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Stem Paulson ist ein ehrgeiziger Mann, der es zu etwas bringen möchte. Bald findet er sich in einem Hamsterrad, strampelt dem ganz normalen Wahnsinn entgegen. Als er meint, es geschafft zu haben - ein Stich. Mehrere Wirbel werden mit Titan Cages stabilisiert, so dass einem Re-Start nichts im Wege stehen sollte. Leider ist die Rehabilitation ein längerer Prozess und geht nicht von heute auf morgen. Die OP-Wunde ist zwar schnell verheilt, doch heißt das nicht, dass er sich wieder wie einst bewegen kann. Er muss jeden Schritt von Anfang an neu lernen, muss Geduld haben, mit der Muskulatur, dem Körper, dem Genesungsprozess. Und vor allem mit seinem Kopf, der sich in den Monaten vor der Operation ein umfangreiches Schmerzgedächtnis zugelegt hat. Seine Motorik ist eingeschränkt, etwas in seinem Kopf blockiert: "Das ist die Hölle. Ich will, aber ich kann nicht. Deine Beine könnten, aber der Kopf sagt nein." Er stiert immer häufiger vor sich hin, hört sich klagen: "Ich halte das auf Dauer nicht aus. Wie kann man nur dieses verfluchte Gedächtnis löschen? Das ist doch nicht mehr normal, das ist verrückt. Oder ist bei dir alles verRückt?"
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2017
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1. Starker Auftritt
2. Coole Frau
3. Alphatiere
4. Anpfiff
5. Vision
6. Kapstadt
7. Vergangenheit lässt grüßen
8. Knast statt Safari
9. Verhör
10. Albträume
11. Angezählt
12. Zweifel über Zweifel
13. Observation
burn in
14. Es brennt
15. Rendezvous
16. Überraschung
17. Dunkle Gedanken
18. Verdacht
19. Leben am Limit
20. Machtspiele
21. Kollaps
22. Nahende Entscheidung
23. Schmerzgedächtnis
24. Haschee auf der Promenade
burn out
25. Rettungsschirm
26. London im Nebel
27. Unfall
28. Entgiftung
29. Entzug
30. Hilfeschrei der Seele
31. Zurück im alten Leben
32. Beichte
33. Dunkle Gedanken
34. Guter Freund
35. Nahendes Ende
36. verRückt
burn on
37. Costa Bella
38. Chez Nous
39. Hillary Step
40. Herausforderung
41. Achillesferse Träumen
42. Pegasus
43. Götter in weiß
44. Mit Dreißig geht es bergab
45. L.+E.+B.
46. Abgründe
burn for
47. Durchbruch
48. Halbe Sachen
49. Virusinfektion
50. Unter Vierundachtzig
51. Mit Chauffeur
52. Afrika brennt
53. Pasta. Basta.
54. Countdown
55. Träumer
56. Gewinner
Nachwort
Wolf Karlsheim eröffnet eine Sondersitzung des Vorstandes eines in der Papierbranche tätigen mittelständischen Unternehmens. Einziger Tagesordnungspunkt ist die Vergabe eines Beratungsauftrages zur Optimierung des Vertriebs. Die Vertreter dreier namhafter internationaler Beratungsgesellschaften sind eingeladen worden. Der Vierte im Bunde ist Stem Paulson, Inhaber einer im Rhein-Main-Gebiet ansässigen jungen Unternehmensberatung. Die regionale Vertriebsleiterin, Frau Dr. Birgit Berger, hat ihn auf Empfehlung eines Rotaryfreundes ins Gespräch gebracht. „Warum nicht mal ein neues Gesicht?“, meinte dazu ihr Boss Wolf Karlsheim, „kann nicht schaden. Anschauen können wir uns den ja mal.“
Am Vormittag haben die drei Wettbewerber von Paulson ihren Auftritt. Punkt vierzehn Uhr öffnet sich die Türe für ihn. Karlsheim erläutert ihm kurz die Ausgangssituation und fragt dann direkt nach Referenzen für derartige Projekte. Es ist die Stunde der Wahrheit, da Paulson bisher weder in dieser Branche noch im Vertrieb beratend tätig war.
