder Krümel wurde geteilt. Während in reicheren Ländern die Mehrzahl starb und nur wenige fett wurden, starben in Großbritannien weniger Leute und niemand wurde fett. Alle wurden schlank. Die Söhne wurden schlank, die Enkel schlank, klein, mit zarten Knochen, krankheitsanfällig. Als von der Zivilisation nur mehr Warteschlangen übrig waren, hatten sich die Briten tapfer angestellt und so das Überleben des Stärkeren durch das Überleben der Rechtschaffenen ersetzt. Owen Pugh war ein dürres kleines Kerlchen. Aber: Er war hier.

In diesem Moment wäre er es lieber nicht gewesen.

Beim Frühstück sagte ein John: »Wenn Sie uns jetzt bitte einweisen möchten, Captain Pugh –«

»Owen, bitte.«

»Owen, dann können wir unseren Zeitplan ausarbeiten. Gibt es Neuigkeiten über die Mine seit eurem letzten Bericht an eure Forschungsstelle? Wir haben die Berichte gesehen, als die Passerine um Planet V kreiste, wo sie jetzt stationiert ist.«

Martin reagierte nicht, obwohl die Mine seine Entdeckung war und sein Projekt, also musste Pugh sein Bestes tun. Es fiel ihm schwer, mit ihnen zu reden. Zehn gleiche Gesichter, alle mit dem gleichen intelligenten, interessierten Ausdruck, alle fast im gleichen Winkel über den Tisch gebeugt, ihm zugewandt. Alle gleichzeitig nickend.

Über dem Emblem der Rohstofftruppe an ihren Uniformjacken trugen alle ein Namensschild, natürlich mit dem Vornamen John und dem Nachnamen Chow, aber jeweils unterschiedlichen Zweitnamen. Die Männer hießen Aleph, Kaph, Yod, Gimel und Samedh; die Frauen Sadhe, Daleth, Zayin, Beth und Resh. Pugh versuchte, sie mit diesen Namen anzusprechen, gab aber sofort wieder auf; er wusste manchmal nicht einmal, wer etwas gesagt hatte, weil alle Stimmen gleich klangen.

Martin strich sich Butter auf seinen Toast, kaute und mischte sich dann endlich ein: »Ihr seid ein Team. Ist das richtig?«

»Richtig«, sagten zwei Johns.

»Himmel, was für ein Team! Ich hatte den Sinn nicht begriffen. Wie viel weiß jeder von euch von dem, was die anderen denken?«

»Im Grunde gar nichts«, antwortete eine der Frauen, Zayin. Die anderen sahen sie mit ihrer typischen beifällig stolzen Miene an. »Keine außersinnliche Wahrnehmung, nichts Ausgefallenes. Aber wir denken ähnlich. Wir sind alle genau gleich gebaut. Auf denselben Stimulus, dasselbe Problem werden wir daher höchstwahrscheinlich alle zugleich mit denselben Reaktionen und Lösungen aufwarten. Erklärungen sind einfach – meistens müssen wir gar keine geben. Wir missverstehen einander selten. Das erleichtert unsere Arbeit im Team sehr.«

»Herrgott, ja«, sagte Martin. »Pugh und ich haben im letzten halben Jahr sieben von zehn Stunden damit zugebracht, uns misszuverstehen. Wie die meisten Leute. Was ist mit Notfällen? Könnt ihr genauso gut auf unerwartete Probleme reagieren wie ein nor… wie ein Team, das nicht miteinander verwandt ist?«

»Den bisherigen Statistiken nach ja«, antwortete Zayin bereitwillig. Offenbar wird Klonen beigebracht, auf Fragen einzugehen, zu beruhigen und zu argumentieren, dachte Pugh. Alles, was sie sagten, klang ebenso farblos und gestelzt wie irgendwelche öffentlichen Stellungnahmen. »Wir können als Team nicht auf die gleiche Weise Ideen generieren wie Einlinge, da wir nicht vom Zusammenspiel verschiedener Gehirne profitieren, aber das wird durch etwas anderes wettgemacht. Klone werden aus dem besten Menschenmaterial gewonnen, aus Individuen mit einem IIQ des obersten neunundneunzigsten Perzentils, einer genetischen Konstitution von Alpha Doppel-A und so weiter. Wir verfügen über größere Ressourcen als die meisten Einzelwesen.«

»Und das mal zehn. Wer ist – wer war John Chow?«

»Doch bestimmt ein Genie«, bemerkte Pugh höflich. Sein Interesse am Klonen war nicht so neu und ausgeprägt wie das von Martin.

»Typus Leonardo-Komplex«, sagte Yod. »Biomathematiker, außerdem Cellist und Tiefseejäger, Interesse an bautechnischen Problemen und so weiter. Vor der Vollendung seiner größeren Theorien verstorben.«

»Und jeder von euch verkörpert eine andere Facette seines Geistes, seiner Begabungen?«

»Nein.« Zayin schüttelte zugleich mit mehreren anderen den Kopf. »Natürlich sind wir so gebaut wie er und haben die gleichen Neigungen, aber wir sind alle Ingenieure für planetarischen Mineralienabbau. Ein späterer Klon kann lernen, andere Aspekte des Grundaufbaus zu entwickeln. Das ist eine Frage der Schulung; die genetische Substanz ist identisch. »Wir sind John Chow. Aber wir sind unterschiedlich ausgebildet.«

Martin wirkte zutiefst erschüttert. »Wie alt seid ihr?«

»Dreiundzwanzig.«

»Du sagst, er ist jung gestorben – hatten sie ihm schon vorher Keimzellen entnommen?«

Jetzt meldete sich Gimel zu Wort: »Er ist mit vierundzwanzig bei einem Flugunglück umgekommen. Das Gehirn war nicht zu retten, deshalb wurden ihm Darmzellen entnommen und zum Klonen gezüchtet. Gameten werden nicht zum Klonen verwendet, da sie nur die Hälfte der Chromosomen enthalten. Darmzellen dagegen lassen sich leicht entspezialisieren und so reprogrammieren, dass ein Ganzes entsteht.«

»Alle aus demselben Holz geschnitzt«, erwiderte Martin tapfer. »Aber wieso können dann … einige von euch Frauen sein …?«

