Der tiefe Graben - Ezra Klein - E-Book

Der tiefe Graben E-Book

Ezra Klein

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Beschreibung

New York Times-Bestseller und "Buch der Stunde" (CNN)  Der Polit-Experte Ezra Klein erklärt, wie es zur historisch einzigartigen Spaltung einer Supermacht kommen konnte – und legt damit das entscheidende Buch zu den Wahlen und der Zukunft Amerikas vor. Die messerscharfe Analyse der Ereignisse, die Republikaner und Demokraten immer mehr zu reinen "Klientelparteien" haben werden lassen, reicht zurück bis in fünfziger Jahre, als die großen Verwerfungen unserer Zeit ihren Ausgang nahmen. Klein zeigt, warum Trump nicht der Ursprung, sondern eine logische Folge dieser Entwicklung ist, und welche Auswirkungen das auf Gesellschaft, Medien und Politik hat. Werden künftig die eigenen Wähler gezielt begünstigt? Ist das Ende der freien amerikanischen Gesellschaft gekommen? Kann die gesellschaftliche Spaltung jemals wieder überwunden werden? Der tiefe Graben offenbart die Versäumnisse und Verwerfungen in der jüngste Geschichte der US-Politik, und ist zugleich eine dringende Warnung an alle demokratischen Staaten, die sich im Prozess einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung befinden.  

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Ezra Klein

Der tiefe Graben

Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika

Hoffmann und Campe

Für Annie und Moshi

Einleitung

Was nicht passiert ist

»Seit dem 8. November 2016 ist kaum ein Tag vergangen, an dem mich nicht die immer gleiche Frage gequält hätte«, schreibt Hillary Clinton in What Happened. »Warum habe ich verloren?«[1]

What Happened ist ein ungewöhnliches Buch. Erschienen nur wenige Monate nach den Präsidentschaftswahlen 2016, stellt es den Versuch der gescheiterten Kandidatin dar, zu verstehen, warum sie versagt hat. Den Kern des Werkes bildet die Überzeugung, dass 2016 etwas Außergewöhnliches und äußerst Bizarres geschehen sei – ein Wahlausgang jenseits aller Grenzen des normalen US-Politikbetriebs, eine Anomalie, die nach einer Erklärung verlangt.

Hätte 2012 Mitt Romney gewonnen, hätte Barack Obama kein Buch mit dem Titel What the Hell? herausgebracht. Genauso wenig hätten sich 2004, wäre John Kerry mit fliegenden Fahnen ins Weiße Haus eingezogen, Millionen von Amerikanern gemeinsam mit George W. Bush den Kopf darüber zerbrochen, wie es wohl zu einem solchen Dammbruch hatte kommen können. In der US-Politik gehört Verlieren einfach dazu. Clintons Buch – und ebenso den gequälten Aufschrei von Liberalen und notorischen Trump-Verweigerern, der nach den Wahlen landesweit die Kommentare bestimmte – durchzieht von Anfang bis Ende derselbe Unterton: die feste Überzeugung, 2016 sei weder mit 2012 noch mit 2004 vergleichbar. Es hätte eine Kontinentalverschiebung gegeben. Uns stünden Antworten zu.

Fairerweise muss man einräumen, dass in der Tat etwas Seltsames passiert war. Donald Trump hatte die Wahl gewonnen. Es gibt ein Zitat von Maya Angelou, das während der Wahlen 2016 in sämtlichen sozialen Medien die Runde machte: »Zeigt dir jemand sein wahres Gesicht, dann glaube ihm.« Trump zeigte uns fröhlich, wer er war, und zwar unablässig. Er verspottete John McCain dafür, in Vietnam in Gefangenschaft geraten zu sein. Er stellte die Behauptung auf, der Vater von Ted Cruz sei an der Ermordung von JFK beteiligt gewesen. Er brüstete sich mit der Größe seines Penis und sinnierte in aller Öffentlichkeit darüber, dass sein gesamtes bisheriges Leben von Gier getrieben gewesen sei. Er machte keinerlei Geheimnis um seine Bigotterie oder seine sexistischen Auffassungen. Er nannte sich selbst ein Genie, während er auf Twitter Verschwörungstheorien verbreiten half – in Großbuchstaben.

Nicht einmal Trumps Team glaubte daran, dass er gewinnen würde. Es wurde an Plänen für einen eigenen Fernsehsender gearbeitet, den er nach seiner Niederlage einrichten wollte. Und dann kam die Wahlnacht. Er gewann das Electoral College, das Wahlmännerkollegium, obwohl Nachwahlbefragungen ergaben, dass 61 Prozent der Wähler der Auffassung waren, er sei für das Präsidentenamt nicht ausreichend qualifiziert; obwohl die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler eine höhere Meinung von Clinton hatte und überzeugt war, Trump verfüge nicht über die Charaktereigenschaften, die das angestrebte Amt verlangte.[2] Die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten ist ein kostbares Heiligtum, ihr Inhaber gebietet über unvorstellbar zerstörerische Macht, und nun hatten wir es einer Naturkatastrophe in Menschengestalt übergeben. Noch dazu wissentlich, absichtlich.

Dieser Affront ist die Motivation für What Happened. Clinton versucht, in dem Buch zu erklären, wie es Trump gelingen konnte, die Wahl zu gewinnen. Sie sucht sich selbst zu entlasten, doch ihre Verwirrung ist echt. Dazu tragen auch die besonderen Umstände von Trumps Triumph bei. Dem Popular Vote, den landesweit abgegebenen Wählerstimmen, zufolge hatte er mit einem Abstand von mehreren Millionen Wählerstimmen verloren, und seinen Vorsprung im Electoral College verdankte er lediglich einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung. Clinton schreibt, sie hätte gewonnen, »hätten nur 40000 Leute in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania ihre Meinung geändert«.

Bei einem derart hauchdünnen Vorsprung – insgesamt wurden mehr als 136 Millionen Stimmen abgegeben – kommt als Erklärung alles in Frage. Und genau darauf richtet Clinton ihre Bemühungen: Sie weist überzeugend nach, dass alles, von James Comeys Brief über die Einmischung Russlands bis hin zu einem tief verwurzelten Sexismus, für diese äußerst knappe Niederlage verantwortlich gemacht werden kann – und es wahrscheinlich auch war.

Doch solche Analysen stellen eher leichte Fragen als schwere. Anstatt uns zu fragen, wie es Trump gelingen konnte, die Wahl zu gewinnen, sollten wir uns fragen, wie es ihm gelingen konnte, auch nur in die greifbare Nähe eines möglichen Sieges zu rücken. Wie ist es zu erklären, dass ein Kandidat wie Trump – ein Kandidat, der Geringschätzung gegenüber der Partei ausstrahlte, die er repräsentierte, und für den Job, den er anstrebte, nicht zu taugen schien – überhaupt so weit kommen konnte, dass letztlich ein paar tausend Stimmen über seine Wahl entschieden?

Diese Frage stellte ich Mitte 2017 Larry Bartels, Politikwissenschaftler an der Vanderbilt University, dessen nüchterne Analyse der amerikanischen Politik ich über lange Jahre politischer Berichterstattung schätzen gelernt hatte. Mit ihm zu sprechen vermittelt einem das grauenhafte Gefühl, einen Computer mit Fragen zu füttern, dem es absolut egal ist, ob man die Ergebnisse seiner Berechnungen mag. Während er mich irritiert betrachtete, bombardierte ich ihn also mit meinen Theorien zu dieser Wahl. Nachdem alles aus mir herausgesprudelt war und ich nichts mehr zu sagen wusste, antwortete er mit einer einzigen Gegenfrage, und die beschert mir bis heute Albträume: Was, wenn überhaupt nichts Ungewöhnliches passiert ist?