Er bedankt sich für die freundliche Einladung und nimmt sogleich Bezug auf die Einführung von Karlsheim: „Echte Innovationen entstehen nur in Köpfen von Menschen, die den Mut haben, neue Wege zu gehen. Doch was sind neue Wege? Neue Wege in ihrer Branche? Können diese irgendwo abgekupfert werden? Bei Mitbewerbern? Ich bin mir sicher, nein. Oder kennen sie eine Kopie, die innovativer als das Original ist? Ich offeriere ihnen daher nicht irgendwelche Referenzprojekte aus der Vergangenheit, sondern biete einen Entwicklungsprozess an. Ich bin der richtige Partner für sie, wenn sie bereit sind, wirklich neue Wege zu wagen.“
Karlsheim streicht sich über die rechte Augenbraue, nimmt Blickkontakt zu seinen Kollegen auf. Er scheint beeindruckt zu sein von der in dieser Form unerwarteten Präsentation. „Sie gehen unser Thema ja forsch an. Aber, um ehrlich zu sein, für verrückte Ideen haben wir keine Zeit“, meint er und schaut Paulson teils schmunzelnd, teils herausfordernd an. Dieser nimmt den Ball gerne auf, „das kann ich sehr gut verstehen Herr Karlstein“, skizziert rasch am Flipchart essentielle Arbeitspakete, eine straffe Projektorganisation, sowie einen sehr ambitionierten Zeitplan. Abschließend kann er sich eine kleine Frage nicht verkneifen: „Und was sind hier im Hause die heiligen Kühe, die nicht geschlachtet werden dürfen?“
Es ist sehr ruhig im Raum geworden. Die Spannung zeigt. Was tun? Warten? Auf wen? Also packt er noch einen drauf: „Wenn ihr Schweigen die Antwort auf meine Frage ist, dann könnte es schwierig werden. Neue Wege in alten Prozessen? Wie soll das gehen? Herr Karlsheim, meine Dame und Herren, ich danke für ihre Geduld und freue mich auf eine herausfordernde Zusammenarbeit.“ Karlsheim erhebt sich bedächtig, geht auf Paulson zu, reicht ihm die Hand und flüstert: „Warten Sie in meinem Vorzimmer. Es wird nicht lange dauern. Also, bis gleich.“
„Das ist der absolute Wahnsinn“, jubiliert Paulson eine Stunde später im Taxi sitzend. „Du kommst hierher mit leeren Taschen und bringst ein solches Projekt mit nach Hause. Jetzt wird es aber Zeit, dich schlau zu machen, was in dieser Branche derzeit abgeht.“
In diesem Moment kann er nicht ahnen, was und wie sich alles entwickeln wird. Er ist einfach nur happy und auch ein wenig stolz. Stem Paulson schließt für einen kurzen Moment die Augen. Urplötzlich erscheint ein Trailer mit ihm vertrauten Bildern: Einschulung – erster Kuss – Abitur – Universität – erster Job – Heirat – ... – STOP. Er zuckt zusammen: „Warum STOP?“ Nach kurzem Nachdenken findet er eine für ihn sinnvolle Erklärung: Bis dahin war alles ziemlich normal verlaufen. So wie man normal eben begreift. Doch dann folgte sein Schritt in die berufliche Selbstständigkeit. Und plötzlich schien überhaupt nichts mehr normal zu sein: „Wie kannst du nur? Spinnst du? Bist du übergeschnappt? Wie kann man so einen sicheren Job nur aufgeben?“, waren noch die harmloseren Kommentare zu seiner Entscheidung.
Er öffnet wieder seine Augen und lächelt vor sich hin. Stem Paulson will sein eigener Herr sein, als Unternehmer in einem grenzenlos wachsenden Europa mitmischen, den Kanzler der deutschen Einheit bei der Umsetzung blühender Landschaften im Osten unterstützen. Nicht aus einer politischen Motivation heraus, sondern um seine Vorstellungen von nachhaltigem Unternehmertum durchzusetzen: Profit ja, aber nicht um jeden Preis.
