Der Warschauer Aufstand 1944 - Stephan Lehnstaedt - E-Book

Der Warschauer Aufstand 1944 E-Book

Stephan Lehnstaedt

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Beschreibung

Der Warschauer Aufstand von 1944 ist heute das wichtigste Symbol polnischen Heldenmuts und Freiheitsdrangs im Zweiten Weltkrieg. Aber er war auch eine nationale Katastrophe, denn die Deutschen reagierten mit äußerster Brutalität: mit Massenexekutionen und Deportationen, gefolgt von der systematischen Zerstörung der Hauptstadt. Mindestens 150.000 zivile Tote und weitere Hunderttausende Deportierte waren zu beklagen. Stephan Lehnstaedt zeigt, wie die deutschen Verbrechen und das Abwarten der Roten Armee nach über zwei Monaten zum Scheitern dieser außergewöhnlichen Widerstandsaktion führten.

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Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Stephan Lehnstaedt

Der Warschauer Aufstand 1944

Reclam

Kriege der Moderne

 

Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

 

Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0975-01)

 

 

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Umschlaggestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Umschlagabbildung: Gruppe von Aufständischen vor dem PAST-Gebäude, 20. August 1944 © Muzeum Powstania Warszawskiego, Eugeniusz Lokajski »Brok«/MPW-IN/622

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962242-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011483-4

www.reclam.de

Inhalt

1 Die Befreiung des KZ Warschau durch die Aufständischen

2 Polen unter deutscher Besatzung

3 Der polnische Widerstand gegen die Besatzung

4 Entscheidung zum Kampf

5 Der Beginn des Aufstands

6 Die Warschauer Bevölkerung im Aufstand

7 Das Massaker

8 Verzweifelte Kämpfe

9 Kämpfen oder Kapitulieren?

10 Die Folgen

11 Das Gedenken

Anhang

Zeittafel

Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Personenregister

[7]1 Die Befreiung des KZ Warschau durch die Aufständischen

Soldaten des AK-Bataillons »Zośka« mit ihrem erbeuteten »Panther«-Panzer, Okopowa-/Ecke Żytnia-Straße, 2. August 1944

Der 5. August 1944 war einer dieser heißen Sommertage, wie sie für Warschau so typisch sind. Furchtbar waren die zurückliegenden fünf Jahre mörderischer deutscher Herrschaft. Und die vergangenen fünf Tage erst recht: Seit über 100 Stunden kämpften Aufständische der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) nun schon gegen die Besatzer. Ständig war Maschinengewehrfeuer zu hören, Verletzte und Tote waren zu beklagen, aber gleichzeitig lag der süße Duft der Freiheit in der Luft. Warschau, die stolze polnische Hauptstadt, war wieder zum Leben erweckt worden!

Doch nach Feiern ist der Besatzung des erbeuteten »Panther«-Panzers, der an jenem Augusttag gegen 10 Uhr morgens in die Okopowa-Straße einbiegt, nicht zumute. Ihr Vorhaben ist riskant: ein Angriff auf das schwer bewachte ehemalige »Gęsiówka«-Gefängnis, wie die Stadtbevölkerung das Konzentrationslager Warschau immer noch nennt. Zwar hat die SS dieses Außenlager des KZ Majdanek wenige Tage zuvor geräumt, aber noch befinden sich dort Häftlinge. Deshalb sind auch die [8]Bewacher nicht alle abgezogen, doch die Mauern des Geländes bieten ihnen Deckung.

Ein frontaler Sturmangriff käme einem Selbstmordkommando gleich, denn die Aufständischen sind der Bewaffnung und vor allem den Munitionsbeständen der Besatzer nicht annähernd gewachsen. Und in dem vor drei Tagen erbeuteten »Panther« müssen Kommandant Wacław Micuta und seine Männer darum beten, dass die SS auf den Lagertürmen keine Panzerabwehrwaffen hat. Es ist nicht nur die Hitze, die ihnen den Schweiß auf die Stirn treibt.