Die Prämisse all meiner Fragen, erklärte mir Bartels ruhig, bestünde darin, dass 2016 eine verrückte Wahl gewesen sei. Und damit hatte er recht. Genau das war mein Ausgangspunkt. Ich hatte Vorgänge in der amerikanischen Politik erlebt, die ich, wären sie in einer Folge von House of Cards aufgetaucht, als lachhaft und vollkommen unrealistisch bezeichnet hätte; und hätte ich sie in Veep – Die Vizepräsidentin gesehen, als zu düster, um lustig zu sein. Außerdem war ich nicht der Einzige, dessen Hirn eine solch hysterische Reaktion produzierte. Meine Meinung war eine gemäßigte Version der gängigen Meinung. So argumentierte etwa Adam Gopnik im New Yorker, Trumps Sieg sei ein Beleg für die Hypothese, dass »wir in einer Computersimulation leben und dass da seit kurzem irgendwas verrücktspielt«.[3]

Doch Bartels hatte sich die Daten angeschaut und war anderer Auffassung. Es sehe nicht so aus, als sei die Wahl von 2016 eine Fehlfunktion gewesen. Es sehe, zumindest größtenteils, so aus, als sei sie wie alle anderen Wahlen gewesen, die wir in letzter Zeit gehabt hätten. Falls es überhaupt etwas Auffälliges an der Simulation gebe, dann, dass sie zu stabil sei – als hätten wir Tornados über unsere virtuelle Stadt hinwegfegen und Meteore auf sie niederregnen lassen, und dabei seien lediglich ein paar Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Das Entnervende an dem Ganzen sei seine Normalität.

Nehmen wir die Geschlechterfrage: Clinton war die erste je von einer großen Partei als Präsidentschaftskandidatin nominierte Frau. Trump war ein männliches Es in einem Anzug, ein Idiot, der sich damit brüstete, Frauen an die Muschi zu grapschen, und, ohne mit der Wimper zu zucken, die sexuelle Anziehungskraft aller in Zweifel zog, die ihm zu widersprechen wagten. Diese Wahl war also wie geschaffen dafür, uns weitaus stärker nach Geschlecht zu polarisieren als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte.

Doch schauen wir uns die Nachwahlbefragungen an. 2004 erhielt der republikanische Präsidentschaftskandidat 55 Prozent der Männerstimmen. 2008 erhielt er 48 Prozent der Männerstimmen. 2012 waren es 52 Prozent. Und 2016? Trump erhielt 52 Prozent der Männerstimmen und fuhr damit exakt Mitt Romneys Ergebnis ein.

Bei den weiblichen Wählern sieht es ähnlich aus. 2004 erhielt der Republikaner 48 Prozent der Frauenstimmen. 2008 erhielt er 43 Prozent. 2012 waren es 44 Prozent. Und 2016? 41 Prozent. Weniger, aber lediglich zwei Prozentpunkte unter dem Ergebnis von John McCain 2008. Kein Erdbeben.

Betrachten wir das Ganze aus einem anderen Blickwinkel: Dies war die Wahl der weißen Nationalisten. Eine Wahl, bei der die große Stunde der alternativen Rechten schlug. Eine Wahl, bei der Trump versprach, hinter dem ersten schwarzen Präsidenten in der Geschichte der USA gründlich aufzuräumen und Amerika wieder zu dem zu machen, was es einmal war, eine Mauer zu bauen und das Land wieder groß zu machen. Dennoch: 2004 erhielt der Kandidat der Grand Old Party (GOP) 58 Prozent der weißen Wählerstimmen, 2008 waren es 55 Prozent, 2012 dann 59 Prozent. Und 2016? 57 Prozent.

Es gab natürlich keine Gruppe, auf die Trump regelmäßiger einhackte als die hispanischen Immigranten. Zu Beginn seines Wahlkampfs kam er eine goldene Rolltreppe herabgefahren und verkündete: »Wenn Mexiko seine Leute schickt, dann schickt es nicht die besten. Sie schicken nicht euch […]. Sie bringen uns Drogen. Sie bringen uns Verbrechen. Es sind Vergewaltiger. Und ein paar davon sind vielleicht auch gute Menschen.« 2004 erhielt der republikanische Präsidentschaftskandidat 44 Prozent der Wählerstimmen der Hispanics. 2008 waren es 31 Prozent. 2012 dann 27 Prozent. Und 2016? 28 Prozent.

Nach dem Sieg der GOP2004 wurde die Dominanz der Republikanischen Partei weithin Bushs tiefverwurzelter, authentischer Verbindung zu weißen Evangelikalen zugeschrieben, die zu 78 Prozent für seine Wiederwahl gestimmt hatten. 2008 gewann der Kandidat der GOP74 Prozent der Stimmen dieser Wähler. 2012 wieder 78 Prozent. Doch Trump war anders: ein moralisch zwielichtiger Typ und notorischer Fremdgeher, der ungeniert seinen Reichtum zur Schau stellte und, als er während des Wahlkampfes einmal gefragt wurde, ob er sich jemals an Gott gewandt habe, um Vergebung zu erbitten, geantwortet hatte: »Da bin ich mir nicht sicher.« Wie also schnitt er bei der Wählergruppe der weißen wiedergeborenen Christen ab? Er bekam 80 Prozent ihrer Stimmen.

Vielleicht lässt sich das Ganze am besten durch die Brille der Parteibindung betrachten. 2016 nominierten die Republikaner einen in dritter Ehe verheirateten Milliardär, der noch wenige Jahre zuvor Demokrat gewesen war, den eine Titelstory des National Review als Bedrohung für den Konservatismus abqualifizierte[4], den mit den Republikanern nur wenig verband, der die vorherigen Bannerträger dieser Partei mit Geringschätzung betrachtete und offen über seine Sympathien für den Sozialstaat, Medicare und Planned Parenthood sprach. 2004 erhielt der republikanische Kandidat 93 Prozent der Stimmen derjenigen, die sich selbst als Republikaner bezeichneten; 2012 waren es 93 Prozent; 2016 dann 88 Prozent. Ein Rückgang, sicher, aber keine Katastrophe.

Auch die Differenzen bei den Wählerstimmen sprechen Bände. 2004 gewann der republikanische Kandidat mit einem Vorsprung von drei Millionen Stimmen. 2008 gewann der Demokrat mit einem Vorsprung von mehr als neun Millionen Stimmen. 2012 gewann der Demokrat mit einem Vorsprung von knapp fünf Millionen Stimmen. Und 2016 gewann die Demokratin auch, mit einem Vorsprung von knapp drei Millionen Stimmen. Das zwischengeschaltete Wahlmännerkollegium kippte diesen Vorsprung natürlich wieder, aber betrachtet man allein die abgegebenen Wählerstimmen, dann hat es 2016 keine auffällige Anomalie gegeben.

Und jetzt kommt Bartels’ Punkt: Bekämen Sie einen Ausdruck der Wählerdaten der letzten paar Wahlen und würden gebeten herauszufinden, welche von ihnen die bizarre war, also die, die das politische System der USA durcheinanderwirbelte und zu einer Flut von Büchern führte, die versuchten, das Ergebnis zu erklären – wären Sie dazu imstande? Die Ergebnisse von 2016 ähnelten im Großen und Ganzen denen von 2012, 2008 und 2004, auch wenn der Sieger eine der bizarrsten Gestalten ist, die das politische System der USA jemals hervorgebracht hat.