Im Flieger genehmigt er sich einen kräftigen Rioja, wohl wissend, dass Rotwein und Schmerztabletten keine empfehlenswerte Kombination sind. „Was soll’s“, brummelt er vor sich hin und nimmt einen weiteren Schluck.
Nach einer knappen Stunde richtet er sich auf, schält sich aus dem engen Sitz. Mitten im Aufstehen trifft sein Blick einen rothaarigen Mittdreißiger, der ihn einladend anlächelt. „Kennen wir uns?“, will Paulson wissen. Die Antwort kommt prompt: „Sure, my name is Gary.“
In diesem Moment meldet sich die Stimme der Flugbegleiterin: „Bitte stellen Sie das Rauchen ein und klappen Sie Ihre Tische hoch. Schnallen Sie sich wieder an. Wir befinden uns bereits im Sinkflug auf Frankfurt und werden in knapp zehn Minuten landen.“
„Du, Rolf“, Frau Dr. Birgit Berger legt sanft ihre Hand auf den Arm von Rolf Tanner, „was hast du denn für einen Eindruck von dem? Du weißt schon, dieser neue Berater da.“ „Hör mir bloß auf damit. Die klopfen doch alle nur schlaue Sprüche, kassieren dicke Honorare, und wir müssen uns den Arsch aufreißen und das Ganze umsetzen. Am liebsten würde ich die ganze Horde mit meiner Pumpgun wegblasen. Nur Zecken. Ohne Ausnahme“, poltert dieser los. „He, he, du bist ja mal wieder voll in Fahrt. Kennst du den denn persönlich?“ „Den wen? Nie gesehen. Ist das etwa dein neuer?“
Birgit zieht instinktiv ihre Hand zurück. „Also Rolf, jetzt spinnst du aber wirklich. Was soll ich denn mit so einem?“ „Weiß ich nicht. Du wolltest doch was über den erfahren. „Rolf, Rolf“, meint Birgit, „dich kann man einfach nur knutschen“, und drückt ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Dann muss sie laut lachen: „Jetzt siehst du aus wie ein Indianer mit Kriegsbemalung.“ „Was? Wie? Kriegsbemalung?“ will dieser wissen.
Sie hält ihm einen kleinen Taschenspiegel vor das Gesicht. Tatsächlich. Ihr Kuss hat deutliche Spuren hinterlassen. Rolf ist genervt: „Wisch das sofort weg. Wenn das meine Alte sieht, gibt’s wieder Zoff. Die ist eh stinksauer, weil ich demnächst für ein paar Tage nach Südafrika gehe.“ „Du nach Südafrika? Hast wohl keine Glitzersteine mehr? Und ich dachte an ein nettes Wochenende mit dir oder so“, provoziert sie ihn. Rolf grinst seine Kollegin unverhohlen an. So kennt er sie, die vollbusige Schwarzhaarige, direkt, unkompliziert und immer genau wissend, wo es lang geht. „Hast wohl ’nen Hormonstau, junge Frau?“, foppt er sie. „Du Depp“, gibt sie zurück, „musst ja nicht alles gleich wörtlich nehmen“, und greift ihm überfallartig zwischen die Beine. „Ja, was willst du denn? Für ’ne schnelle Nummer brauchen wir doch kein ganzes Wochenende.“ Das geht ihr nun aber doch zu weit. „Rolf“, zischt sie, „jetzt kühl dich mal mit einem Bierchen runter. Oder muss ich dir einen Kübel Eiswasser organisieren? Du schwanzgesteuerter Schwellkopf. In diesem Zustand bist du nur indiskutabel. Kapiert?“ Rolf lehnt sich zurück und macht auf tief getroffen: „Du kennst mich doch. Ich bin eben manchmal etwas emotional.“ Birgit mustert ihn mit leicht abwertendem Blick: „Emotional? Du Testosteronhampel.“
Rolf atmet tief durch während Birgit bereits einen Schritt weiter ist: „Ob der mit Paulson klarkommt? Ein Versuch wäre es wert.“ „Du“, flötet sie, „hast du morgen Vormittag etwas Zeit für mich?“ Nach kurzem Zögern erwidert Rolf: „Morgen, was steht denn morgen an? Okay, aber nur, wenn du mir heute Abend Gesellschaft leistet.“ „Das ist Erpressung“, entgegnet sie spontan, „versprich mir, dass du dich ab sofort benimmst, Rolf Tanner.“ „Ich tue mein Bestes. Give me five“, retourniert dieser und zeigt sein bestes Grinsen.
