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Mehr als jeder andere Autor des Realismus ist Turgenev als „Frauenversteher" bekannt, der einige der schillerndsten Frauenfiguren der Epoche geschaffen hat. Es ist auffällig, dass viele seiner Frauenfiguren eng mit dem Tod verknüpft sind: Sie treten als Todesbotinnen auf, begehen Suizid oder sterben eines frühen natürlichen Todes. Trixi Jansen geht der paradigmatischen Verknüpfung von Tod und Weiblichkeit nach und untersucht die Frauenfiguren der späten Erzählungen Turgenevs vor dem Hintergrund der feministischen Theorie. Sie geht insbesondere der Frage nach, inwiefern die Verbindung von Tod und Weiblichkeit bei Turgenev gängige Normen des patriarchalen Weltbildes bestätigt oder negiert. Es zeigt sich, dass der weibliche Tod in den analysierten Erzählungen immer eine ästhetische Funktion erfüllt, ganz gleich, ob die Frauenfiguren zu Lebzeiten dem Typus der starken Frau, der Vampirsfrau oder der Halbtoten entsprechen.
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Seitenzahl: 286
ibidem-Verlag, Stuttgart
„The death of a beautiful woman is unquestionably the most poetical topic in the world“[1]schreibt Edgar Allan Poe über den Topos des weiblichen Todes.Poe beschreibt hier ein Phänomen, welches sich in Kunst und Literatur größter Beliebtheit erfreut und in nahezu allen Epochen seinen Niederschlag findet, sei es in den Renaissancegemälden Hans Baldungs, bis hin zu zeitgenössischen Verarbeitungen des Sujets wie dem FilmDeath and the Maidenvon Roman Polanski, welcher ab 1994 in den Kinos zu sehen war. In Russlandist die wohl bekannteste Fassungdes Paradigmas aus Tod und Weiblichkeit die literarische Version desDevuška i smert‘, so beispielsweisedie gleichnamige Verserzählung von Maksim Gor’kij. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Darstellungen dieser Koppelung, die weitaus weniger offenkundig sind.
Der „pessimistische […] Menschenfreund“[2]Turgenev ist neben dieser geschmälerten Humanitätauchdafür bekannt, zahlreiche Weiblichkeitsbilder erschaffen zu haben. Mit Sicherheit hat er der Fähigkeit zur überzeugenden Darstellung vonAngelegenheiten junger Frauen seiner Zeit einiges an literarischem Erfolg zu verdanken, denn „Turgenev is, perhaps more than any other author, the writer of Russia´s women: Woman as enigma, as seductress, as warrant of liberation.She is the center of any number of Turgenev´snarrative”.[3]Hier wird deutlich, dass die Darstellung von Weiblichkeit bei Turgenev eines der zentralen Themen ist. Gleichzeitig spielt in seinem Werk das Motiv des Todes eine wesentliche Rolle, welches den Pessimismus der Philanthropie zum Ausdruck bringt, zumal „We see […] even a morbid fascination and yearning on his[Turgenev´s]part to deal with this reality[of death]”.[4]Die Literaturkritik hat sich ausgiebig sowohl mit Turgenevs Frauenfigurenals auch mit dem Todesmotivin seinem Werk auseinandergesetzt;eine Analyse der Koppelung beider Erscheinungen liegt jedoch bislang nicht vor. Dass diese Koppelung in seinemWerk durchaus existiert,wird anhand zahlreicherFrauenfigurenersichtlich, welche durch Sterben oder durch ihre Eigenschaft als Todesbotin (in seltenen Fällen auch als Mörderinnen[5]) mit dem Tod in Verbindung treten.Insbesondere im Spätwerk ist alleindieAnzahl der mit dem Tode verbundenen Frauengestalten signifikant und verweist unverkennbar auf eine Reproduktion der paradigmatischen Verknüpfung von Weiblichkeit und Tod. Es wirdaufzuschlüsselnsein, inwiefern diese Verknüpfung hier eine bloße Re-Inszenierung eines tradierten Topos darstellt, oder obdiese dem Zwecke der Kritik an denherrschenden Zuständendient. ObgleichTurgenev die Schicksale weiblicher Figuren ineinkritisches Licht zu setzenscheintunddamitdie gesellschaftlichen Konventionen und ihre Auswirkungen aufdie Bedürfnisse von Frauen ankreidet, so ist jedoch gerade im Hinblick auf das Sujet des Todes die Frage zu stellen, ob es sich um einen Opferungsritus handelt, der die Frauen scharenweise ins literarische Grab führt, oder ob die angestrebte Kritik tatsächlich in der Lage ist, die symbolische Ordnung zu stürzen.