Beth fuhr fort: »Eine Hälfte der klonalen Masse auf weiblich umzuprogrammieren ist nicht schwer. Dazu wird aus der Hälfte der Zellen das männliche Gen entfernt, und diese bilden sich dadurch zur Urform, das heißt zur weiblichen Form zurück. Das umgekehrte Verfahren, also die Einfügung von Y-Chromosomen, ist komplizierter. Es werden mehrheitlich Männer geklont, da zweigeschlechtliche Klone am besten funktionieren.«

Nun wieder Gimel: »Diese Verfahrens- und Funktionsfragen wurden sorgfältig ausgearbeitet. Die Steuerzahler wollen das Beste für ihr Geld, und Klone sind natürlich teuer. Durch die Zellmanipulationen und die Inkubation in Ngama-Plazenten sowie den Lebensunterhalt und die Ausbildung der Ziehelterngruppen belaufen sich die Kosten für uns am Ende auf etwa drei Millionen pro Stück.«

»Und die nächste Generation«, sagte Martin, noch immer mit sich ringend. »Die erzeugt ihr vermutlich durch … Fortpflanzung?«

»Wir Frauen sind steril«, erwiderte Beth vollkommen neutral. »Wie gesagt, das Y-Chromosom wurde aus unserer Urzelle entfernt. Die Männer können sich mit ausgewählten Einlingen kreuzen, wenn sie möchten. Aber um John Chow so oft nachzuerzeugen wie gewünscht, wird einfach eine Zelle aus diesem Klon erneut geklont.«

Martin gab auf. Er nickte und kaute kalten Toast. »Also«, sagte einer der Johns, und wie bei einem Starenschwarm, der mit einem Flügelschlag die Richtung wechselt und einem Anführer so schnell folgt, dass kein Auge sieht, wer führt, wechselte bei allen die Stimmung. Sie waren aufbruchsbereit. »Wie wär’s mit einer Besichtigung der Mine? Danach entladen wir die Ausrüstung. Ein paar hübsche neue Robootmodelle; die werdet ihr sehen wollen. Stimmt’s?« Hätten Pugh oder Martin dem nicht zugestimmt, wäre es ihnen vermutlich schwergefallen, das zu äußern. Die Johns waren höflich, aber einmütig; ihre Entschlüsse galten. Pugh, dem Kommandanten der Libra-Basis 2, kamen Bedenken. Würde es ihm gelingen, dieser Zehnereinheit von Supermännern und -frauen Befehle zu erteilen? Die obendrein auch noch genial war? Als sie sich zum Rausgehen umzogen, hielt er sich dicht neben Martin. Beide schwiegen. Jeweils zu viert in den drei großen Luftjets glitten sie, bei Sternenschein, von der Kuppel nordwärts über die mattschwarze Haut von Libra.

»Trostlos.«

Das sagte der Mann oder die Frau, die mit Pugh und Martin im Schlitten saßen. Pugh fragte sich, ob diese beiden sich letzte Nacht den Schlafsack geteilt hatten. Es würde ihnen bestimmt nichts ausmachen, wenn er sie fragte. Sex musste für sie so leicht sein wie atmen. Habt ihr zwei letzte Nacht geatmet?

»Ja«, sagte er, »das stimmt.«

»Dies ist unser erstes Mal auf Land, abgesehen von den Übungen auf Luna.« Die Stimme der Frau war eindeutig ein wenig höher und weicher.

»Wie war der große Sprung?«

»Wir wurden sediert. Ich hätte es lieber erlebt.« Das war der junge Mann; er klang wehmütig. Offenbar hatten sie mehr Persönlichkeit, wenn sie nur zu zweit waren. Ging durch die Vervielfältigung eines Individuums die Individualität verloren?

»Ärgere dich nicht«, sagte Martin, der am Steuer saß. »Die Nicht-Zeit lässt sich nicht erleben, weil sie nicht da ist.«

»Das würde ich aber gerne mitbekommen, nur einmal«, sagte eine der Stimmen. »Um zu wissen, wie es ist.«

Unter den Sternen im Osten lag das schuppige Merionethgebirge, über einem Schlot im Westen hing eine silbrige Wolke aus gefrorenem Gas, und der Schlitten neigte sich nach vorne. Die Zwillinge spannten sich gleichzeitig an, streckten beide kurz die Hände aus, um den und die andere zu beschützen. Deine Haut ist meine Haut, dachte Pugh, aber buchstäblich, nicht metaphorisch. Wie es wohl wäre, jemandem so nahezustehen? Immer eine Antwort zu bekommen, wenn man etwas sagte; Leid niemals allein ertragen zu müssen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst … dieses schwierige alte Problem war gelöst. Der Nächste warst du selbst: Die Liebe war vollkommen.

Und hier war Höllenschlund, die Mine.

Pugh war der E. T.-Geologe der Forschungsbasis und Martin sein Techniker und Kartograph; doch Pugh hatte Martin, als er bei einer örtlichen Vermessung die U-Mine entdeckte, den ganzen Verdienst zugeschrieben und ihm zugleich die Last aufgebürdet, die Erzader zu erkunden und den Arbeitsplan für das Rohstoffteam zu erstellen. Die jungen Leute waren Jahre, bevor Martins Bericht auf der Erde eintraf, losgeschickt worden und hatten nicht gewusst, was sie zu tun haben würden, bis sie hier ankamen. Das Rohstoffkorps streute Teams einfach so regelmäßig und blindlings aus wie der Löwenzahn seine Samen, in dem Bewusstsein, dass es auf Libra oder dem nächst ferneren Planeten oder auf einem, von dem sie noch nicht einmal gehört hatten, Arbeit für sie geben würde. Die Regierung brauchte Uran zu dringend, um so lange zu warten, bis Berichte über Lichtjahre hinweg zu Hause eintrafen. Es war wie Gold, altmodisch, aber unentbehrlich und so wertvoll, dass es sich lohnte, es extraterrestrisch abzubauen und interstellar zu verschiffen. Sein Gewicht in Menschenwert, dachte Pugh missmutig, während er zusah, wie die hochgewachsenen jungen Männer und Frauen im Sternenlicht schimmernd nacheinander in dem schwarzen Loch verschwanden, das Martin Höllenschlund getauft hatte. Beim Eintritt leuchteten ihre homöostatischen Stirnlampen auf. Zwölf nickende Strahlen glitten über die feuchten, runzligen Wände. Von ganz vorne hörte Pugh Martins Geigerzähler rasend schnell piepen. »Hier geht’s runter«, drang Martins Stimme aus dem Lautsprecher im Anzug und übertönte das Piepen und die Totenstille ringsum. »Wir sind hier in einem Seitenspalt, vor uns befindet sich der vertikale Hauptschlot.« Eine gähnende schwarze Leere, die andere Seite im Licht der Stirnlampen nicht zu erkennen. »Die letzte Vulkantätigkeit scheint ein paar Jahrtausende zurückzuliegen. Der nächste Bruch befindet sich achtundzwanzig Kilos östlich, im großen Graben. Dieser Abschnitt scheint seismisch so sicher zu sein wie alles hier in der Gegend. Der breite Basaltfluss über uns stabilisiert den ganzen Unterbau, jedenfalls solange er selbst stabil bleibt. Die Hauptader liegt in sechsunddreißig Metern Tiefe und verläuft in einer Folge von fünf blasenförmigen Höhlen nordöstlich. Ein Flöz mit sehr hochwertigem Erz. Ihr kennt die Prozentzahlen, ja? Die Förderung wird kein Problem sein. Ihr müsst bloß die Blasen nach oben schaffen.«