Am nächsten Morgen schießt Tanner bei Birgit ins Büro. Sie nippt gerade an einer Tasse Kaffee und blickt überrascht zur Tür: „Wohl im D-Zug-Tempo durchs Kinderzimmer gefahren“, blafft sie ihn an. „Tschuldigung, ich kann doch nicht wissen, dass du hohen Besuch hast. Ich geh ja schon wieder.“ „Bleib da“, befiehlt sie, „so war’s doch nicht gemeint. Darf ich vorstellen? Unser Berater, Stem Paulson, selbst ernannter Experte für Vertriebsfragen.“ Paulson steht instinktiv auf und macht einen Schritt in Richtung Tanner. „Nicht nötig“, wehrt dieser ab. Er wendet sich Frau Berger zu: „Was sagst du? Ein Studierter und Vertrieb? Das passt ja überhaupt nicht.“ „Interessant“, Paulson mischt sich ein, „Rolf Tanner, Ingenieur Maschinenbau, Abschluss 1983.“ Lächelnd ergänzt er: „Zwölfender, Abgang als Offizier. Oder?“ Rolf ist baff. Paulson hebt kurz seine linke Augenbraue und packt noch einen drauf: „Aber setzen Sie sich doch. Männer, die anpacken, kann man überall gebrauchen.“
Birgit Berger lauschte aufmerksam dem Gesprächsverlauf und kümmert sich plötzlich eigenhändig um einen dritten Stuhl. „Rolf“, sagt sie, „wir brauchen einen internen Projektmanager, der nicht aus dem Vertrieb kommt, aber doch den Laden hier kennt. Hast du eine Idee?“ „Nimm doch den Personalfuzzi“, schlägt dieser wie aus der Pistole geschossen vor, „dann tut der auch mal was Vernünftiges.“ „Rolf“, entgegnet Birgit in einem Tonfall des Entsetzens, „willst du den Bock zum Gärtner machen? Du weißt doch genau, was passiert, wenn der bei uns auftaucht. Gib zu, dass das nicht dein Ernst war.“ Bevor Tanner antworten kann, springt Paulson für ihn in die Bresche: „Herr Tanner, ich will Sie in meinem Team haben. Und jetzt sagen sie bitte nicht Nein.“
Rolf Tanner fühlt sich einerseits geehrt, andererseits aber auch voll unter Druck gesetzt. „Jetzt habe ich auch noch dieses Projekt am Bein“, ahnt ihm Schlimmes. „Gibt es dafür wenigstens einen Extra-Bonus?“, fragt er in Richtung Kollegin. „Herr Tanner“, bekommt er sogleich von Paulson zu hören, „sie wären der erste gute Ingenieur, den man mit Geld ködern kann. Stecken Sie etwa in einer finanziellen Notlage?“ „Nein, nein“, antwortet dieser spontan. „Dann verstehen wir uns ja“, meint Paulson und reicht ihm die Hand: „Ich habe übrigens nichts anderes von ihnen erwartet. Willkommen im Team.“
Paulson startet unverzüglich nach Auftragserteilung mit seinem Team das neue Projekt. Mit großem Optimismus. Doch es passt nicht, überhaupt nichts. Was immer sie anpacken, sie stoßen auf Unverständnis bei den Vertriebsmenschen. Diese haben nach seinem forschen Auftritt bei der Präsentation etwas anderes erwartet. „Was soll dabei innovativ sein?“, murren sie bald unverhohlen, „typisches Berater-Blabla. Die haben doch null Ahnung von unserem Geschäft.“