Die vorliegendeArbeit untersuchtdie paradigmatische Verknüpfung aus Weiblichkeit und Tod im späten Prosawerk Turgenevsundhatsichinsbesondere der Aufschlüsselung vonArt und Weise der ästhetischen Darstellung des Sterbens seiner Frauenfigurenverschrieben. Bei der Dekodierung des Sujets soll der Fokus auf der Frage liegen, ob durch die entsprechende Darstellung eine Affirmation oder Negation gängiger kultureller Normen vorliegt. Als kulturelle Normen werden hier insbesondere die patriarchale Verabsolutierung derWeltsowie der schablonenhaftemännliche Blick auf sämtliches Geschehen aufgefasst. Es wird zu ermitteln sein, inwieferndieseDarstellungendes Sujets, deren Elemente aus dem gängigen Fundus kultureller Symbole hervorgehen, als Indizien einer patriarchalen Kultur zu deuten sind. Zur Entschlüsselung dieserVerknüpfung aus Weiblichkeit und Todist diefeministische Literaturkritik ein hilfreiches Instrument, da sich damit einerseits die männliche Sicht auf die Welt aufdecken lässt, andererseits lässt sichgleichfalls eine weibliche Seite des Hergangs rekonstruieren. Ein ideengeschichtlicher Abriss über die Entwicklung der feministischen Literaturtheorie dient im folgenden Kapitel derVeranschaulichung und dem Überblick über die methodische Vorgehensweise. Ferner soll die Methode sozio-kulturell verortet werden und wird in einem zweiten Schritt auf den kulturellen Kontext Russlands bezogen.
In der Analysewerdendiejenigen Frauenfiguren aus den späten Erzählungen Turgenevs in Betracht gezogen, denen eine gewichtige Rolle im Geschehen zukommt und die in mindestens einer Ausprägung mit dem Tod verbunden sind. Diese Ausprägungen können verschiedenartiger Natur sein: Sie könnensich als Getötete, Tötende oder Halbtoteäußern, wobei sich die unterschiedlichen Ausprägungen gegenseitig nicht ausschließen und sichhäufig auchüberschneiden können. Die zu analysierendenFrauenfiguren weisen ferner untereinander Verwandtschaften auf, sodass diese in dreiTypen unterschieden werden: Einfür Turgenev sehr typischesWerk sind diestarken Frauen, welche traditionell einem willensschwachen und moralisch unterlegenenüberflüssigen Heldengegenüberstehen. Diese entsprechen dem Stereotyp der Tugendhaften und bewahren in dieser Rolle die Stabilität der symbolischen Ordnung. Ein weiterer Typus sind die dämonischen Vampirsfrauen, die in ihrem Wesen bösartig sind und danach streben, ihr männliches Gegenüber emotional und finanziell auszubeuten und auszusaugen. In ihnen findet sich die Verkörperung des Bösen, das die Stabilität der Ordnung gefährdet und damit potentiell todbringend ist. Als dritter Typus werden die geopferten Nonkonformistinnen untersucht, die unverschuldet in Lebensumstände geraten, welche sie letztendlichauf Grund eines massiven gesellschaftlichen Drucks zum Zusammenbruchbringen. Dieser Typus ist in seinem Wesenebenfallstugendhaft, personifiziert jedoch durch seine Unkonventionalität die Unordnung per se. Die Analyse der verschiedenen Typen erfolgt indrei Schritten: Um festzustellen, inwiefern dem Sterben der Figur eine Tötung durch Schweigen oder Starre vorausgeht, ist eine Untersuchung der Erzählumstände notwendig. Es wird sich zeigen, dass insbesondere das Phänomen der Tötung durchStille und Unbeweglichkeit alle analysierten Figuren als Halbtote inszeniert. Maßgebliche Bedingung für diese Art des Tötens ist die Perspektive der männlichenErzählposition.Diese verursacht eine Verknüpfung mit dem Tod zuLebzeiten der Figur, da es denweiblichen Figurenbereitsdurch die Tötung in einen Typus anpsychologischer Substanzund damit auch an Lebendigkeit mangelt.Daher geht der Untersuchung des Todesmotivs in den betrachteten Erzählungen eine detaillierte Abhandlung zur Erzählperspektive voraus, denn diese bringtdie Frauenfigurenausnahmslos zum Schweigenundberaubtsie damit derdynamischen Lebenskraft, die eine authentische Figur mit vitaler,menschlicher Essenz ausmacht.Um die Gründe für den Tod der Frauenfiguren zu ermitteln, wird in einem zweiten Schritt die Position des Bösen und seiner Verbindung zur Weiblichkeit analysiert,da die Frau traditionell der Grenze zwischen Chaos und symbolischer Ordnung zugeordnet wird.Der Reiz des weiblichen Todesopfers liegt darin, die Frau als Tote einzufangen, ihre unkontrollierbareKraftdes Erotisch-Chaotischen, das potentiell todbringend ist, zu bannen und die Sicherheit einer stabilen Ordnung vor Verfall und Zerstörung zubewahren. Daher ist es notwendig, festzustellen, ob es sich bei den Weiblichkeitsentwürfen um Projektionen von Tugendhaftigkeit oder Lasterhaftigkeit handelt und wo „das Gute“ und „das Böse“ zu verorten ist. Erst dann kanneine Aussage darüber getroffen werden, ob es sich um eine „böse“ Figur handelt, welche getötet werden muss, um für ihren Verstoß gegen die Konventionen bestraft zu werdenoder ob sie eine „gute“ Figurist, die mit ihrem Tod die Schuld anderer aufsich nimmt. Der dritte Schritt der Analyse führt sodann zurück zuEdgar AllenPoe, indem er sich dem Schönen des Sujets widmet. Da das Paradigma aus Weiblichkeit und Tod hier um das Element der Schönheit erweitert wird, liegt eine Betrachtung der Ästhetizität des Topos nahe. Daher wird in diesem Teil der Analyse die Frage nach der Inszenierung des Sterbens und des Todes gestellt und es wird aufgezeigt, dass diese in allen Fällen nach ästhetischen Gesichtspunkten erfolgt.