»Deckel ab und nach oben treiben lassen.« Ein leises Lachen. Stimmen begannen zu reden, aber sie waren alle gleich, und die Lautsprecher im Anzug zeigten nicht an, woher sie kamen. »Das Ganze aufmachen. – Das ist sicherer. – Aber das Basaltdach ist massiv. Wie dick, hier vor Ort zehn Meter? – Drei bis zwanzig, steht im Bericht. – Gutes Erz über die Gegend verstreuen. – Den Zugang hier nutzen, ein bisschen begradigen und Gleitschienen für die Robos einbauen. – Burros importieren. – Haben wir genug Stützmaterial? – Auf wie hoch schätzt du die Ausbeute, Martin?«

»Ich denk mal, über fünf und unter acht Millionen Kilo.«

»In zehn E-Monaten kommt der Transporter. – Es wird rein verladen werden müssen. – Nein, das Problem mit der Masse bei NAFAL-Transporten ist inzwischen bestimmt gelöst, schließlich sind wir letzten Dienstag vor sechzehn Jahren von der Erde losgeflogen. – Stimmt. Sie werden das Zeug im Ganzen hinschicken und es in der Erdumlaufbahn läutern. – Sollen wir runtersteigen, Martin?«

»Macht nur. Ich war schon unten.«

Der Erste – Aleph (Hebr. Ochse, Anführer) – schwang sich auf die Leiter und kletterte hinunter; die anderen folgten. Pugh und Martin blieben am Rand des Schlunds stehen. Pugh stellte seinen Sender so um, dass er sich mit Martin allein unterhielt, und sah, dass Martin es ihm gleichtat. Es war ein wenig ermüdend, eine Person in zehn Stimmen laut denken zu hören, oder war es eine Stimme, die die Gedanken von zehn aussprach?

»Ein gigantischer Dickdarm«, sagte Pugh mit Blick ins schwarze Loch; die geäderten, von Warzen bedeckten Wände wurden weit unten stellenweise von Stirnlampen angeleuchtet. »Ein Rindergekröse. Ein gewaltiger, verstopfter Verdauungstrakt.«

Martins Zähler piepste wie ein Küken, das sich verlaufen hat. Sie standen im Innern des toten, aber epileptischen Planeten, atmeten Sauerstoff aus Tanks, trugen Anzüge, die ihr weiches, verletzliches Inneres gegen alles schützten, was ätzend war, keine schädliche Strahlung durchließen, einer Temperaturspanne von zweihundert Grad standhielten und so rissfest und stoßfest wie möglich waren.

»Beim nächsten Sprung«, sagte Martin, »würde ich gern einen Planeten finden, auf dem es überhaupt nichts auszubeuten gibt.«

»Das hier hast du gefunden.«

»Lass mich nächstes Mal nicht raus.«

Pugh freute sich. Er hatte gehofft, dass Martin weiter mit ihm zusammenarbeiten wollte, aber sie redeten beide nicht viel über ihre Gefühle, und er hatte nicht fragen mögen. »Ich werd’s versuchen«, sagte er.

»Ich hasse diesen Schlund. Höhlen mag ich, das weißt du. Deswegen bin ich hier reingegangen. Aber die hier ist teuflisch. Tückisch. Du musst bei jedem Schritt achtgeben. Aber ich denke, dieser Trupp kann’s packen. Die verstehen ihr Handwerk.«

»Die Welt von Morgen, sozusagen«, erwiderte Pugh.

Die Welt von Morgen wimmelte die Leiter herauf, riss Martin mit sich fort zum Ausgang, brabbelte um ihn herum: »Haben wir genug Stützmaterial? – Wenn wir einen der Extraktorservos zum Tempern nehmen, ja. – Reichen Kleinstsprengungen? – Die Kraft kann Kaph berechnen.« Pugh hatte seinen Sender wieder auf allgemeinen Empfang gestellt; sein Blick schweifte von ihnen, den vielen Gedanken in einem einzigen eifrigen Verstand, zu Martin, der stumm in ihrer Mitte stand, von ihm zum Höllenschlund und über die zerknautschte Ebene. »Abgemacht! Was meinst du, Martin, taugt das als vorläufiger Plan?«

»Macht das, wie ihr wollt«, sagte Martin.

 

Nach nur fünf E-Tagen hatten die Johns ihr gesamtes Material und alle Gerätschaften ausgeladen und in Gang gebracht und mit der Öffnung der Mine begonnen. Sie arbeiteten mit hundertprozentiger Effizienz. Pugh war von ihrer Tüchtigkeit, ihrem Selbstvertrauen, ihrer Selbständigkeit ebenso begeistert wie erschrocken. Für sie war er überflüssig. Ein Klon, dachte er, könnte wohl wirklich das erste wahrhaft gefestigte, autarke menschliche Wesen sein. Einmal ausgewachsen brauchte er von niemandem mehr Hilfe. Er genügte sich physisch, sexuell, emotional, intellektuell selbst. Jedes seiner Glieder wurde bei allem, was er tat, stets von seinen Genossen, seinen anderen Ichs, unterstützt und akzeptiert. Ansonsten wurde niemand gebraucht.

