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Heute ist das Guggenheim-Museum eine der touristischen Hauptattraktionen Venedigs. Dieser reich bebilderte Band erzählt erstmals die spannende Geschichte des Palazzos. Die Millionenerbin und Mode-Ikone Luisa Casati, die Salonnière Doris Castlerosse und die Kunstsammlerin Peggy Guggenheim machten ihn zum glamourösen und berüchtigten Treffpunkt der internationalen Künstlerszene und der High Society: Man Ray, Pablo Picasso, Cole Porter und Yoko Ono u. v. a. gingen hier ein und aus.
Das Porträt einer singulären Stadt, die Geschichte eines außergewöhnlichen Hauses und dreier atemberaubender Frauen
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Seitenzahl: 662
Veröffentlichungsjahr: 2019
1 Luisa Casati, gemalt von Augustus John (1919).
Judith Mackrell
Der unvollendete Palazzo
Liebe, Leidenschaft und Kunst in Venedig
Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck und Andrea Ott
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag
Einleitung
Luisa Casati. Das lebende Kunstwerk
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Doris Castlerosse. Die Salonnière
Kapitel 6
Kapitel 7
Peggy Guggenheim. Die Sammlerin
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Danksagung
Quellenverzeichnis
Abbildungsnachweis
Register
Anmerkungen
An einem heißen Abend im September 1913 bildete sich auf dem Canal Grande in Venedig ein Verkehrsstau, da sich im östlichen Abschnitt des Kanals, dort, wo er sich Richtung Lagune weitet, Gondeln mit aufwendig kostümierten Partygästen drängten.
2 Der Palazzo Venier dei Leoni Ende des 20. Jahrhunderts. Er beherbergt heute die Peggy Guggenheim Collection.
Am Ufer reihten sich vornehme Gebäude; in den oberen Stockwerken hingen gewaltige Kronleuchter, deren strahlendes Licht vom Wasser reflektiert wurde und die Fassaden zum Leuchten brachte. Aus dieser klassisch venezianischen Szenerie stach ein Bauwerk heraus wie ein abgebrochener Zahn. Der nur einstöckige Palazzo Venier dei Leoni schien sich im Zustand fortschreitenden Verfalls zu befinden, die weißen Steinmauern waren von Efeu überwachsen, im Dach klafften Löcher.
Und doch strebten die Gondeln ausgerechnet diesem Gebäude zu. Über dem Dach schimmerte eine Aureole aus goldenem Licht, Musik erklang, und auf der breiten Uferterrasse spielte sich ein spektakuläres Begrüßungsritual ab. Zwei Schwarze – eins achtzig groß und wie nubische Sklaven gekleidet – standen zu beiden Seiten der Landungstreppe; einer verkündete die Ankunft der Boote mit feierlichen Gongschlägen, der andere warf Metallspäne in ein Kohlebecken, worauf Funken weißen Lichts in den Nachthimmel stoben. Gleich dahinter die Gastgeberin, eine hochgewachsene, schlanke Frau im weiß-goldenen, durchscheinenden Gewand einer persischen Prinzessin. Sie stand in der Mitte einer großen, flachen Schale voller Tuberosen und empfing ihre Gäste, indem sie sich wortlos und ohne ein Lächeln des Erkennens bückte und jedem eine einzelne Blume reichte.
In den drei Jahren, in denen die Marchesa Luisa Casati den Palazzo Venier gemietet hatte, wurden sie und ihre Partys zur Legende. Obwohl von ausgeprägter, geradezu exzentrischer Schüchternheit, war sie dennoch überzeugt, dass sie eine Künstlerseele besaß und dazu berufen war, sich und ihre Umgebung in Kunstwerke zu verwandeln. Selbst in einer Stadt, die für ihren Karneval und ihre Maskeraden bekannt war, gab es nichts, was der Inszenierung der Feste bei der Marchesa gleichkam, und von jedem Gast wurde erwartet, dass er seine Rolle darin spielte. Während sie ernst und schweigend inmitten der Tuberosen stand, entstiegen den Gondeln an jenem Septemberabend blaublütige Prominenz und Honoratioren in Haremshosen, aber auch Künstler mittleren Alters mit Turbanen und falschen Bärten – eine farbenfrohe, selbstbewusste Schar aus Sklavenmädchen, Paschas und gestiefelten Korsaren.
Im letzten Sommer vor dem Ersten Weltkrieg waren orientalische Feste der letzte Schrei, doch nur wenige hatten eine so stimmige Kulisse. Waren die Gäste der Marchesa erst einmal durch den verfallenden Säulenvorbau des Palazzos ins Innere gelangt, fanden sie sich in einer Szenerie wieder, die jede Vorstellung übertraf. Anstelle der düsteren Marmorwüste typischer Eingangshallen betraten sie einen goldfarbenen Salon voll von schimmernden Spiegeln und dem Geplapper eingesperrter Affen und Papageien. Hinter dem Salon tat sich ein verwilderter Garten auf, in dem sich zwischen golden bemalten Statuen weiße Pfauen, reinrassige Windhunde und ein halbzahmer Gepard tummelten. Kellner in vielfarbigem Brokat offerierten Champagnerflöten, eine schwarze Jazzband spielte Ragtime und Tango, und die Welt, die Luisa in jener Nacht in ihrem Palazzo erschuf, war ein ebenso illustrer Schmelztiegel von Ost und West wie die Geschichte der Stadt Venedig selbst.
***
Luisas Welt war grundverschieden von der Vision, die der Familie Venier vorschwebte, als sie den Palazzo Mitte des 18. Jahrhunderts in Auftrag gab. Die Veniers gehörten zu den bedeutenden Dynastien Venedigs. Ihre Ahnenreihe reichte zurück bis zu den Kaisern Valerian und Gallienus, die im Rom des dritten Jahrhunderts geherrscht hatten, und sie zählten bereits zu den Bewohnern der Stadt, als diese wenig mehr war als ein unsicherer insularer Außenposten, den man Schlamm, Sumpf und Meer abgetrotzt hatte.[1]
3 Der Entwurf für den Palazzo, Mitte des 18. Jahrhunderts: ein Denkmal für die stolze Venier-Dynastie.
In dem Maß, wie Venedig sich zu einer mächtigen Republik entwickelte, gewannen auch die Veniers an Einfluss. Ihre Familie gehörte zum eng verwobenen Kreis jener, deren Name im Goldenen Buch der Nobilität verzeichnet war. Das berechtigte sie dazu, hohe Ämter zu bekleiden, und sie stellten über die Jahrhunderte Dogen, Prokuratoren, Erzbischöfe, Admiräle und Konsuln. Den Höhepunkt ihres Ruhms erreichten sie 1571, als ihr bedeutendster Patriarch, der Admiral Sebastiano Venier, die venezianische Flotte zu einem denkwürdigen Sieg über die Türken führte. Der Admiral war bei der Schlacht von Lepanto bereits fünfundsiebzig Jahre alt, musste wegen seiner schlimmen Hühneraugen in Schlappen kämpfen und war zu schwach, um seine Arkebuse zu laden. Trotzdem war es sein Beschuss, der die ersten Opfer unter den Türken forderte; sein Mut sprang auf die gesamte Flotte über, sodass sie schließlich den Sieg errang. Die dankbare Stadt machte den Admiral zu ihrem Helden, Tintoretto porträtierte ihn – als weisen silberhaarigen Krieger in schimmernder Rüstung –, und er wurde einstimmig zum Dogen gewählt.
Als Händler waren die Veniers womöglich noch erfolgreicher und häuften sowohl innerhalb wie außerhalb der Stadt Reichtümer an. Und wenn Gerüchte kursierten, bei einigen ihrer Unternehmungen sei Korruption im Spiel oder Schiffe der Veniers seien an den Rändern des venezianischen Reichs in illegale Piratenmanöver verstrickt, so besaßen sie Geld genug, um ihren Ruf wiederherzustellen. Eine wachsende Zahl von Bauwerken, Kirchen, Straßen und Plätzen kündete vom Ruhm der Veniers in ganz Venedig, so auch der alte, mit Türmen versehene Palazzo am Dorsoduro-Ufer des Canal Grande, der ihnen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts als Hauptwohnsitz diente.
1749 war der Palazzo unterteilt worden, um Platz für weitere Zweige der Familie zu schaffen, und Nicolò Venier und sein Bruder schickten sich an, auch das unbebaute Nachbargrundstück zu übernehmen. Der Architekt Lorenzo Boschetti wurde beauftragt, ein neues, modernes Gebäude zu entwerfen, das dem Stolz der Veniers bestmöglichen Ausdruck verlieh: ein fünfstöckiger, neoklassizistischer Palazzo aus Stein mit Erdgeschoss, Mezzanin, zwei piani nobili und einem Dachgeschoss. Es sollte nicht nur eines der höchsten Wohnhäuser in diesem Abschnitt des Kanals werden, sondern auch das breiteste.
Der Familie war klar, dass sie zwei, wenn nicht gar drei Jahrzehnte würde warten müssen, bis ihre Vision verwirklicht wäre. Gleich zu Beginn gab es eine Verzögerung – aus unbekannten Gründen legte Boschetti das Projekt in die Hände eines jüngeren Architekten, Domenico Rizzi, und erst 1752 konnte mit dem Bau der Fundamente begonnen werden. Wegen des sumpfigen Untergrunds war schon das ein schwieriges Unterfangen: Ein Wald von schlanken Pinienstämmen musste tief in den venezianischen Schlamm gerammt werden, um die dünne Holzplattform und den Unterbau aus Ziegeln zu tragen, auf denen das Gebäude errichtet werden konnte. So mancher aus dem Heer der Arbeiter, die auf der Baustelle den sommerlichen Moskitoschwärmen, dem herbstlichen Hochwasser und dem feuchten Winternebel trotzten, sollte die Vollendung des Gebäudes nicht erleben. Die Nachbarn von gegenüber, die Familie Corner, beobachteten indes vom anderen Kanalufer aus den Fortgang der Bauarbeiten mit Argwohn und Missgunst. Ihr Palazzo, in der Stadt als die Ca' Grande bekannt, war bislang der prächtigste in der Gegend gewesen, doch während der Palazzo der Veniers langsam über seine Fundamente hinauswuchs, wurde ihnen klar, dass sie von einem Gebäude von noch anmaßenderen Dimensionen in den Schatten gestellt werden würden.
