Leugnen ist auch keine Lösung - Werner Leippold - E-Book

Leugnen ist auch keine Lösung E-Book

Werner Leippold

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Beschreibung

"Leugnen macht auch keinen Sinn - Corona trifft uns alle" ist ein auf tatsächlichen Begebenheiten basierender Roman, der in der Zeit von Mitte Januar bis Mitte Mitte 2020 spielt. Niemand ist vorbereitet auf so etwas wie Lock-Down oder Shut-Down. Niemand hat eine auch nur vage Vorstellung von dem, was ungefragt Einzug in Alters- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, Häuser, Wohnungen, Werkhallen und Büros nehmen wird. Niemand wird verschont bleiben von Ängsten, Sorgen, Nöten, Problemen, Spannungen, Stress bin hin zum plötzlichen Abschied Nehmen von geliebten Menschen. Wer kann ahnen, dass in unserer Zivilisation dem Tod Geweihte ihren letzten Gang alleine antreten müssen, verlassen von allen. Unvorstellbar, nicht zu verzeihen, traurig, aber leider wahr. En neuartiges Virus lässt nicht locker, trifft alle, bedroht unser Leben, unsere Freiheit, unseren sozialen Zusammenhalt, viele Arbeitsplätze und Existenzen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 165

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Kapitel 1: Drama Queen

Bahnt sich da was an?

Kapitel 2: Die Faszination des Gangsta-Rap

Es spitzt sich zu.

Kapitel 3: Made in China

Rückt die Seuche näher?

Kapitel 4: Der Dämokrat

Nicht nur ein Virus.

Kapitel 5: Darf er jetzt?

Wo bitte geht’s zur Zukunft?

Kapitel 6: Deutscher Winter

Narren unter sich.

Kapitel 7: Welt Virus Krise

Weinen könnt‘ ich.

Kapitel 8: Der Terroristenjäger

Jetzt ist es zu spät.

Kapitel 9: Sind wir bereit?

Außer Kontrolle – und wir tanzen

Kapitel 10: Der Kampf hat begonnen

Die Toten lehren die Lebendigen

Kapitel 11: Wie kommen wir wieder raus?

Home of Wahnsinn.

Kapitel 12: Das Pleitevirus

Ostern mal ganz anders.

Kapitel 13: Glaube, Lieber, Tapferkeit

Nichts als Krampf?

Kapitel 14: Der Aufbruch

Droht eine zweite Welle?

Kapitel 15: Schulversagen

Verstanden?!

Kapitel 16: Costa Corona

Kommt locker besser an?

Kapitel 17: Wuhan

Wünsch dir was.

Quellenverzeichnis

Weitere Veröffentlichungen

Vorwort

„Leugnen macht auch keinen Sinn – Corona trifft uns alle“ ist ein auf tatsächlichen Begebenheiten basierender Roman, der in der Zeit zwischen dem 20. Januar und dem 17. Mai 2020 spielt. Deutschland und die ganze Welt stehen vor einer ungeahnten Herausforderung, die Millionen von Menschen das Leben kosten wird.

Auf die Frage, wie Menschen mit der Angst umgehen, hat Alexander Kluge in einem Interview mit dem Spiegel gesagt: „Wenn eine Gefahr am Horizont übermächtig zu sein droht, dann leugne ich sie lieber, als untätig zu bleiben.“

Niemand ist vorbereitet auf Lock-Down oder Shut-Down, niemand hat eine auch nur vage Vorstellung von dem, was ungefragt Einzug in Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, Häuser, Wohnungen, Werkhallen und Büros nehmen wird. Niemand wird verschont bleiben von Ängsten, Sorgen, Nöten, Problemen, Spannungen, Stress bin hin zum plötzlichen Abschiednehmen von geliebten Menschen. Wer kann ahnen, dass in unserer Zivilisation dem Tod Geweihte ihren letzten Gang alleine antreten müssen, verlassen von allen. Unvorstellbar, unverzeihbar, traurig, aber leider wahr.

Paul und Line sind Romanfiguren, die es im wahren Leben nicht gibt. Und doch werden sie Woche für Woche mit beziehungsweise an Corona tief und tiefer in einen Strudel gezogen, der ihnen sehr viel abfordert. Und irgendwann macht Leugnen auch keinen Sinn mehr. Es steht zu viel auf dem Spiel.