Das Überraschende an den Wahlergebnissen von 2016 ist nicht das, was passiert ist. Es ist das, was nicht passiert ist. Trump hat weder mit einem Abstand von 30 Prozentpunkten verloren noch mit einem Abstand von 20 Prozentpunkten gewonnen. Die meisten Menschen, die ihre Stimme abgaben, entschieden sich 2016 für dieselbe Partei, die sie bereits 2012 gewählt hatten. Das soll nicht heißen, dass diese Wahl keine Besonderheiten hatte oder nichts, das einer Untersuchung wert wäre. Entscheidend war, dass weiße Wähler ohne Collegeabschluss scharf in Richtung Trump abbogen und dass es ihre Überrepräsentanz in Schlüsselstaaten war, die ihm den Sieg sicherte.a[5] Doch nimmt man allein die Zahlen, dann war der Wahlkampf größtenteils ein typischer Wettlauf zwischen Republikanern und Demokraten.

Dass die Wähler Trump am Ende behandelten, als sei er auch nur ein ganz normaler Republikaner, spiegelt den enormen Druck wider, den die parteipolitische Polarisierung heute in unserem Politiksystem entfaltet – sie fällt derart stark ins Gewicht, dass sie das Ergebnis einer so bizarren Wahl wie 2016 in dieselben Spurrinnen zwingen kann wie das von Romneys Rennen gegen Obama oder Bushs Rennen gegen Kerry. Wir sind unseren politischen Identitäten so sehr verhaftet, dass im Grunde kein Kandidat, keine Information, keine wie auch immer gearteten Umstände uns zwingen können, unsere Meinung zu ändern. Solange es unserer Seite dient, werden wir eine Rechtfertigung für beinahe alles und jeden finden, und das Resultat ist eine Politik, in der es weder Leitplanken noch Standards, Überzeugungsmöglichkeiten oder Möglichkeiten einer Haftbarmachung gibt.

Aber wir selbst haben uns doch gar nicht so sehr verändert, oder? Wir arbeiten nach wie vor als ehrenamtliche Trainer in den Nachwuchsligen und kümmern uns um unsere Eltern. Wir weinen immer noch, wenn wir romantische Komödien sehen, und mähen immer noch unseren Rasen. Wir lachen immer noch über unsere Verschrobenheiten und entschuldigen uns für harte Worte. Wir wollen immer noch geliebt werden und wünschen uns immer noch eine bessere Welt. Das soll uns keineswegs von unserer politischen Verantwortung freisprechen. Aber – und hier zitiere ich ein Klagelied, das jenseits der Politik sehr häufig angestimmt wird – sind wir denn nicht besser als das?

Ich denke, ja, oder zumindest können wir es sein. Doch toxische Systeme verderben gute Menschen nur allzu leicht. Und zwar nicht, indem sie von uns fordern, unsere Werte zu verraten, sondern, indem sie unsere Werte auf eine Weise kapern, die dazu führt, dass wir einander verraten. Ein Handeln, welches wir als Individuen für rational oder sogar moralisch halten, wird destruktiv, sobald es kollektiv geschieht.

Wie die US-amerikanische Politik zu einem toxischen System wurde, warum wir daran teilnehmen und was das für unsere Zukunft bedeutet – darum geht es in diesem Buch.

Denken in Systemen

Lassen Sie mich gleich zu Beginn eines klarstellen: Dies ist kein Buch über Menschen. Dies ist ein Buch über Systeme.

Die Geschichte der US-amerikanischen Politik wird gern mit Hilfe der Geschichten einzelner politischer Akteure erzählt. Wir fokussieren uns auf ihre Genialität, ihre Hybris, ihre Anständigkeit, ihre Betrügereien. Wir erzählen von ihren Fehden, ihren Gedanken, den Bonmots, die sie bei privaten Treffen vom Stapel lassen, und den Seelenqualen, die sie Freunden im Stillen eingestehen. Wir machen in den Entscheidungen, die sie treffen, die historischen Schlüsselmomente aus. Und indem wir das tun, deuten wir an, dass sie andere Entscheidungen hätten treffen können oder dass andere an ihrer Stelle andere Entscheidungen getroffen hätten. Diese Annahme ist vom Liebreiz der Wahrhaftigkeit umweht, enthält allerdings nicht so viel Wahrheit, wie wir glauben oder wie atemlose Insiderberichte aus dem Weißen Haus und Wahlkampfintrigen uns glauben machen wollen.

Ich studiere die amerikanische Politik als Journalist schon beinahe 20 Jahre lang. Ich habe versucht, sie aus der Perspektive von Politikern, Aktivisten, Politikwissenschaftlern, Geldgebern, Wählern, Nichtwählern, Stabsmitarbeitern und Experten zu verstehen, der Perspektive aller also, die von ihr betroffen sind oder auf sie einwirken. Im Verlaufe dieser Berichterstattung traf ich so einige politische Akteure, die ich für Zyniker, Narren oder Schurken halte. Sie verkörpern den Teil der amerikanischen Politik, der kaputt ist, und die Versuchung, unsere Probleme ihrer niederen Moral oder ihrem mangelnden Urteilsvermögen anzulasten, ist groß. Aber genau das tun wir bei jeder Wahl, wenn unsere Unzufriedenheit mit dem System uns dazu bringt, einige seiner Funktionsträger zu feuern und andere an ihrer Stelle zu engagieren. Und wenn wir dann ein paar Jahre später feststellen, dass das System immer noch kaputt ist, tun wir es wieder. Und wieder. Und wieder.

Während ich zusah, wie sich die Helden der einen Wahl in die Schurken der darauffolgenden verwandelten, während ich rational denkenden Menschen zuhörte, die mir gut durchdachte Begründungen für lächerliches Verhalten lieferten, habe ich den Glauben an diese Geschichten verloren. Wir brechen systemische Probleme auf personalisierte Erzählungen herunter, und indem wir das tun, vernebeln wir unser Verständnis von amerikanischer Politik und bringen unsere Theorien für deren Reparatur durcheinander. Wir versuchen, das System zu reparieren, indem wir die Menschen austauschen, die es bedienen, nur um festzustellen, dass auch sie Teil des Systems geworden sind. Ich habe Republikaner getroffen, die, obwohl sie für McCain gestimmt hatten, große Hoffnungen auf Obama setzten – um dann festzustellen, dass er auch einfach nur ein ganz normaler Demokrat war. Ich habe Demokraten kennengelernt, die sich darauf freuten, dass Trump die Republikanische Partei entlang populistischer Linien neu ausrichten würde, und die dann bitter enttäuscht waren, als er beinahe alles absegnete, was die Republikaner im Kongress ihm vorlegten.

Alle paar Jahre taucht eine neue Generation von Politikern auf, die versprechen, das Land über die Partei zu stellen, im Namen des Volkes statt im Namen der Mächtigen zu regieren, stärker auf »unsere guten inneren Engel« zu hören als auf das Geheul aus unterschiedlichsten Lagern. Und dann tickt die Uhr weiter, die Rebellen werden Teil des Establishments, eine breite Desillusionierung setzt ein, das Wahlvolk rückt ein Stückchen hinüber zur anderen Seite, und wir fangen wieder von vorne an. Dieser Kreislauf bildet einen Nebenfluss, der sich in den großen Strom des landesweiten politischen Aufruhrs ergießt. Es macht einen doch wirklich verrückt, wenn man unablässig versucht, ein Problem zu lösen, das immer nur schlimmer zu werden scheint.