Aber für das aus ehemaligen Pfadfindern bestehende AK-Bataillon »Zośka« ist die Befreiung der Lagerinsassen auch eine Verpflichtung: Für die Freiheit haben sie sich erhoben, und wer, wenn nicht eine Einheit aus der Elitetruppe »Radosław«, soll sie den eingesperrten Jüdinnen und Juden erkämpfen? Micuta befiehlt also die Abfahrt aus der St.-Kinga-Schule, gelegen am riesigen Warschauer Powązki-Friedhof und bis vor wenigen Tagen eine SS-Kaserne – die haben die Deutschen bereits aufgeben müssen. Von dort sind es nur wenige hundert Meter bis zum Lager, aber zwei Barrikaden trennen die Aufständischen von ihren Gegnern, denen das Niemandsland ein freies Schussfeld bietet.

[9]Die beiden Hindernisse sind schnell genommen, der Panzer befindet sich inzwischen innerhalb des ehemaligen Ghettos, aber nun eröffnen die Deutschen das Feuer. Plötzlich ein Knall – eine Mine –, doch die Besatzung ist unverletzt. Ihre Kanone gibt ihren ersten Schuss ab, einer der Bunker vor dem Lagertor versinkt in einer Wolke aus Schutt und Asche. Inzwischen ist der »Panther« auf fünfzig Meter an die Lagermauer herangekommen. Ein kurzer Halt – »Splittergranate!«, befiehlt Micuta –, ein Schuss, und nun ist auch der zweite Bunker zerstört. Der Panzer rollt weiter auf das mächtige Eisentor zu, das wie Papier nachgibt, als das schwere Fahrzeug dagegenprallt. Weiter hinein. Im Innenhof ist keine Zeit für eine Siegesfeier, noch sind mehrere Wachtürme besetzt.

Befreite Häftlinge des KZ Warschau mit Soldaten des Bataillons »Zośka«, 5. August 1944

Pausenlos dreht sich der Turm des »Panther«. Die Besatzung hat die Hebel des Elektromotors und die Griffe von Ring und Trommel unter Kontrolle. Aus der Ladekammer des Geschützes steigt dicker Qualm auf, der Ventilator im Inneren hilft kaum, die Luft ist beißend, die Augen brennen. Nur nicht nachlassen jetzt – eine kurze Fahrt, eine schnelle Drehung, und schießen! Schon dringen die Sturmabteilungen von »Zośka« auf das Lagergelände vor. Ein kurzes Feuergefecht, dann reißen sie die Arme zum Jubel empor: Aus den Baracken laufen ihnen die Häftlinge entgegen. Der allgemeine Trubel erlaubt auch einigen deutschen Bewachern die Flucht, aber die Freude überwiegt.

[10]Vor dem Panzer steht nun ein alter Häftling, er hebt die Hände, die Tränen laufen ihm übers Gesicht, er dankt. Auf das Fahrzeug klettert ein etwa 15-jähriger Junge. Micuta öffnet die Luke, wird auf Tschechisch angesprochen – und bekommt ein Geschenk überreicht: eine kleine Porzellanfigur, die einen sich anschleichenden »Panther« darstellt. Was für ein Maskottchen.

348 jüdische Häftlinge, darunter 24 Frauen, aus Polen, Ungarn, Griechenland, Frankreich, Holland, Tschechien und aus Litauen befreite die Heimatarmee an jenem Warschauer Sommertag. Es war das einzige KZ östlich der Elbe, das die Rote Armee nicht eroberte. Viele der ehemaligen Insassen schlossen sich nun der Heimatarmee an. Wacław Micuta war einer ihrer Offiziere und wurde noch während des Aufstands zum Hauptmann befördert. Er überlebte den Krieg – seinen »Panther« hingegen musste er wegen schwerer Schäden bereits am 11. August aufgeben.