Jede Ähnlichkeit mit Lebenden und/oder nicht mehr Lebenden ist zufällig und in keiner Weise beabsichtigt. Ehrlich. Genauso ehrlich liebe ich meine zweite Heimat und den Rheingau.

Werner Leippold

Kapitel 1

Bahnt sich da was an?

20.01. bis 26.01.

Paul blickt im Badezimmer in den Spiegel, hält seine elektrische Zahnbürste in der rechten Hand und lächelt sich an: „Zahnreinigung ist eine runde Sache, man kümmert sich um das Gestern, das Jetzt und das Morgen, man beseitigt unverdaute Reste der Vergangenheit, man fühlt sich jetzt angenehm frisch, und man betreibt Vorsorge für spätere Zeiten. Perfekt.“ „Rund“ spielt in Pauls Leben eine große Rolle, er mag, wenn es passt, wie er es immer wieder ausdrückt. Und wenn es nicht passt? Dann sucht er Wege zu finden, es passend zu machen. Paul liebt auch, eingemummelt in eine Bassetti-Decke, seine Eingebungen im Halbschlaf in aller Frühe. Die hält er meist möglichst schnell in seinem Tagebuch fest. Unterlässt er dies, sind sie meist genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen sind. Und er kriecht frühmorgens gerne zu Line unter die Decke, genießt die Wärme des gemeinsamen Nestes, und döst dann weiter.

„Drama-Queen ist gut“ frotzelt Paul. Er hat es sich am späten Nachmittag auf seiner Relaxliege bequem gemacht. Eigentlich ist Entspannung angesagt, aber, als sein Blick an der einzigen Holzfigur in seinem Bücherregal hängenbleibt, einem von Meisterhand geschnitzten Motorradfahrer, befindet er sich schlagartig zurück in einem früheren Leben. Damals hat genauso ein Typ ein merkwürdiges Spiel mit ihm getrieben, fast wie in einem Kriminalfilm. „Vergiss das Ganze“ versucht er sich zu beruhigen, „auch diese Wahrheit wirst du nie erfahren.“ Er schließt die Augen, die Hände über dem Brustkorb verschränkt, und lässt seinen Gedanken freien Lauf: „ ... mal wieder die Chinesen - informieren die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über ein Virus ... der Erreger ein neuartiger Virus ... der erste Todesfall in Wuhan ... der erste Krankheitsfall außerhalb Chinas ... in Thailand ... ein Chinese aus Wuhan ... kurz darauf ist Japan an der Reihe ... nun hat es auch die USA erwischt ... uff“, er atmet tief durch, „und wann sind wir in Europa, in Deutschland dran? Ob sich da vielleicht was Größeres anbahnt?“

Wie viele seiner Mitbürger lässt sich Paul von ARD und ZDF über das Tagesgeschehen informieren. RTL-News interessieren ihn weniger, da er noch nie ein Freund aufreißerischer Sensationsgeilheit, präsentiert von aalglatt wirkenden Moderatoren, war. Auch macht Paul einen großen Bogen um die BILD-Zeitung, allerdings nicht um bild.de. Er sieht darin keinen direkten Widerspruch, denn bereits Goethe wusste: „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust.“ Wie auch immer, bezüglich des Geschehens in Wuhan hat er das Gefühl, dass die allabendliche Berichterstattung über China bei den Öffentlich-Rechtlichen eher einer Randnotiz gleicht, zumindest im direkten Vergleich mit der Flüchtlingsproblematik in Syrien oder Herrn Erdogans Machtspielen.

Der SPIEGEL, Paul ist seit Jahren ein ziemlich treuer Leser, beschäftigt sich in dieser Woche in der Coverstory „Drama Queen – Palastrevolte bei den Windsors“ mit ganz anderen, royalen Themen. Er hat das Magazin zwar nicht abonniert, besorgt es sich aber häufig im Rahmen seiner Markteinkäufe in der Mauergasse. Da die SPIEGEL-Redakteure häufig ein Näschen für spannende Themen haben, dort absolut nichts über ein Virus in Asien steht, kann es auch nicht wirklich Priorität haben. So zumindest Pauls Schlussfolgerung.

Priorität hat für ihn etwas ganz Anderes. Nach der Rückkehr aus seinem Hideaway in Andalusien am letzten Sonntag war Paul heute Nachmittag zu einem MRT bei RADIOMED und hat es nun schriftlich: Teil-Abriss des Innen-Meniskus im linken Knie. Da er schon immer ein Mann der Tat war, hat er unmittelbar nach der Diagnose einen Termin für Donnerstag bei seinem Orthopäden vereinbart. Thema: Operation oder konservative Behandlung.