Der Stolz der Familie Corner ebenso wie ihr Ausblick auf Venedig waren bedroht; sie bombardierten den Stadtrat mit Eingaben, das Bauvorhaben der Veniers solle verkleinert oder sogar ganz eingestellt werden. Die Arbeiten wurden dennoch fortgesetzt, bis der vordere Teil von Souterrain und Erdgeschoss fast fertig war. Die vier Säulen, die später den dreibogigen Portikus bilden sollten, standen bereits, und aus dem Sockel des Gebäudes ragten acht aus Stein gehauene Löwenköpfe, die alle gleich herrisch die Zähne fletschten.
An diesem Punkt kamen die Arbeiten am Palazzo Venier dei Leoni plötzlich zum Stillstand. Es gibt dafür viele Erklärungen, aber wie so oft bei venezianischen Überlieferungen lässt sich keine wirklich beweisen. Vielleicht hatte das Ausmaß des Gebäudes schließlich doch die Bedenken der Behörden geweckt und war für zu groß und für den Standort als zu gewagt befunden worden;[2] ebenso denkbar wäre, dass die Veniers sich finanziell überhoben hatten und wegen geschäftlicher Verluste oder eines verlorenen Rechtsstreits das Projekt nicht wie geplant fortführen konnten. Es gibt auch Hinweise, dass der dynastische Ehrgeiz der Familie ausgebremst wurde, weil sie keine neue Generation von Söhnen und Erben hervorbrachte. Wie auch immer, das große Vorhaben konnte beim Tod von Nicolò Venier 1780 als gescheitert gelten. Der Bau verblieb als rudimentäre Version seiner ursprünglichen Dimension – einstöckig und nur zwei Räume tief. In dieser reduzierten Form machte er dem Namen der Veniers keine Ehre, und bald sprach man in Venedig abschätzig von il palazzo non finito, vom unvollendeten Palast.
***
Die Veniers waren nicht die einzige Familie im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Schicksal sich wendete. Jahrhundertelang hatte sich der venezianische Adel durch Handelsverbindungen in den Osten und mit Hilfe seines eigenen, ausgeklügelten Bankensystems bereichert. Doch im 16. Jahrhundert rissen Türken, Briten und Niederländer die Handelsrouten und das Zollwesen an sich, und seit die Wirtschaft der Stadt darniederlag, rühmte man diese nicht länger wegen ihrer Finanzkraft, sondern eher für ihre Spielhöllen, Bordelle und die Ausschweifungen während des Karnevals. Als Napoleons Truppen 1797 in Venedig einmarschierten und seiner tausendjährigen Unabhängigkeit ein Ende setzten, sahen manche darin die gerechte Strafe für Dekadenz und lose Sitten.
4 »Il palazzo non finito« – das abgebrochene Bauvorhaben der Veniers. Gravur von 1831.
Während der napoleonischen Besatzungszeit wurde die politische Macht des venezianischen Adels gebrochen; viele Familien verloren ihre Besitztümer und Residenzen. Falls die Veniers jemals vorgehabt hatten, den Bau ihres Palazzos fortzusetzen, so machten ihnen jetzt die Franzosen einen Strich durch die Rechnung; vollends zum Scheitern verurteilt waren solche Pläne nach der Übergabe Venedigs an das Kaisertum Österreich im Jahr 1815. Während der fünfzigjährigen österreichischen Besetzung verfiel die Stadt zusehends in Trostlosigkeit; die Wirtschaft brach zusammen, und die einst bedeutende Schiffsbauindustrie geriet in die Krise. Auch wenn die Stadt dadurch eine ganz eigene melancholische Schönheit erlangte, die besonders die romantisch gesinnten Touristen des 19. Jahrhunderts ansprach, so war die alltägliche Realität für die Venezianer umso härter. Ganze Stadtviertel versanken in Bedeutungslosigkeit, und ihre Bewohner litten unter Armut, Arbeitslosigkeit und chronischen Krankheiten.
Der unvollendete Palazzo war 1780 in den Besitz von Nicolòs Cousine Maria übergegangen – Tochter von Girolamo Venier, einem stolzen Patrizier und talentierten Amateurkomponisten. Maria hatte die Musikalität ihres Vaters geerbt, und als sie 1758 in die bedeutende Familie Contarini einheiratete, erschien zur Hochzeit eine reich illustrierte Sammlung mit Gedichten und Liedern. Es ist durchaus vorstellbar, dass Maria den Palazzo in der kurzen Zeit, da sie das Gebäude besaß, in einen Ort der Musik, der Konversation und des Lichts verwandelt hat, doch nach ihrem Tod scheint ihr Sohn Girolamo Contarini ihn dem Verfall preisgegeben zu haben. Weil das Gebäude unvollendet war, alterte es nicht gerade vorteilhaft. Im Souterrain richtete man eine billige Pension ein, während das Erdgeschoss mit der Zeit unbewohnbar wurde; Efeu drang tief in die zerfallenden Mauern ein, und Teile des Dachs gaben allmählich nach.
Alle paar Jahre drängten die Nachbarn die Behörden, das Gebäude abreißen zu lassen, dann aber wurde es von einer reichen französischen Aristokratin, der Comtesse Isabelle de la Baume-Pluvinel, gekauft und gerettet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Comtesse die benachbarte Ca' Dario erworben, eines der hübschesten Bauwerke an diesem Abschnitt des Kanals, mit zierlichen Säulen, steinernem Maßwerk, maurischen Bögen und prächtigen Marmorintarsien. Möglicherweise hatte auch die Comtesse Pläne für einen Ausbau des Palazzo Venier, doch 1910 sah sie sich durch ihre nachlassende Gesundheit gezwungen, einen Mieter für das Anwesen zu suchen. Sie dürfte sich gefragt haben, warum die extrem reiche Marchesa Casati so erpicht auf das verfallende Objekt war. Während die übrige Welt darin einen Schandfleck sah, betrachtete Luisa es als einen poetischen, geheimnisvollen Ort von ungeahntem Potential.
Luisa wurde, wie so viele vor ihr, von einem Fantasiebild angezogen. Sie sah in Venedig einen Ort von überirdischer Schönheit – eine im Meer schwimmende Stadt, wo fester Stein sich in Wasser und Licht aufzulösen schien – und war fasziniert von seiner magischen Andersartigkeit. Über Jahrhunderte hatte Venedig vor allem Dichter und Künstler angelockt, denn die Stadt versprach ein Entkommen aus der Eintönigkeit und den Zwängen des normalen Lebens. Als Byron sich 1816 dort niederließ, begrüßte er die Stadt als »die grünste Insel meiner Fantasie«; als Proust eintraf, verkündete er, seine Träume hätten nun eine Adresse. Und auch Luisa hoffte, dort ihr »Heterotopia« zu finden, eine Parallelwelt, die ihr eine Flucht aus der Langeweile des Mailänder Adels ermöglichte. Der unvollendete Palazzo sollte für sie zur Bühne werden, auf der sie als theatralische Figur agieren konnte.
5 Karneval im Venedig des 17. Jahrhunderts.
***
Luisa mietete den Palazzo für vierzehn Jahre, und während dieser Zeit avancierten sie und ihre Partys zu einem der vergänglichen Wunder der Stadt. Als sie schließlich die Stadt verließ, war es der Reiz des venezianischen Lebens mit seinem Versprechen von Freiheit und Neubeginn, der zwei weitere Frauen in den Bann des Palazzos zog. Für Doris, Lady Castlerosse, bot Venedig die Möglichkeit, sich gesellschaftlich neu zu etablieren, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte und ihr Privatleben in Verruf geraten war. Mit ihrer Jugend, ihrem Esprit und ihrer erstaunlichen erotischen Ausstrahlung war es Doris gelungen, in der Londoner Gesellschaft aufzusteigen, doch um die Mitte der 1930er Jahre war ihr Ruf beschädigt, das Älterwerden forderte seinen Tribut, und sie sah sich zu einem Neuanfang gezwungen. Venedig war in dieser Hinsicht nachsichtiger als London, und mit dem Geld eines reichen Liebhabers verwandelte Doris den Palazzo in einen luxuriösen Sommersalon, in dem sie Hof zu halten gedachte.
Der Zweite Weltkrieg zerschlug ihre Pläne, und das Anwesen blieb verwaist und verwahrlost, bis Peggy Guggenheim es Ende 1948 zu Gesicht bekam. Nach zwei kaputten Ehen und einer Serie von unglücklichen Liebschaften war Peggy ruhelos und einsam, besaß aber eine beachtliche Sammlung moderner Kunst, in die sie einen Großteil ihres Erbes und ihrer Energie investiert hatte. In der hart umkämpften New Yorker Kunstszene hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht und war nun auf der Suche nach einer wohlwollenderen, weniger kritischen Umgebung. Nachdem sie den Palazzo gekauft hatte, ließ sie die Überreste des pompösen Dekors der Vorbesitzerin entfernen und verwandelte das Gebäude in einen Schaukasten für ihre Kunst. Sie sollte bis zu ihrem Tod, gut dreißig Jahre später, bleiben. Bis heute beheimatet der Palazzo die Peggy Guggenheim Collection.
Als Nicolò Venier den Palazzo in Auftrag gab, hätte er sich nicht im Traum die jeweiligen Lebensentwürfe vorstellen können, die Luisa Casati, Doris Castlerosse und Peggy Guggenheim dort verwirklichten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieser Palazzo, der ursprünglich eine patriarchale Dynastie verherrlichen sollte und mit ihr zerfiel, schließlich von drei unabhängigen, alleinstehenden Frauen vor dem Vergessen bewahrt wurde. Luisa machte ihn einschlägig bekannt, Doris machte ihn schick, und Peggy verwandelte ihn nicht nur in eines der bedeutendsten Museen der Welt, sondern auch in eines der beliebtesten und meistbesuchten Gebäude Venedigs.