Blick auf die Reste des KZ Warschau in der zerstörten Stadt, Frühjahr 1945

Letztlich scheiterte der Warschauer Aufstand. Die zunächst überraschten Deutschen erlangten nach zwei Monaten die Kontrolle über die Stadt zurück. Währenddessen verharrten Stalins Soldaten – denen die Aufständischen einerseits zuvorkommen wollten, ohne deren Hilfe sie ihre anfänglichen Erfolge andererseits nicht in einen dauerhaften Sieg ummünzen konnten – am östlichen Weichselufer. Und wo die Besatzer bis 1943 die Jüdinnen und Juden im Holocaust vernichtet und die polnische Bevölkerung Ausplünderung, Zwangsarbeit und Terror ausgesetzt hatten, machten sie nun weiter: mit Massenexekutionen und Deportationen der Warschauer Bevölkerung, gefolgt von der systematischen Zerstörung der Stadt: Mindestens 150 000 zivile Tote und weitere Hunderttausende Deportierte waren zu beklagen.

Gerade deshalb gilt der Aufstand von 1944 heute als das wichtigste Symbol polnischen Heldenmuts und Freiheitsdrangs im Zweiten Weltkrieg – als ein Fanal, aber auch als nationale Katastrophe und Sinnbild des Zerriebenwerdens zwischen Deutschen und Sowjets bzw. Russen.

[11]2 Polen unter deutscher Besatzung

Das Linienschiff »Schleswig-Holstein« beschießt am 1. September 1939 die polnische Festung Westerplatte in Danzig.

Das nationalsozialistische Deutschland hatte Polen am 1. September 1939 ohne Kriegserklärung überfallen. Die ersten Bomben fielen gegen 4:40 Uhr morgens auf die unverteidigte Kleinstadt Wieluń, um 4:45 Uhr eröffnete das Schulschiff »Schleswig-Holstein« das Feuer auf die polnische Festung Westerplatte im Hafen der Freien Stadt Danzig. Die angreifende Wehrmacht war den Verteidigern deutlich überlegen und erzielte rasche Erfolge. Und als die mit dem Deutschen Reich verbündete Sowjetunion am 17. September Polen im Osten attackierte, war dessen Niederlage besiegelt: Adolf Hitler und Josef Stalin hatten die Aufteilung des gemeinsamen Nachbarn in ihrem Pakt vom 23. August 1939 beschlossen und gingen nach dem 6. Oktober, als die letzten polnischen Einheiten in der Schlacht von Kock kapitulierten, an die Aufteilung des Landes.

Im Westen kamen die neu gebildeten Reichsgaue Wartheland und Danzig-Westpreußen zum Reichsgebiet, im Südosten das Gebiet um Kattowitz und im Norden die Region Ciechanów. Zentralpolen wurde mit Rückgriff auf eine gleichlautende Bezeichnung im Ersten Weltkrieg zum Generalgouvernement gemacht, dessen Hauptstadt aber ganz [13]bewusst nicht Warschau, sondern Krakau wurde – es galt, die polnische Nation möglichst komplett zu zerstören. Deshalb zogen im September 1939 im Gefolge der Wehrmacht auch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in die besetzten Territorien ein. Ihr Auftrag war das Ausschalten der polnischen Elite, die genauso gezielte wie pauschale Ermordung von Politikern, Priestern und Wissenschaftlern, die allesamt als politische Gegner galten.

Ähnlich gingen im Osten des Landes die sowjetischen Besatzer vor, die bis Mitte 1941 mehr Polinnen und Polen als die Deutschen ermordeten – rund 150 000. Und das, obwohl Himmlers Einsatzgruppen in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs mindestens 60 000 Menschen erschossen. In mancherlei Hinsicht war das aber bereits der Auftakt zum Vernichtungskrieg, zumal es nur selten zu Protesten wie jenen von Generaloberst Johannes Blaskowitz oder General der Artillerie Wilhelm Ulex kam. In jedem Fall waren bereits im ersten Kriegsjahr die 1948 von den Vereinten Nationen definierten Kriterien eines Genozids erfüllt – wohlgemerkt an ethnischen Polinnen und Polen, nicht an der jüdischen Minderheit des Landes. Die Wehrmacht beging ebenfalls zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung. Vielfach misshandelten die Soldaten aber auch Jüdinnen und Juden. Noch allerdings war das keine gezielte Vernichtung, sondern vor allem Ausdruck eines allgemeinen Antisemitismus.