Ich möchte in diesem Buch aus der Perspektive einzelner Individuen herauszoomen, um einen besseren Blick auf die ineinandergreifenden Systeme zu bekommen, die sie umgeben. In einigen Fällen werde ich spezielle Politiker als Beispiele anführen, doch nur insofern, als sie Marionetten breiterer Kräfte sind. Ich bin hier nicht auf eine Story aus, vielmehr möchte ich eine Blaupause erstellen, einen Wegweiser durch die Maschinerie, die politische Entscheidungen formt.

Diese Analysemethode wird in anderen Bereichen vielfach angewandt, auf meinem Gebiet aber oft ignoriert. In seinem Buch Drift into Failure: From Hunting Broken Components to Understanding Complex Systems unterscheidet Sidney Dekker, Gründer des Safety Innovation Lab an der Griffith University in Brisbane, Australien, zwei verschiedene Methoden, mit deren Hilfe die Ursachen für ein Systemversagen diagnostiziert werden können. Der traditionelle und am weitesten verbreitete Ansatz besteht darin, ein Problem zu erkennen, das schadhafte Teil ausfindig zu machen und dieses zu ersetzen. Da Dekkers Spezialgebiet Havarien sind, führt er als Beispiele Flugzeugabstürze oder Ölkatastrophen an, Fälle, in denen auf das Desaster jedes Mal eine obsessive Suche nach der einen kaputten Schraube, dem einen unterlassenen Wartungscheck, der einen in der Kälte geborstenen Landeklappe folgt. Die amerikanische Politik ist defekt, und das Problem sind Geld, Political Correctness, die sozialen Medien, irgendwelche Politikberater oder Mitch McConnell. Repariere das schadhafte Teil, so versprechen diese Analysen, und du hast wieder ein funktionierendes Ganzes.

Die Realität, so Dekker, sei jedoch eine andere: Komplexe Systeme ließen die Öffentlichkeit oftmals im Stich, selbst wenn sie ihrer eigenen Logik nach erfolgreich seien. Entdeckt man die gebrochene Schraube oder den versäumten Wartungscheck, ist man versucht zu glauben, man hätte das kaputte Teil gefunden. Übersieht man dabei jedoch, auf welche Weise die Börse das Unternehmen, das Wartungskosten eingespart hatte, belohnte, dann hat man die eigentliche Ursache der Krise übersehen und ist daher an der Aufgabe, eine Wiederholung der Katastrophe zu vermeiden, gescheitert. Beim Denken in Systemen, so schreibt er, gehe es darum, »zu verstehen, wie es zu Havarien kommen kann, wenn es keine defekten Teile gibt beziehungsweise Teile nicht als defekt wahrgenommen werden«.[6]

Kann sein, dass das alles für Sie klingt, als hätte es nichts mit amerikanischer Politik zu tun. Und tatsächlich ist es ein Klischee, sie an dieser Stelle als defekt zu bezeichnen. Doch genau da liegt unser Fehler. Das politische System der USA – das alle umfasst, von den Wählern über die Journalisten bis hin zum Präsidenten – ist voller rational denkender und handelnder Akteure, die in Anbetracht der Anreize, die ihnen geboten werden, rationale Entscheidungen treffen. Wir sind eine Ansammlung funktionierender Teile, deren Bemühungen ein dysfunktionales Ganzes ergeben.

Dass die schlimmsten Akteure so häufig die größten Erfolge feiern, beweist nicht, dass das System kaputt ist, sondern vielmehr, dass sie begriffen haben, auf welche Weise es in Wahrheit funktioniert. Und genau dieses Wissen brauchen auch wir anderen, wenn wir das System verändern wollen. Das folgende Zitat von Sidney Dekker beschreibt nicht nur vieles von dem, was ich gesehen habe, sondern ebenso die wesentlichen Absichten, mit denen ich an diese Untersuchung herangehen möchte:

In den Geschichten darüber, wie Systeme ins Versagen geschlittert sind, scheitern Organisationen eben daran, dass sie gut funktionieren, und zwar innerhalb einer engen Bandbreite von Leistungskriterien – denen nämlich, für die sie in ihrer aktuellen politischen oder ökonomischen oder kommerziellen Ausgestaltung belohnt werden. Beim Schlittern ins Versagen kann es zu Havarien kommen, ohne dass etwas kaputtgeht, ohne dass jemand einen Fehler macht oder die Regeln verletzt, die als relevant erachtet werden.[7]

Ich bin anfällig für diese Anreize, weil sie auch mein Leben steuern. Ich befinde mich nicht außerhalb des Systems und schaue hinein, sondern innerhalb des Systems und schaue hinaus. Ich bin Journalist, Experte und Mitbegründer des Nachrichten- und Erklärportals Vox. Ich bin Teil der Politikmedien, und mir ist klar, dass wir alle, sosehr wir auch versuchen, es zu verbergen, politische Akteure sind und die Entscheidungen, die wir treffen, zugleich Ursache und Konsequenz der größeren Kräfte sind, die uns umgeben. Ich bin Wähler, Nachrichtenjunkie und Liberaler. Meine Motivation besteht zum Teil in der radikalisierenden Erkenntnis, dass ich oftmals nach der Pfeife eines Systems tanze, das ich nicht mag, in der Frustration, die mich überkommt, wenn mir bewusst wird, dass ich eher funktioniere wie die amerikanische Politik und weniger wie ich selbst.

Und ich bin nicht allein. Ich verbringe meine Tage damit, Akteure des amerikanischen Politiksystems zu interviewen, kluge Menschen, die ihr Bestes geben, sich den Kopf über die gewaltige Dysfunktionalität zerbrechen, die sie umgibt, und ihren eigenen Anteil daran wegerklären. Ich komme aus der politischen Berichterstattung. Ich habe über die Jahre die verschiedensten Themen beleuchtet und dabei immer wieder mitbekommen, wie sich stets ein und dasselbe Muster wiederholte. Egal, worin das Problem besteht, immer fängt es mit Meetings und Gesprächsrunden an, in denen die verschiedensten Experten zusammensitzen und aus ihrer jeweiligen Perspektive die zahlreichen Möglichkeiten diskutieren, wie es gelöst werden kann. Zu diesem Zeitpunkt gibt es stets ein breites Einverständnis in Bezug auf viele Dinge, und es herrscht die Überzeugung vor, dass ein Kompromiss zu erreichen sei, mit dem alle Seiten am Ende besser dastehen werden als zuvor. Doch mit der Zeit verengen die Politiker ihren Fokus, die Medien berichten entsprechend, und schon löst sich dieses Einverständnis auf. Was die Beteiligten anfänglich für vernünftige Kompromisse hielten, verwandelt sich in unvernünftige Forderungen. Was anfänglich eine Verhandlung war, bei der alle Seiten etwas gewonnen hätten, verwandelt sich in einen Krieg, bei dem niemand etwas gewinnt. Und alle Beteiligten sind überzeugt, dass jede der eigenen Entscheidungen bis hierher vernünftig war. Für gewöhnlich hat jeder und jede von ihnen, aus der eigenen Perspektive betrachtet, recht.