Zwei der Klone blieben in der Kuppel, um Berechnungen anzustellen und den Papierkram zu erledigen, flogen aber häufig zur Mine, um etwas nachzumessen und auszuprobieren. Das waren die Mathematiker des Klons, Zayin und Kaph. Wobei sie, wie Zayin erklärte, alle zehn von ihrem dritten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr eine gründliche mathematische Ausbildung genossen hatten. Sie und Kaph hatten allerdings noch drei Jahre lang weiter Mathe studiert, während die übrigen sich intensiver mit anderen Fächern beschäftigt hatten, Geologie, Bergbau, Maschinenbau, Robotertechnik, angewandte Atomwissenschaft etc. »Kaph und ich empfinden uns«, sagte sie, »als das Glied des Klons, das dem am nächsten ist, was John Chow zu seinen Lebzeiten als Einling war. Wobei er natürlich in erster Linie Biomathematiker war, und davon haben wir nicht viel mitbekommen.«

»Wir wurden am meisten auf diesem Gebiet gebraucht«, ergänzte Kaph mit jenem patriotischen Eifer, den sie manchmal an den Tag legten.

Diese beiden konnten Pugh und Martin bald von den anderen unterscheiden, Zayin aufgrund ihrer Figur, Kaph nur durch einen verfärbten Nagel am linken Ringfinger, ein Andenken an einen Hammer, den er versehentlich abbekommen hatte, als er sechs war. Ähnliche Unterschiede zwischen ihnen gab es fraglos zuhauf, psychischer wie physischer Natur; das Erbgut mochte identisch sein, für das Dasein galt das nicht. Aber die Unterschiede waren schwer zu entdecken. Das lag zum Teil daran, dass sie sich nicht wirklich mit Pugh und Martin unterhielten. Sie lachten mit ihnen, waren höflich und umgänglich. Geben taten sie nichts. Ein Anlass zur Klage war das nicht; sie waren sehr nett, sie entsprachen der amerikanischen Norm für Freundlichkeit. »Kommst du aus Irland, Owen?«

»Aus Irland kommt niemand, Zayin.«

»Es gibt viele irische Amerikaner.«

»Klar, aber keine Iren mehr. Vielleicht zweitausend auf der ganzen Insel, soweit ich weiß. Sie waren gegen die Geburtenkontrolle, und irgendwann hatten sie nichts mehr zu essen. In der dritten Hungersnot blieben keine Iren mehr übrig außer der Priesterschaft, und die leben alle oder fast alle im Zölibat.«

Zayin und Kaph lächelten angespannt. Mit religiösem Eifer oder mit Ironie hatten sie keine Erfahrung. »Welcher Ethnie gehörst du an?«, fragte Kaph, und Pugh antwortete: »Ich bin Waliser.«

»Dann sprechen du und Martin Walisisch miteinander?«

Das geht dich gar nichts an, dachte Pugh, doch er sagte: »Nein, seinen Dialekt: Argentinisch. Eine Variante des Spanischen.«

»Hast du es gelernt, um dich heimlich zu verständigen?«

»Vor wem hätten wir hier etwas verheimlichen sollen? Manchmal ist es einfach schön, die Muttersprache zu sprechen.«

»Unsere ist Englisch«, sagte Kaph ohne Anteilnahme. Wozu sollten sie Anteil nehmen? Das tut man nur, weil man es auch selbst braucht.

»Ist Walis idyllisch?«, fragte Zayin.

»Walis? Ach so. Es heißt Wales. Ja, Wales ist idyllisch.« Pugh schaltete seine Steinfräse ein, deren nervenzerfetzendes Kreischen jedes weitere Gespräch verhinderte. Und während sie kreischte, wandte er sich ab und fluchte auf Walisisch.

An jenem Abend benutzte er den argentinischen Dialekt für eine Heimlichkeit. »Tun sich immer dieselben Pärchen zusammen, oder wechseln sie jede Nacht?«

Martin sah ihn erstaunt an. Dieser sittsame Gesichtsausdruck passte so gar nicht zu ihm. Aber er währte nicht lange. Die Frage interessierte auch ihn. »Ich glaube, es geht nach Zufall.«

»Nicht flüstern, Mensch, das klingt unanständig. Ich glaube, sie wechseln durch.«

»Nach einem Plan?«

»Damit niemand leer ausgeht.«

Martin entfuhr ein vulgäres Lachen, das er sofort unterdrückte. »Was ist mit uns? Gehen wir etwa nicht leer aus?«

»Darauf kommen sie gar nicht.«

»Was passiert, wenn ich eins der Mädels angrabe?«

»Sie würde es den anderen sagen, und die Gruppe würde entscheiden.«

»Ich bin doch kein Bulle«, sagte Martin. Sein dunkles, volles Gesicht wurde rot. »Ich lass mich nicht –«

»Ruhig, ruhig, machismo«, sagte Pugh. »Hast du vor, dich an eine ranzumachen?«

Martin zuckte missgelaunt die Achseln. »Sollen sie doch Inzucht betreiben.«

»Ist es Inzucht oder Selbstbefriedigung?«

»Das wäre mir egal, wenn sie’s außer Hörweite machen würden!«

Die anfänglichen Bemühungen des Klons um Rücksicht hatten bald nachgelassen, da sie weder durch ein tieferes Schutzbedürfnis noch durch ein Bewusstsein für andere motiviert waren. Pugh und Martin konnten sich mit jedem Tag weniger vor den Intimitäten des ständigen emotional-sexuell-mentalen Austauschs retten und blieben zugleich davon ausgeschlossen.

»Noch zwei Monate«, sagte Martin eines Abends.

»Und dann?«, blaffte Pugh. In letzter Zeit war er zunehmend gereizt, und Martins Missmut ging ihm auf die Nerven.

»Werden wir abgelöst.«

In sechzig Tagen wurde die gesamte Crew ihrer Forschungsmission von ihren Erkundungen der anderen Planeten im System zurückerwartet. Das war Pugh klar.

»Hakst du die Tage im Kalender ab?«, fragte er höhnisch.

»Reiß dich zusammen, Owen.«

»Wie meinst du das?«

»Wie ich’s sage.« Voll Abscheu und Groll gingen sie auseinander.