Gedankenverloren streicht er sich über sein lädiertes Knie und grient vor sich hin: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles Nichts, soll Schopenhauer gesagt haben.“ Wie wahr. Apropos Gesundheit – Paul lässt sich seit geraumer Zeit von dem Internisten Dr. Strunz aus Roth inspirieren, der ihn täglich frühmorgens zu seinen News auf dem Portal „Forever Young“ einlädt. Paul nennt sie Aha-News, da sie bei ihm häufig einen Aha-Effekt auslösen. Heute Morgen hat er sie ausnahmsweise nicht gelesen, sein Kopf war bei RADIOMED. Also ist es nun Zeit, etwas nachzuholen.

„Kunterbunte Merksätze“ lautet die Headline für heute, „Gesundheit und Lebensenergie.“ Robert Krug wird zitiert, ein Informatiker, der sich verwandelt habe von üblich krank auf beinahe unheimlich gesund. Dieser soll tatsächlich, kaum Läufer geworden, nun anstreben, die tausend Meter unter drei Minuten zu laufen. „Ohne Worte“ stammelt Paul vor sich hin, „und ich habe während meiner Läuferkarriere jahrelang mit der Fünf-Minuten-Schranke gekämpft.“ Wann immer Paul etwas von außergewöhnlichen Läufern hört, wird er hellwach. Er rekelt sich auf seiner Liege, das Notebook auf dem Schoss, und inhaliert Merksätze wie: „Sie können nicht gesund werden, solange Sie Ungesundes essen“, so Peter Osborne; „der größte Feind der Gesundheit ist die kohlenhydratreiche Ernährung“ meint Bodo Kucklinski; „Fleisch, das von kranken Viechern kommt, wird uns krank machen“ warnt Nasha Winters und „unsere Fähigkeit, die Zukunft zu meistern, wird nicht davon abhängen, wie gut wir lernen, sondern, wie gut wir sind, Falsches zu verlernen.“ Alan Key ist davon überzeugt.

Besonders der letzte Satz spricht Paul voll an: „Ich kenne zwar keinen Alan Key, aber ich gebe ihm Recht, Falsches zu verlernen ist tatsächlich eine ganz besondere Herausforderung. Setzt allerdings voraus, richtig und falsch eindeutig identifizieren zu können. Und das ist beileibe nicht einfach, vor allem, wenn man es mit jahrelang praktizierten Gewohnheiten zu tun hat.“

Der heutige Tag war alles andere als langweilig, eher das Gegenteil. Paul muss zum wiederholten Mal gähnen, ein sicheres Zeichen, dass es Zeit zum Schlafengehen ist. Er richtet sich vorsichtig auf, das linke Knie in gewohnter Schonhaltung, und trottet gemächlich in Richtung Küche. Nachdem er vier Tryptophan mit einem Glas „SleepWell“ heruntergeschluckt hat, fühlt er sich gut gewappnet für einen hoffentlich erholsamen Schlaf. Ein Einschlafritual, das er seit Monaten mit gutem Erfolg praktiziert.

Als er am nächsten Morgen erwacht, hat er das Gefühl, dass es seinem Knie nach dem gestrigen Befund plötzlich viel besser geht. Am Nachmittag trifft er sich mit Line bei VITAFIT zum Krafttraining. Sie ist wie immer überpünktlich und wartet bereits auf ihn. Paul geht freudig auf sie zu, doch, zu seiner Überraschung begrüßt Line ihn kühl und zurückhaltend: „Was ist los?“ fragt er sich, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Sie gehen wie immer direkt zu den Umkleiden, dann an die Geräte und beginnen mit ihren Workouts.

Es dauert nicht lange bis sich die Anspannung bei Line löst: Sie ist empört, als Paul in ihren Augen mal wieder nach anderen Frauen spannt. Fakt ist aus Sicht von Paul, dass sich unmittelbar in seiner Nähe eine spindeldürre, blonde Frau mit der Straffung ihrer Pobacken abmühte. Sie lag mit dem Kopf nach unten auf einer zur Po Kräftigung konzipierten Gerätebank, oben bewegte sich ein Gewirr von Sehnen und Muskeln. Irgendwie fand er die ganze Szenerie mit dem Spiel von Muskeln und Sehnen skurril lustig und blickte wohl einige Momente in Richtung dieser Frau. Line hat dies erspäht und, emotional wie sie von Hause aus ist, ihn sofort mit bösen Blicken attackiert. Dann schaltete sie auf stumm und ignorierte ihn.