Daher bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die amerikanische Politik am besten zu verstehen ist, wenn man zwei Arten von Wissen, die häufig getrennt belassen werden, miteinander verflicht: zum einen die unmittelbaren, realen Einsichten von Politikern, Aktivisten, Regierungsbeamten und anderen Personen, die Teil meiner Berichterstattung sind, zum anderen die eher systemischen Analysen von Politikwissenschaftlern, Soziologen, Historikern und sonstigen Personen, die sowohl über die Zeit als auch die Methoden und Expertise verfügen, die amerikanische Politik in großem Maßstab zu untersuchen. Bleiben sie unter sich, ignorieren die politischen Akteure häufig die Anreize, die ihre Entscheidungen formen, und akademische Forscher übersehen die menschlichen Beweggründe, die politische Entscheidungsfindung antreiben. Zusammen jedoch werfen sie ein helles Licht darauf, wie und warum die amerikanische Politik so funktioniert, wie sie es tut.

In der amerikanischen Politik läuft vieles schief, und ich werde in diesem Buch nicht versuchen, einen vollständigen Katalog dieser Dinge zusammenzutragen. Ich bin jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass die Masterstory – die Geschichte, die hinter beinahe allen Trennlinien steht und das Verhalten der Beteiligten am stärksten prägt – die Logik der Polarisierung ist. Diese Logik lautet, einfach ausgedrückt, wie folgt: Um eine zunehmend polarisierte Öffentlichkeit anzusprechen, verhalten sich politische Institutionen und Akteure auf immer stärker polarisierte Weise. Und in dem Maß, wie sich politische Institutionen und Akteure polarisieren, verstärken sie wiederum die Polarisierung der Öffentlichkeit. Dies setzt einen Teufelskreis in Gang: Um eine immer stärker polarisierte Öffentlichkeit anzusprechen, müssen sich Institutionen immer stärker polarisieren; konfrontiert mit immer stärker polarisierten Institutionen polarisiert sich die Öffentlichkeit und so weiter und so fort.

Der Schlüssel zu dieser Geschichte liegt in dem Verständnis, dass wir alle in Beziehung mit unseren politischen Institutionen existieren, dass diese von uns verändert werden, aber auch uns verändern. Wir nutzen Politik nicht nur für unsere Zwecke. Die Politik nutzt uns auch für ihre Zwecke.

»Identitätspolitik« retten

Es gibt viele verschiedene Arten einer möglichen Polarisierung, und einige von ihnen werde ich an späterer Stelle in diesem Buch diskutieren. Doch vor allem möchte ich mich hier auf das Gebiet der politischen Identität konzentrieren. Und dies macht es erforderlich, ein paar Worte über einen Begriff zu verlieren, der eigentlich in der amerikanischen Politik von großem Nutzen sein könnte, inzwischen jedoch beinahe unbrauchbar geworden ist: Identitätspolitik.

Ein Kernargument dieses Buches besteht darin, dass alle, die sich mit amerikanischer Politik befassen, mit Identitätspolitik befasst sind. Dies ist weder eine Beleidigung, noch ist es kontrovers. Wir alle prägen laufend Identitäten aus und formen diese um, das ist ganz natürlich. Identität ist in der Politik auf die gleiche Weise vorhanden wie Schwerkraft, Evolution oder Wahrnehmung. Soll heißen: Identität ist omnipräsent in der Politik, weil sie omnipräsent ist in uns. Es ist schlicht unmöglich, die Literatur darüber, wie Menschen ihre persönlichen und Gruppenidentitäten ausbilden und verteidigen (Literatur, die ich in diesem Buch betrachten werde), zu lesen und zu glauben, auch nur einer von uns sei dagegen immun. Identität ist derart tief in unsere Psyche eingeprägt und kann selbst von den schwächsten Reizen und entferntesten Bedrohungen derart leicht aktiviert werden, dass es unmöglich ist, ernsthaft darüber zu sprechen, wie wir miteinander interagieren, ohne zu diskutieren, wie unsere Identitäten diese Interaktionen prägen.

Leider ist der Begriff »Identitätspolitik« zu einer Waffe verkommen. Am häufigsten wird er von Rednern benutzt, die Politik als etwas beschreiben, das von Mitgliedern historisch marginalisierter Gruppen praktiziert wird. Bist du schwarz und machst dir Sorgen wegen Polizeigewalt, dann ist das Identitätspolitik. Bist du eine Frau und machst dir Sorgen wegen der Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern, dann ist das Identitätspolitik. Bist du aber ein auf dem platten Land wohnender Waffenbesitzer, der allgemeine Hintergrundchecks als Tyrannei verunglimpft, oder ein milliardenschwerer Firmenchef, der sich darüber beschwert, dass hohe Steuern den Erfolg verteufeln, oder ein Christ, der Krippenbilder auf öffentlichen Plätzen fordert – nun, dann ist das einfach gute alte Politik. So wird aus Identität im Handumdrehen etwas, das nur marginalisierte Gruppen haben.

Auf diese Art gebraucht verschleiert der Begriff »Identitätspolitik« die Dinge eher, als dass er sie erhellt; dann wird er benutzt, um die Belange schwächerer Gruppen kleinzureden oder als eigennütziges Gejammer zu diskreditieren, um so die Agenda für die Belange stärkerer Gruppen freizumachen, die als rationalere und angemessenere Themen für die politische Debatte beschrieben und eingeordnet werden. Doch indem wir Identität geschwungen haben wie ein Schwert, haben wir dafür gesorgt, dass sie uns als Linse verloren geht, haben uns in der Absicht, uns einen politischen Vorteil zu verschaffen, selber blind gemacht. Und so suchen wir weiter vergeblich nach dem, was zu sehen wir uns weigern.b[8]

Alle Politik ist von Identität beeinflusst. Und Identitäten sind dann am mächtigsten, wenn sie derart weit verbreitet sind, dass sie entweder unsichtbar werden oder als unumstritten gelten. »Amerikanisch« ist eine Identität. Und »christlich« ebenso. Wenn Politiker, auch areligiöse, ihre Reden mit der Formel »God bless America« beenden, dann nicht, um sich mit einer Bitte an eine höhere Macht zu wenden, sondern um an unsere in Stein gemeißelten Identitäten zu appellieren. Falls Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie sich doch mal, wieso es unter unseren Politikern so wenige erklärte Atheisten oder auch nur Agnostiker gibt.

Dies bedeutet nicht, dass Politik eine Gleichung ist, die mit Hilfe der Verortung von Identität gelöst werden kann. Identität formt unsere Weltsicht, aber sie entscheidet nicht auf mechanistische Art und Weise darüber. Und obgleich wir häufig den Singular benutzen, also »Identität«, ist sie doch stets ein verwirrender Plural – wir alle haben zahllose Identitäten, von denen manche in offenem Widerspruch zueinander stehen und andere vor sich hin schlummern, bis sie durch Bedrohung oder großes Glück aktiviert werden. Vieles von dem, was in politischen Kampagnen passiert, lässt sich am besten als Auseinandersetzung darum verstehen, welche Identitäten die Wähler am Wahltag letztlich annehmen werden: Werden sie sich als Arbeiter fühlen, ausgebeutet von ihren Chefs, oder als Bewohner des Landesinneren, missachtet von den an den Küsten lebenden Eliten? Werden sie ihre Stimme als patriotische Traditionalisten abgeben, zutiefst gekränkt von Spielern der NFL, die sich während der Nationalhymne hinknien, oder als Eltern, die sich darum sorgen, unter welchen klimatischen Bedingungen ihre Kinder später leben?