6 »Eine im Meer schwimmende Stadt« – Venedig. Fotografie von 1913.
Das lebende Kunstwerk
Als Luisa das Gebäude 1910 zum ersten Mal besichtigte, wirkte es unbewohnbar. An manchen Stellen konnte man durch das steinerne Flachdach den Himmel sehen, und die Löcher in den Außenmauern waren mit Brettern vernagelt. Im Souterrain wuchs der Schimmel, und in dem von düsteren Zypressen und Linden umgrenzten Garten wucherte Dorngestrüpp. Im Grundbuch der Stadt Venedig war der Palazzo Venier nicht einmal als Wohngebäude geführt, sondern lediglich als »Garten mit den Fundamenten eines Palasts«.
Während das Gebäude zusehends verfiel, war immerhin die Uferterrasse noch intakt und bot einen der großartigsten Ausblicke Venedigs. Direkt gegenüber stand die nach wie vor imposante Ca' Grande, in die mittlerweile die Präfektur eingezogen war. Zur Linken spannte sich der Ponte dell'Accademia über den Kanal, und zur Rechten, wo er sich Richtung Lagune weitete, trafen sich Himmel und Wasser über einem Gewirr aus schiefen Kaminen und Kuppeln, dazwischen der für Venedig typische Wasserverkehr: Gondeln, Vaporetti, Lastkähne und große Segler.
Über einen solchen Ausblick zu verfügen – diesig in der gleißenden Mittagssonne, silbrig im Mondlicht oder ganz in Morgennebel gehüllt –, war Teil des Traums, der von Luisa bereits 1905 bei ihrem ersten Besuch in Venedig Besitz ergriffen hatte. Eine reiche, sensible, leicht zu beeindruckende junge Frau, die allein reiste. Ihre Vorstellungskraft war aufs höchste gespannt, sie erwartete eine Stadt, die sich auf magische Weise vom geschäftsmäßigen Treiben ihrer Heimat Mailand unterschied, eine Stadt, die für ihren Freund, den gefeierten Schriftsteller Gabriele D'Annunzio, die »wunderbarste« Vereinigung von Kunst und Leben darstellte. Luisas erste Eindrücke waren geprägt von der schwelgerischen Prosa seines Venedig-Romans Il fuoco [dt. Das Feuer]: das »flammende Gold« der Sonnenuntergänge über der Lagune, »das geheimnisvolle, fantastische Dunkel der kleinen Kanäle«, kurz das Drama einer Stadt, in der jeder gegenwärtige sinnliche Eindruck mit Geschichten aus der Vergangenheit befrachtet war.1
Während ihres ersten Besuchs dürfte Luisa die Stadt erkundet haben wie jede privilegierte Touristin. Von ihrer Hotelsuite aus besichtigte sie Kirchen und Galerien, wobei ihr zwei Gondolieri für Tagestouren durch die Kanäle zur Verfügung standen. Luisa betrachtete die vorbeigleitenden Gebäude mit geschultem Blick: Sie konnte sich an den dunklen Rosa- und Ockertönen des abblätternden Putzes erfreuen, an der vielfältigen Patina von Vergoldungen, Mosaiken, Marmor oder alten Ziegelmauern. Sie war empfänglich für den Zauber des Lichts, das sich im Wasser spiegelte und Schattenmuster unter Brücken und auf Treppenstufen warf. Doch schon damals wollte Luisa mehr sein als nur Touristin. Erst vierundzwanzigjährig, hatte sie zu Hause einen Ehemann und eine winzige Tochter zurückgelassen, empfand die Stadt aber bereits als Kulisse für ein Leben, das sie ganz allein zu führen gedachte.
Zunächst sah Luisa sich gezwungen, wieder nach Mailand zurückzukehren, doch als Versprechen für die Zukunft brachte sie ein Paar dekorative »Neger«-Statuen mit nach Hause, die ihr das damalige Venedig auf besondere Weise zu verkörpern schienen. Viele der größeren Häuser der Stadt schmückten ihr Vestibül mit solchen Figuren – nackte Afrikanerinnen, beladen mit goldenen Halsketten, Armreifen und Fußspangen, mit Speeren bewaffnete Krieger in Turbanen und Brustpanzern oder winzige Sklavenjungen, die dem Besucher Tabletts für Zigarrenstummel oder Visitenkarten entgegenstreckten. Diese Statuen, exotisch und krass gleichermaßen, sagten viel über die fragwürdigen rassischen Vorurteile in der Stadt; sie stammten aus der Zeit, als man in Venedig westafrikanische Sklaven als Gondolieri anheuerte und schwarze Seeleute und Händler im Straßenbild weit weniger Aufsehen erregten als in anderen europäischen Städten. Luisa jedoch gefiel vor allem die Neuartigkeit der beiden schwarzen Figuren, die sie in ihrem Mailänder Stadthaus aufstellte. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass ihre »venezianischen Blackamoors«, wie sie damals genannt wurden, Anstoß erregen könnten, und sie trieb diese Mode fünf Jahre später, als sie den Palazzo Venier übernahm, auf die Spitze, indem sie sich von schwarzem Personal bedienen ließ.
Die Männer stammten vermutlich aus der nordafrikanischen Einwanderergemeinde von Paris, und die Arbeit, die Luisa ihnen anbot, war zwar nicht schwer, aber entwürdigend. Bei Spaziergängen durch die Stadt folgte Luisa im Abstand von wenigen Schritten stets ein hochgewachsener schwarzer Diener, der einen Sonnenschirm aus Pfauenfedern schützend über sie hielt. Bei besonders großen Partys wurde zusätzlich schwarzes Personal eingestellt, das sich den künstlerischen Launen der Herrin unterwerfen musste. Die Diener wurden nach der Mode des 18. Jahrhunderts in Perücken und Gehröcke gesteckt oder die nackten Oberkörper mit Goldbronze bemalt. Anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung, die Luisa auf der Piazza San Marco abhielt, bildeten sie mit scharlachroten Seidenbändern zusammengebunden eine menschliche Barriere gegen die Massen der Schaulustigen.
***
Wer Luisa als Kind kannte, hätte ihr derartige Anmaßung und Prahlerei niemals zugetraut. Sie verkroch sich mit ihren Büchern, Zeichnungen und Tagträumen und vermied es, Aufmerksamkeit zu erregen. Informationen über Luisas frühe Kindheit sind rar, aber das wenige, was wir wissen, zeigt ein ausgesprochen scheues, in sich gekehrtes kleines Mädchen. Mit ihrer Mutter Lucia und der lebhaften älteren Schwester Francesca war sie eng verbunden, doch in Gegenwart anderer hüllte sie sich in einen Mantel aus störrischem Schweigen. In einem weniger fürsorglichen Heim wäre ihr Benehmen vermutlich als ungehörig gescholten und bestraft worden. Doch Luisa war in Liebe und Geld hineingeboren worden, und während der ersten Jahre tat man ihr Verhalten als bedauerliche Schüchternheit ab, die sich später schon auswachsen würde.
Das Familienvermögen hatte Luisas Vater Alberto Amman angehäuft, ein findiger, strebsamer Mann, der die väterliche Baumwollmühle zur modernsten Textilfabrik Italiens ausbaute. Unterstützt von seinem Geschäftspartner Emilio Wepfer importierte er die neueste Technologie aus Großbritannien und schuf Arbeitsplätze, die zugleich effizient und menschenwürdig waren. Obwohl es mit der Wirtschaft im jüngst vereinten Italien nicht zum Besten stand, florierte das Unternehmen der beiden, und Albertos Erfolg erreichte seinen Zenit im Jahr 1887, als ihm für seine Verdienste um die italienische Industrie der Titel eines Conte verliehen wurde.[3]
Gemeinsam mit seiner Frau Lucia, einer hübschen, geselligen, kunstsinnigen jungen Wienerin, führte Alberto ein Haus, das seiner geschäftlichen Stellung entsprach. Das Paar hatte 1879 geheiratet; Francesca war im Januar 1880 zur Welt gekommen, Luisa Adele Rosa Maria fast genau ein Jahr später, am 23. Januar 1881. Man verbrachte seine Zeit in den verschiedenen Wohnsitzen der Familie – einem Stadthaus in Mailand, einer Villa im Norden unweit der Fabrik in Pordenone und auf einem Landgut in der Nähe der Sommerresidenz von König Umberto I., dessen persönlicher Freundschaft Alberto sich rühmen konnte. Hauptschauplatz ihrer privilegierten Kindheit war jedoch die wunderbar romantische Villa Amalia am Fuße der lombardischen Alpen.
Das riesige, neoklassizistische Gebäude war einst die Sommerresidenz des einflussreichen Politikers Conte Roco Maliani gewesen, eine Architektur, die beeindrucken wollte: Die Fassade protzte mit Säulen und Giebeln, und die Decken hatte der Renaissance-Meister Bernardino Luini bemalt. Den besonderen Reiz des Anwesens aber machten die ausgedehnten Ländereien aus. Durch Haine und duftende Büsche wandelte man auf angelegten Wegen zwischen klassischen Statuen, konnte einen griechischen »Tempel der Freundschaft« besuchen oder sich an Springbrunnen voller Nymphen und Gottheiten erfreuen.