Paulson kann bald nicht mehr hören, „dass es nun einmal Grenzen gäbe, dass es mit Key Accounts oder so was sowieso nicht gehe, dass unsere Kunden nie und nimmer an einer Kundenbefragung teilnehmen würden und so weiter.“ Die Liste der Einwände wird von Tag zu Tag länger. Leo, ein jüngerer Kollege von ihm, teilt seine Ansicht, dass es bald eng werden könnte. Zweifel an Paulsons Kompetenz kommen auf und werden von den Bedenkenträgern direkt in die Unternehmensleitung hineingetragen. „Leo“, stellt Paulson klagend fest, „nichts tun und meckern ist eben sehr viel einfacher als konstruktiv mit anzupacken. Es ist merkwürdig. Bei unseren ersten Aufträgen nach dem Fall der Berliner Mauer war es genauso. Aber hier haben wir es nicht mit kadergeschulten Kommunisten zu tun, sondern mit Menschen, die Demokratie im Blut haben müssten. Doch wenn es um Veränderungen geht.“ „Jaja“, bekräftigt ihn Leo, „zumindest hier gibt es keine Unterschiede zwischen Ost und West.“ Paulson blickt ihn ziemlich ratlos an und denkt: „Schön dass wir darüber geredet haben.“
Es kommt, wie es kommen musste. Paulson wird kurzfristig zum Rapport beim Vorstandsvorsitzenden Dr. Herrmann bestellt. Freitag, siebzehn Uhr. „Tolle Zeit“, mault er vor sich hin, „dann ist das Wochenende mal wieder gerettet.“
„Was ist los in unserem Vertrieb? Wo stehen wir mit der Umsetzung?“, lautet die wenig einladende Begrüßung des Firmenbosses. „Guten Tag Herr Dr. Herrmann “, antwortet Paulson mit ruhiger Stimme, „im Vertrieb rumort es gewaltig und ein Umsetzungskonzept gibt es noch nicht, jetzt noch nicht. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Im Moment befinden wir uns in der zweiten von vier Phasen nach dem Konzept von Bruce Tuckman. ‚Storming’. Dann kommt das ‚Norming’. Das ist gut so. Besser jetzt als später. Es läuft genau so, wie es laufen muss. Wir sind auf Kurs. Übrigens, die vierte Phase wird bald erreicht sein: ‚Performing’. Aber dafür müssen wir noch etwas tun.“
„Ihre Zuversicht in Ehren“, meint kurz angebunden Dr. Herrmann, „Sie müssen wissen, wir können im Moment wirklich keine Unruhe im Unternehmen gebrauchen.“ „Das sehe ich genauso“, bekräftigt ihn Paulson, „wann informieren wir die Belegschaft über das gesamte Projekt. Nicht nur die Leute im Vertrieb. Auch die in der Produktion, der Instandhaltung. Alle, ohne Ausnahme. Auch die Pförtner. Oder soll der Vertrieb für immer ein Geheimnis bleiben?“
„Um Gottes willen, nur keine Betriebsversammlung“, fällt ihm sofort Personalchef Dr. Weiss ins Wort. „Dann müssten wir ja auch den Betriebsrat informieren. Und das in einem Stadium, wo keiner weiß, was herauskommt. Ich habe da bisher nichts Positives gehört. Die Gerüchteküche ist mächtig am Brodeln. Unsere Fluktuation ist schon jetzt zu hoch. Wir können uns absolut keine weiteren Abgänge mehr leisten. Wahrscheinlich ist das ganze Ding viel zu früh gestartet worden. Solche Projekte brauchen doch viel mehr Vorbereitung. Falls sie überhaupt erforderlich sind. Es liegt eigentlich nie an den Strukturen, sondern höchstens an einzelnen Personen. Ich möchte ja nichts sagen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es richtig war, eine Frau in das Management mit aufzunehmen. Zudem so eine attraktive. Die bringt doch nur die ganze Männerriege auf falsche Gedanken. Ihr wisst, ich hatte da von Anfang an meine Bedenken. Aber man hat ja nicht auf mich gehört.“
