Der Kern des Holocaust - Stephan Lehnstaedt - E-Book

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Stephan Lehnstaedt

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Beschreibung

Am 15. März 1942 begann die "Aktion Reinhardt". Die deutschen Besatzer deportierten die Juden aus den Ghettos im besetzten Polen und vergasten sie in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibór und Treblinka. Bis November 1943 ermordeten sie dabei annähernd zwei Millionen Menschen, verbrannten die Leichen und vergruben die Asche. Weniger als 150 Menschen überlebten. Was bleibt von diesem zentralen Kapitel des Holocaust? In Deutschland und weltweit steht Auschwitz symbolisch für die Ermordung der Juden. Belzec, Sobibór und Treblinka treten demgegenüber deutlich zurück. Dabei stehen sie wie kaum etwas anderes für den Kern des Holocaust: die industrielle Tötung von Menschen. Stephan Lehnstaedt legt die erste Gesamtdarstellung der "Aktion Reinhardt" in deutscher Sprache vor und erinnert eindrücklich an die Ermordung der polnischen Juden.

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Stephan Lehnstaedt

DER KERN DES HOLOCAUST

Betżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt

C.H.Beck

Zum Buch

In Deutschland und weltweit steht Auschwitz symbolisch für die Ermordung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Die Aktion Reinhardt mit ihren Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka, denen vor allem, aber nicht nur, die polnischen Juden zum Opfer fielen, führt demgegenüber ein Schattendasein. Dabei steht sie wie kaum etwas anderes für den Kern des Holocaust: die industrielle Tötung von Menschen. Indem die Täter die Mordstätten abbauten und alle Zeugnisse verbrannten, wollten sie nicht nur die physische Existenz ihrer Opfer vernichten, sondern auch die Erinnerung an sie. In gewisser Weise waren sie damit erfolgreich. In der ersten Gesamtdarstellung der Aktion Reinhardt in deutscher Sprache rückt Stephan Lehnstaedt die Toten von Bełżec, Sobibór und Treblinka wieder ins Bewusstsein, damit wenigstens die Zeugnisse ihrer Existenz und ihres Leids überdauern.

Über den Autor

Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

Inhalt

Besuch in Treblinka 2016. Ein Ort zum Beten und zum Weinen

1. Die polnischen Juden im Holocaust, 1939–1942

2. Von der «Euthanasie» zur Aktion Reinhardt. Die Genesis des Genozids, 1940–1942

3. Massenmörder. Deutsche Täter und ihre Hilfskräfte

4. Form follows function. Der Bau von Bełżec, Sobibór und Treblinka

5. «Aktionen». Die Auflösung der Ghettos in Polen und die Deportationen in die Vernichtungslager

6. Vernichtung. Der Massenmord durch Gas und die Beseitigung der Leichen

7. In der Hölle. Leben und Überleben im Vernichtungslager

8. Rettung!? Aufstände und Flucht aus den Vernichtungslagern

9. Ein öffentliches Geheimnis. Das Wissen über die Aktion Reinhardt

10. Das Ende. Die «Aktion Erntefest» und der Abbau der Vernichtungslager

11. Gute Geschäfte. Die Bilanz der SS und die «goldene Ernte» der Polen nach 1944

12. Gerechtigkeit? Die Verurteilung der Täter nach 1945

13. Hier ist nicht Auschwitz. Gedenken und Gedenkstätten

Aus den Augen, aus dem Sinn. Das erfolgreiche Vergessen eines Genozids

Dank

Anmerkungen

Besuch in Treblinka 2016. Ein Ort zum Beten und zum Weinen

2. Von der «Euthanasie» zur Aktion Reinhardt. Die Genesis des Genozids, 1940–1942

3. Massenmörder. Deutsche Täter und ihre Hilfskräfte

4. Form follows function. Der Bau von Bełżec, Sobibór und Treblinka

5. «Aktionen». Die Auflösung der Ghettos in Polen und die Deportationen in die Vernichtungslager

6. Vernichtung. Der Massenmord durch Gas und die Beseitigung der Leichen

7. In der Hölle. Leben und Überleben im Vernichtungslager

8. Rettung!? Aufstände und Flucht aus den Vernichtungslagern

9. Ein öffentliches Geheimnis. Das Wissen über die Aktion Reinhardt

10. Das Ende. Die «Aktion Erntefest» und der Abbau der Vernichtungslager

11. Gute Geschäfte. Die Bilanz der SS und die «goldene Ernte» der Polen nach 1944

12. Gerechtigkeit? Die Verurteilung der Täter nach 1945

13. Hier ist nicht Auschwitz. Gedenken und Gedenkstätten

Aus den Augen, aus dem Sinn. Das erfolgreiche Vergessen eines Genozids

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Besuch in Treblinka 2016. Ein Ort zum Beten und zum Weinen