Die Ammans waren rührige Gastgeber, im Winter luden sie zum Dinner und im Sommer zu Picknicks und Croquet-Partien. Wenngleich Luisas Mutter eine vielbeschäftigte Hausherrin war, so scheint sie nach damaligen Standards doch eine zugewandte und liebevolle Mutter gewesen zu sein. Luisa konnte sich noch Jahre später Lucias Gute-Nacht-Küsse genau ins Gedächtnis zurückrufen: »Ihre Spitzen, Juwelen und Perlen streiften mein Gesicht und vermischten sich mit dem Duft ihres Parfüms.« Auch erinnerte sie sich an Nachmittage, an denen sie gemeinsam Märchen lasen oder die Bilder in den Heften der L'Illustration betrachteten, einer aufwendig gestalteten französischen Zeitschrift, die über Leben, Mode und Häuser der europäischen Elite berichtete.2
Luisa fühlte sich wohl in dieser Welt der Fantasie und des schönen Scheins. Mit ihrer Schwester Francesca durchstöberte sie die Schränke nach Hüten, Capes und Roben, um sich zu verkleiden. Sich selbst überlassen zeichnete sie in ihr Skizzenbuch oder schnitt Bilder aus Illustrierten aus, die sie zu fantasievollen Collagen kombinierte. Waren Gäste im Haus, konnte Luisa nur selten dazu überredet werden, an der Geselligkeit teilzunehmen. Lieber zeichnete sie die Besucher in kleinen Grüppchen, wie sie es in L'Illustration gesehen hatte, mit Alberto Amman als Hof haltendem König in der Mitte.
7 Eine Gondel auf dem Canal Grande, um 1900. Der Palazzo Venier befindet sich ganz hinten am rechten Ufer.
Lucia förderte die kreativen Talente ihrer Tochter, indem sie ihr die Kunstschätze im nahe gelegenen Mailand zeigte, die alten Meister aus dem Brera-Museum und Leonardo da Vincis Letztes Abendmahl im Kloster Santa Maria delle Grazie. Wenn Luisa diese Werke studierte oder ihre eigenen kleinen Zeichnungen anfertigte, war sie mit äußerster Konzentration bei der Sache, als wären solche Bilder für sie realer als das Alltagsleben. Spätestens als Luisa in die Pubertät kam, dürfte Lucia sich besorgt gefragt haben, ob die Introvertiertheit ihrer Tochter nicht vielleicht mehr war als eine vorübergehende Form kindlicher Schüchternheit. Sie war weiterhin sehr verschlossen, in Gesellschaft unnahbar, und ihre Unsicherheit wurde durch die körperlichen Veränderungen der Pubertät noch verstärkt: die Glieder schlaksig und spitz, das hagere Gesicht ganz von riesigen grünlichen Augen und einer unbändigen rotbraunen Mähne dominiert. Lucia mag sich überlegt haben, welche Zukunft ihrer Tochter bevorstand, ob sie jemals das Selbstvertrauen besäße, zu heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen. Noch größere Sorgen hätte sie sich gemacht, wenn sie geahnt hätte, dass Luisa diese Schritte ins Erwachsenenleben ohne sie würde tun müssen.
Luisa war gerade dreizehn, als Lucia und Alberto sie und Francesca im April 1894 in der Obhut der Bediensteten im Mailänder Stadthaus zurückließen und zu einer kurzen Geschäftsreise nach Florenz aufbrachen. Weil Albertos Geschäftspartner kurz zuvor gestorben war, hatte er alle Hände voll zu tun, weshalb solche Reisen keine Seltenheit waren. Die Eltern versprachen den Schwestern, dass sie gleich nach der Rückkehr einen kurzen Familienausflug nach Turin machen würden, ein kleines, gut erhaltenes Juwel der Renaissance-Architektur und ein beliebtes Reiseziel bei reichen Italienern. Die Amman-Teenager freuten sich auf den Tapetenwechsel und das seltene Vergnügen einer gemeinsamen Unternehmung. Doch am 11. April traf statt der Eltern die erschütternde Nachricht ein, dass die Mutter gestorben sei.
Lucia mit ihrer cremeweißen Haut, den schwarzen Locken und lebhaften dunklen Augen war von so jugendlicher Schönheit gewesen, dass ihr Tod den Töchtern unbegreiflich erscheinen musste. Es steht zu vermuten, dass sie der in den 1890er Jahren in Europa grassierenden Influenza-Pandemie zum Opfer gefallen ist. Die Krankheit schlug wahllos zu und raffte Junge und Gesunde ebenso dahin wie Alte und Gebrechliche. Der Verlauf war grausam kurz, nicht selten vergingen nur wenige kurze Stunden von der anfänglichen Übelkeit bis zu den finalen Erstickungsanfällen.
Der plötzliche Verlust der Mutter und die anschließende trostlose Beisetzungszeremonie im Familienmausoleum waren eine traumatische Erfahrung für beide Mädchen, besonders hart aber traf es Luisa. Lucia hatte immer zwischen ihr und der Außenwelt vermittelt, und ohne deren Geduld und Verständnis bestand die Gefahr, dass sie sich völlig in sich zurückzog. Alberto hat sich sicher Sorgen um seine labile jüngste Tochter gemacht, aber im Umgang mit ihr war er hilflos. Seine eigene Trauer begrub er unter einem enormen Arbeitspensum, und diese Überanstrengung hat ihn, so glaubte die Familie, schließlich umgebracht. Nur zwei Jahre nach Lucia erkrankte Alberto und starb ebenfalls.
Trotz des eher distanzierten Verhältnisses zum Vater war das ein weiterer Schicksalsschlag für die Schwestern – und für ihren Onkel Eduardo und seine Frau Fanny eine gewaltige Verantwortung. Obgleich erst fünfzehn und sechzehn Jahre alt, waren Luisa und Francesca nicht nur Waisen geworden, sondern hatten auch je die Hälfte von Albertos Baumwoll-Imperium geerbt, dazu verschiedene Besitztümer und das mit Aktien und Wertpapieren gut gefüllte Portfolio. Die Schwestern waren zwar noch nicht alt genug, um ihr Vermögen selbst zu verwalten, würden aber bald das Interesse von Glücksrittern und Mitgiftjägern wecken.
Im Alltag versuchten Eduardo und Fanny, dem Leben ihrer Nichten eine gewisse Kontinuität zu geben. Die beiden Mädchen lebten im Haus ihres Onkels in Ello – nur eine kurze Kutschfahrt entfernt –, zeitweilig aber auch in der Villa Amalia, wo sie von einer großen Dienerschaft umsorgt wurden. Zur Unterhaltung unternahm man Ausflüge in die Museen und Geschäfte Mailands, organisierte Tennismatches und Ausritte, und ihre unternehmungslustige Cousine Bice leistete den Mädchen Gesellschaft. Luisa entdeckte ihre Liebe zu Pferden und zeigte beim Reiten einen an Leichtsinn grenzenden Wagemut, zog sich jedoch aus der menschlichen Gesellschaft immer mehr zurück. Und sie entwickelte sonderbare Interessen: Sie beschäftigte sich mit Büchern über Magie und Okkultismus und war fasziniert von Menschen mit makabrem Schicksal, so etwa der italienischen Prinzessin Cristina Trivulzio di Belgiojoso, von der es hieß, sie habe esoterische Rituale mit den Leichen ihrer Liebhaber durchgeführt, oder der jungen Österreicherin Mary Vetsera, die kurz zuvor in einem dubiosen Doppelselbstmord zusammen mit dem verrückten Kronprinzen Rudolf aus dem Leben gegangen war.
Eduardo und Fanny dürften Luisas Interesse am Tod und am Übernatürlichen für törichten Unsinn gehalten haben, eine Grille, die sie spätestens dann ablegen würde, wenn ein geeigneter Ehemann für sie gefunden wäre. Damals verfügten die Ammans noch nicht über die richtigen Begriffe, um die Neigungen ihrer Nichte zu benennen, und erklärten sie mit ihrer Trauer und überbordenden Fantasie. Doch im Licht moderner medizinischer Forschung lässt sich vermuten, dass Luisa nicht nur ein einsamer, verstörter Teenager war, sondern an den komplexen und schwerwiegenden Symptomen einer Asperger-Erkrankung litt.
Jede posthume Diagnose einer neurologischen Krankheit muss zwangsläufig Spekulation bleiben. Doch aus Luisas extravagantem Erwachsenenleben sind so viele wilde, unglaubliche Geschichten überliefert, dass es naheliegt, nach einer Erklärung zu suchen, wie aus einem so introvertierten Kind eine legendäre Exhibitionistin werden konnte.
Asperger ist eine Erkrankung, die den Patienten isoliert; wegen der Probleme im Umgang mit anderen wird sie von Betroffenen oft auch als »geistige Blindheit« beschrieben. Tagtäglich kämpfen sie damit, die Körpersprache, Mimik oder Intonation zu deuten, mit denen der Rest der Welt kommuniziert. Weil es ihnen nicht gelingt, die darin ausgedrückten Gefühle zu lesen, gelten sie als egoistisch und gefühlskalt. Oft agieren sie höchst erfolgreich, wenn sie sich in eine Welt zurückziehen können, die sie unter Kontrolle haben – viele von ihnen sind begnadete Wissenschaftler, Mathematiker oder Musiker.
Einige dieser Symptome lassen sich in Ansätzen auch in Luisas Charakter wiederfinden. Als Erwachsene hatte sie zwar gelernt, im Umgang mit der Außenwelt reibungslos zu funktionieren, dennoch wies sie sonderbare Verhaltensweisen auf: Sie mied Augenkontakt und wechselte in der Unterhaltung zwischen zerstreutem Schweigen und unvermittelt ausbrechenden Monologen. Durch Kleidung und Auftreten schien sie um jeden Preis auffallen zu wollen, und doch hätte keiner sie als einen von Natur aus extrovertierten Menschen bezeichnet. Ganz im Gegenteil, ihre öffentlichen Auftritte waren peinlich genau geplant; man hatte den Eindruck, als sei sie noch immer in den eigenbrötlerischen Fantasien ihrer Kindheit gefangen. Im Lauf ihres Lebens schloss sie nur ganz wenige enge Freundschaften.
Für die amerikanische Schriftstellerin Natalie Clifford Barney, die Luisa 1920 kennenlernte, war es erschütternd zu sehen, wie sehr bei ihr theatralisches Auftreten und innere Isolation im Widerstreit lagen. Luisa kam ihr vor wie eine Frau, »die durch schrille Verkleidungen ihrer inneren Fremdheit zu entrinnen sucht«.3 Ob diese »innere Fremdheit« heutzutage als Asperger-Syndrom diagnostiziert würde, ist eine müßige Frage. Wenn Luisa an dieser Erkrankung litt, so hinderte sie das jedenfalls nicht daran, ein weitaus selbstbestimmteres Leben zu führen als die meisten ihrer Zeitgenossinnen. Sie wurde für ihre Intelligenz und ihren Geschmack bewundert und von Künstlern wie Intellektuellen umworben. Eine scharfsinnige Beobachterin wie Barney machte sich Gedanken über Luisas komplizierten, zerbrechlichen Kern, viele andere aber ließen sich vom kunstvollen Gebäude ihres öffentlichen Selbst bezaubern.