 

Pugh kam nach einem Tag allein auf der Pampa, einer weiten Lavaebene, deren Rand mit dem Flieger zwei Stunden südlich lag, in die Basis zurück. Er war müde, aber das Alleinsein hatte ihm gutgetan. Eigentlich sollten sie keine längeren Ausflüge ohne Begleitung unternehmen, hatten das in letzter Zeit aber häufiger ignoriert. Martin stand gebeugt unter hellen Lampen und zeichnete eine seiner eleganten, meisterhaften Karten. Diesmal eine Draufsicht von Libra, ihrem krebszerfressenen Antlitz. Ansonsten war die Kuppel leer, wirkte schattig und groß, so wie früher vor der Ankunft des Klons. »Wo ist die goldene Horde?«

Martin knurrte, er habe keine Ahnung, und schraffierte weiter. Schließlich richtete er sich auf und warf einen Blick auf die Sonne, die matt über der östlichen Ebene hockte wie eine große rote Kröte, und von dort auf die Uhr, die 18:45 anzeigte. »Paar heftige Beben heute«, sagte er, sich wieder der Karte zuwendend. »Hast du sie da unten gespürt? Hier sind dauernd Kisten umgefallen. Schau mal auf den Seismo.«

Die Nadel hüpfte und schwankte über die Rolle. Hier hörte sie nie auf zu tanzen. Die Rolle hatte am Nachmittag fünf Beben größerer Stärke aufgezeichnet; zweimal war die Nadel von der Rolle gesprungen. Der angeschlossene Rechner war aktiviert worden und hatte einen Bericht ausgeworfen: Epizentrum 61’ N, 42’4’ O.

»Also diesmal nicht im Graben.«

»Hat sich irgendwie anders angefühlt als sonst. Stärker.«

»In der Basis Eins habe ich früher nächtelang wachgelegen und gespürt, wie die Erde wackelte. Komisch, woran man sich alles gewöhnt.«

»Sonst würde man durchdrehen. Was gibt’s zu Abend?«

»Ich dachte, du hättest schon gekocht.«

»Hab auf den Klon gewartet.«

Pugh fühlte sich ausgenutzt, holte aber zwölf Essenspackungen aus dem Fach, schob zwei in den Instoback und zog sie wieder raus. »Schön, hier ist das Essen.«

Als er an den Tisch trat, sagte Martin: »Mir ist was durch den Kopf gegangen. Stell dir vor, ein Klon würde sich selbst klonen. Unerlaubt. Und tausend Duplikate machen – zehntausend. Eine ganze Armee. Die könnten doch ohne Weiteres die Macht übernehmen.«

»Aber wie viele Millionen hat es gekostet, diesen Wurf zu züchten? Künstliche Plazentas und all das. Wäre schwierig, es geheimzuhalten, es sei denn, sie wären auf einem Planeten allein … Vor den Hungerjahren, als es auf der Erde noch Nationalregierungen gab, wurde das angedacht: die besten Soldaten zu klonen, gleich ganze Regimenter davon. Aber bevor sie mit dem Spiel loslegen konnten, hatten sie nichts mehr zu essen.«

Sie unterhielten sich freundschaftlich, wie früher.

»Komisch«, sagte Martin kauend. »Sie sind heute Morgen schon früh los, oder?«

»Alle außer Kaph und Zayin. Sie wollten die erste Ladung nach oben befördern. Was ist?«

»Sie sind nicht zum Mittagessen gekommen.«

»Sie werden bestimmt nicht verhungern.«

»Sie sind um sieben los.«

»Stimmt.« Pugh begriff auf einmal, was Martin meinte. Die Sauerstofftanks reichten für acht Stunden.

»Kaph und Zayin haben Ersatz mitgenommen, als sie los sind. Oder sie haben da draußen welche.«

»Eigentlich schon, aber die haben sie gerade alle zum Auffüllen hergebracht.« Martin erhob sich und zeigte auf die Stapel, die die Kuppel in Zimmer und Gänge teilten.

»Jeder Im-Anzug hat einen Alarmknopf.«

»Aber ohne Automatik.«

Pugh war müde und hatte immer noch Hunger. »Setz dich hin und iss, Mann. Die können auf sich selbst achtgeben.«

Martin setzte sich, aber er aß nicht. »Eins der Beben war echt heftig, Owen. Das erste. So schlimm, dass ich es mit der Angst kriegte.«

Nach einer Weile seufzte Pugh und sagte: »Na schön.«

Schweren Herzens holten sie den Zweierschlitten hervor, der immer für sie bereitstand, und flogen nach Norden. Der lange Sonnenaufgang überzog alles mit giftigem roten Wackelpudding. Das horizontale Licht und die langen Schatten behinderten die Sicht, errichteten vor ihnen falsche Wände aus Eisen, durch die sie hindurchglitten, verwandelten die leicht gewölbte Ebene hinter dem Höllenschlund in eine große Senke voll von blutigem Wasser. Im roten Licht um den Tunneleingang standen, wild durcheinander, haufenweise Maschinen: Kräne und Kabel, Servos, Reifen, Bagger und Robokarren, Gleiter und Kontrollhäuschen, alles kreuz und quer, schief und krumm. Martin sprang aus dem Schlitten und rannte in die Mine. Er kam wieder heraus, stürzte zu Pugh. »O Gott, Owen, sie ist eingestürzt.« Pugh sah nach. Fünf Meter hinter dem Eingang verschloss eine glänzende, feuchte schwarze Wand den Tunnel. Frisch der Luft ausgesetzt wirkte sie organisch, wie Bauchgewebe. Die durch Sprengungen vergrößerte Tunnelöffnung mit den Doppelgleisen für Robokarren wirkte unverändert, bis er Tausende von spinnwebfeinen Rissen in den Wänden entdeckte. Der Boden war nass, eine träge Flüssigkeit schwappte um ihre Füße.

»Sie waren drin«, sagte Martin.

»Vielleicht sind sie das immer noch. Bestimmt hatten sie einen Vorrat an Sauertofftanks –«

»Schau doch hin, Owen, schau dir die Flutbasalte an, das Dach. Siehst du nicht, was das Beben gemacht hat? Schau’s dir an.«

Der niedrige Buckel, der das Dach über den Höhlen gebildet hatte, wirkte noch immer wie eine optische Täuschung. Er war eingestürzt und bildete jetzt eine große Mulde oder Grube. Als Pugh hineinging, entdeckte er auch dort zahlreiche kleine Risse. Aus manchen stieg ein weißliches Gas auf, und das Sonnenlicht auf der Oberfläche der Gasschicht wirkte wie durchsetzt vom Wasser eines trüben roten Teichs.