„Hä?“ will Paul wissen. Er versucht ruhig zu bleiben, nun aber mit einem seinerseits streng nach vorn gerichtetem Blick. Jeder kann leicht erahnen, dass ihm diese Szene voll gegen den Strich geht: „Nach so vielen Jahren darf das doch wirklich kein Thema mehr sein,“ mault er vor sich hin, „Kindergarten“. Line konzentriert sich im Folgenden auf ihre Übungen und Paul auf seine Blicke. Nach knapp zwei Stunden und einem abschließenden Eiweiß-Shake an der Fitness-Bar scheinen die Emotionen aufs Erste abgekühlt zu sein. Sie fahren nach Hause, getrennt, jeder in seinem Wagen, so wie sie auch gekommen sind.

Am folgenden Tag schaut sich Pauls Orthopäde spätnachmittags gemeinsam mit ihm die MRT- und Röntgenbilder wiederholt an und kommt zu dem Ergebnis, dass sich einer seiner Kollegen in der Gemeinschaftspraxis, ein in Sportlerkreisen bekannter Kniespezialist, Pauls Problem mitannehmen sollte. Nach seiner Einschätzung stünde es fifty-fifty. Paul ist leicht irritiert, da er sich bereits heute Klarheit erhofft hatte. Jetzt heißt es wieder einen neuen Termin zu machen. Das Warten bis Anfang kommender Woche ist für ihn reine Zeitverschwendung. „Aber, es ist, wie es ist“ murrt er. Paul muss sich wohl oder übel noch etwas gedulden.

Nach dem Abendessen greift er sich das brandneue Buch „Diese ganze Scheisse mit der Zeit“ von Hubertus Meyer-Burckhardt und begibt sich auf seine Relaxliege im Arbeitszimmer. Er kennt den Autor aus der NDR-Talkshow und schätzt ihn wegen seiner unaufgeregten Art der Gesprächsmoderation. Dessen Partnerin, Frau Barbara Schöneberger verkörpert für ihn genau das Gegenteil mit ihrer lauten, überdrehten Stimme sowie dem permanenten Gequatsche über deren drei, vier Hühner im hauseigenen Stall. Das neue Buch spricht ihn schon nach den ersten Seiten voll an. Erst als die Zeilen mehr und mehr vor seinen Augen verschwimmen, merkt er, wie spät es geworden ist. Er liest das Kapitel rasch zu Ende, geht in die Küche und nimmt wie jeden Abend seinen Schlafcocktail zu sich. Kurz vor dem Einschlafen muss er an das Virus in China denken: „Ob es vor uns halt macht?“

Am nächsten Tag weiß er nach der Morgenlektüre im Netz, dass die Deutsche Presse Agentur (DPA) die ersten drei Corona-Fälle in Europa gemeldet hat. Frankreich ist der Leidtragende. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis das Virus auch nach Deutschland kommt. Als am Nachmittag in Pauls Wohnung eine Legionellenprüfung durchgeführt wird, witzelt er mit Line herum, ob damit auch ein Virus erkannt werden könne. Spaß beiseite. Monate später werden sie erfahren, dass eine Analyse des Abwassers sehr wohl Antikörper identifizieren kann. Abends geht es dann nach Rauenthal in den Rheingau zum Futtern.

„Warum interessiert dich dieses Buch eigentlich so?“ fragt sich Paul in einer stillen Stunde, als es ihn mal wieder kribbelt, weiter zu lesen. „Ist es der provokante Titel?“ Es passt in seinen Augen einfach nicht, auf der einen Seite die ihm vertraute, ruhige Wirkung des Autors nach außen, andererseits diese vulgäre, aufreißerische Headline. Es ist aber mehr als nur dieser Widerspruch. Meyer-Burckhardt beschreibt einige Abschnitte seines Lebens, die Paul voll ins Mark treffen. War es bei ihm vor ein paar Jahren nicht ähnlich? Auch er kannte den einen oder anderen Flughafen in Europa besser als die schönen Wälder rund um die Landeshauptstadt oder den Hintertaunus mit dem geheimnisumwobenen Wispertal. Auch seine Kunden haben einst nichts von seiner inneren Getriebenheit mitbekommen, hat er sich doch immer aufgeräumt und verständnisvoll präsentiert. Und auch bei ihm musste erst eine schlimme Krankheit kommen, die ihn aufwachen ließ und zu mehr Vernunft zwang. Meyer-Burckhardt gab seinen beiden inneren Feinden einen Namen. Das kommt ihm vertraut vor. Auch er hat damals erkannt, dass eine Gefahr am besten zu bekämpfen ist, wenn er sie personifiziert. Statt „Kafka“ und „Shaw“ hat er sie einst „Freund Hammermann“ getauft, ein Gegner, mit dem nicht zu spaßen ist. Er hat ihn bewusst zu seinem Freund erkoren, da das Leben mit einem Freund weniger Kraft kostet als der Kampf gegen einen Feind.