Die ersten Weichen hin zur systematischen Verfolgung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung wurden aber sehr bald gestellt: eine allgemeine Arbeitspflicht, die de facto auf Zwangsdienste für die Besatzer hinauslief; die Beschlagnahmung von Vermögen und die Enteignung von Geschäften; eine gezielte Hungerpolitik und nicht zuletzt die Schaffung von Ghettos, in die die Jüdinnen und Juden eingesperrt wurden – 677 dieser euphemistisch »jüdische Wohnbezirke« genannten Gefängnisse errichteten die Besatzer auf polnischem Boden, das größte im Zentrum Warschaus. Gerade weil sich die deutschen Akteure grundsätzlich in ihrem Antisemitismus einig waren, entwickelte sich eine Art grausiger Konkurrenzkampf um die härtesten Maßnahmen, die sich gegen die jüdische Bevölkerung finden ließen.

Bettelnde Kinder im Warschauer Ghetto in einer deutschen Propagandaaufnahme, 1941

Die direkte Gewalt stieg mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 sprunghaft an. In die neubesetzten ostpolnischen Gebiete entsandte das SS-Reichssicherheitshauptamt erneut [14]Einsatzgruppen, deren Ziel nun aber nicht mehr nur die Ausschaltung der sowjetischen Führungsschicht war, sondern vor allem die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Das war der Beginn des Holocaust im Kugelhagel der Exekutionskommandos. Die Deutschen setzten dabei auf die Unterstützung nichtjüdischer Bevölkerungsgruppen in den besetzten Ländern und rekrutierten später außerdem mit mehr oder weniger Zwang zahllose Freiwillige in SS-Einheiten. Die Partizipationsangebote erstreckten sich nicht zuletzt auf die sogenannten Volksdeutschen, also die Angehörigen der deutschen Minderheiten.

Zu einer offiziellen Kollaboration mit nichtjüdischen Polinnen und Polen kam es dabei nicht, denn diese war in der NS-Ideologie nicht vorgesehen. Dennoch beteiligten sich einige von ihnen immer wieder an der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn – etwa in der Pogromwelle, die durch die im Sommer 1941 eroberten westlichen Gebiete der Sowjetunion rollte. Im Generalgouvernement existierte außerdem eine polnische Polizei, die neben allerlei regulären Aufgaben immer wieder bei den Deportationen aus den Ghettos in die [15]Vernichtungslager helfen musste. Wesentlich entscheidender war allerdings der reibungslos funktionierende deutsche Besatzungsapparat, in dem Zivilverwaltung, Eisenbahn, Polizei und Wehrmacht fast immer konfliktfrei zusammenarbeiteten, um dem gemeinsamen Ziel »Judenmord« näherzukommen. Nur auf diese Weise war der Holocaust als arbeitsteilige Kollektivtat möglich.

Die deutschen Vernichtungslager Auschwitz, Kulmhof, Belzec, Sobibor, Majdanek und Treblinka lagen allesamt auf polnischem Territorium. In Kulmhof (Chełmno) wurden fast 160 000 Jüdinnen und Juden aus dem Warthegau getötet. Im Generalgouvernement befanden sich mit Belzec, Sobibor und Treblinka Lager, in denen im Rahmen der »Aktion Reinhardt« zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 etwa 1,8 Mio. Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Die jüdischen Opfer der Lager stammten fast ausschließlich aus Zentralpolen sowie dem Bezirk Białystok. Nach Sobibor wurden aber auch Menschen aus den Niederlanden, der Slowakei oder Frankreich deportiert. Die Zahl der Toten liegt für dieses Lager bei etwa 180 000, für Belzec bei etwa einer halben [16]Million und für Treblinka bei annähernd 900 000. Neueste Forschungsergebnisse lassen den Schluss zu, dass die Zahl der jüdischen Opfer dort sogar höher war als in Auschwitz.