»Die Mine liegt nicht auf dem Bruch. Hier ist kein Bruch!«

Pugh kehrte schnell zu ihm zurück. »Nein, Martin, hier ist kein Bruch … Hör zu, sie waren bestimmt nicht alle drin.«

Martin folgte ihm und suchte zwischen den Maschinenresten, anfangs teilnahmslos, doch dann immer tatkräftiger. Er fand den Luftschlitten. Der steckte mit der Nase nach Süden schräg in einem mit kolloidalem Staub gefüllten Loch. Er hatte zwei Insassen gehabt. Der eine war halb im Staub versunken, aber die Displays an seinem Anzug zeigten, dass noch alles normal funktionierte; der zweite hing angeschnallt im schiefen Schlitten. Ihr Im-Anzug war an den gebrochenen Beinen aufgeplatzt, und ihr Leichnam war steinhart gefroren. Mehr fanden sie nicht. Den Vorschriften wie auch den Sitten gemäß kremierten sie die Tote sofort mit den Laserpistolen, die sie tragen mussten und noch nie benutzt hatten. Weil Pugh spürte, dass ihm schlecht wurde, hievte er den Überlebenden in den Zweierschlitten und schickte Martin mit ihm los zur Kuppel. Dann übergab er sich und spülte das Erbrochene aus dem Anzug, fand noch irgendwo einen unbeschädigten Viersitzer und flog, zitternd, als hätte ihn die Kälte von Libra befallen, hinter Martin her.

Der Überlebende war Kaph. Er befand sich in Schockstarre. An seinem Hinterkopf entdeckten sie eine Schwellung, die auf eine mögliche Gehirnerschütterung hindeutete, aber keine Brüche.

Pugh holte zwei Gläser Nahrungskonzentrat und zwei Aquavit. »Komm«, sagte er. Gehorsam kippte Martin das Konzentrat in sich hinein. Dann setzten sie sich auf die Kisten neben der Pritsche und tranken langsam ihren Aquavit.

Kaph lag reglos da, das Gesicht wie Bienenwachs, das schwarze Haar schulterlang, die starren Lippen leicht geöffnet. Er atmete schwach und stoßweise.

»Es muss das erste Beben gewesen sein, das große«, sagte Martin. »Dadurch hat sich offenbar die ganze Struktur seitlich verschoben. Bis sie in sich zusammenbrach. Das Lateralgestein enthält bestimmt Gasschichten wie in diesen Formationen im einunddreißigsten Quadranten. Aber es gab keinerlei Anzeichen …« Mitten im Satz rutschte die Welt unter ihnen weg. Sachen sprangen und klapperten, hüpften und tanzten, lachten laut »Ha! Ha! Ha!« »So war das auch um 14 Uhr«, sprach die Vernunft aus Martins zitternder Stimme, während die Welt zusammenbrach. Doch als der Tumult nachließ und die Sachen zu tanzen aufhörten, erhob sich die Unvernunft und schrie.

Pugh sprang über seinen verschütteten Aquavit und hielt Kaph fest. Der muskulöse Körper warf ihn ab. Martin hielt seine Schultern fest. Kaph schrie, wehrte sich, rang nach Luft; sein Gesicht wurde schwarz. »Sauerstoff«, sagte Pugh. Seine Hand fand instinktiv die richtige Nadel im Arztkoffer; während Martin die Maske hielt, stieß er die Nadel in den Vagusnerv und holte Kaph ins Leben zurück.

»Wusste nicht, dass du den Trick kennst.« Martin atmete schwer.

»Der Lazarusstich, mein Vater war Arzt. Funktioniert oft nicht«, erwiderte Pugh. »Jetzt brauche ich den Schnaps, den ich verschüttet habe. Ist das Beben vorbei? Ich spür’s nicht.«

»Nachbeben. Nicht nur du zitterst.«

»Warum hat er keine Luft gekriegt?«

»Weiß ich nicht, Owen. Schlag im Buch nach.«

Kaph atmete normal und hatte wieder Farbe bekommen; lediglich die Lippen waren noch blau. Sie schenkten sich neuen Mut ein und setzten sich mit ihrem medizinischen Handbuch zu ihm. »Nichts über Zyanose oder Erstickung bei Schock oder Gehirnerschütterung. Im Anzug kann er nichts eingeatmet haben. Ich weiß es nicht. Das hier bringt uns auch nicht mehr als Mutter Mogs Kräuterfibel … ›Hämorrhoiden‹, igitt!« Pugh warf das Buch auf eine Kiste. Es landete davor, da entweder Pugh oder die Kiste noch wackelten.

»Warum hat er sich nicht gemeldet?«

»Wie bitte?«

»Die acht in der Mine hatten keine Zeit. Aber das Mädel und er müssen draußen gewesen sein. Vielleicht war sie am Eingang und wurde beim ersten Rutsch verletzt. Er muss draußen gewesen sein, im Kontrollhäuschen vielleicht. Er ist reingerannt, hat sie rausgezogen, im Schlitten festgeschnallt, ist in Richtung Kuppel losgeflogen – und hat die ganze Zeit nicht den Alarmknopf im Anzug betätigt. Warum nicht?«

»Er hat doch ’nen Schlag auf den Kopf abbekommen. Vermutlich hat er nicht mal gemerkt, dass sie tot war. Er war nicht bei Sinnen. Aber auch wenn, weiß ich nicht, ob er daran gedacht hätte, sich bei uns zu melden. Sie haben sich immer untereinander geholfen.«

Martins Gesicht glich einer Totemmaske, mit Furchen an den Mundwinkeln und matten Kohleaugen. »Das stimmt. Was muss er empfunden haben, als das Beben kam und er draußen war, allein …«

Zur Antwort schrie Kaph laut auf.

Er wurde von Krämpfen geschüttelt, rutschte von der Pritsche wie ein Erstickender, schlug Pugh mit seinem fuchtelnden Arm zu Boden, stolperte gegen einen Kistenstapel und sackte vornüber, die Augen weiß. Martin hievte ihn wieder auf die Pritsche und verabreichte ihm eine Dosis Sauerstoff, dann kniete er sich zu Pugh, der auf dem Boden saß und sich den verletzten Wangenknochen rieb. »Owen, wie geht’s dir, kommst du klar?«

»Ich denke schon«, sagte Pugh. »Warum wischst du mir damit im Gesicht herum?«

Es war ein Papierstreifen aus dem Rechner, jetzt mit Pughs Blut beschmiert. Martin ließ ihn fallen. »Ich hab das für ein Tuch gehalten. Du hast dir an der Kiste da die Wange aufgerissen.«

»Ist es vorbei?«

»Scheint so.«

Sie starrten beide auf Kaph hinunter, der starr dalag, die Zähne ein weißer Streifen zwischen dunklen, geöffneten Lippen.