Doch bis dieses Konstrukt vollendet war, sollte noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen; als Luisa im Jahr 1899 im Alter von achtzehn Jahren offiziell in die Gesellschaft eingeführt wurde, war sie noch völlig ungeschützt und dieser Aufgabe keineswegs gewachsen.
***
Fanny Amman wird ihr Möglichstes getan haben, um Luisa auf die bevorstehende Saison vorzubereiten, aber dieses Mädchen in eine Debütantin zu verwandeln, dürfte keine leichte Aufgabe gewesen sein. Sie besaß weder Talent fürs Flirten noch für seichte Unterhaltung, und die aufwendigen Garderoben, die für sie angeschafft wurden, konnten nicht überdecken, dass ihr Äußeres ebenso unbeholfen war wie ihr Auftreten. Sie war zu der beunruhigenden Größe von einem Meter achtzig herangewachsen, ihr Körper hingegen war so flach und kantig wie der eines Kindes. Jahre später würden modebewusste Frauen in Europa versuchen, sich durch entbehrungsreiches Hungern eine solche Figur zuzulegen, doch um die Jahrhundertwende war diese Schlankheit noch ein Makel und galt als unweiblich.
In der kaufmännischen Logik des italienischen Heiratsmarktes besaß Geld allerdings einen höheren Stellenwert als Schönheit, und in den folgenden Jahren sah Luisa sich und ihr Vermögen von einem der begehrenswertesten Junggesellen Italiens umworben: dem gut aussehenden, schnauzbärtigen und mit klangvollen Titeln geschmückten Marchese Camillo Casati Stampa di Soncino. Der zweiundzwanzigjährige Camillo stammte aus einem aristokratisch wie patriotisch gleichermaßen untadeligen Geschlecht. Seine Familie sonnte sich noch immer in dem Ruhm, den Conte Gabrio Casati einst erntete, als er 1848 in Mailand einen Volksaufstand gegen die österreichischen Truppen anführte, die sich anschickten, einen Großteil Italiens zu erobern. Um die Finanzen der Casatis stand es längst nicht so gut wie um ihre Abstammung; zweifellos war Camillo, dessen Erbe sich auf nur 70 000 Lire belief, von seiner Familie auf Luisa und ihre millionenschwere Aussteuer hingewiesen worden.4
Auch Eduardo und Fanny Amman versprachen sich viel von einer solchen Verbindung. Sie wollten Luisa baldmöglichst verheiratet wissen und sahen zugleich die gesellschaftlichen Vorteile, die sich für sie selbst aus dieser Partie ergaben. Das Baumwollgeschäft hatte die Ammans zwar reich gemacht und Alberto einen Titel eingebracht, doch war die Familie damit noch längst nicht in die höheren Ränge der italienischen Nobilität aufgestiegen – die der Casatis, Sforzas und Orsinis. Sie waren arrivistes – ihr Geld war neu, und sie selbst waren Einwanderer der zweiten Generation, denn der Großvater von Alberto und Eduardo stammte aus Österreich. Eine Verbindung zwischen Luisa und Camillo schien damit für die Ammans und die Casatis wünschenswert, und am Ende der Saison, nachdem das Paar eine angemessene Zahl von Quadrillen und Walzern absolviert und bei Dinners und Galas nebeneinandergesessen hatte, waren die beiden offiziell verlobt.
Was Luisa davon hielt, ist nicht überliefert, doch ein Porträt, das anlässlich ihrer Verlobung entstand, zeigt sie als unwillige Braut. Auf rührende Weise um Raffinesse bemüht, posiert sie in einem tief ausgeschnittenen Abendkleid mit einem Opernglas im Schoß, und doch meint man die stillschweigende Duldung zu erkennen, mit der sie das alles ertrug. Vitellini, der bekannte Porträtist der feinen Gesellschaft, hat sich zweifellos bemüht, aber Luisas Lächeln ist schmallippig, und die Augen blicken starr. Es ist nicht klar, warum eine Hand unvollendet geblieben ist, aber die verschwommenen Umrisse vermitteln dem Betrachter den Eindruck, als habe sie vor Fertigstellung des Werks aus dem Studio zu fliehen versucht.
Vermutlich wäre Luisa am liebsten auch vor ihrer Hochzeit davongelaufen, obwohl sie in Camillo einen vergleichsweise gutmütigen Ehemann gefunden hatte. Trotz seiner aristokratischen Attitüde war er ein milder, vernünftiger junger Mann, der von seiner neuen Frau nicht mehr verlangte als eine Mitgift und einen Erben. Außerdem musste sie akzeptieren, dass die Pferde und die Jagd die große Leidenschaft seines Lebens waren und blieben. Camillo war nicht grausam zu Luisa, er versoff oder verspielte nicht ihr Vermögen und behandelte sie schlimmstenfalls mit lässiger Nichtbeachtung.
Am 22. Juni 1900 heirateten sie, und die Hochzeitsreise nach Paris war Luisas erste Auslandsreise. In jenem Sommer war die Stadt erfüllt von den Attraktionen der Weltausstellung, einer gigantischen Handelsmesse, die den Rest der Welt nach Paris holte. Laufbänder beförderten die Massen zwischen den technischen und kulturellen Wunderwerken hin und her: von dem Moskauer Palast, der den russischen Pavillon beherbergte, zu einer detailgetreuen Nachbildung eines buddhistischen Tempels, vom neu erbauten Eiffelturm zu einem kleinen öffentlichen Kino, das handkolorierte Kurzfilme berühmter Bühnenstars zeigte. Hier bewunderte Luisa inmitten einer faszinierten Menge Sarah Bernhardt in Hamlet oder den Komiker Little Tich, wie er geschickt in seinen Riesenschuhen herumtrippelte.
Indem sie diese Wunder auf sich wirken ließ, gewann Luisa ein ganz neues, zielgerichtetes Selbstvertrauen; und sie entdeckte die Freuden des Shoppens. Die Stadt beherbergte die großen Modehäuser Doucet und Worth, deren klingende Namen sie bereits von ihrer Mutter kannte. Jetzt, als verheiratete Frau, die über eigenes Geld verfügte, überließ sie Camillo seinen Interessen, während sie sich der Vervollständigung ihrer Erwachsenengarderobe widmete. Dabei erkannte sie, welch wirkungsvolles gesellschaftliches Schutzschild Kleider sein können. Durch Verkleiden war sie als Kind ihrer Schüchternheit entkommen, in ihrer neuen Pariser Garderobe erprobte sie nun die Rolle der modebewussten jungen Ehefrau. Das in jenem Sommer von Paul César Helleu angefertigte Bild zeigt nicht länger das verhuschte Mädchen, das für Vitellini gesessen hatte. Es ist das eher konventionell gehaltene Porträt einer völlig neuen Luisa: Mit einem von schwarzen Federn gezierten Hut auf dem elegant frisierten Haar wirkt sie weiblich, gefasst, ja beinahe weltläufig.
Als sie mit Camillo im Spätsommer nach Italien zurückkehrte, erwarteten sie weitere Zerstreuungen und Veränderungen. Ihr Eheleben spielte sich zwischen den beiden Wohnsitzen von Camillos Familie ab: der riesigen Villa Casati aus dem 16. Jahrhundert, unweit des Städtchens Cinisello Balsamo auf dem Land gelegen, und dem eleganten Stadthaus im Zentrum von Mailand. Die Adresse in der Via Soncino trug nicht nur den Namen von Camillos Vorfahren, sondern mit dem Palazzo Stampa befand sich dort auch ein weiteres repräsentatives Anwesen der Familie. Die fünfzehn Kilometer, die die Wohnsitze voneinander trennten, mussten zunächst mühsam zu Pferd oder in der Kutsche zurückgelegt werden, doch schon bald nach der Heirat schafften sich die jungen Casatis ein Automobil mit Chauffeur an und gehörten damit zu den ersten Autobesitzern Italiens. Luisa hatte großen Spaß an der Geschwindigkeit ihres neuen Spielzeugs und lernte selbst fahren.
Im Sommer machte man Ferien in der alpinen Kühle von St. Moritz, im Herbst fuhr man nach Rom (wohin Francesca bald mit ihrem frisch angetrauten Ehemann Conte Giulio Padulli ziehen würde), und in der Lombardei, in der ländlichen Umgebung ihrer Villa, wurden Fuchsjagden organisiert. Treibjagden waren Camillos Passion, die heftigste seines Lebens, und zumindest hierin konnte Luisa ihm folgen. Durch die tollkühnen Ritte ihrer Teenagerzeit hatte sie sich Mut und Geschicklichkeit erworben und führte, selbst im Damensattel oder von voluminösen Reitröcken behindert, zusammen mit Camillo das Feld der Reiter an und teilte mit ihm die Adrenalinschübe, das Hufgetrappel und den peitschenden Wind.
Andere eheliche Pflichten hingegen stellten sie vor brutalere Herausforderungen. Sogar später, als Luisa sich ihre Liebhaber selbst aussuchen konnte, blieb sie dem Sex gegenüber zwiespältig – sie empfand seine rohe Intimität als Zumutung und konnte nur selten zum Orgasmus kommen –, und es ist anzunehmen, dass sie mit ihrem jungen Ehemann, der besser mit Pferden umgehen konnte als mit Frauen, nicht viel Spaß gehabt hat. Auch außerhalb des ehelichen Schlafzimmers mutete Camillo ihr so manches Martyrium zu; sie musste ihn zu Partys und Dinners begleiten oder selbst Abendgesellschaften geben. Bei solchen Anlässen konnte Luisa sich nicht einfach in eine Ecke verziehen, wie sie es früher zu Hause tat, sondern musste beifällig nicken und sich am allgemeinen Klatsch beteiligen. Vermutlich hat sie sich in der Welt der jungen verheirateten Paare oft eingesperrt und hoffnungslos unzulänglich gefühlt; es muss aber auch Abende gegeben haben, an denen jemand sie durch ein gutes Gespräch rettete und sie sich mit Freunden Camillos auf Augenhöhe unterhalten konnte.