Treblinka ist ein ruhiger Ort fernab jeglicher Verkehrs- und Touristenrouten, etwa 80 Kilometer nordöstlich von Warschau. In dichten Kiefernwäldern verrät nichts das grauenhafte Geschehen, das dort vor bald 75 Jahren stattfand: Am 22. Juli 1942 begannen die deutschen Besatzer mit der Deportation von Juden aus dem Warschauer Ghetto, die sie im Vernichtungslager Treblinka vergasten. Bis November 1943 ermordeten sie dort beinahe 900.000 Menschen aus den Ghettos im besetzten Polen, verbrannten die Leichen und vergruben die Asche. Heutzutage erinnern eine kleine Gedenkstätte, ein Mahnmal und eine symbolische Eisenbahntrasse an den Holocaust.

Nur wenige Besucher verirren sich hierher. In der Stille der ostpolnischen Provinz hat man diese Stätte meist für sich alleine. Im warmen Licht eines Spätsommertags wandeln wir auf einem gigantischen Massengrab, spazieren mit fröhlichem Vogelgezwitscher in den Ohren über die Asche von Hunderttausenden. Die merkwürdige Ruhe verstört und überwältigt zugleich. Wie ist es möglich, dass die kaum vorstellbaren Taten keine Spuren hinterließen?

Aber wir täuschen uns. Es gibt Zeugnisse, dort, wo man sie nicht vermutet: Bäume sind die letzten Hinterlassenschaften der Mörder. Der Wald wurde gepflanzt, damit nichts sichtbar ist, damit gewissermaßen Gras über die Sache wächst. Die Täter sind in Treblinka sogar verantwortlich für den Frieden und die Würde. Es ist ein Ort, um an der Menschheit zu verzweifeln. Ein Ort, an dem nur Beten oder Weinen bleibt.

Doch Treblinka ist nicht das einzige beinahe vergessene Vernichtungslager. Noch abgelegener, noch weniger erschlossen und noch unbekannter sind Bełżec und Sobibór, nur wenige Kilometer entfernt von den heutigen Grenzen zur Ukraine und zu Weißrussland. Es kommen selten Besucher dorthin. Abermals gibt es nichts zu sehen, nur Bäume als Zeugen und kleine Mahnmale erinnern an das Grauen. Wie in Treblinka fand an diesen Orten seit Frühjahr 1942 unter dem Tarnnamen «Aktion Reinhardt» die systematische Ermordung von Juden statt – oder besser: von denjenigen Menschen, die die Deutschen als «Juden» betrachteten. Sie stammten vor allem aus dem Generalgouvernement Polen und dem Bezirk Białystok, aber auch aus anderen Ländern des besetzten Europa. Fast eine halbe Million Opfer waren in Bełżec zu beklagen, knapp 200.000 in Sobibór.

Was bleibt von diesem zentralen Kapitel des Holocaust? Zählt man alle Toten zusammen, also zusätzlich diejenigen, die beim Zusammentreiben in den Ghettos oder in den Deportationszügen starben, kommt man auf mindestens 1,8 Millionen, vielleicht sogar zwei Millionen. Wir werden ihre Namen nie alle kennen, ja nicht einmal ihre exakte Anzahl bestimmen können – zu effektiv haben die Mörder ihre Spuren verwischt. Auch deshalb ist die Aktion Reinhardt heutzutage trotz ihrer Dimensionen kaum bekannt. In den letzten Jahren erschienen zwar neue Studien zu Detailaspekten, aber die einzige Gesamtdarstellung – in englischer Sprache – datiert von 1987.[1]

In Deutschland und weltweit steht Auschwitz symbolisch für die Ermordung der Juden. Über eine Million Menschen töteten die Deutschen dort, mehr als an jedem anderen Ort. Das Einfahrtsgebäude mit der Rampe ist längst eine Ikone geworden, die riesige Fläche mit ihren Zäunen, Baracken und Resten der Gaskammern ist ein Monument gegen das Vergessen. Der Besucherandrang ist inzwischen so groß, dass Tickets vorab bestellt werden müssen. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen sahen 2015 diese Stätte. Treblinka, das bekannteste Lager der Aktion Reinhardt, hat täglich keine 200 Besucher, obwohl das Gelände rund um die Uhr offen zugänglich ist. In Bełżec sind es noch einmal weniger als halb so viele Besichtigungen. Und die Gedenkstätte in Sobibór ist seit 2012 aus Geldmangel geschlossen.