Anhand der aktuellen literaturtheoretischen Diskurse - insbesondereim anglo-amerikanischen Raum-umpostkoloniale, globale und raumgebundene Literaturen wird gut deutlich, welchen profunden Einfluss die feministische Idee in den vergangenen Jahrzehnten auf die Literaturwissenschaft ausüben konnte. Tatsächlich ist die kulturelle Repräsentation des Weiblichen seit jeher eine der Kernfragen feministischer Forschung. Unzählige Forschungsarbeiten, die vermehrt seit den 1970er Jahren entstanden und sich mit der visuellen und verbalen Darstellung von Weiblichkeit beschäftigen, geben dafür ein sehr gutes Zeugnis ab. Dieser Aufschlüsselung einer konstruierten Weiblichkeit liegt die Auffassung zu Grunde, dass die Realität durch das Prisma des männlichenBlickes wahrgenommen wird, der gleichsam zu einem verschleierten und universalen Prinzip erhoben wird. Diese Absolutheit erweist sich jedoch alsScheinwahrheit, wie Simone de Beauvoir 1949 unterstreicht: „Die Vorstellung von der Welt als Welt ist ein Produkt der Männer; sie beschreiben sie von einem Standpunkt aus, den sie mit der absoluten Wahrheit verwechseln“.[6]
Der folgende Abriss über die Entwicklung der feministischen Literaturtheorie wird zeigen, dass es sich um theoretische Ansätze handelt, die ideengeschichtlich im anglo-amerikanischen und westeuropäischen Raum zu verorten sind und deren Begrifflichkeiten weitgehend von weißen ForscherInnen der Mittelklasse geprägt wurden. Nichtsdestotrotz versteht sich das feministische Projekt als ansprechend für Frauen unterschiedlicher kultureller, religiöser oder gesellschaftlicher Identität. In Russland existierte bisher keine TraditionfeministischerForschung, wie sie die westlichen Wissenschaften kennen, sodass es nicht verwundert, dass die Hauptwerke zur Frage von Weiblichkeit und russischer Literatur die Stimmen westlicher WissenschaftlerInnen sind.[7]Die Abwesenheit einer feministischen Forschung in Russland geht sowohl auf die spezifischen kulturhistorischen Bedingungen alsauch auf eine stark von patriarchalen Werten geprägte Gesellschaft zurück, wie die Skizzierungen zur feministischen Literaturtheorie in Bezug auf die russische Literatur zeigen werden.
Die Auffassung einer feministischen Literaturtheorie wird in der Regel mit der Feminismusbewegung der 1960er Jahre assoziiert, obschon die Wurzeln einer solchen ideengeschichtlich weiterzurückliegen. Bereits Mary Woolstonecraft war sich der Rolle der Literatur bei der Verbreitung eines künstlichen und ungleichen Frauenbildes in ihrer 1792 erschienenen SchriftVindication of the Rights of Womenbewusst.[8]In dieser Abhandlung entschleiert sie dievermeintlichvon Schwäche und Unterlegenheit geprägte Feminität, welche von ihren männlichen Zeitgenossenwie Burke, Milton und Rousseau propagiert wird, als Fiktion. Ferner sei es der Konsum von Literatur, der dafür sorge, dass sich Frauen mit den darin geschaffenen Stereotypen identifizierten undes anstrebten,ihnen nahegelegte Eigenschaften zu besitzen, welche Woolstonecraft beschreibt als „cunning, softness of temper,outwardobedience, and [...] a puerile kind of propriety“.[9]Es wird deutlich, dass die fiktive Unterlegenheit des Weiblichen insbesondere durch Literatur kommuniziert wird. Woolstonecraft enthüllt jedoch nicht nurdie Fiktionalität des Weiblichen, sondern entlarvt auch die Eigenschaften, welche der Männlichkeit untergeordnet werden, als konstruiert. Jene als männlich angesehenen Tugenden seien menschliche Stärken, die nicht naturgegeben an das Geschlecht gebunden sind. In ihrer Konstruktion einer menschlichen Identität, welche sich von Kategorien des Geschlechts zu befreien sucht, war Mary Woolstonecraft mit Gewissheit ihrer Zeit voraus.
Zweifelsohne gilt jedoch Virginia Woolf als Begründerin der modernen feministischen Literaturkritik. In ihrer Abhandlung zum Verhältnis zwischenFrauen und Literatur,A Room of One´s Own, beleuchtet sie diese Beziehung aus mehreren Perspektiven. Das ursprünglich auf Vorlesungen Woolfs vor Studentinnen in Cambridge basierende Werk stellt eine Neuheit seiner Zeit dar,insbesondere durch das Verwischen der Genregrenzen zwischen einem kritischen Essay und einem Roman. Die Erzählerin nimmt variable fiktionale Gestalten an, sodass Woolfs Argumenteso in Form einer Erzählung vorgelegtwerden.Diese beschreiben das Verhältnis zwischen Frauen und Literatur zunächst als mehrdeutig: „[W]oman and fiction might mean [...] women and what they are like, or it might mean women and the fiction that they write; or it might mean women and the fiction that is written about them“.[10]Die erste der geschilderten Bedeutungen beschreibt den materialistischen Zustand der Frau als einen wesentlichen Faktor in ihrem Verhältnis zur Literatur, welcher geprägt ist von Armut unter dem Regime einer patriarchalen Gesellschaft.Dieser materialistische Zustand wird jedoch verschleiert, indem ein Diskurs über Weiblichkeit besteht, welcher ausnahmslos aus männlicher Feder stammt – im Gegenzug bestimmen Frauen jedoch keinerlei Debatten über Männlichkeit.