Es gibt viele Parallelen zu Meyer-Burckhardt. Sein Leseeifer kennt keine Grenzen. So dauert es nicht lange, bis er die letzte Seite des Buches verschlungen hat. Er atmet tief durch und seufzt: „Gut. Und nun?“ Ohne lange nachzudenken resümiert er: „Erstens, du hast wirklich Glück gehabt mit deinem Vater, den du nicht aus dem Haus jagen musstest. Und zweitens, denk doch mal über dein Leben nach und halte das in einer Art Biografie fest. Anders als der Meyer-Burckhardt, aber so in dieser Art.“

Von diesem Moment an ist Paul von dem Gedanken an ein neues eigenes Buch beseelt. Diesmal soll es ein richtig gutes Buch werden, nicht so wie seine bisherigen Werke, die er ohne Hilfe von Profis geschrieben und publiziert hat. Dieses Mal will er es anders, besser machen, zum Beispiel mit schönen Illustrationen, Bildern und was auch immer.

Das Wochenende beginnt für Paul mit einer schlechten Nachricht, dass ein alter Weggefährte von ihm, Micha, im Alter von vierundfünfzig Jahren an Herzversagen verstorben ist. „Kein Wunder“, Paul erinnert sich spontan an eine verrückte Geschichte vor mehr als fünfzehn Jahren. Von einem russischen Kunden beauftragte Geheimdienstler wollten herausgefunden haben, dass Micha, alias Michel Clement, alias Mikael Ranson, alias Mikel O’Hennan alias Mikael Dimitry Gorchevsky im Besitz von fünf Reisepässen gewesen sein soll. Diese hätten sie in einem alten Aktenkoffer entdeckt, der in einer dunklen Ecke des ehemaligen Projektbüros der PS.AG gestanden haben soll. Das Büro wäre allerdings zehn Tage zuvor nach Anweisung von oben aufgelöst worden. Eine abstruse Story, deren Wahrheitsgehalt nachträglich nicht mehr festzustellen war. Paul wusste schon immer, dass Micha mit allen Wassern gewaschen und sehr umtriebig war, aber so etwas? Nein, das konnte er sich damals nicht vorstellen und auch heute nicht.

Ein Jammer. „CYA - Cover Your Ass“ hat ihm Micha beim letzten persönlichen Treffen mit auf den Weg gegeben. Paul schüttelt den Kopf: „Und jetzt hat es den erwischt. Micha, falls du es bis an die Pforte zu Petrus schaffen solltest, vergiss die Schlüssel nicht.“

Kurz danach erreicht ihn die Nachricht vom Ableben einer ehemaligen Nachbarin, einer Grande Dame mit interessanter Vergangenheit in der Kurstadt. Sie haben einige Jahre unter einem Dach gelebt: Sie in der Bel Etage. Paul ist geschockt: „Der Tod macht keine Unterschiede, gestern noch Lady in pink, heute ganz in weiß. The answer my friend, is blowing in the wind.“ Nachdenklich checkt er seinen Terminkalender und notiert: „Beerdigung, Freitag, 12 Uhr“.

Paul und Line haben heute keine Nachrichtensendung gesehen und somit gibt es auch nichts Neues zu Corona. Der Zustand seines Knies ist unverändert, mal geht es besser, dann wieder weniger. Allerdings kann er nachts kaum mehr durchschlafen. Die Schmerzen in seinem Knie reißen ihn immer wieder aus dem Schlaf.

Am Abend gehen sie wie üblich zu „Bailandito“ - und haben richtig Spaß. Selbst zwei kurzzeitige Blockaden, Paul beim Slowfox, Line bei „Schal“ und „Schiebetür“, können ihrer guten Stimmung nichts anhaben. Sie genießen in den Pausen ihr Gläschen Sekt und verlassen gegen 23.30 Uhr als Letzte den Saal.