Gruppenidentität und Gruppenstatus – das sind die beiden Dinge, über die wir in der amerikanischen Politik so häufig streiten. Diese Auseinandersetzungen kommen in den Debatten über Politik und Macht zum Ausdruck, können in Wahrheit aber weder von der einen noch von der anderen beigelegt werden. Bei der Gesundheitspolitik kann eine Gruppe gewinnen, Identitätspolitik dagegen ist ein Nullsummenspiel.

Nun ist Identität natürlich nichts Neues. Wie kann sie dann also die Veränderungen in unserer Politik erklären? Die Antwort ist, dass unsere politischen Identitäten sich verändern – und verfestigen. Die mächtigsten Identitäten im Gefüge der modernen Politik sind unsere politischen Identitäten, und diese haben sich in den vergangenen Jahrzehnten so entwickelt, dass sie auch eine ganze Reihe anderer Identitäten umfassen und verstärken. Während der letzten 50 Jahre sind unsere Identitäten als Anhänger bestimmter Parteien mit unseren ethnischen, religiösen, geographischen, ideologischen und kulturellen Identitäten verschmolzen. Und diese verschmolzenen Identitäten haben ein Gewicht erlangt, das unsere Institutionen zusammenbrechen lässt und an den Bindungen zerrt, die dieses Land zusammenhalten. Diese Form der Identitätspolitik ist heute landesweit die alles beherrschende und auch die, die am entschiedensten hinterfragt werden muss.

Der erste Teil dieses Buches erzählt davon, wie und warum sich amerikanische Politik im 20. Jahrhundert um Identität herum polarisierte und was diese Polarisierung für die Art und Weise bedeutet, wie wir die Welt und einander sehen. Die zweite Hälfte dieses Buches widmet sich den Feedbackschleifen zwischen polarisierten politischen Identitäten und polarisierten politischen Institutionen, die unser politisches System immer tiefer in die Krise treiben.

Was ich hier zu entwickeln versuche, ist nicht so sehr eine Lösung für die Probleme amerikanischer Politik als vielmehr ein Rahmenwerk, um diese Probleme zu begreifen. Im besten Fall bietet dieses Buch ein Modell an, das dazu beitragen kann, eine Ära in der amerikanischen Politik zu verstehen, die für viele keinen Sinn zu ergeben scheint.

Legen wir also los.

Kapitel 1Wie aus Demokraten Liberale wurden und aus Republikanern Konservative

Als Allererstes muss ich Sie davon überzeugen, dass sich etwas verändert hat.

Die amerikanische Politik vermittelt eine tröstliche Illusion von Stabilität. Seit 1864 haben die Demokratische und die Republikanische Partei die Wahlen dominiert und miteinander um Macht und Popularität gerungen. Ein Streifzug durch die Geschichte der USA macht klar, dass sich Demokraten und Republikaner zu allen Zeiten gegenseitig verleumdet und unterminiert, Verschwörungen angezettelt und sogar physische Gewalt gegeneinander ausgeübt haben.c[1] Es ist einfach, einen schnellen Blick über die Schulter zu werfen und davon auszugehen, dass unsere Gegenwart im Großen und Ganzen unserer Vergangenheit gleicht, dass die Beschwerden, die wir heute in Bezug auf Politik vorbringen, die Beschwerden früherer Generationen spiegeln. Doch die Demokratische und die Republikanische Partei von heute sind nicht die Demokratische und die Republikanische Partei vergangener Zeiten. Wir durchleben gerade etwas wirklich Neues.

Rückblick ins Jahr 1950. Damals veröffentlichte der Parteienausschuss der American Political Science Association (APSA), des führenden Berufs- und Fachverbands von Politikwissenschaftlern in den USA, einen Ruf zu den Waffen, der für heutige Ohren wie Satire klingt. Übertitelt mit dem Slogan Towards a More Responsible Two-Party System, fordert das 98 Seiten starke Papier (ein Konglomerat aus Beiträgen vieler der bekanntesten Politikwissenschaftler des Landes, das sogar auf der Titelseite der New York Times besprochen wurde) ein stärker polarisiertes Politiksystem. Die Parteien, so seine Klage, seien zu Sammelbecken viel zu vieler, stark divergierender Meinungen geworden und arbeiteten viel zu reibungslos zusammen, was dazu führe, dass die Wähler ratlos seien, wen sie nun eigentlich wählen sollten und warum. »Solange sich die Parteien nicht mit Programmen identifizieren, ist das Volk nicht in der Lage, eine intelligente Wahl zwischen ihnen zu treffen«, warnten die Autoren.[2]

Angesichts des Abstimmungsverhaltens entlang harter Parteilinien und der geringschätzigen Haltung gegenüber Kompromissen, die den Kongress von heute prägen, ist es schwer erträglich, Sätze zu lesen wie: »Die Parteien haben wenig dafür getan, jene Art von Einigkeit innerhalb der Kongresspartei herzustellen, die derzeit so flächendeckend gewünscht wird«, und die Logik herauszuhören, die hinter solchen Äußerungen steht. Fasst man diesen Bericht in heutiger Zeit zusammen, dann kann er leicht nach »Weniger Hundebabys, mehr Hautpilz!« klingen.

Doch wie Sam Rosenfeld, Politikwissenschaftler an der Colgate University, in seinem Buch The Polarizers: Postwar Architects of Our Partisan Era argumentiert, gab es damals gute Gründe, sich Sorgen zu machen wegen des Kuddelmuddels, in das die Parteien die amerikanische Politik um die Mitte des Jahrhunderts verwandelt hatten. Die Aktivisten und Politiker, die über Jahre unermüdlich daran arbeiteten, das polarisierte politische System zu schaffen, das wir heute sehen, hatten gute Gründe für ihr Tun. Die Anerkennung der Logik hinter den Argumenten der Polarisierer in Verbindung mit dem Trümmerhaufen, den ihr Erfolg hinterlassen hat, ist nicht nur ein wirksames Heilmittel gegen eine Verklärung der Vergangenheit als Goldene Zeit, sondern auch gegen übertrieben zuversichtliche Rezepte für die Zukunft.d

Um die Besorgnis der Politikwissenschaftler zu verstehen, müssen wir die Rolle begreifen, die politischen Parteien in einer Demokratie zukommt. Betrachten Sie einmal die Themen, über die Sie sich als Bürger oder Bürgerin dieses Landes üblicherweise ein Urteil bilden sollen. Sollten wir in den Krieg ziehen gegen den Irak oder Syrien oder Iran oder Nordkorea? Ist es sinnvoll, unser um private Versicherer gestricktes Gesundheitssystem mit Hilfe von Regulierung und einem Einzelmandat, einem staatlichen Versicherungssystem für alle, auf Vordermann zu bringen? Was wäre die richtige Geltungsdauer für ein Urheberrecht – zehn Jahre, 40 Jahre, 100 Jahre? Oder bis die Sonne zu einer Supernova wird und diese zerbrechliche Welt hinwegfegt? Sollten die Steuereinnahmen des Bundes in der kommenden Dekade bei 28 Prozent, 31 Prozent oder 30 Prozent des BIP liegen? Wo liegt die angemessene Obergrenze für die Zahl von Einwanderern pro Jahr, und wie viele der Immigranten sollten zum Zweck der Familienzusammenführung ins Land kommen beziehungsweise um wirtschaftliche Bedarfe zu decken? Niemand von uns ist in der Lage, sich genügend Fachwissen zu einer derart breitgefächerten Anzahl von Themen anzueignen.