Die von Woolf geschilderten Bedingungen führen zu der Tatsache, dass die Autorschaft literarischer Texte ein Privileg ist, welches nahezu ausschließlich dem männlichen Teil der Menschheit zukommt.Demnachisthinsichtlich derzweitenBedeutung des Verhältnisses eines der HauptargumenteinA Room of One´s Own:„a woman must have money and a room of her own if she is to write fiction“.[11]Zur Exemplifikation ihres Arguments zieht Woolf eine fiktive Schwester Shakespeares herbei, um die Bedingungen für eine weibliche Autorschaft im 16.Jahrhundert aufzuzeigen und kommt zu dem Schluss: „[t]o have lived a free life in London in the sixteenth century would have meant for a woman who was poet and playwright a nervous stress and dilemma which might well have killed her“.[12]Mit dem schlichten Argument der Abhängigkeit des schöpferischen Geistes vom Materiellen widerlegt sie einerseits gängige Vorstellungen von einer intellektuellen Unterlegenheit der Frau und ihrerUnfähigkeit zur Genialität; gleichsam entlarvt siedamit die Figur des männlichen und genialen Autortalents als einen Mythos des patriarchalen Systems.
Die dritte inA Room of One´s Owngeschilderte Bedeutung des Verhältnisses zwischen Frau und Literatur bezieht sich auf die Darstellung von Weiblichkeit und offenbart eine Diskrepanz zwischen der historisch-realen Frau und der fiktiven Frau als Teil der symbolischen Ordnung:
„Imaginatively she is of the highest importance; practically she is completely insignificant. She pervades poetry from cover to cover; she is all but absent from history. She dominates the lives of kings and conquerors in fiction; in fact she was the slave of any boy whose parents forced a ring upon her finger. Some of the most inspired words [...] in literature fall from her lips; in real life she could hardly read, could scarcely spell, andwas the property of her husband“.[13]
Dieses Missverhältnis zwischen Fakt und Fiktion deutet darauf hin, dass Weiblichkeit als Symbol den Konventionen literarischer Darstellung unterworfen ist und somit die “Frau” als Signifikant in einem patriarchalen Diskurs dient, dessen Signifikat zweifelsohne jeglicher Gemeinsamkeit mit den real existierenden, historischen Erfahrungen der Frauen entbehrt.[14]
Neben dieser Beschäftigung mit der sprachlichen Repräsentation von Weiblichkeit bezieht Woolf auch Stellung zum literarischen Subjekt als Identifikationsflächeund wirft damit eine weitere Kernfrage der modernen feministischen Literaturtheorie auf.InA Room of One´s Ownsinniert sie über die Geschlechtssemantik der ersten Person: “[T]his `I´ was a most respectable `I´; honest and logical; as hard as a nut, and polished for centuries by good teaching and good feeding. [...] But [...] the worst of it is that in the shadow of the letter `I´ all is shapeless as mist.Isthat a tree? No, it is a woman”.[15]An dieser Stelle zeigt sich die untergeordnete Position des Weiblichen, welche durch die Konstruktion eines männlichen, in einer patriarchalen Welt verorteten Subjekts entsteht.