Bełżec, Sobibór und Treblinka überlebten insgesamt weniger als 150 Menschen. 2016, über 70 Jahre nach der Befreiung, sind sie alle tot. Doch wer außer ihnen sollte das Gedenken an die Opfer anmahnen und einfordern? Haben die Deutschen also am Rande Europas das «perfekte» Verbrechen begangen, das heute ebenso aus den Augen wie aus dem Sinn ist? Das wäre umso tragischer, als die Aktion Reinhardt den eigentlichen Kern des Holocaust darstellt: die beinahe vollständige Auslöschung der polnischen Juden, der Mord an annähernd zwei Millionen Menschen fast ohne sichtbare Spuren. Eine monströse Tat, die sich heutzutage nicht wie in Auschwitz in einem gigantischen Lagerkomplex für Zehntausende Zwangsarbeiter offenbart, sondern gerade in dessen Nichtvorhandensein. So steht die Aktion Reinhardt für die Quintessenz des Hasses und des deutschen Antisemitismus. Sie war die reine Vernichtung ohne irgendwelchen sonstigen «Nutzen».

Dieses Buch handelt von der Geschichte der Aktion Reinhardt und ihren Opfern – den polnischen Juden. An ihnen entwickelten die Deutschen seit September 1939 das antisemitische Programm weiter zum Genozid. Der im Frühjahr 1942 einsetzende industrielle Massenmord wurde nicht in Auschwitz «erfunden», sondern in und für Bełżec. Danach perfektionierten hoch motivierte Täter nach und nach Tötungsmethoden. Es gab für den Holocaust keinen Masterplan, er war deshalb möglich, weil sich die deutsche Führungsspitze einig war, die Juden zu vernichten.

Züge, in denen bis zu 5000 Menschen in Viehwaggons gepfercht waren, ließen Männer wie Christian Wirth oder Franz Stangl in wenigen Stunden leeren – sie trieben die Opfer in Gaskammern, die ebenso simpel wie brutal effizient mit Motorabgasen funktionierten. Doch die eigentliche Herausforderung war für die Mörder die Leichenbeseitigung. Wo die Gaskammern 2000 Menschen in gut 20 Minuten töteten, nahm deren Verscharren in Massengräbern ein Vielfaches an Zeit in Anspruch. Die Gruben mit halbverwesten Körpern strömten einen infernalischen Gestank aus und stellten – schlimmer noch – einen unwiderlegbaren Beweis für das Verbrechen dar. Ab Ende 1943 wurden die Leichen daher ausgebuddelt und auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt. Erneut zeigten sich die Mordexperten mit ihren simplen Lösungen hochzufrieden.

Die Aktion Reinhardt belegt die reibungslose Zusammenarbeit gewissenloser Überzeugungstäter mit «ganz normalen Männern» der Zivilverwaltung, der Reichsbahn oder der Polizei, die die Juden aus den Ghettos ohne Bedenken in die Vernichtung schickten. Von Lublin aus steuerte der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik dieses Netzwerk. Die präzise Organisation erlaubte es, dass in den Lagern jeweils nur etwa 20 Deutsche mordeten. Sie konnten auf kollaborierende frühere Kriegsgefangene der Roten Armee zurückgreifen, von denen John (Iwan) Demjanjuk in Sobibór den größten Bekanntheitsgrad erlangte. Dieses arbeitsteilige Vorgehen gegen die Juden, gemeinsam mit den unterdrückten Völkern Europas, ist ein zentraler Aspekt des Holocaust. Er war möglich, weil letztendlich niemand protestierte. Die Schreie der Opfer verhallten ungehört, obwohl das Geschehen durchaus beobachtet wurde. Berichte jüdischer, polnischer und deutscher Widerständler gibt es zuhauf. Aber auch exemplarische Zeugnisse von einfachen Soldaten, von durchreisenden Männern und Frauen, die das öffentliche Geheimnis bezeugten.