Dr. Herrmann unterbricht seinen Personalchef mit der trockenen Bemerkung: „Herr Kollege, wir schätzen ihre Meinung, aber respektieren sie, dass wir entscheiden, wer ins Führungsteam berufen wird und wer nicht.“
Danach kann Paulson fortfahren: „Danke, Herr Dr. Herrmann. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, beim Thema Information. Also, informieren müssen wir ohnehin. Je früher wir klaren Wein einschenken, desto besser ist das für die Zusammenarbeit und damit für die Ergebnisse. Wie soll denn jeder Einzelne seinen Teil zum Erfolg beitragen, wenn er nicht weiß, wohin die Reise führt? Immerhin geht es hier auch um Arbeitsplätze. Nehmen wir doch den Betriebsrat jetzt mit ins Boot. Denn, das ist eine alte Weisheit, wer kräftig rudert, hat weniger Atem zum Gegensteuern.“
„Herr Paulson“, klinkt sich Dr. Herrmann nun mit einer etwas freundlicher klingenden Stimme ein, „das hört sich ja ganz gut an. Aber, wo stehen wir denn wirklich?“
In diesem Moment erhebt sich Karlsheim, geht einige Schritte auf seinen Vorstandskollegen zu, und sagt: „Gernot, lass uns das mal machen. Der Mann weiß, was er tut. Zugegeben, es klingt etwas verrückt. Aber, du willst doch auch, dass wir an Vertriebspower zulegen. Also, lass uns die Rakete zünden.“ Dr. Weiss schießt bei diesen Worten die Röte ins Gesicht: „Nur über meine Leiche“, protestiert er, „nur über meine Leiche.“ Karlsheim lächelt mild zu ihm herüber, spitzt die Lippen und fragt: „Ist das ihr persönlicher Beitrag zur Kostenreduzierung, werter Kollege?“
Der Personalchef lässt unvermittelt seinen Kopf sinken, beginnt verlegen seine Nackenpartie zu massieren. Jeder im Raum spürt die Hochspannung.
Dr. Herrmann überbrückt die Hängepartie, überlegt kurz, schaut auf Karlsheim, erheb sich, geht auf Paulson zu und reicht ihm demonstrativ die Hand: „Wir sehen uns nachher, Herr Paulson?“ „Aber gerne“, erwidert dieser, wohlwissend, dass die Kuh noch lange nicht vom Eis ist.
So hatte er sich nicht die erste Begegnung mit dem Vorstandsvorsitzenden vorgestellt. „Was soll’s“, denkt er, nicht ahnend, dass sich daraus eine langjährige Zusammenarbeit entwickeln sollte.
Statt Dr. Herrmann erscheint nach kurzer Zeit Karlsheim und strahlt über das ganze Gesicht: „Herr Paulson, ich danke Ihnen. Wenn es allein nach mir ginge, würde uns der nicht mehr lange zur Last fallen. Kann der nicht irgendwie elegant rasiert werden?“ „Rasiert?“, Paulson stellt sich unwissend, „was und wen meinen Sie damit?“ „Ist schon gut, war nur ein Scherz von mir. Aber, ich werde die erforderlichen Schritte einleiten, damit das Projekt in Gang kommt“, verspricht er verschmitzt lächelnd, „wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wir feiern hier doch keinen Kindergeburtstag, oder?“ Paulson überlegt nicht lange und pflichtet ihm bei: „Nein, den feiern wir wirklich nicht.“ Kurz bevor er von Karlsheim verabschiedet wird, reicht ihm dieser noch eine Visitenkarte mit der Empfehlung, sich doch mal mit einem Gary Mayfield in Kapstadt zu treffen.