Beim Wechseln der Schuhe lächelt Paul vor sich hin. Line ist auch das nicht verborgen geblieben und will sofort wissen, was der Anlass sei. Doch Paul bleibt stumm. Für heute wird es sein Geheimnis bleiben. Line ist darüber nicht erfreut. Aber sie kennt ihn. Wenn der nicht will, geht nichts. „Sturer Bock“ murmelt sie vor sich hin, „der ändert sich wohl nie mehr.“

Kapitel 2

Es spitzt sich zu.

27.01. bis 02.02.

Den Sonntag können sie anfangs nicht richtig genießen. Line ist sauer, da Paul noch immer nicht preisgeben möchte, was hinter dem Lächeln gestern Abend steckt. Paul wiederum hadert mit sich, da er noch keine zündende Idee für sein geplantes Buchprojekt gefunden hat. Zudem verfolgt ihn die leidige Geschichte mit seinem Knie auf Schritt und Tritt. Es ist ihm zwar klar, dass es nie eine richtige Zeit für eine Operation gibt, aber, Line und er haben sich so auf das Skifahren in Tirol gefreut. Insgeheim hofft er noch immer, mit einer konservativen Behandlung davon zu kommen. Wie pflegt er immer zu sagen: „Geht nicht, gibt’s nicht.“ Aber jetzt flüstert ihm eine innere Stimme, dass er nun wohl unters Messer muss.

Beim Durchblättern des SPIEGELS regt er sich ziemlich schnell auf, als er liest, wie böse Jungs und Clan-Romantik die Kinderzimmer in bundesdeutschen Gefilden erobern. Bei diesem Thema wird ihm richtig schlecht: „Ist das die Generation, die später unsere Renten sichert, die neue Generation „Made in Germany“? Schafft sich Deutschland doch selbst ab?“ Paul hat nie verstehen können, wie man in einigen Bundesländern die Augen zumachen konnte, wenn es um das Thema „Clans“ ging. Ein Gespräch mit einem befreundeten Strafverteidiger hat ihm die Augen geöffnet, als er erfuhr, dass sich das deutsche Strafrecht generell schwer tue mit dem Faktum „Clans“. Dass die Gesetzgebung oft Jahrzehnte hinter gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherhinkt, ist ihm schon bewusst. Doch welche Konsequenzen das beim Verfolgen von Straftaten einzelner Clan-Mitglieder haben kann, das ist für ihn Neuland. Er spürt, auch das Thema Parallelgesellschaften hat zunehmend an Geschwindigkeit aufgenommen. Und das nicht nur in Berlin, Bonn oder Wuppertal.

In der Rubrik „Wissenschaft“ findet er den Beitrag „Im Jahr der Ratte“, wonach ein bisher unbekanntes Virus sich von China aus verbreitet, und man sich nun die Frage stellt, was es wohl ausrichten kann. Der Artikel endet mit „Unsere Maschine wird eine der letzten sein, die Wuhan verlässt. Wir sind der Abriegelung entkommen. Eine Stunde nach Lock-Down.“ „Typisch Chinesen“ murmelt Paul vor sich hin, „das ist nur in totalitären Systemen möglich, Millionen von Menschen von jetzt auf nachher vollkommen abzuschotten.“ Das Robert-Koch-Institut in Berlin (RKI) wird auch zitiert, „dass es die Gefahr für Deutschland geringhalte und keinen Grund zur Beunruhigung sehe.“ „Jaja“, kommentiert er, „China ist weit weg und Berlin kennt eh keine Normalität mehr. Hauptsache geil und sexy. Die sind sozusagen immun.“ Als vor seinem inneren Auge die drei Buchstaben „BER“ erscheinen, legt er das Magazin beiseite und macht sich fertig für den Termin mit dem Kniespezialisten.

Kurz vor der Mittagszeit bekommt er die gewünschte Klarheit: Der Orthopäde rät ohne zögern zu einer Arthroskopie, einem minimalinvasiven Eingriff. In gut einer Woche könne dieser durchgeführt werden. Für Paul gibt es nicht mehr viel zu entscheiden: „Wenn es sein muss, dann so schnell wie möglich.“ Dass sich damit auch das Thema Skiurlaub in Tirol aufs Erste erledigt hat, ist ihm klar.