Details blieben ihnen verborgen, aber die Dimension des Genozids schätzten sie oft erstaunlich präzise. Über das Grauen in den Lagern selbst berichten die wenigen Überlebenden. Sie schildern Verzweiflung und Durchhaltewillen und finden Worte für das Unvorstellbare, das sprachlos Machende. Wo in Auschwitz «Selektionen» stattfanden, die in vorgeblich Arbeitsfähige und zu Ermordende schieden, die Kandidaten für unmenschliche pseudowissenschaftliche Experimente auswählten und die einen umfassenden wirtschaftlichen Betrieb der SS ermöglichten, benötigte die Aktion Reinhardt lediglich eine geringe Zahl todgeweihter Sklaven für die «Verarbeitung» der Juden aus den Deportationszügen. In den Augen der Täter gab es keinen Nutzen, den die Opfer noch haben konnten. Selbst deren Beraubung war nur ein Nebenprodukt, das helfen sollte, die Unkosten zu decken – der Lagerbau kostete Geld, Züge der Reichsbahn fuhren nicht umsonst, und auf persönlicher Ebene boten sich ebenfalls einige Bereicherungsmöglichkeiten.

Es gab keine Überlebenschance. Deshalb schlossen sich Juden in Treblinka und Sobibór zusammen und leisteten Widerstand. In Treblinka kam es am 2. August 1943 noch eher zufällig und wenig organisiert zum Aufstand. In Sobibór, am 14. Oktober 1943, brach die Rebellion mit fast militärischer Präzision und Planung los. Obwohl letztlich nur jeweils gut 60 Häftlinge den Ausbruch überlebten, setzten sie ein Fanal: Die Täter hatten nun Angst vor den Opfern. Sie führten den Genozid nicht mehr in den Lagern der Aktion Reinhardt fort, sondern nur noch in Auschwitz.

Flüchtlinge wie Toivi Blatt aus Sobibór oder Chil Rajchman und Samuel Willenberg aus Treblinka waren es, die nach 1945 alles daransetzten, die Mörder vor Gericht zu bringen. Doch erst in den 1960er Jahren waren Polizei und Justiz in Deutschland willens, systematisch Ermittlungen und Prozesse einzuleiten. Auch wegen der Aussagen der ehemaligen Lagerinsassen gab es so etwas wie eine späte Gerechtigkeit, selbst wenn längst nicht alle SS-Männer eine Strafe erhielten. Als tragisch erwies sich der Fall Bełżec, wo es überhaupt nur drei Überlebende gab; lediglich einer von ihnen, Rudolf Reder, ein 1881 geborener Seifenfabrikant aus Lemberg, sagte vor einem deutschen Gericht aus. Die Juristen waren der Ansicht, dass das nicht für eine Verurteilung reiche, sie sprachen die Angeklagten frei.

Es ist dies nur das bedrückendste Beispiel für die Nachgeschichte des Holocaust. Schon 1944, direkt nach dem Durchmarsch der Roten Armee, begaben sich zahlreiche Polen auf die ehemaligen Lagergelände und begannen, diese auf der Suche nach versteckten Wertsachen regelrecht zu durchwühlen. Es war die «goldene Ernte» nach dem Genozid, der die neu entstandene Volksrepublik machtlos gegenüberstand, obwohl gleichzeitig engagierte Staatsanwälte umfassende Ermittlungen zu den deutschen Verbrechen durchführten.

Doch diese Untersuchungen verliefen im Sande. Weder war man in Deutschland daran interessiert, noch wurde Polen der Täter habhaft. Außerdem waren Verbrechen an Juden schlicht nicht so wichtig wie diejenigen an der «eigenen», der «polnischen» Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund gestaltete sich das Gedenken: Die meisten der wenigen Überlebenden waren in die USA und nach Israel ausgewandert, Priorität erhielten daher Auschwitz und Majdanek als Stätten auch polnischen Martyriums. In Treblinka, Bełżec und Sobibór entstanden erst in den 1960er Jahren Mahnmale, Museen nochmals deutlich später. Bundesrepublik und DDR zeigten sich gleichgültig – und bis heute hat Deutschland kein Geld für den Erhalt oder das Gedenken in den Lagern der Aktion Reinhardt bereitgestellt.