Politische Parteien sind Abkürzungen. Der APSA-Bericht nannte sie »unverzichtbare Regierungsinstrumente«, weil sie »den Wählern eine angemessen breite Auswahl zwischen alternativen Handlungsvorschlägen [bieten]«. Wir mögen das exakt richtige Niveau von Steuereinnahmen nicht kennen, wir mögen nicht wissen, ob es sinnvoll ist, eine Flugverbotszone über Syrien einzurichten. Was wir aber wissen, ist, ob wir die Demokraten, die Republikaner, die Grünen oder die Liberalen unterstützen. Die Entscheidung für eine Partei ist die Entscheidung darüber, wem wir es zutrauen, unsere Werte in exakte politische Urteile in Bezug auf eine riesige Bandbreite von Herausforderungen umzuwandeln, vor denen das Land steht. »Für die große Mehrheit der Amerikaner«, schreiben die Autoren, »liegt die wertvollste Möglichkeit, den Kurs der öffentlichen Angelegenheiten zu beeinflussen, darin, eine Entscheidung bei den wesentlichen Wahlen treffen zu können.«

1950 bestand das Problem darin, dass die beiden wichtigsten Parteien des Landes die Absichten ihrer Wähler nicht einlösten. Eine Demokratin aus Minnesota, die 1954 für Hubert Humphrey stimmte, den liberalen Senatskandidaten ihrer Partei, stimmte ebenso für eine Senatsmehrheit, zu der auch Strom Thurmond gehören würde, Senator aus South Carolina und eines der konservativsten Mitglieder der Kammer überhaupt. Anstatt den Wählern eine echte Wahl zu bieten, boten sie ihnen einen undefinierbaren Brei.e

So sahen die Mitglieder von APSA das Problem. Die State Parties (Parteien auf Bundesstaatsebene) organisierten Politik entlang von Linien, die die National Parties (Parteien auf nationaler Ebene) nach und nach aufweichten. »Die National- und State-Party-Organisationen sind größtenteils unabhängig voneinander. Sie operieren alle in ihrer eigenen Sphäre, ohne nennenswerte gemeinsame Ansätze zu Fragen der Parteipolitik und -strategie«, beschwerten sich die Autoren. Im US-Kongress saßen Demokraten, die konservativer waren als viele Republikaner, und Republikaner, die genauso liberal waren wie die meisten linksgerichteten Demokraten. Sie beraubten die Wähler ihrer wertvollsten Möglichkeit, den Kurs der öffentlichen Angelegenheiten zu beeinflussen.

Senator William Borah, ein Republikaner aus Idaho, brachte es 1923 pikanterweise so auf den Punkt: »Jeder Mann, der eine republikanische Vorwahl tragen kann, ist ein Republikaner.« Und weiter: »Er mag an freien Handel glauben, an eine vorbehaltlose Mitgliedschaft im Bund der Völker, an die Rechte der Bundesstaaten und an jede Politik, für die sich die Demokratische Partei jemals starkgemacht hat. Und dennoch: Hat er seine republikanische Vorwahl getragen, dann wäre er ein Republikaner.«[3] Republikaner zu sein bedeutete nicht, Konservativer zu sein. Es bedeutete, Republikaner zu sein. Parteienzugehörigkeit war eine Tautologie in sich, kein reichhaltiger Signifikant für bestimmte Prinzipien und Sichtweisen.

1950 gab Thomas Dewey, der ehemalige Gouverneur von New York und Präsidentschaftskandidat der GOP1944, offen zu, dass, wenn der Maßstab für eine »echte« politische Partei darin bestünde, dass es sich um »eine einheitliche Organisation mit einem nationalen Blickwinkel auf wichtige Themen« handele, weder die Republikanische noch die Demokratische Partei eine seien. Dewey hielt dies für eine große Stärke, denn »keine einzige Religion oder Hautfarbe oder Rasse und auch kein einziges ökonomisches Interesse ist beschränkt auf die eine oder andere unserer Parteien. Jede Partei stellt bis zu einem gewissen Grad das Spiegelbild der anderen dar. […] Vielleicht ist dies ein Teil des Geheimnisses unserer enormen Macht, dass der Wechsel von einer Partei zur anderen für gewöhnlich eine Kontinuität des Handelns und der politischen Entscheidungen der Nation als Ganzes zu den meisten grundlegenden Fragen eingeschlossen hat.« Er räumte ein, dass es auch jene gebe, die »über beide Parteien lästern und sagen, sie würden nichts weiter repräsentieren als die Wahl zwischen Dick und Doof«. Würden die Kritiker ihren Kopf durchsetzen, so sagte er, »würden sie in der Tat dafür sorgen, dass alles schön geordnet ist. Die Demokratische Partei wäre die liberale bis radikale Partei. Die Republikanische Partei wäre die konservative bis reaktionäre Partei.«[4] (Erzähler: Sie sollten ihren Kopf durchsetzen.)

1959 zog Richard Nixon – der später als Präsident die Environmental Protection Agency, die Staatliche Umweltbehörde, schuf, über ein minimales Grundeinkommen nachdachte und einen Plan für ein nationales Gesundheitswesen vorlegte, der ambitionierter war als Obamacare – voller Spott über jene her, die danach strebten, die Parteien nach ihren Überzeugungen voneinander zu scheiden. »Es wäre eine große Tragödie, wenn es dazu käme, dass sich unsere beiden größten und wichtigsten politischen Parteien entlang einer Linie auseinanderdividierten, die wir konservativ-liberal nennen würden«, sagte er. Die Stärke des politischen Systems der USA läge darin, dass »wir im Großen und Ganzen bei Regierungswechseln brutale Umschwünge von einem Extrem in das andere bisher vermieden haben. Und der Grund dafür ist der, dass es in beiden Parteien stets Raum für ein breites Spektrum an Meinungen gegeben hat.«[5]

In diesem Punkt (einem von sehr wenigen) stimmte sogar Robert F. Kennedy Nixon zu. Der Journalist Godfrey Hodgson erinnert sich an ein Gespräch, in dem Kennedy davor warnte, dass »das Land bereits in vertikaler Richtung gespalten« sei, »nämlich in Sektionen, Rassen und ethnische Gruppen«, und es daher »gefährlich« wäre, »es auch noch horizontal zu spalten, nämlich in Liberale und Konservative«.[6] So betrachtet war Politik dazu da, unsere Divergenzen einzuebnen, nicht dazu, sie zu repräsentieren.