Das Vernichtungslager Sobibor, 1942 – die deutsche Privataufnahme zeigt bewusst keine Opfer.

Viel geringer war die Zahl der Überlebenden, die für die drei Lager der »Aktion Reinhardt« zusammengenommen lediglich etwa 300 beträgt, weil es dort ausschließlich um Vernichtung ging. Auschwitz hingegen war im Frühjahr 1940 zunächst als Konzentrationslager entstanden. Annähernd 200 000 Menschen wurden im sogenannten Stammlager getötet, darunter über 140 000 ethnische Polen. Der Holocaust fand im Nebenlager Auschwitz-Birkenau (»Auschwitz II«) statt. Knapp 900 000 jüdische Tote waren dort zu beklagen, ein Drittel von ihnen aus Polen. Die meisten, die in Birkenau starben, hatte man mit dem Zug aus ganz Europa an diesen Ort deportiert, etwa die Hälfte von ihnen [17]stammte aus Ungarn. Allerdings gab es tatsächlich Zehntausende, die Auschwitz durchliefen, von dort in andere Lager verlegt wurden und schließlich die Befreiung erlebten.

Die Chronologie des Holocaust entfaltete sich über die Einsatzgruppen, Kulmhof und »Aktion Reinhardt« bis hin zu Auschwitz, wo die meisten Opfer erst 1944 starben. Zu diesem Zeitpunkt galt das Generalgouvernement bereits als »judenfrei«: Die letzten Ghettos waren im Frühsommer 1943 aufgelöst worden, und bei der »Aktion Erntefest« Anfang November 1943 ermordeten die Deutschen auch die letzten überlebenden Lagerinsassinnen und -insassen. In der polnischen Hauptstadt entstand nun das KZ Warschau, um das in Schutt und Asche gelegte Ghettogelände zu enttrümmern und die verbliebenen Rohstoffe zu sichern. Dessen Häftlinge ließ die SS aus Auschwitz kommen. Außerhalb [18]des Lagers konnten Jüdinnen und Juden nur noch im Versteck überleben – jede Entdeckung zog nun die sofortige Ermordung nach sich.

Brutal verfolgt wurden auch die nichtjüdischen Polinnen und Polen: Etwa 1,9 Millionen von ihnen wurden während des Krieges zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt, allein aus dem Generalgouvernement deportierten die Besatzer fast sieben Prozent der Bevölkerung – eine Zahl, deren Dimension noch dadurch an Gewicht gewinnt, dass Kinder und Alte von vornherein ausschieden. Schätzungsweise 137 000 Polinnen und Polen kamen während der Zwangsarbeit ums Leben, u. a. weil sie deutsche Luftschutzbunker nicht betreten durften und Arbeitsschutzmaßnahmen für sie nicht galten.

Frühes deutsches Werbeplakat zur Anwerbung polnischer Arbeiter, 1940/41 – die Propagandaidylle verfing nicht, stattdessen war brutaler Zwang notwendig.

In ihrer Heimat wiederum war die Lebensmittelversorgung an ein Beschäftigungsverhältnis gekoppelt, sodass lediglich eine Tätigkeit im deutschen Interesse die Versorgung mit Essen in halbwegs auskömmlichem Maße sicherte. Aber selbst von den Bankangestellten, die nur leichte körperliche Arbeiten verrichteten, blieben regelmäßig mindestens zehn Prozent daheim und meldeten sich krank, weil sie es vor lauter Schwäche nicht ins Büro schafften. In den Städten war Hunger an der [19]Tagesordnung: Die offiziellen Rationen deckten 1944 im Generalgouvernement lediglich die Hälfte des Kalorienbedarfs, der bei überwiegend sitzender Tätigkeit benötigt wird. In den anderen Jahren lagen sie noch darunter, 1941 und 1943 etwa bei rund 850 Kalorien pro Tag – und die wenigsten Menschen arbeiteten in Büros.