»Wie Epilepsie. Eine Hirnschädigung vielleicht?«

»Sollen wir ihm Meprobamat spitzen?«

Pugh schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in der Spritze war, die ich ihm gegen den Schock verpasst habe. Ich will ihm keine Überdosis verpassen.«

»Vielleicht hilft’s ihm zu schlafen.«

»Das würde ich auch gerne. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«

»Du hast ganz schön was abbekommen. Leg dich hin, ich bleib noch eine Weile sitzen.«

Pugh reinigte seine Wange und zog sich das Hemd aus, doch dann hielt er inne.

»Hätten wir noch irgendwas anderes tun – oder versuchen sollen?«

»Sie sind alle tot«, sagte Martin ernst, sanft.

Pugh legte sich auf seinen Schlafsack und wurde gleich darauf von einem grässlichen, gequälten Würgen geweckt. Er mühte sich hoch, holte die Nadel, versuchte dreimal sie richtig anzusetzen, ohne dass es ihm gelang, und begann Kaphs Herz zu massieren. »Mund zu Mund«, befahl er, und Martin gehorchte. Schließlich atmete Kaph tief durch, sein Herzschlag wurde ruhiger, die steifen Muskeln begannen sich zu entspannen.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Eine halbe Stunde.«

Schwitzend standen sie auf. Der Boden bebte, die Haut der Kuppel wölbte sich nach innen und schwankte. Libra tanzte wieder ihre elende Polka, ihren Totentanz. Die Sonne schien, obwohl sie höher stieg, größer geworden zu sein und röter: Offenbar waren Gas und Staub in die schwache Atmosphäre gewirbelt worden.

»Was ist mit ihm, Owen?«

»Ich glaube, er stirbt mit ihnen.«

»Die … Aber die sind doch alle tot.«

»Die anderen neun. Sie sind alle tot, zerquetscht oder erstickt. Sie waren alle er, er ist sie alle. Sie sind gestorben, und nun stirbt er ihre Tode einen nach dem andern.«

»Um Himmels willen«, sagte Martin.

Das nächste Mal verlief ganz ähnlich. Das fünfte Mal war schlimmer, denn Kaph kämpfte und tobte und versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus, als wäre sein Mund von Steinen oder Sand verstopft. Danach wurden die Anfälle schwächer, er jedoch auch. Der achte Schub setzte gegen halb fünf ein; bis gegen halb sechs taten Pugh und Martin alles, was sie konnten, um Leben in dem Körper zu erhalten, der ohne jeden Widerstand in den Tod glitt. Es gelang ihnen, aber Martin sagte: »Der nächste wird ihn erledigen.« Und so war es; doch Pugh blies ihm seinen Atem in die leblose Lunge, bis er selbst ohnmächtig wurde.

Er wachte auf. Die Kuppel war abgedunkelt, und es brannte kein Licht. Er lauschte und hörte zwei schlafende Männer atmen. Er schlief wieder ein und wurde erst wieder vom Hunger geweckt.

Die Sonne stand hoch über der dunklen Ebene, und der Planet hatte zu tanzen aufgehört. Kaph schlief. Pugh und Martin tranken Tee und betrachteten ihn selbstzufrieden.

Als er aufwachte, ging Martin zu ihm. »Na, Alter, wie fühlst du dich?« Er bekam keine Antwort. Pugh trat an Martins Stelle und schaute in die trüben braunen Augen, die in seine Richtung blickten, ohne ihn anzusehen. Wie Martin wandte er sich rasch ab. Er wärmte Nahrungskonzentrat auf und brachte es Kaph. »Komm, trink.«

Er sah, wie sich Kaphs Halsmuskeln anspannten. Der junge Mann sagte: »Lasst mich sterben.«

»Du stirbst nicht.«

Kaph entgegnete klar und präzise: »Ich bin neun Zehntel tot. Von mir ist nicht genug übrig, um zu leben.«

Diese Präzision überzeugte Pugh, doch er wehrte sich dagegen. »Nein«, sagte er bestimmt. »Sie sind tot. Die anderen. Deine Geschwister. Du bist nicht sie, du bist am Leben. Du bist John Chow. Dein Leben liegt in deiner Hand.«

Der junge Mann lag still und starrte in eine Dunkelheit, die nicht da war.

Martin und Pugh flogen abwechselnd mit dem Transporter und einem Teil der übriggebliebenen Robos zum Höllenschlund, um Geräte zu bergen und vor der aggressiven Atmosphäre zu schützen, denn ihr Wert war buchstäblich astronomisch. Einzeln kamen sie nur langsam voran, aber sie wollten Kaph nicht alleinlassen. Wer in der Kuppel blieb, arbeitete am Schreibtisch, während Kaph dasaß oder dalag, in seine Dunkelheit hinaus starrte und schwieg. Die Tage gingen stumm dahin.

Knisternd meldete sich das Funkgerät: die Forschungsgruppe von ihrem Schiff. »In fünf Wochen landen wir auf Libra, Owen. Vierunddreißig E-Tage und neun Stunden sagen die Berechnungen zur Zeit. Wie sieht’s bei euch in der Kuppel aus?«

»Nicht gut, Chef. Das Rohstoffteam ist umgekommen, alle bis auf einen, in der Mine. Erdbeben. Vor sechs Tagen.«

Das Funkgerät knisterte und sang Sternmelodien. Sechzehn Sekunden Verzögerung hin und zurück; das Schiff befand sich in der Nähe von Planet II. »Umgekommen, alle bis auf einen? Martin und du, ihr seid unverletzt?«

»Uns ist nichts passiert, Chef.«

Zweiunddreißig Sekunden.

»Die Passerine hat uns ein Rohstoffteam überlassen. Dann setze ich das vielleicht für das Projekt Höllenschlund ein, statt in Quadrant Sieben. Das besprechen wir, wenn wir da sind. Auf jeden Fall werden du und Martin in Kuppel Zwei abgelöst. Haltet durch. Sonst noch was?«

»Sonst nichts.«

Zweiunddreißig Sekunden.

»Schön. Macht’s gut, Owen.«

Kaph hatte alles mitgehört, und Pugh sagte später zu ihm: »Es kann sein, dass der Chef dich bitten wird, mit dem anderen Rohstoffteam hierzubleiben. Du kennst dich hier aus.« Da er die Zwänge des Weltraumlebens kannte, wollte er den jungen Mann warnen. Kaph gab keine Antwort. Seit er gesagt hatte: »Von mir ist nicht genug übrig, um zu leben«, hatte er kein Wort mehr gesprochen.