Jene von Woolf aufgeworfenen Kernfragen sind das Fundament einer feministischen Literaturtheorie und werden zwanzig Jahre später mit Simone de Beauvoirs Dekonstruktion der Geschlechterkategorien fortgeführt. Für die Literaturwissenschaft ist BeauvoirsAbhandlung über das andere Geschlecht insofern von Bedeutung, als in ihr Funktionen und Inhalte gängigerMythen zur Weiblichkeit aufgezeigt werden. In ihrer These von Weiblichkeit als dem “anderen” Geschlecht dienendie von Männern geschaffenenMythen des Weiblichender Stabilisierung einer patriarchalen Weltordnung. Von der Dekonstruktion jener Mythen erhofft sich Beauvoir die Erschaffung weiblicher Subjektivität. Jene wird als Quelle der Freiheit betrachtet, welche die Frau erst gewinnen kann, wenn ihr Status im patriarchalen System überworfen wird, indem der Mythos als solcher aufgezeigt wird: “Vielleicht wird der Mythos der Frau eines Tages erlöschen: denn je mehr die Frauen sich als Menschen bejahen, desto mehr verlieren sie die wunderbare Eigenschaft eben des Anderen”.[16]Was hier angestrebt wird, ist ein Subjektstatus der Frau. Tatsächlich entspricht Weiblichkeit jedoch einer Projektion des Mannes, in welcher sich Objektstatus und Alter Ego vermischen:
“Die Gestaltwerdung dieses Traums ist nun eben die Frau; sie ist das ersehnte Mittlere zwischen der dem Menschen fremden Natur und einem Gleichen, das ihm selbst allzu identisch wäre. [...] Sie setzt ihm weder das feindselige Schweigen der Natur noch die harte Forderung des wechselseitigen Sich-Ineinander-Erkennens entgegen; durch ein einzigartiges Privileg ist sie Bewußtsein, und dennoch scheint es möglich, sie in ihremKörper sich zu eigen zu machen”.[17]
Bei dieser Konstruktion weiblicher (Nicht-)Subjektivität kommt dem Mythos eine entscheidende Rolle bei der Attestierung von Naturgegebenheit und Universalität dieser Vorstellung zu. Der Mythos bestätigt stets aufs Neue die Rolle des Weiblichen als das unterwürfige Andere im Verhältnis zum männlichen Subjekt. Indem im Mythos das Weibliche mit Natur und Körperlichkeit assoziiert wird, kann die Subjektposition des Männlichen bewahrt werden, da diese von der Frau weder in Frage gestellt noch herausgefordert wird. Die Frau ist damit keine Konkurrentin, gleichzeitig ist sie jedoch auch nicht derart passiv wie es ein tatsächliches Objekt wäre.[18]Vor diesem Hintergrund erarbeitet Beauvoir sowohl die kollektive Darstellung des Mythos von Weiblichkeit in Form bestimmter Weiblichkeitstypen, sowieeine spezielle Analyse ausgewählter Autoren ihrer Zeit. Anhand dieser Analyse erörtert sie eine Funktionsweise des Mythos, die zweierlei Art ist. Erstens, der Zweck des Mythos ist die Darstellung des Weiblichen in einer Art, diesich den Bedürfnissen einer patriarchalen Ordnung anpasst und gleichzeitig männliche Identität durch die Abgrenzung eines Anderen erschafft. Zweitens, dem Mythos haftetuniversale Gültigkeit an, die weder individuelle Erfahrungen von Frauen anerkennt, noch durch Erfahrung widerlegt werden kann. Diese Mechanismen greifen in sämtlichen Bereichen der patriarchalen Gesellschaft und stellen eine wesentliche Kommunikationsform ihrer Regeln und Normen dar. Die Literatur liefert zahlreiche Beispiele dafür, wie diese Mythen in Umlauf geraten, sich wieder und wieder reproduzieren und damit das patriarchale Weltbild am Leben erhalten.
Nachdem mit Woolstonecraft, Woolf und Beauvoir das theoretische Fundament für eine feministische Literaturkritik gelegt wurde,dasdazu befähigt,in einen humanistischen Diskurs über Identität und Subjektivitätsowie die Konstruktion von Geschlechterkategorien einzutreten, entwickelte sich die feministische Literaturtheorie ab den 1960er Jahren im Rahmen des politischen Feminismus von einem Instrument zur Sprengung der geltenden Wertevorstellung des patriarchalen Systems zu einem komplexen Diskurs über Kategorien des Geschlechts, aber auch von Rasse, Gesellschaftsschicht und Sexualität.Geprägt wardieser jedoch zunächst von Heterogenität: „Feminist theory is a broad church with a number of co-operating and competing approaches; it is probably more appropriate to talk of feminist theories rather than feminist theory“.[19]Diese Heterogenität ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die feministische Literaturtheorie insbesondere in den 1970er Jahren damit befasst war, unter Beweis stellen zu müssen, dass es sich um seriöse literaturwissenschaftliche Forschung handelte, welche bestrebt ist, grundlegende Fragen zur Literaturgeschichte und-theorie aufzuwerfen und zu durchleuchten. Wenngleich der feministische Diskurs zwischen den 1960er und den 1990er Jahrenvon diesen mannigfaltigen Herangehensweisen und Ansätzen geprägt war, herrscht unter den maßgebenden Stimmen überraschende Einigkeit über die zentrale Rolle literarischer Repräsentation bei der Kreation von Geschlechterkategorien. In den Studien federführender Autorinnen der Zeit wie etwa Eva FigesPatriarchal Attitudes(1970), Germaine GreersThe Female Eunuch(1970) und Kate MillettsSexual Politics(1971) besteht kein Zweifel daran,dass die literarische Repräsentation des Weiblichen überwiegend von Männern kreiert wird und sich zudem hochgradig unangemessen gestaltet. Eine Freiheitsbewegung hatte somit unmittelbar mit der Dekonstruktion von Frauenbildern zu tun: „[W]omen´s liberation was going to come, in some measure, through the analysis of literature“.[20]