Die junge italienische Aristokratie jener Zeit war verrückt nach allem Magischen und Mystischen, und man engagierte bei solchen Anlässen Wahrsager, die nach dem Essen aus der Hand lasen, veranstaltete Séancen in verdunkelten Wohnzimmern und brillierte mit Kenntnissen über Hexerei, Satanismus und Telepathie. Die Kühnsten brüsteten sich damit, den Calendrier Magique zu besitzen, einen Kalender des Okkultisten Austin de Croze, in dem statt der christlichen Feste profane Rituale zur Verehrung heidnischer Gottheiten verzeichnet waren.
Luisa liebte solche Dinge und stürzte sich nicht nur mit Eifer in die Diskussion, sie beteiligte sich auch an gruseligen Amateuraufführungen, mit denen Camillo und seine Freunde sich die langen Winterabende vertrieben. Eine dieser Aufführungen war von Luisas einstigem Idol inspiriert, der Principessa Cristina Trivulzio di Belgiojoso, die zu Lebzeiten nicht nur wegen ihrer angeblichen Promiskuität berühmt war, sondern auch wegen der bizarren Art, in der sie ihre toten Liebhaber betrauerte.
Die Trivulzio war an sich eine eindrucksvolle Frau. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts Feministin und Freidenkerin, betätigte sie sich als Schriftstellerin und politische Aktivistin. Doch Camillo und seine Freunde interessierten sich nur für die Gerüchte, die sich um ihr angeblich nekrophiles Sexualleben rankten. Sie soll das Herz eines Liebhabers in Öl eingelegt und die Leiche eines anderen im Schrank versteckt haben.
8 Luisas Idol in der Jugend: die Principessa Cristina Trivulzio di Belgiojoso (um 1843).
Bei der Aufführung dieser makabren Episoden übernahm Camillos jüngerer Bruder Alessandro die Rolle der versteckten Leiche, während Luisa die Trivulzio spielte. Sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit der Principessa und konnte in die Rolle zudem ihr leidenschaftliches Interesse an deren Leben einbringen. Sie identifizierte sich so vollständig mit ihr, dass das Publikum beeindruckt und beunruhigt zugleich war. Womöglich lag im Erfolg dieser Salonaufführung Luisas lebenslanges Interesse für die Schauspielerei begründet. Camillo dürfte allerdings bald bereut haben, dass er Luisa zu dieser Rolle ermutigt hatte, denn fortan hing sie der morbiden Überzeugung an, sie und die Principessa seien seelenverwandt.
Es gab durchaus Parallelen im Leben der beiden, und für Luisa waren sie kein Zufall. Wie sie selbst war auch die Trivulzio ein in sich gekehrtes Kind gewesen, das in Tränen ausbrach, wenn sie sich in der Öffentlichkeit mit anderen unterhalten sollte; wie Luisa hatte sie ein Vermögen geerbt, kam aber in der eleganten Gesellschaft, in die sie hineinwachsen sollte, nicht zurecht. Solche Gemeinsamkeiten deutete Luisa als Zeichen einer tiefen Seelenverwandtschaft und war fortan besessen von der Idee, während einer Séance Kontakt zum Geist der Trivulzio aufzunehmen. Als sie wenige Monate nach der Hochzeit merkte, dass sie schwanger war, bestand sie darauf, das Baby solle, wenn es denn ein Mädchen wäre, auf den Namen Cristina getauft werden.
Es wurde ein Mädchen, geboren am 15. Juli 1901, und obwohl sie bei der Namensgebung ihren Willen durchsetzte, fiel es Luisa schwer, eine enge Beziehung zu der kleinen Cristina aufzubauen. Man hatte zur damaligen Zeit, zumal in der Oberschicht, allerdings ein pragmatischeres Verständnis von Mutterliebe; es war nichts Ungewöhnliches, sein Baby gleich nach der Geburt in die Obhut von Ammen und Kindermädchen zu geben. Ein Foto von Mutter und Tochter, das 1902 aufgenommen wurde, zeigt jedoch, dass es Luisa, selbst nach den Standards ihrer Zeit, an mütterlicher Wärme mangelte. Unverwandt starrt sie in die Kamera; die neben ihr in einem Kinderstuhl sitzende Cristina scheint sie gar nicht wahrzunehmen, sie widmet sich vielmehr dem Hund zu ihren Füßen, dem sie die Hand hinstreckt, um ihn zu streicheln.
9 Luisa in den ersten Jahren ihrer Ehe.
Mit einundzwanzig war Luisa offensichtlich noch zu unreif und unsicher, um Verantwortung für ein so winziges, unfertiges Leben zu übernehmen. Doch auch mit den Jahren scheint sie nicht in die Mutterrolle hineingewachsen zu sein. Intimität war für sie immer dann ein Problem, wenn sie sich dazu gezwungen sah. Die glücklichsten Beziehungen ihres Erwachsenenlebens waren jene, in denen sie ohne Verpflichtung kommen und gehen konnte. Manche, die sie gut kannten, waren überzeugt, dass sie sich den Tieren ihrer wachsenden Menagerie enger verbunden fühlte als den sie umgebenden Menschen. Also verbrachte Cristina ihre Kindheit in der Obhut ihrer deutschen Gouvernante, ihrer Tante Francesca und bei den Nonnen des Internats. Sie hat der Mutter ihre Gleichgültigkeit später bitter verübelt, zumal sie keine Geschwister hatte, die sie über ihre Einsamkeit hätten hinwegtrösten können.
Wir wissen nicht, ob Luisa eine weitere Schwangerschaft absichtlich verhindert hat. Camillo brauchte einen männlichen Erben (später sollte er juristisch dafür streiten, den Titel seinem Sohn aus zweiter Ehe übertagen zu können), und Luisa dürfte als junge Gattin weder den Mut noch die Möglichkeit gehabt haben, ihm das aktiv zu verweigern.[4] Vielleicht hatte sie einfach Probleme, ein zweites Kind zu empfangen oder auszutragen. Wie auch immer, Luisa zeigte jedenfalls kein Bedauern darüber, die Fortführung des Casati'schen Stammbaums kümmerte sie wenig. Diese Gleichgültigkeit scheint die ohnehin schwierige Beziehung zwischen ihr und Camillo weiter belastet zu haben.
Nach außen hin blieb die Ehe intakt. Das junge Paar erschien weiterhin gemeinsam bei Partys und Jagden, Autorennen und Flugschauen: er der gutaussehende und scheinbar respektable Ehemann, sie die fügsame Ehefrau – ein wenig absonderlich und überspannt vielleicht, aber eine gute Reiterin und elegante Erscheinung. Doch im Privatleben hatte Camillo offenbar immer weniger Nachsicht mit den Eigenheiten seiner Frau und verbrachte seine Zeit zunehmend damit, in ganz Italien, ja sogar in England Hirsche und Füchse zu jagen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Luisa Herrin eines eigenen Hauswesens; und wenn sie sich von Camillo verlassen fühlte, dann kompensierte sie das, indem sie sich der Verschönerung ihres Heims widmete. Die Villa Casati, wo sie die Hälfte des Jahres verbrachte, war ein Gebäude von beachtlicher Größe und Geschichte. Die Parkanlagen waren nach dem Vorbild von Versailles gestaltet, die Innenräume überladen mit biblischen und mythologischen Wandmalereien. Luisa traute sich zunächst nur, kleinere Veränderungen vorzunehmen, lernte aber mit der Zeit, wie sich die bedrückende Atmosphäre der Villa durch dekorative Stoffe, ein ungewöhnlich platziertes Kissen oder exotische Blumenarrangements aufhellen ließ. Vervollständigt wurden solche Kompositionen durch romantische Accessoires, die sie der eigenen Garderobe hinzufügte: eine besonders lange Perlenkette um den Hals, eine Rüsche aus alter Venezianischer Spitze am Kleid oder einen mit Edelsteinen besetzten antiken Gürtel um die Taille.
Leider gab es in Luisas Leben nur wenige Menschen, die solche Neuerungen bemerkten und bewunderten, und ihre Tage waren oft einsam. Die Ehe mit Camillo war zwar schwierig, hatte aber ihren Panzer der Zurückgezogenheit gesprengt und sie ruheloser und weniger selbstgenügsam werden lassen. Während ihrer Aufenthalte in der Villa Casati gab es Momente, in denen sie in Ermangelung anderer Zerstreuung die Rennpferde anspannen und sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Landstraßen kutschieren ließ. Luisa lernte die Langeweile kennen, und streckenweise fühlte sich ihre Ehe an wie eine lange Haftstrafe.
Trotzdem war es damals undenkbar, Camillo zu verlassen. Scheidungen waren in Italien gesetzeswidrig, und als getrennt lebende Frau konnte sie nur dann die Kontrolle über ihren Besitz erlangen, wenn ihr Gatte sie nachweislich betrogen hatte. Andere, mutigere Frauen hätten sich über die Konventionen hinweggesetzt, doch Luisa war zu unerfahren und zu sehr vom Leben überfordert, um sich Selbstständigkeit überhaupt vorstellen zu können. Womöglich hätte sie den Rest ihrer Tage als verhärmte, exzentrische Frau des Marchese Casati in einem Zustand obskurer Abhängigkeit verbracht. Doch im dritten Jahr ihrer Ehe begegnete sie auf einem Ausritt mit Camillo und den Hunden dem Schriftsteller Gabriele D'Annunzio, und die elektrisierende Macht seiner Persönlichkeit, die schmeichelnde Intensität seiner Aufmerksamkeit brachten sie dazu, ihre Situation aus einer aufregend neuen Perspektive zu überdenken.