Noch 2013 lehnte die Bundesregierung ein finanzielles Engagement in Sobibór mit der Begründung ab, dass es dort keine deutschen Opfer gegeben habe. Das ist von Seiten der Täternation schon für sich genommen absurd. Es ist außerdem sachlich falsch. Denn obwohl die Aktion Reinhardt primär die Ermordung polnischer Juden zum Ziel hatte, ließ Adolf Eichmann auch aus Westeuropa Züge in den Osten fahren. Tatsächlich befanden sich etwa 25.000 deutsche und österreichische Juden unter den Opfern von Sobibór. Weitere dort und in den anderen beiden Lagern Getötete waren Juden aus Griechenland, Jugoslawien, dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren – heute Tschechien –, der Slowakei, Frankreich und den Niederlanden sowie aus Weißrussland und Litauen. Ermordet wurden außerdem etwa 2000 Sinti und Roma. Das ist die ebenfalls weithin vergessene europäische Dimension dieses Völkermords.

Rachel Auerbach, die große Historikerin und erste Chronistin von Treblinka, schrieb schon 1947 von der Schwierigkeit des angemessenen Erinnerns. Zu unvorstellbar war die Dimension des Verbrechens, zu groß die Lücke, die der Genozid hinterlassen hatte. Wie könnte es auch möglich sein, angemessen fast zweier Millionen Individuen zu gedenken und über sie zu berichten? Es schien Auerbach, als könne sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden:

Unter denen, die in meinem Bericht fehlen, befindet sich Halina Czechowicz, das sieben Jahre alte Mädchen in Treblinka, das kleine jüdische Mädchen, das nur wenige Minuten, bevor es starb, groß geworden ist. Als ihr Vater und sie sich trennten, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter, weder weil sie an seiner Brust Trost suchen wollte noch um die Augen für einen Moment vor dem Tod, den sie bereits gesehen hatte, zu verstecken. Nein, er war es, dem sie Trost und Kraft spenden wollte. «Papa, hab keine Angst! Papa, mach Dir keine Sorgen!» sagte sie, und: «Hier ist meine Uhr. Nimm sie! Du wirst am Leben bleiben und so sollst Du sie haben.»

Es ist dieser eine Moment, dieses eine Schicksal, das für Rachel Auerbach Treblinka versinnbildlicht:

Auch ich kann das kleine Mädchen hören und sehen. Die Tränen, die sie nie vergossen hat, weil sie nicht wollte, dass ihr Vater litt, werden in meinem Herzen bis zum Ende meiner Tage fließen.[2]

1. Die polnischen Juden im Holocaust, 1939–1942

In dem nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten polnischen Staat hatten über drei Millionen Menschen jüdische Wurzeln. Längst nicht alle waren streng gläubige Chassidim oder Litwaken, das Spektrum reichte bis zu Agnostikern und getauften Konvertiten. Es gab Reiche und Arme, Arbeiter und Intellektuelle, an der Auswanderung nach Palästina oder einer Heimstatt in Europa Interessierte. Juden gehörten dem rechten und linken politischen Spektrum an oder kümmerten sich gar nicht um Politik. Manche wollten sich assimilieren, wieder andere lehnten die polnische Lebensart strikt ab. Jede dieser Gruppen unterhielt eigene Schulen und Hochschulen, Theater, Zeitungen und hing eigenen Parteien an. Kurz: Die Vielfalt jüdischen Lebens in Polen blühte und mit ihr eine reiche Kultur in den drei Sprachen Jiddisch, Hebräisch und Polnisch.

Doch trotz offizieller Gleichberechtigung mussten die Juden in den 1930er Jahren vielfach Misshandlungen durch ihre Mitbürger erdulden. In der Rzeczpospolita (Republik Polen) gab es Boykotte gegen ihre Geschäfte, die staatlichen Universitäten beschränkten ihren Zugang, und nicht zuletzt kam es immer wieder zu Pogromen mit zahlreichen Toten. Hinter der systematischen Entrechtung im nationalsozialistischen Deutschland blieb all dies zwar weit zurück, aber in den Augen der polnischen Juden galten die Deutschen weithin als zivilisierte Nation, von der kein schlimmes Unheil zu befürchten war. Dieses Urteil beruhte auch auf der Besatzung Osteuropas im Ersten Weltkrieg. Damals waren die Mittelmächte als Befreier vom dumpfen Antisemitismus des Zarenreichs aufgetreten und hatten Gedanken von Aufklärung und Gleichberechtigung mitgebracht. Nach ihrer Niederlage 1918 kam es indes zu einem Wiederaufflammen der antijüdischen Gewalt von Seiten der «Nachbarn». Die Deutschen standen demgegenüber für Ordnung. Und selbst wenn sie Nationalsozialisten waren, konnten sie so schlimm nicht sein.