„Wo bleibt nur der Fahrer?“ murmelt Paulson ungeduldig vor sich hin, „so langsam wird es knapp bis zum Airport.“ Kaum im Auto sitzend wird ihm klar, dass Thesen wie ‚nachhaltiges Wachstum’ oder ‚Limits pushen’ wirklich inhaltsleeres Geschwätz sind: „Das war bisher echt keine Glanzleistung, Paulson. Und nun? Was lernst du daraus?“
Hirnleere macht sich breit. Doch allmählich beginnen sich einzelne Gehirnwindungen zu bewegen. Es ist, als ob zunächst erst behäbig, dann immer flotter werdend, auf geheimnisvollen Bahnen Synapsen sich miteinander verknüpfen. Und plötzlich geht in seinem Kopf die Post ab. Wie in einem Flow fabuliert er: „Die wollen raus aus dem unattraktiven Nobody-Dasein. Erst den deutschsprachigen Raum und dann ganz Europa aufrollen. Die Strategie? Konkurrenzlose, neue Produkte, Kundennähe und Zusatznutzen sind die Hebel. Das rechtfertigt gute Preise. Null Abstriche in der Produktqualität. Exzellente Verfügbarkeit. Transparente Lieferkette. Jetzt fehlt nur noch die Initialzündung.“
Genau in diesem Moment fällt ihm das Beispiel der Hummel ein, die bekannter weise bei Anwendung der gängigen physikalischen Gesetze nicht fliegen kann: „Und was macht dieses intelligente Tier? Es kennt keine Gesetze und fliegt. Und es wird so lange noch fliegen, wie es diese verdammten Grenzen nicht kennt. Veränderung beginnt immer im Kopf. Im eigenen Kopf. Also müssen wir erst uns selbst auf den richtigen Weg bringen, und dann in einem zweiten Schritt neue Synapsen in den Köpfen der Vertriebsmenschen kreieren. Ich muss erst fliegen lernen, ich. Ich muss mich in die Lüfte dieses Vertriebes katapultieren. Ich muss an dieses Wachstum glauben, eine Million Tonnen. Jawohl. Eine Million Tonnen. Das ist heute zwar kaum vorstellbar. Aber das kann jeder verstehen. Der Packer in der Ausrüstung, der Helfer in der Nachtschicht. Sogar der Betriebsrat wird mitziehen, da damit die bestehenden Arbeitsplätze nicht nur gesichert, sondern auch einige neue geschaffen werden. Eine Million Tonnen, jawohl. Im Klartext: Wir tun einfach so, als ob das zu schaffen wäre. Weiß der Teufel wie. Wozu haben wir denn unseren Verstand und unsere Vorstellungskraft Jetzt können wir beweisen, dass wir an die Spitze gehören. “
Paulson wird immer enthusiastischer. „Diese Begeisterung muss jeden infizieren. Das ist der Virus, der alle zum gewünschten Ziel trägt. Eine Million Tonnen tagtäglich spüren, hören und fühlen. Das ist zwar heute noch total verrückt, wird aber verstanden. Und wenn jeder sich dafür einsetzt, seine heutigen Grenzen überwindet, an eine erfolgreiche Zukunft glaubt, dann wird diese Million auch Realität werden. Der Turm zu Babel oder die Pyramiden in Gizeh sind auch nicht an einem Tag entstanden. Aber die Idee war vom ersten Tag an da. Und die wilde Entschlossenheit, diese Idee zu realisieren.“
Genau diese hat Paulson nun in Besitz genommen. Er fühlt sich urplötzlich stark, unbezwingbar. Ein wahnsinniges Gefühl, als ob ihm Flügel wachsen würden. „Gibt es etwas Schöneres?“, sinniert er, „und dabei ist es nur eine total verrückte Idee, diese eine Million.“
Die Maschine landet nach einigen Warteschleifen mit fast neunzigminütiger Verspätung in Kapstadt. Paulsons Bauchgefühl signalisiert nichts Gutes. Seine persönliche Schleife ist seit gestern Nachmittag eine Mail Birgit Bergers: „Was oder wen meint die mit ‚gay’? Ein Tippfehler? Sollte es richtigerweise ‚Gary’ heißen? Kennt die den? Die Welt ist klein. Muss ich hier mit allem rechnen? Überhaupt, was treibt diese Frau für ein Spiel? Der Tanner, der Karlsheim, jetzt fehlt nur noch Weiss“, schwirrt ihm durch den Kopf.