10 Gabriele D'Annunzio
In seinen Erinnerungen hat D'Annunzio ihre erste Begegnung zwar fälschlicherweise in das Jahr 1906 verlegt, aber auch wenn ihm das genaue Datum entfallen ist, so erinnert er sich genau daran, wie sehr Luisa ihn beeindruckt hat: eine »schlanke junge Amazone«, die ihr Reittier auf bewundernswerte Weise im Griff hatte und durch die »goldene Bronze« der lombardischen Heide galoppierte.5 D'Annunzio bewunderte ihre Fertigkeiten umso mehr, als er, selbst erst kürzlich zum begeisterten Jäger konvertiert, dem Kitzel der Gefahr so sehr verfiel, dass er sein Pferd mit Zuckerstücken fütterte, bis es kaum noch zu kontrollieren war.
Nach einem ersten Blick auf Luisa – ihr Gesicht unter dem Schleier ihres hohen Reithuts nur halb sichtbar und bei der Durchquerung eines Flusses von Gischtflocken umweht – setzte er alles daran, ihren Namen herauszufinden. Luisa ihrerseits benötigte keine Vorstellung, denn 1903 war D'Annunzio ein in ganz Italien gefeierter Schriftsteller und Patriot, wenngleich bekannt für seinen abseitigen Geschmack.
Seinen notorischen Ruf hatte er sich 1883 mit der Veröffentlichung von Intermezzo di Rime erworben, einer Sammlung erotischer Gedichte, die mit Bildern von schockierender Verderbtheit aufwarteten: »Oh, sinnlich feuchter und brennender Mund … Oh, Kopf mit vollem Haar, das beim süßen Akt meine Knie umhüllt …«6 Nach Erscheinen von D'Annunzios Debütroman Il Piacere [dt. Lust] 1889 erlangte sein Held, der Ästhet Spirello, bald Kultstatus, und während die männliche Leserschaft seine manierierte Sprechweise und Kleidung nachahmte, träumten die Leserinnen davon, wie Spirellos Geliebte zwischen Kissen, Rosenblättern und Lilien verführt zu werden.
Seine Literatur wurde ebenso zum Gegenstand kollektiver Fantasien wie die Gerüchte, die über das Leben des Autors kursierten. Es hieß, D'Annunzio trinke Champagner aus Menschenschädeln, praktiziere die schwarze Kunst und sei der Ansicht, dass große Kunst jedes Verbrechen rechtfertige. Als er sich 1897 als »Deputierter der Schönheit« zur Wahl ins italienische Parlament stellte, gewann er tatsächlich einen Sitz. D'Annunzio war ein Meister der Selbstvermarktung, und die meisten Menschen waren enttäuscht, wenn sie ihm zum ersten Mal persönlich gegenüberstanden. Trotz der aufwendigen Garderobe – Smaragdringe und Krawattennadeln, taubengraue Anzüge – fehlte D'Annunzio die aristokratische sprezzatura, mit der er seine literarischen Helden ausstattete. Er war klein, hatte schmale Schultern und eine Hühnerbrust, seine Zähne waren gelb, die Haare schütter, und seine Haut zeigte eine seltsame Blässe. Doch was ihm an Schönheit mangelte, konnte er durch Charme wettmachen: Er hatte eine unwiderstehliche, hypnotisierende Stimme und war ein Meister zweideutiger Vertraulichkeiten. Ein junges Mädchen bemerkte einmal unschuldig: »Wenn Signor D'Annunzio mit einem spricht, hat man immer das Gefühl, er vertraut einem ein Geheimnis an.«7
Frauen gegenüber setzte er diesen Charme mit der Raffinesse des notorischen Draufgängers ein. Obwohl er 1903 bei seiner Begegnung mit Luisa noch mit seiner ersten Frau verheiratet war, hatte er bereits mehr Frauen verführt, als er zählen konnte – Geliebte, Prostituierte, Unbekannte, die er in einem Café oder auf der Straße aufgabelte. Er selbst hielt seine zwanghafte Promiskuität, die später zur Krankheit wurde, für einen Ausdruck kultivierter Kennerschaft. D'Annunzio, der sich damit brüstete, ein Auge für die Vielfalt weiblicher Schönheit, für weibliches Temperament und weiblichen Stil zu haben, fand die elegante, aber unergründliche Marchesa Casati äußerst reizvoll.
Luisas kantige Schönheit war damals keineswegs en vogue, doch D'Annunzio hatte eine erotische Schwäche für große, schlanke Frauen mit Brüsten »klein und fest, wie aus zartem Alabaster geschnitten«,8 ganz wie die Heldin in seinem Roman Il trifono della morte. [dt. Der Triumph des Todes]. Er fand bald heraus, dass die Marchesa außerordentlich reich war – eine Eigenschaft, die er genauso sexy fand wie Schönheit – und dazu unglücklich, eine unwiderstehliche Mischung. In den Monaten nach ihrer ersten Begegnung richtete er es so ein, dass ihre Wege sich immer wieder kreuzten, im Theater, beim Pferderennen, bei einem Abendessen oder auf einem Ball.
Luisa selbst hatte ihre arglose Freude an der neuen Bekanntschaft. D'Annunzio lockte sie aus der üblichen Reserve und plauderte versiert über ihre Lieblingsthemen: Kunst, Literatur, Reisen, die Welt des Okkulten, ja sogar über Mode wusste er zu parlieren. Ganz im Gegensatz zu den anderen Männern ihres Bekanntenkreises hatte er, was Kleidung betraf, ein sicheres, leidenschaftliches Urteil. Seien es Farbe, Schnitt oder Stoff einer Garderobe, der Glanz eines Edelsteins oder der Faltenwurf eines Rocks, er konnte sich über solche Dinge auslassen wie über ein Kunstwerk, sie waren für ihn ein Fest der Sinne. In seinen Romanen nahm die Beschreibung der Garderobe einer Figur breiten Raum ein, und auch im richtigen Leben zeigte er großes Interesse für die Kleider seiner jeweiligen Geliebten. Besonders bewunderte er die erlesenen, üppigen Kreationen aus dem Hause Fortuny in Venedig mit seinen Stoffen »eingefärbt von sonderbaren Träumen«9 – und sobald er Luisa gut genug kannte, um ihr diesbezüglich Ratschläge zu geben, füllte sie ihre Schränke mit Mänteln und Kleidern von Fortuny.
Dennoch ließ D'Annunzio nicht erkennen, dass er mehr wollte als Luisas Freundschaft. Ihm muss klar gewesen sein, dass es eines langen, geduldigen Werbens bedurfte, um sie aus ihrer Reserve zu locken, außerdem mag er den verärgerten, mächtigen Ehemann gefürchtet haben. Seine Briefe waren voll von überdrehten, geradezu minniglichen Verehrungsformeln – »Dein Haar war heute so wunderbar leonardesk, dass ich mich Dir nicht zu nahen wagte« –, doch er respektierte dabei stets ihren Status als Ehefrau und Mutter, ließ »freundliche Grüße« an Camillo und Komplimente an Cristina ausrichten: »Heute Morgen sah ich Deine bezaubernde Tochter auf einem grauen Pony vorbeireiten. Sie grüßte mich mit vollendeter Grazie.«10
Später sollte D'Annunzio behaupten, seine langsame Verführung sei absichtlich so angelegt gewesen: »Meine Annäherung folgte einem genauen Plan.« Er genoss das Gefühl verzögerten Begehrens und zog höchste Befriedigung daraus, wenn Luisa auf einer Party neben ihm stand und er im Gefühl ihrer enttäuschten Erregung schwelgen konnte: »Sie trug ein graues Kleid, das Grau schwarzer Perlen … und ich war aufgewühlt bis in die Wurzeln meines Seins.«[5] 11
Für D'Annunzio war es nicht schwer, Geduld zu üben, denn er war anderweitig beschäftigt. Er war gerade dabei, sich aus einer langen Beziehung zu der Schauspielerin Eleonora Duse zu lösen und sich in eine neue, verlockende und stürmische Affäre mit der entzückenden, reichen und praktischerweise verwitweten Marchesa Alessandra di Rudini zu stürzen.
Über diese Liaison wurde in der Presse ausgiebig berichtet, und die Amateurhistorikerin Tina Whitaker berichtet, wie D'Annunzio und die Rudini binnen Kurzem zum skandalträchtigsten Paar Italiens wurden, indem sie ihre Streitereien und Versöhnungen in aller Öffentlichkeit austrugen und das Erbe der Marchesa in atemberaubender Geschwindigkeit für »Pferde, Hunde, Teppiche und jede Vorstellung übersteigende Extravaganzen« verprassten. Zwei oder drei Jahre früher hätte Luisa weder den Mut noch die Weltgewandtheit aufgebracht, sich mit solchen Leuten einzulassen. Doch nachdem sie D'Annunzio begegnet war und erkannt hatte, wie groß die Kluft zwischen ihr und Camillo war, wurde sie kühner, und im März 1905 vermerkte Tina Whitaker in ihrem Tagebuch, dass D'Annunzio die Rudini ins Theater begleitet habe und die Marchesa Casati mit ihnen gesehen worden sei.
Luisa, die immer mehr in D'Annunzios Welt hineingezogen wurde, konnte beobachten, mit welch fulminanter Sorglosigkeit Alessandra Rudini ihre Witwentracht ablegte. Das mag sie dazu ermutigt haben, sich später weiter vorzuwagen und ein unabhängigeres Leben zu führen. Trotzdem scheint es voreilig, wenn Tina Whitaker schon neun Monate später ihrem Tagebuch anvertraute, dass »es nun heißt, die Marchesa sei die Geliebte von D'Annunzio«. Allerdings war Luisa dem Dichter nahe genug gekommen, um Klatsch zu erregen und bei Camillo Einwände zu provozieren. Doch was sie sich an diesem Punkt ersehnte, waren lediglich Vergnügungen geistiger Art: Sie begehrte D'Annunzio nicht als Liebhaber, sondern als Mentor und Magus.