Wie sich unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 zeigen sollte, war dies ein tragischer Irrtum. Noch während des Feldzugs misshandelten Wehrmachtsangehörige zigtausende Juden. Sie schnitten in Kaftane gekleideten Männern die Bärte ab, ließen sie für sich tanzen und fanden viele andere Wege, sie zu demütigen. Und schlimmer noch: Brutale Misshandlungen begannen, Juden wurden geschlagen, es kam zu Erschießungen und Massakern. Alleine in Tschenstochau töteten die Besatzer in der ersten Septemberwoche über 200 Zivilisten, die meisten von ihnen Juden.[3]

Was die Vorgesetzten größtenteils tolerierten oder sogar unterstützten, war freilich noch keine systematische antijüdische Mordpolitik. Vielmehr richteten sich die neuen Machthaber zunächst gegen die alten Eliten des polnischen Staates, die nur selten Juden waren. Bis Frühjahr 1940 exekutierten die Heinrich Himmler unterstellten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD sowie die aus ihnen hervorgehenden deutschen Polizeidienststellen mindestens 60.000 Menschen. Tausende davon waren jüdisch, aber die bei Weitem größte Opfergruppe stellten zu diesem Zeitpunkt – noch – katholische Polen.[4] Das galt genauso in den Teilen des Landes, die die Sowjetunion besetzte, denn die Rote Armee hatte am 17. September 1939 die Ostgrenzen Polens überschritten und war auf Seiten Deutschlands in den Krieg eingetreten. Nach der Kapitulation des gemeinsamen Feindes am 6. Oktober ließen die Diktatoren Hitler und Stalin rücksichtslos all jene verfolgen, in denen sie Gegner sahen.

Unterdessen begann die politische Neuordnung des eroberten Gebiets. Ins Deutsche Reich wurden die neuen Gaue Danzig-Westpreußen und Wartheland eingegliedert, dazu Teile Ostoberschlesiens und der Region Zichenau (Ciechanów). Und während östlich der Flüsse Bug und San die Sowjetunion herrschte, schuf Hitler mit dem Generalgouvernement eine Okkupationsverwaltung, die als «Nebenland des Reiches» firmierte und von seinem Hausjuristen Hans Frank geleitet wurde. Deren vier Distrikte Radom, Lublin, Warschau und Krakau waren nach den jeweils größten Städten benannt, wobei Franks Regierung in Krakau residierte. In all diesen Gebieten trieben die Besatzer die rassische Hierarchisierung voran: Deutsche standen über den Polen, und unter denen rangierten die Juden, die von der übrigen Bevölkerung abzusondern waren; anderen ethnischen Minderheiten des untergegangenen Staates, wie Litauern oder Ukrainern, begegneten die neuen Herren mit Skepsis, machten ihnen aber auch Kollaborationsangebote.

Bei Polen und Juden war dergleichen undenkbar. Doch während die Staatlichkeit der Ersteren beseitigt werden sollte, erschien es wichtig, auf die Letzteren einen systematischen Zugriff zu haben. Nur das ermöglichte die rasche Umsetzung antisemitischer Regelungen, die bereits aus dem Reich bekannt waren. Es erlaubte aber auch neue Maßnahmen, wie etwa den «Judenstern», also die öffentliche Kennzeichnung der Betroffenen als ideologische Hauptfeinde. In den allermeisten Orten mit jüdischer Bevölkerung riefen die Besatzer deshalb sogenannte Judenräte ins Leben, also von ihnen ernannte Gremien, die die Selbstverwaltung der Juden organisieren sollten, de facto aber vor allem für die Umsetzung deutscher Befehle zuständig waren. Mitglieder waren meist örtliche Honoratioren, bevorzugt solche mit deutschen Sprachkenntnissen.

Unmittelbar nach den Schrecken des Kriegsbeginns schien dies auf eine Beruhigung abzuzielen. Wo in den ersten Tagen der Okkupation individuelle Brutalität von Soldaten und Polizisten geherrscht hatte, wo einzelne Juden auf offener Straße zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren, kehrte jetzt eine gewisse Ordnung ein. Judenratsvorsitzende wie Adam Czerniaków in Warschau oder Chaim Rumkowski in Litzmannstadt (Łódź) sahen es als ihre Pflicht, Schaden von den neu geschaffenen jüdischen Zwangsgemeinschaften abzuwenden, und versuchten deshalb, die deutschen Wünsche möglichst genau zu erfüllen. Sie schufen beispielsweise Arbeitsbataillone, die den Deutschen als Hilfskräfte für verschiedenste Tätigkeiten zur Verfügung standen, was wiederum die willkürlichen Verhaftungen zur Zwangsarbeit beendete.