1959 veranstaltete das Republican National Committee, die bundesweite Parteiorganisation der Republikaner, eine interne Debatte darüber, ob die Partei sich von einem Kanon präzise umschriebener ideologischer Werte leiten lassen sollte. Zur Eröffnungsversammlung des Committee for Program and Progress (Komitee für Programm und Fortschritt), das mit der Ausarbeitung einer Agenda für die GOP beauftragt war, lud die Gruppe den Politikwissenschaftler Robert Goldwin ein, der dafür plädieren sollte, dass es »für eine große politische Partei weder möglich noch wünschenswert« sei, »sich von Prinzipien leiten zu lassen«. Unsere modernen Grabenbrüche verleihen Goldwins Bedenken ein Gewicht, das sie 1959 wohl nicht hatten. »Da beide Parteien sowohl Liberale als auch Konservative in ihren Reihen haben«, sagte er, »werden Differenzen, die ansonsten zu Hauptthemen des Wahlkampfs würden, mit Hilfe von Kompromissen innerhalb der jeweiligen Partei beigelegt.« Er warnte: »Unsere nationale Einheit würde geschwächt, sollten die theoretischen Differenzen verschärft werden.«[7]

Dieser Punkt ist grundlegend genug, um sich einen Augenblick bei ihm aufzuhalten. Existiert eine Spaltung innerhalb einer Partei, gibt es zwei Möglichkeiten: Unterdrückung oder Kompromiss. Parteien wollen keinen internen Zwist. Existiert jedoch eine Spaltung zwischen Parteien, nimmt der Umgang mit ihr die Form eines Konfliktes an. Ohne Einhegung durch eine einheitliche Parteilinie eskalieren politische Streitigkeiten. Ein Beispiel dafür ist das Gesundheitswesen: Demokraten wie Republikaner geben Milliarden Dollar für Wahlspots aus, in denen sie ihre Differenzen in diesem Punkt betonen, weil sie hoffen, dass die Debatte ihre Unterstützer mobilisiert und die öffentliche Meinung gegen ihren politischen Gegner wendet. Der Vorteil daran ist, dass wichtige Probleme offen angesprochen und manchmal sogar gelöst werden. Der Nachteil ist, dass die sie umgebenden Spaltungen sich vertiefen und zunehmend wütender ausgetragen werden.

Die Debatte erreichte 1964 explosionsartig die Öffentlichkeit, als Barry Goldwater die Rede hielt, in der er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen verkündete. Sie ging in die Geschichte ein, weil Goldwater darin das Versprechen abgab, »eine Wahl« anzubieten, »kein Echo«. Weniger bekannt, dafür aber wohl aufschlussreicher, sind die Gründe für seine Kandidatur, die er einige Absätze weiter oben benennt. Dort sagt er, und zwar nicht ganz ohne Abscheu: »Ich habe von keinem Republikaner, der seine Kandidatur angekündigt hat, eine Declaration of Conscience gehört, die dem amerikanischen Volk bei den nächsten Präsidentschaftswahlen eine klare Entscheidung ermöglichen würde.« Dies war Goldwaters Gewissenserklärung: Sollten die Republikaner ihn nominieren, dann würde die Wahl »kein Gefecht der Persönlichkeiten werden, sondern ein Gefecht der Prinzipien werden.« Goldwater gewann natürlich die Vorwahlen und wurde dann von Lyndon B. Johnson vernichtend geschlagen.

Goldwaters Nominierung war eine Angelegenheit, bei der zwischen den parteiinternen Lagern nur so die Fetzen flogen und die konservativen Republikaner ihr Möglichstes taten, um den gemäßigten Flügel der Partei hinauszudrängen. Im Nachgang dazu schrieb George Romney, der damalige Gouverneur von Michigan und ein Hauptvertreter der gemäßigten Republikaner, einen zwölfseitigen Brief, in dem er seine Unstimmigkeiten mit Goldwater darlegte. »Dogmatische, ideologisch geprägte Parteien neigen dazu, das politische und soziale Gefüge einer Nation zu zersplittern, führen zu Regierungskrisen und Stillstand und verhindern die Kompromisse, die so häufig nötig sind, um Freiheit zu erhalten und Fortschritt zu erreichen«, schrieb er recht prophetisch.[8] (Jahrzehnte später sollte sein Sohn, der das Erbe seines Vaters als beliebter gemäßigter Gouverneur von Massachusetts weitertrug, die Nominierung der Republikaner als Präsidentschaftskandidat erhalten, indem er sich als »streng konservativ« neu erfand.)

Goldwaters vernichtende Wahlniederlage etablierte die gängige Auffassung dieser Zeit: Ideologen verloren Wahlen. In seinem 1960 erschienenen Buch Parties and Politics in America schrieb Clinton Rossiter: »Es gibt keinen echten Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern, und es kann ihn auch nicht geben, denn die ungeschriebenen Gesetze der amerikanischen Politik verlangen, dass sich die Parteien in ihren Prinzipien, ihrer Politik, ihrem Charakter, ihrer Attraktivität und ihrem Zweck zu einem Großteil überlagern – oder sie hören auf, Parteien zu sein, die irgendwie darauf hoffen können, eine nationale Wahl zu gewinnen.«[9] Lieber ein Echo sein als unter »ferner liefen«.

Das Parteien-Kuddelmuddel zieht sich bis in die jüngste Zeit. Morris Fiorina, Politikwissenschaftler an der Stanford University, stellt fest, dass, als Gerald Ford gegen Jimmy Carter antrat, lediglich 54 Prozent der Wähler glaubten, die Republikanische Partei sei konservativer als die Demokratische Partei. Knapp 30 Prozent waren der Auffassung, es gäbe zwischen den beiden Parteien keinerlei ideologische Differenzen.[10] Stellen Sie sich das mal vor! In einer Welt, in der die ideologischen Differenzen zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei so gering waren, dass die halbe Bevölkerung in Verwirrung gestürzt wurde, wie viel weniger Macht muss da Parteiidentität entfaltet haben.

Eigentlich müssen wir uns das gar nicht vorstellen. Wir können es sehen.

Die Macht negativer Parteilichkeit

Unter Wählern war lange Zeit ticket-splitting gang und gäbe: Vielleicht bevorzugte man ja den Demokraten Lyndon B. Johnson als Präsidenten, den Republikaner George Romney dagegen als Gouverneur. Und war man ein Ticketsplitter und die meisten von denen, die man kannte, ebenfalls, dann war es schwierig, sich allzu sehr mit einer der beiden Parteien zu identifizieren. Letztlich stimmte man gelegentlich für beide.

In einer bestechenden Analyse mit dem Titel »All Politics Is National« zeigen Alan Abramowitz und Steven Webster, Politikwissenschaftler an der Emory University, wie dieses Verhalten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sich zusammenfiel und beim Übergang ins neue Jahrtausend offenbar gänzlich verschwand. Als sie sich Wahlbezirke ansahen, in denen die Sitze im Repräsentantenhaus sehr hart umkämpft waren, stellten sie fest, dass zwischen 1972 und 1980 das Verhältnis zwischen dem Stimmenanteil der Demokraten bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus und den Präsidentschaftswahlen 0,54 betrug. Zwischen 1982 und 1990 kletterte dieser Faktor auf 0,65. Und 2018 hatte er 0,97 erreicht![11] Innerhalb von 40 Jahren entwickelte sich die Unterstützung für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten von einem zwar hilfreichen, aber nicht wirklich verlässlichen Prognosefaktor zur Abschätzung der zu erwartenden Unterstützung des Kandidaten einer Partei bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus zu einer beinahe perfekten Richtschnur.

Ticketsplitting setzt voraus, dass man sich mit beiden Parteien einigermaßen wohlfühlt. Die Ursache für den Niedergang dieses Verhaltens liegt darin, dass sich dieses Wohlgefühl verflüchtigt hat. Inmitten einer ganzen Reihe von Fragen, die die Amerikaner bei jeder Wahl von Prognoseinstituten gestellt bekommen, lauert etwas, das als »Gefühlsthermometer« bezeichnet wird. Bei dieser Frage werden Menschen gebeten, ihre Gefühle in Bezug auf die beiden politischen Parteien auf einer Gradskala von 1 bis 100 einzuordnen, wobei 1 »kalt« bedeutet und negativ ist, »100