Er checkt kurz die endlos erscheinenden Warteschlangen vor der Personenkontrolle, kann die Penetranz der südafrikanischen Zöllner, deren aufgesetzt wirkende Pflichtbeflissenheit, Langatmigkeit, kaum mehr ertragen. Zudem schmerzt wieder einmal sein Rücken, die Zunge fühlt sich irgendwie pelzig an, und der Schädel brummt ohne Ende. „Wahrscheinlich war es ein Rotwein oder Cognac zu viel auf dem Flug hierher. Und dann die Schmerz- und Schlaftabletten“, versucht er sich zu beruhigen. „Das war nichts. Aber wer über die Stränge schlagen kann, muss auch die Konsequenzen in Kauf nehmen, basta. Hör auf mit dem Jammern Stem. In wenigen Stunden bist du wieder auf dem Weg nach Hause. Also, Kopf hoch und durch.“
Paulson führt in letzter Zeit häufiger solche Selbstgespräche. Mal geht es ihm danach besser, mal ist genau das Gegenteil der Fall. Dann wühlt er tief in seinem Sumpf, dunkle Gedanken ziehen ihn immer tiefer nach unten. Man könnte es auch als ‚Pitbullstatus’ bezeichnen, verbissen, unfähig zum befreienden Loslassen.
Die Warteschlangen bewegen sich kaum. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr stellt er fest: „Der Vormittag ist gelaufen.“ Paulson versucht mit dem linken Bein seinen Rollkoffer ein paar Zentimeter weiter nach vorne zu schubsen, als ein stechender Schmerz ihn zusammenzucken lässt: „Nein“, bettelt er, „das hält der stärkste Ochse ja nicht aus. Warum habe ich denn die letzten Termine in der Krankengymnastik verstreichen lassen?“ Er fügt sich widerwillig seinem Schicksal, tippelt von einem Bein auf das andere und versucht, den Rücken zu entlasten. „Was ist denn heute nur los?“, will er wissen, „jetzt geht ja gar nichts mehr.“ In diesem Moment drängen sich einige Securitymenschen an ihm vorbei, gefolgt von mehreren Uniformierten. Ihm schießt in den Kopf: „Warum haben die ihre Knarren im Anschlag? Sind die hier auf Gangsterjagd? Oder suchen die entlaufene Säbelzahntiger, Diamanten, Elfenbein?“
Paulson will mehr erfahren, wissen, was da vorne abgeht. Keine Chance. Die automatischen Durchgangstüren sind komplett abgeblendet und lassen keinen Blick zu. Er kann sich noch so lang machen - nur Milchglas.
Langsam werden auch andere Passagiere um ihn herum ungeduldig, beginnen mit den Hufen zu scharren. Merkwürdig klingende Wortungetüme rauschen an ihm vorbei. „Sind die alle aus dem Busch entlaufen?“, kommt ihm spontan in den Sinn. „Nur keine Panik aufkommen lassen“, trichtert er sich immer und immer wieder ein. Das Gedränge wird zunehmend intensiver, fast unerträglich. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er entweder explodiert oder – kollabiert. Der Countdown läuft.
Paulson spürt, wie ein mulmiges Gefühl sich in seinem Körper breitmacht, es heiß wird, er plötzlich Angst bekommt. Panische Angst. Dann ein Schuss – kurz darauf ein zweiter. Er zuckt zusammen, bekommt kaum Luft zum Atmen. Um ihn herum scheint alles zu erstarren. Eine undefinierbare Mischung aus Ungewissheit, Unsicherheit, Explosivität, aber auch Ratlosigkeit macht sich breit.