Die Erfolge der Räte waren ganz unterschiedlich, was auch stark vom Spielraum abhing, den die Deutschen gewährten: Sie entschieden letztendlich über die Mitglieder dieser Gremien, und wer ihren Befehlen nicht gehorchte, musste mit Misshandlungen und im schlimmsten Fall mit seiner Erschießung rechnen. In Krakau beispielsweise verhafteten und ermordeten die Besatzer zweimal nacheinander das ganze Komitee, bis mit Dawid Gutter ein Vorsitzender amtierte, der als ebenso willfährig gegenüber den Besatzern wie skrupellos gegenüber den Juden galt. Im Gegensatz dazu erfuhr etwa Czerniaków für seine Integrität und Kollegialität hohe Wertschätzung, während Rumkowski bis in die letzte Zeit vorwiegend als nach innen selbstherrlicher Regent, nach außen unterwürfiger Diener der Deutschen gesehen wurde.[5]

Zumindest anfänglich aber waren die Selbstverwaltungen für Besetzte und Besatzer von Vorteil, weshalb sich die Organisationsformen bald weiterentwickelten. In den Städten entstanden eine jüdische Polizei, eine eigene Gerichtsbarkeit sowie eine Sozialfürsorge mit Suppenküchen und Krankenstationen. Zusätzlich schufen die Judenräte Bildungsangebote sowie eine Wohnungs- und Lebensmittelverteilung, die sie durch ein eigenes Steuersystem finanzierten. All dies war deshalb notwendig, weil die Deutschen die Juden sehr schnell aus der bisherigen Gesellschaftsordnung ausschlossen. Nicht zuletzt enteigneten sie Betriebe und Fabriken, was insbesondere Handwerker und Selbständige hart traf – sie verloren auf einen Schlag ihre Einkommensgrundlage und konnten ihre Familien nicht mehr versorgen.

Kurz darauf beschlagnahmten die Deutschen Wohnungen und Grundbesitz. Da sie neben wilden, oft individuellen Plünderungen zusätzlich in Form von «Kontributionen» zahlreiche Sonderabgaben von den Juden verlangten, trat eine rapide Verarmung ein, zumal auch Wertgegenstände von der Requisition nicht verschont blieben. Der Raub jüdischen Besitzes, der meist in deutsches Eigentum überführt und damit «arisiert» wurde, schädigte letztlich die Wirtschaft des ganzen Landes. Zahllose Geschäfte waren nun geschlossen, Hunderttausende von Menschen arbeitslos, ihre Bankkonten gesperrt, Vermögenswerte geplündert. Doch damit nicht genug, neue Verordnungen schlossen im Generalgouvernement Juden von staatlichen Sozialleistungen wie Gesundheitsfürsorge oder Rente aus, so dass bereits Ende 1939 ein großer Teil von ihnen täglich ums Überleben kämpfen musste.

Und die Deutschen verschärften die Situation weiter. Bereits am 8. Oktober 1939 schufen sie in der knapp 150 Kilometer südwestlich von Warschau gelegenen Kreisstadt Piotrków Trybunalski ein erstes Ghetto. Juden mussten nun in einem gesondert ausgewiesenen Bereich leben, in dem Polen oder Deutsche nicht mehr wohnen durften; den Juden war das Verlassen dieses Bezirks nur mehr in Ausnahmefällen erlaubt. Eine derartige Aussonderung hatte es, anders als in West- und Südeuropa seit dem Mittelalter, bislang in Polen nicht gegeben. Zwar galt seit dem 19. Jahrhundert eine Gegend mit besonders vielen jüdischen Bewohnern umgangssprachlich als Ghetto, aber damit verbanden sich keine staatlichen Vorschriften. Und selbst wenn es in jenen Straßenzügen oft eng zuging, war das nichts verglichen mit den 28.000 Menschen, die die Nationalsozialisten nun in Piotrków in ein Gebiet zwangen, in dem vorher nur 6000 gelebt hatten.[6]