Die FeministInnen der 1970er Jahrehatten sich demnach unter Anderem dem Projekt der Wiederentdeckung des verlorenen Kontinents weiblicher Erfahrung angenommen, wie Elaine Showalter hier mit Pathos zur Sprache bringt: „the lost continent of the female tradition has risen like Atlantis from the sea of [...] literature“.[21]Diese wiederentdeckten Erfahrungen können einerseits die Frau als Rezipientin literarischer Texte betreffen, in denen weibliche Figuren von männlichen Autoren dargestellt werden. Andererseits bezieht sich diese Rekonstruktion ebenso auf die Ebene der Produktion literarischer Texte, indem Texte weiblicher Autorinnen mit in den literarischen Kanon einbezogen werden. Damit spaltet sich die feministische Literaturtheorie in zwei Bereiche, die von Showalter alsfeminist critiqueundgynocriticsgeprägt wurden. Letzterer widmet sich der Wiederentdeckung und der Analyse literarischer Texte weiblicher Autorinnen, während sich diefeminist critiquemit der Frau als Rezipientin und der Kreation weiblicher Charaktere bzw. mit der Frage beschäftigt, wie literarische Texte, die von Männern produziert wurden,aus Sicht der weiblichen Rezipientin wahrgenommen werden und wie sich unser Verständnis literarischer Texte ändert, wenn von einer weiblichen Leserschaftausgegangen wird.[22]Diefeminist critiquegründet sichauf die von den frühen FeministInnen beschriebene Beobachtung, dass die traditionelle Literaturkritik die Tendenz aufweist, eine Minderwertigkeit der Frau als naturgegeben anzunehmen und somit keine Einblicke in die weiblichePerspektiveliefert, sondern vielmehr die männliche Vorstellung davon, was Weiblichkeit darstellt bzw. darstellen soll. Ursprünglich zielte diefeminist critiquevorranging daraufab, die verabsolutierte Misogynie in literarischen Texten aufzudecken, entwickelte sich jedoch zunehmend in die Richtung desrevisionist feminist criticism, derdasHauptaugenmerk nicht darauf legt, das patriarchale Weltbild an den Pranger zu stellen, sondern vielmehr das Verständnis literarischer Texte um eine neue Perspektive zu bereichern.Eine revisionistische Literaturbetrachtung, welche derart von Judith Fetterly in ihrer Abhandlung über den resistenten Leser geprägt wurde, hat somit die Absicht „to give voice to a different reality and different vision, to bring a different subjectivity to bear on the old `universality´ […] and thus to change our understanding of these fictions, our relation to them, and their effect on us”.[23]
Das Ersetzen dieses “alten”, verabsolutierten Weltbildes mit einer neuen Subjektivität wird im Rahmen des feministischen Diskurses bis in die 1990er Jahre ausgeweitet und es werden stets neue Kategorien aufgenommen, sodass von einer integrativen Entwicklung die Rede sein kann,die sich von einem weißen Mittelschichtfeminismus zur Anerkennung vielfältiger weiblicher Erfahrungen vollzieht.[24]Die Fragen, welche die feministische Theorie in Bezug auf Sprache und Subjektivität aufwarf, sind gleichermaßen zentraler Gegenstand des zeitgenössischen Diskurses in anderen Bereichen, wie der Linguistik und der Psychoanalyse. Demnach versteht sich die feministische Literaturtheorie seit den 1990er Jahren zunehmend als interdisziplinär und weitet ihren Aktionsradius mit demtextual turnauch auf andere Medienaus. Gleichsam entstehen mannigfaltige Strömungen, die sich in den theoretischen Diskurs um Poststrukturalismus und die Rolle der Sprache im Individuum, wie auch die Konstruktion von geschlechtlicher Identität im Rahmen der Psychoanalyse einfügen.[25]Ferner führte die ebenfalls im anglo-amerikanischen Kontextentstandene postkoloniale Literaturtheorie das Konzept eines untergeordneten “Anderen” in Form der Entdeckung bisher kaum beachteter sozio-kultureller Realitäten fort, gleichwie dieQueer Theory die Konstruktion des Körpers aufdeckt.[26]Es zeigt sich, dass die existierenden Vorstellungen vonWeiblichkeit sowohl textuelleralsauch körperlich-realer Natur sind, wodurch sie gleichzeitig eine historische Entität, wie auch ein kulturelles Symbol mit vielfältigen Bedeutungen darstellt. Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze versuchen,das Weibliche zu beschreiben und den weiblichen Körper zu dekodieren.Eine feministische Literaturtheorie stellt bei diesem Vorhaben ein wichtiges Instrument dar: “Feminist literary criticism offers us a set of fluid and incisive tools for writing and reading this body, and the history of feminist literary criticism explains why it is essential that we continue to use them”.[27]