»Owen«, sagte Martin über den Sender im Anzug, »er ist hinüber. Gaga. Verrückt.«

»Für einen, der neunmal gestorben ist, schlägt er sich ziemlich gut.«

»Gut? Wie ein Androide, dessen Akku leer ist? Das einzige Gefühl, das er noch hat, ist Hass. Sieh dir seine Augen an.«

»Das ist kein Hass, Martin. Hör zu, es stimmt, dass er gewissermaßen tot war. Ich kann mir nicht vorstellen, was er empfindet. Aber es ist kein Hass. Er kann uns nicht einmal sehen. Es ist zu dunkel.«

»Im Dunkeln ist schon manchem die Kehle aufgeschlitzt worden. Er hasst uns, weil wir nicht Aleph und Yod und Zayin sind.«

»Mag sein. Aber ich glaube, er ist einsam. Er sieht und hört uns nicht, das ist es. Er hat noch nie andere sehen müssen. Er war noch nie allein. Er hatte immer sich selbst, zum Sehen, Reden, Zusammenleben. Neunmal Ich, sein Leben lang. Er weiß nicht, wie es allein geht. Er muss es lernen. Gib ihm Zeit.«

Martin schüttelte den schweren Kopf und sagte: »Gaga. Wenn du mit ihm allein bist, dann vergiss bloß nicht, dass er dir mit einer Hand das Genick brechen kann.«

»Ja, das könnte er«, sagte Pugh, ein kleiner Mann mit sanfter Stimme und einer Narbe auf der Wange. Er lächelte. Sie waren draußen vor der Luftschleuse der Kuppel, um einen der Servos für die Reparatur eines beschädigten Transporters zu programmieren. Drinnen, im großen Halbei der Kuppel, saß Kaph wie eine Fliege in Bernstein.

»Gib mir den Einsatz rüber. Wie kommst du darauf, dass es besser wird?«

»Er hat einen starken Charakter, das auf jeden Fall.«

»Stark? Verkrüppelt. Neun Zehntel tot, wie er gesagt hat.«

»Aber er ist nicht tot. Er ist ein lebendiger Mensch: John Kaph Chow. Er ist ziemlich seltsam aufgewachsen, aber schließlich muss sich jedes Kind irgendwann von seiner Familie lösen. Er wird es schaffen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Überleg mal kurz, Martin Bach. Wozu dient das Klonen? Zur Reparatur der menschlichen Spezies. Unser Zustand ist schlecht. Guck mich an. Mein IIQ und GC sind nur halb so hoch wie die von diesem John Chow. Trotzdem brauchten sie mich, als ich mich freiwillig gemeldet hab, so dringend für diese Weltraummission, dass sie mich nahmen, mir eine künstliche Lunge verpassten und meine Kurzsichtigkeit korrigierten. Wenn es also ausreichend gute, gesunde Burschen gäbe – würden sie dann einen kurzsichtigen Waliser mit nur einem Lungenflügel nehmen?«

»Ich wusste nicht, dass du eine künstliche Lunge hast.«

»Hab ich aber. Nicht aus Metall, weißt du. Menschlich, aus ein paar Spenderzellen in einem Behälter gezüchtet; geklont, wenn du so willst. So wird Organersatz produziert, auf ähnliche Weise wie das Klonen, nur eben Stück für Stück und keine ganzen Menschen. Egal, jetzt ist es meine Lunge. Aber was ich sagen will: Heutzutage gibt es zu viele wie mich und nicht genug wie John Chow. Es wird versucht, die Qualität des menschlichen Genpools zu verbessern, der seit dem letzten Bevölkerungssturz nicht mehr ist als eine kleine trübe Pfütze. Damit ein Mann, wenn er geklont wird, stark und intelligent ist. Das ist doch nur logisch.«

Martin brummte etwas; der Servo fing an zu surren.

Kaph hatte wenig gegessen; er hatte Probleme mit dem Schlucken, das Essen blieb ihm im Hals stecken und er gab nach wenigen Bissen auf. Er hatte acht oder zehn Kilo abgenommen. Nach ungefähr drei Wochen begann sein Appetit jedoch zurückzukehren, und eines Tages fing er an, die Habseligkeiten des Klons durchzusehen, die Schlafsäcke, Kulturbeutel, Papiere, die Pugh ordentlich am hinteren Ende einer Kistenreihe gesammelt hatte. Er sortierte, vernichtete einen Stapel Papiere, machte aus dem Übrigen ein kleines Paket und verfiel anschließend wieder in sein Halbkoma.

Zwei Tage später sagte er etwas. Pugh versuchte ein Flattern im Bandgerät zu reparieren und schaffte es nicht; Martin war mit dem Flieger unterwegs, um ihre Karten der Pampa abzugleichen. »Verdammt nochmal!«, schimpfte Pugh, und Kaph fragte tonlos: »Soll ich das machen?«

Pugh zuckte zusammen, beherrschte sich und gab Kaph das Gerät. Der junge Mann nahm es auseinander, setzte es wieder zusammen und stellte es zurück auf den Tisch.

»Leg ein Band ein«, sagte Pugh betont gelassen von einem anderen Tisch aus.

Kaph legte das oberste Band ein, einen Choral. Er legte sich auf seine Pritsche. Der Klang von hundert singenden Menschenstimmen erfüllte die Kuppel. Kaph lag still, mit ausdrucksloser Miene.

Im Lauf der nächsten Tage übernahm er ungebeten einige Routineaufgaben. Er machte nichts, wozu es Initiative bedurfte, und gab, wenn sie ihn etwas zu tun baten, keine Antwort.

»Er macht sich gut«, sagte Pugh im argentinischen Dialekt.

»Nein. Er verwandelt sich in eine Maschine. Macht das, wozu er programmiert ist, reagiert auf nichts anderes. Was schlimmer ist als vorher, als er gar nicht funktionierte. Er ist kein Mensch mehr.«

Pugh seufzte: »Na, gute Nacht«, sagte er auf Englisch. »Gute Nacht, Kaph.«

»Gute Nacht«, sagte Martin; Kaph schwieg.

Beim Frühstück am nächsten Morgen langte Kaph über Martins Teller hinweg nach dem Toast. »Warum sagst du nichts?«, fragte Martin mit der Freundlichkeit unterdrückter Verzweiflung. »Ich kann ihn dir reichen.«

»Ich komme ran«, sagte Kaph mit seiner tonlosen Stimme.