Der Schwarzmarkt konnte nur Wenigen Linderung verschaffen. Für die meisten Einwohner Warschaus blieb er unerschwinglich teuer und zwang sie indirekt zum Verschleudern zahlloser Habseligkeiten. Die Lebensmittelpreise stiegen bei starken regionalen Schwankungen gegenüber den amtlichen Zuteilungen in phantastische Höhen. Selbst Brot oder Kartoffeln kosteten zehn bis fünfzehn Mal so viel wie vor dem Krieg, Zucker erreichte teilweise eine Teuerung von über 4000 Prozent.

Die Landbevölkerung war ebenfalls einer repressiven Ausbeutung ausgeliefert. Erfüllte ein Landwirt die absurd hohen Ernteablieferungsquoten nicht, drohte ihm im Generalgouvernement seit Sommer 1942 sogar die Todesstrafe. Auch aufgrund dieser Ausplünderung gelang es, der deutschen Bevölkerung im Reich bis zum Winter 1944/45 nie weniger als 2000 Kalorien täglich pro Person zur Verfügung zu stellen: Allein das Generalgouvernement lieferte 51 Prozent der Roggenimporte des Reichs, 66 Prozent der Haferimporte und 52 Prozent der Kartoffelimporte.

Wo immer sich die erwarteten Resultate nicht erzielen ließen, reagierte die deutsche Besatzungsmacht mit Gewalt. Misshandlungen, Terror und Mord entwickelten sich zu konstitutiven Elementen der Okkupationsherrschaft. Dieser Alltag führte zu neuen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern auf beiden Seiten, aber auch zu einer Identität der Besatzer als »Herrenmenschen« im Osten. Die eigene Stellung wurde schnell als erstrebenswert angesehen, denn gerade Warschau erwies sich in den ersten Kriegsjahren als vergleichsweise angenehmer Ort.

Deutscher Alltag in Warschau: Besuch im Ghetto mit dem Dienstwagen, 1942

Zeitweise waren bis zu 70 000 Besatzerinnen und Besatzer in der polnischen Hauptstadt präsent, etwa die Hälfte von ihnen waren Wehrmachtsangehörige. Deren Leben bestimmten einerseits die Kasernen, der Wachdienst sowie die vielen Aufgaben, die für die Versorgung der Front erledigt wurden, etwa Reparaturen, Nachschublieferungen, Lazarettbetrieb. Andererseits konnten sie sich auf exklusive Freizeitangebote freuen – von Kultur über leichte Unterhaltung bis hin zu Sport und sogar Bordellen.

[20]All das gab es grundsätzlich auch für deutsche Zivilbeschäftigte, etwa in der SS, der Verwaltung, Reichsbahn, Post und der Organisation Todt, die für Baumaßnahmen in den besetzten Gebieten zuständig war. Unter ihnen waren mindestens zehn Prozent Frauen, die teils als Beschäftigte, teils als Ehefrauen in Warschau lebten. Letztere gehörten zu den Besatzern, die nicht uniformiert waren: Geschäftsleute und Angestellte, aber auch die sogenannten Volksdeutschen, die Teil der deutschen Minderheit in Polen waren.

Sie alle profitierten von der Unterdrückung der Einheimischen in materieller Hinsicht. Und sie trugen dazu bei, die deutsche Herrschaft und damit unmittelbar auch den eigenen Status aufrechtzuerhalten. Und weil zugleich ein Rassen- und Volkstumskampf um »Lebensraum« ausgefochten wurde, an dessen Ende sich das germanische Reich bis zum Ural erstrecken sollte, waren Zugeständnisse an die unterlegenen Völker im Osten nur sehr begrenzt vorgesehen: In den Planungen wurde allenfalls noch eine kleinere Anzahl dieser Menschen als Sklaven für die neuen Herren benötigt; alle anderen waren zu vertreiben oder zu ermorden. Die nationalsozialistische Ideologie rechnete deshalb mit einer anhaltenden Gegenwehr der Unterlegenen, der »Schwächeren«.