Aus den meisten Studienmit feministischenAnsätzenin Bezug auf die russische Literatur geht hervor, dass das Konzept des Feminismus im Zusammenhang mit Literatur in der russischen Forschung wenig Anklang findet. Bei Rosalind Marsh heißt es: „feminist criticism of Russian literature had lagged some way behind [...] the reinterpretration of writingsby American andEuropean women“,[28]während Barbara Heldt in der Einleitung ihrer Studie zu den Heldinnen der russischen Literatur die Forschungssituation noch drastischer beschreibt, indem sie vermerkt: „Russian feminist criticism is almost nonexistent“.[29]Diese Feststellungen sind auf die Literaturwissenschaft in Russland zu beziehen und gehen auf verschiedene Faktoren zurück. Marsh liefert auf die Frage, warum dieses „persistent lack of interest in women´s literature“[30]in Russland besteht, eine Darstellung der patriarchalen, russischen Verhältnisse des Literaturbetriebs. Bezüglich einer weiblichen Autorschaft bedeutet dies, dass die männlich dominierte Literaturkritik in Russland in ihren Urteilen gegenüber Autorinnen häufig sehr harte Maßstäbe anlegt. Ferner dominiert die patriarchale Ideologie alle Bereiche dessozialen, politischen und kulturellen Lebensin Russland, sodass auch viele russische Autorinnen und Literaturwissenschaftlerinnen diese Werte verinnerlicht haben. Bezeichnend für diese Situation ist die Tatsache, dass bereits die Begrifflichkeiten ideologisch gefärbt sind. Die Ausdrückeженскаялитература[dt. Frauenliteratur]undженскаяпроза[dt. Frauenprosa]sind im Russischen pejorativ konnotiert und suggerieren gleichsam, dass es sich um Pseudoliteratur handelt, die sich um belanglose, triviale und damit bedeutungslose Sujets wie Liebe und andere Gefühle dreht und die damit ihren Platz in der Rangordnung der „großen Weltliteratur“ bereits eingebüßt hat. Vor diesem Hintergrund wundert es wenig, dass die Mehrzahl russischer Autorinnen von einer Identifikation mit dem Genre der Frauenliteratur Abstand hält, da dies eine Verunglimpfung ihres Werkes bedeuten würde. Diese radikale Abqualifikation weiblicher Autorschaft wird auch von einem erheblichen Teil der Autorinnen und Kritikerinnen vertreten:Selbst unter Literaturwissenschaftlerinnen westlicher Prägung finden sich Reproduktionen stark patriarchal gefärbterAnsichten: „Women writers, though widely read in Russia, contributed little to the greatness of Russian literature, which has no George Sand, Jane Austen or George Eliot“[31]– diese Einschätzung vonKsenia Gasiorovska legt offen, dass die männlich dominierte Tradition des literarischen Kanons auch von Frauen akzeptiert wird. Diese Tendenz der Annahme und Verbreitung patriarchaler Werte durch weibliche Literaturschaffende lässt sich nochsteigern, wenn etwa dieSchriftstellerin Lidija Čukovskaja provokativ fragt: „What does `women´s literature´ mean? You can have a women´s sauna, but literature?“.[32]
Abgesehen von diesem dominant patriarchalen Diskurs spielen auch kulturhistorische Besonderheiten eine Rolle bei der Frage, aus welchen Gründen eine feministische Literaturtheorie in der russischen Forschung beinahe nicht existent ist. An dieser Stelle ist es wichtig, das Konzept des Feminismus in seiner ursprünglichen Form zu verorten. Es handelt sich um einVorhaben, welches der Emanzipation aus den patriarchalen Werten in den Geschlechterbeziehungen dienen sollte und soziokulturell im Westen lokalisierbar ist. Der Begriff des Feminismus spielt in Russland bis heute eine unwesentliche Rolle und ist überwiegend negativ konnotiert.[33]Wenn von Feminismus die Rede ist, muss somit verdeutlicht werden, ob von einer Konzeption von Feminismus die Rede ist, die dem westlichen oder dem russischen Verständnis entspricht. Bei der westlichen Vorstellung von Feminismus handelt es sich zudem um ein theoretisches Fundament, welches die diskriminierende Seite der Geschlechterdifferenz aufzeigen soll. Bereits dieses Differenzmodell ist jedoch vor dem soziokulturellen Hintergrund Russlands nicht aufrecht zu erhalten, da spätestens mit den sozialistischen Bestrebungen zur Eliminierung jeglicher Geschlechterdifferenz die Betonung der Unterschiede einem Modell des gemeinschaftlichen Miteinanders gewichen ist. Durch die Proklamation des neuen Menschen des Sozialismus, welcher geschlechtsbedingten Unterschieden nicht unterworfen ist, sowie durch die verfassungsrechtliche Gleichstellung 1936 wurde eine kritischer Diskurs zu Geschlechterrollen in Russland obsolet, denn die „Geschlechterfrage“ war von offizieller Seite gelöst.