Die Gespräche mit ihm waren für Luisa von leidenschaftlicher Bedeutung; Themen, die Camillo als weibische Trivialitäten abtat, adelte D'Annunzio durch seinen hochfliegenden Konversationsstil. Schönheit in jeglicher Form war sein erklärter Lebenszweck, und er glaubte, beeinflusst von dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche, an die Kraft des Ästhetischen.
Für Nietzsche ist wahre Größe nur erreichbar, wenn der Mensch sich selbst kompromisslos verwirklicht oder, wie er es ausdrückte, sein Leben zum Kunstwerk stilisiert. Für ihn war das eine vornehmlich moralische Prämisse, doch der Ästhetizismus, vertreten durch Schriftsteller wie Oscar Wilde und Walter Pater und Maler wie James Whistler, hatte sie für sich vereinnahmt, und D'Annunzio selbst benutzte sie als universale Rechtfertigung für jede Art von Leidenschaft und Exzess. Indem er erklärte, dass »man sein eigenes Leben gestalten muss, wie man ein Kunstwerk gestaltet«, konnte er sich jeden Ehebruch, jeden extravaganten Einkauf oder jeden Akt der karrierefördernden Selbstinszenierung als moralisches Verdienst schönreden.12
Für Luisa muss D'Annunzios Weltsicht eine Offenbarung gewesen sein; plötzlich bekam ihr Streben nach Poesie und Lebendigkeit einen Sinn. Sie wurde zur Grundlage einer neuen Obsession und ermutigte sie, die eigenen Stilexperimente als Ausgangspunkt für ein ernsthaftes kreatives Projekt zu begreifen. Luisa nahm Nietzsche beim Wort und begriff ihr neues Leben in allen seinen Facetten – seien es Kleider oder Häuser, ihre Umgebung, ja selbst ihre Bediensteten – als ein schönes, bewusst gestaltetes Kunstwerk.
11 Luisa als Kaiserin Theodora von Byzanz (1905 in Rom).
Unter den italienischen Adligen waren Kostümbälle in Mode gekommen, für Luisa eine Gelegenheit, ihren Einfallsreichtum in einem geschützten Raum zu erproben. 1904 soll sie in St. Moritz als Madame Pompadour eine »befremdliche Schönheit« ausgestrahlt haben; im folgenden Jahr erschien sie bei einem Wohltätigkeitsball in Rom als Kaiserin Theodora von Byzanz. Ihr Kostüm orientierte sich an Fotos von Sarah Bernhardt in Sardous 1884 aufgeführtem Stück Théodora.[6] Luisas Kleid war aus üppig mit Gold und Silber besticktem Brokat geschneidert, der Kopfputz, den sie bei Meisterjuwelier Lalique in Auftrag gegeben hatte, war eine Krone aus vier goldenen Adlern, diamantenbesetzt und mit Perlschnüren behängt.
In dieser aufwendigen und kostspieligen Aufmachung war Luisa der Blickfang des Abends und erregte auch die Aufmerksamkeit der amerikanischen Schriftstellerin Tryphosa Bates-Batcheller, die sich als Chronistin der italienischen High Society betätigte. Bates-Batcheller erkannte in der jungen Marchesa den potentiellen Star, heftete sich an ihre Fersen und dokumentierte fürderhin ihre gesellschaftlichen Auftritte. Bald konnte sie ihren Lesern zu Hause berichten, dass ihre Freundin, die Marchesa Casati, als »bestgekleidete Frau Europas« galt, und andere Schriftsteller taten es ihr nach.13 Als Luisa 1907, umhüllt von einer Kaskade aus Pfauenfedern, bei einem Wohltätigkeitsball erschien, wurde sie sogar in der schottischen Presse für ihre Originalität gelobt.
Mittlerweile weitete Luisa ihre Experimente vom Ballsaal ins tägliche Leben aus. Sie verbannte sämtliche Pastelltöne aus ihrer Garderobe und beschränkte sich auf monochromes Schwarz oder Weiß. Auch die Kosmetik hatte sie für sich entdeckt, sie färbte ihr Haar mit Henna, umrandete die Augen mit Kajal und benutzte weißen Puder, der laut D'Annunzio ihr Gesicht bestäubte »wie Pollen«.14 Während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts wurde es noch als schockierend empfunden, wenn Frauen – Schauspielerinnen ausgenommen – Make-up trugen, doch Luisa ging dabei mit solcher Sicherheit und Raffinesse vor, dass sie über jede Vulgarität erhaben war. Mit dieser neu geschaffenen Maske strahlte sie eine selbstbewusste Schönheit aus.
Während der ersten Blüte ihrer Selbstinszenierung entdeckte Luisa Venedig für sich und erkannte in dieser Stadt die Kulisse für ihr künftiges Leben. Als man sie später fragte, wie sie zu ihrer eigenen Schönheit stehe, erklärte sie, dass sie beim Durchschreiten der Welt das Gefühl habe, »sich der jeweiligen Luft einzuprägen … und eine Serie von Eindrücken zu hinterlassen, die sie an den von ihr besuchten Orten verewigte«.15 Insbesondere Venedig, der Stadt der vielfältigen Spiegelungen in Wasser, Marmor und Glas, sollte Luisa ihr neues Image auf mannigfache Weise vermitteln und einprägen.
Zunächst jedoch war sie als verheiratete Frau weiterhin an Camillo gekettet, und nach ihrer Rückkehr aus Venedig eröffnete ihr der Herr Gemahl seine häuslichen Pläne. Er war kurz zuvor zum Präsidenten des Jockey-Clubs in Rom ernannt worden, und um von dieser Position gesellschaftlich optimal profitieren zu können, schlug er Luisa vor, sie sollten sich dauerhaft dort niederlassen. Es war zwar nicht Venedig, aber Luisa begrüßte den Umzug. Rom war die kulturelle und politische Kapitale des Landes und damit wesentlich spannender als Mailand. Nicht minder wichtig war die Tatsache, dass ihr neues Heim nicht wie die anderen beiden Besitzungen Camillos Familie gehören würde. Es sollte mit ihrem Geld erworben werden, was ihr ein gewisses Mitspracherecht gab, vor allem bei der Inneneinrichtung.
Das dreistöckige Stadthaus samt Stallungen und Garagen lag in der vornehmen Via Piemonte, und auch wenn Camillo den Hofarchitekten Marchese di Intignano mit der Planung beauftragte, blieb der Rest eine leere Leinwand für Luisas Visionen. Wie bei der Gestaltung ihrer Garderobe versuchte sie, kühnes zeitgenössisches Design mit fantastischen Einfällen zu kombinieren, und sobald das Projekt Via Piemonte 51 abgeschlossen war, wirkte es auf die ersten neugierigen Besucher weniger wie ein Heim, sondern eher wie eine Studie in vollendeter Raffinesse.
Die hinter großen Toren versteckte Villa hatte einen kleinen Vorgarten mit einem Brunnen, der von klassischen Säulen flankiert und von duftendem Buschwerk und niederen Bäumen umrahmt war. Hierzu mag Luisa von Erinnerungen an das Haus ihrer Kindheit angeregt worden sein. Doch die Innendekoration wies bereits mit den beiden goldenen Gazellen am Eingang auf einen deutlich extravaganteren Geschmack hin. Alle drei Ebenen waren in strengem Schwarz-Weiß gehalten, beginnend mit einem Fischgrätmuster aus schwarzen und weißen Marmorkacheln in der ovalen Eingangshalle, sich fortsetzend im Kontrast der Ebenholzböden mit den weiß getünchten Wänden, der ausschließlich weißen Möblierung und den Bas-Reliefs aus weißem Alabaster.
Luisa war ihrer Zeit voraus, denn das Schwarz-Weiß-Dekor sollte in Europa erst nach dem Ersten Weltkrieg in Mode kommen. 1908 richtete man in Rom seine Wohnzimmer noch mit schwülstiger Farbigkeit und opulenten Draperien ein. Luisa akzentuierte die Kargheit ihres Designs mit rokokohaften Einsprengseln: Ein Fresko mit tropischen Vögeln schmückte eine Decke, an den Wänden hingen venezianische Spiegel, in denen der Widerschein vergoldeter Geländer schimmerte, und in einem Salon ließ Luisa die Beleuchtung sogar in den Boden versenken – eine für die damalige Zeit revolutionäre Idee, die ihr offenbar selbst gekommen war. Wenn Besucher die geschwungene Marmortreppe der Villa hinaufstiegen, wurden sie durch einen Chor von Aufzieh-Finken in goldenen Käfigen begleitet. Selbst die Haustiere dienten dekorativen Zwecken; die Katzen waren elegante Siam-Perser-Mischlinge, und bei den Hunden, einem Greyhound-Pärchen (D'Annunzios Lieblingsrasse), setzte sich der Schwarz-Weiß-Kontrast fort.
Luisa schuf ein Interieur von so erlesener Perfektion, dass ihre Nichte Camilla (Francescas Tochter) sich beim Besuch in der Via Piemonte 51 an einen Kirchgang erinnert fühlte – »man sah sich genötigt zu flüstern oder auf Zehenspitzen zu gehen«.16 Luisas konservative Nachbarn hingegen betrachteten das Haus als Ausdruck lächerlicher Überspanntheit und brachten missgünstigen Klatsch in Umlauf, sobald Luisa eigene Gäste empfing. Luisa war in Rom oft allein, denn inzwischen nahm die Jagd Camillos Zeit fast gänzlich in Anspruch. Erst kürzlich war er zu Roms »Master of Foxhounds« ernannt worden und hatte den Ehrgeiz, auch noch »Master of the Staghounds« zu werden.17 Doch mittlerweile war Luisa selbstbewusst genug, sich nicht vernachlässigt zu fühlen, sondern profitierte von der Abwesenheit ihres Mannes. Sie verkehrte jetzt in einem breit gefächerten gesellschaftlichen Zirkel, zu dem Schriftsteller, Maler und Intellektuelle zählten, die sie durch D'Annunzio kennengelernt hatte. Und in einem Haus, das sie als ihr Eigentum betrachtete, konnte sie diese neuen Bekannten empfangen, ohne Rücksicht auf Camillos Interessen nehmen zu müssen.