Nichtsdestotrotz bleibt zu erwähnen, dass durchaus eine Tradition feministischer Schriften in Russland vorhanden war und ist, welche insbesondere von den 1880er Jahren bis nach der Revolution in die 1920er Jahre hinein gepflegt wurde. Rosalind Marsh vermerkt, dass diese Phase des russischen Feminismus größere Aufmerksamkeit verdient als ihr bisher in der Feminismusforschung zukommt. Sie erklärt die Vernachlässigung feministischer Schriften von Autorinnen wie Aleksandra Kollontaj, Anastasija Krandievskaja und Ol’ga Šapir mit einer Tradition von Feminismus-feindlichkeit, welche tief in der patriarchalen russischen Kultur verankert sei, sowie mit der bereits erwähnten Tatsache, dass den Geschlechterbeziehungen während der Sowjetzeit keine größere Beachtung geschenkt wurde.[34]Dennoch existieren Zeugnisse kritischer Überlegungen aus der Sowjetzeit, diedurchaus als feministische Kritik bezeichnet werden können. So beschreibt der russische Literaturkritiker Abram Tercin seinem AufsatzČto takoe socialističeskijrealizm?[dt. Wasist sozialistischer Realismus?]in ironischem Ton die zentralen Sujets in der russischen Literatur des 19. Jahrhundertsundstelltfest,dassdiese„знает великое множество любовных историй, в которых встречаются и безрезультатно расстаются неполноценный мужчина и прекрасная женщина“[dt.„kennt eine Unzahl von Liebesgeschichten, in denen sich ein unfähiger Mann und eine schöne Frau ohne jegliches Resultat begegnen und wieder trennen“].[35]Seine Beschreibung der Geschlechterbeziehungen und Weiblichkeitsentwürfe, deneneine ähnlich sarkastische Note anhaftet wie obigem Zitat, liest sich als feministische Kritik, in der gezeigt wird, dass von weiblichen Charakteren nichtviel mehr verlangt werden kannals das, was sie für den männlichen Helden symbolisieren. Dies verleitet Barbara Heldt gar zu der Aussage,es handele sich bei Terc´ Passage zurRolle der weiblichen Charaktere um „perhaps the best piece of feminist criticism ever written in Russian“.[36]
Anhand dieser Überlegungen wird deutlich, warum ein feministischer Diskurs in Russland zwar angeregt wurde, jedoch schwerzu verankern war. Soerklärt sichauch,warumfeministische Klassikerwie etwa Simone de BeauvoirsDas andere Geschlechterst in den 1990er Jahren in Russland erschienensind.In aktuelleren Debatten zurGenderforschung in Russland forderten russische Wissenschaftlerinnen noch 2002 die Übersetzung feministischer Klassiker in die russische Sprachesowie ein Überdenken des diskursiven Kontextes, in welchem diese Texte rezipiert werden.[37]Es ist notwendig, klar zu differenzieren, welchem Kontext feministische Texte entspringen und inwiefern ihre Anwendung auf andere Kontexte sinnvoll gestaltet werden kann.
Die Frage, ob sich die westliche Forschung in der Verantwortung fühlen darf, die historischen und politischen Umstände zu beschreiben, unter welchen russische Frauen Literatur produzieren und konsumieren, wird zuweilen kontrovers diskutiert.[38]Die Amerikanerin Rosalind Marsh kontert jedochmit der Aussage, die Beschreibung dieser Zustände sei nicht „to impose arbitrary western feminist models on the very diffferent experience ofRussian women“.[39]Unter diesen Voraussetzungen entsteht in der westlichen Forschung (insbesondere im anglo-amerikanischen Raum) eine feministische Literaturkritik mit Bezug zu Russland, welche seit den 1980er Jahren vermehrt Werke zur Wiederentdeckung des„verlorenen Kontinents“weiblicher russischer Literatur beigetragen hat. Diese Studien konnten durchaus von den Erkenntnissen aus der Feminismusforschung anderer Kontexte profitieren und diese auf die spezifische russische Situation anwenden. Eines der wichtigsten Forschungsvorhaben der 1980er Jahre war zunächst die Re-Interpretation des russischen literarischen Kanons unter der Annahme einer weiblichen Leserschaft.[40]Seit den 1990er Jahren erschienen vermehrt Literaturgeschichten mit einem Fokus aufgynocriticsund Arbeiten mit der zentralen Frage, ob in Russland eine separate weibliche Literaturtradition existiert und wie diese zu periodisieren sei.[41]In neueren Arbeiten steht häufig eher die Frage nach der Art der Repräsentation von Weiblichkeit im Vordergrund: In ihrer Abhandlung zum Genderdiskurs in der russischen Kultur liefert Christa Ebert einen übersichtlichen Abriss über die Repräsentation von Weiblichkeit und ihren kulturhistorische Wurzeln. Sie zeigt auf, dass eine Darstellungstradition besteht, in der die Misogynie der orthodoxen Lehre in Form von Stigmatisierung neben einer auf heidnische Traditionen zurückgehende Heroisierung der Frau existiert. Wenngleich Eberts Aufzeichnungen einenguten kulturhistorischen Überblick vom Frauenbild von der altrussischen bis zur sowjetischen Zeit vermitteln, übersieht sie in ihrer Schlussfolgerung eines positiven Weiblichkeitsbildes in der russischen Literatur jene Art der Diskriminierung, welche von Barbara Heldt als „TerriblePerfection“ bezeichnet wird.[42]Ebert zieht das Resümee, die Besonderheit dieser literarischen Entwürfe sei, dass „positive Eigenschaften wie Stärke, Kraft und moralische Integrität nicht von Männern, sondern von Frauen verkörpert werden“[43]und deutet diese Heroisierung als Zeichen einer positiven Wertigkeit von Weiblichkeit. Sie verkennt jedoch die Tendenz, dass Idealisierung auch als eine Form von Reduktion und Diskriminierung interpretiert werden kann. Diese Tendenz zeigt Heldt in ihrer Studie zur Kontrastierung der Weiblichkeitsdarstellungen, welche von männlichen Autoren entworfen wurden, mit denen weiblicher Autorinnen. Sie zeigt eine Prosatradition auf, in der die Porträtierung von idealisierten Heldinnen aus männlicher Feder als normal angesehen werden, während kein entsprechendes männliches Äquivalent in der Prosa weiblicher Autorinnen zu verzeichnen ist. Diese Asymmetrie erstreckt sich sowohl auf dieHeldenwie auch auf die Heldinnen, da weder eine Norm eines romantisierten oder idealisierten männlichen Helden aus der Feder von Frauen existiert, noch wurde hier die Perfektion der Heldinnen akzentuiert dargestellt.[44]