Im ganzen Land entstanden für etwa 1,8 Millionen Juden bis Anfang 1942 Hunderte von Ghettos, manche mit kaum hundert Insassen, andere, wie das in Warschau, mit fast 450.000. Alleine im Generalgouvernement waren es 342 dieser «Wohnbezirke», wobei nur in 26 von ihnen mehr als 10.000 Menschen leben mussten. Schon diese Zahlen geben einen kleinen Eindruck davon, dass die Unterschiede immens waren. Wo in Warschau eine Großstadt in der Metropole existierte, in der alle Bereiche des Miteinanders an die Zwangsbedingungen adaptiert wurden, lebte eine halbe Million Juden in kleinen Ghettos, in denen sich die äußeren Bedingungen viel weniger stark wandelten und oft noch der Vorkriegszeit ähnelten. Häufig waren diese nicht einmal von einem Zaun oder einer Mauer umgeben, die Kontrolle blieb der lokalen polnischen Polizei überlassen, und Besatzer zeigten sich dort höchstens alle paar Tage. Entsprechend unterschieden sich die Wahrnehmungen, weshalb beispielsweise der Überlebende Frederick Weinstein über Gniewoszów, ein kleines Ghetto mit knapp 3000 Insassen im Distrikt Radom, berichtet, dass dort «nach einem Jahr deutscher Besatzung die Juden so viel Freiheit genossen» und ohne Einschränkung ihre Religion ausüben konnten.[7]

In den allermeisten Ghettos war die Lage aber weit weniger entspannt. Dort lebten nicht mehr nur diejenigen, die vorher in jenem Ort gewohnt hatten, sondern zahlreiche Deportierte aus dem Westen Polens. In diesen ins Reich eingegliederten Gebieten träumten die Deutschen von rein «arischen» Städten und Dörfern, weshalb sie bis März 1940 weit über hunderttausend Juden ins Generalgouvernement umsiedelten; später folgten nochmals einige Tausend vorwiegend aus dem Altreich und aus Wien. Der Lehrer Chaim Kaplan notierte dazu in seinem Tagebuch:

Die Verbannten wurden vor Sonnenaufgang aus ihren Betten getrieben, und die Schergen des Führers ließen sie weder Geld noch Habseligkeiten, noch Lebensmittel mit sich nehmen und drohten ständig, sie zu erschießen. Bevor sie den Marsch in die Verbannung antraten, durchsuchte man ihre Taschen und sämtliche verborgenen Stellen der Kleider und des Körpers. Ohne einen Pfennig in der Tasche und ohne warme Decken für die Frauen, Kinder, alten Leute und Gebrechlichen – manchmal ohne dass sie Schuhe an den Füßen oder Krücken an den Händen hatten – zwang man sie, ihre Wohnungen und Habseligkeiten und die Gräber ihrer Vorfahren zu verlassen und fortzugehen.[8]

Die Alteingesessenen nahmen sich ihrer wohl oder übel an, aber angesichts der eigenen verzweifelten Lage konnten sie wenig helfen. Oft waren die Vertriebenen daher die Ärmsten unter den Ghettoinsassen. Es ging ihnen noch schlechter als den Juden, die aus Hunderten von Dörfern oder Städtchen in die lokalen Zentren umsiedeln mussten, um den Deutschen den direkten Zugriff und die Kontrolle über sie zu ermöglichen.

Die Judenräte wiesen sie in Wohnungen ein, die sowieso schon überbelegt waren. Es ging schlicht nicht anders. Im Krakauer Ghetto verteilten sich über 15.000 Insassen auf nur etwas mehr als 300 oft einstöckige Gebäude, in denen auch noch die verschiedenen Institutionen der Selbstverwaltung unterkommen mussten. Quartiere mit nur einer Person pro Zimmer waren die große Ausnahme und vor allem Funktionären vorbehalten. Normalerweise mussten sich zehn oder mehr Menschen eine Zweizimmerwohnung teilen, weshalb die durchschnittliche Belegung pro Raum fast vier Personen betrug.[9] Die Bevölkerungsdichte im Warschauer Ghetto lag bei über 150.000 Menschen pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Manhattan liegt sie aktuell bei 27.500.

Ab dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wiederholten sich diese Szenen, und die bisherigen Phasen der Entrechtung der polnischen Juden liefen in nochmals höherer Geschwindigkeit in den neu eroberten Territorien ab. Von den früheren Gebieten der Republik Polen, die fast zwei Jahre lang unter der Herrschaft Moskaus gestanden hatten, gliederte Hitler nur den Bezirk Białystok ins Reich ein. Weit größere Teile bildeten nun die westlichen Ausläufer der neuen Reichskommissariate Ostland und Ukraine, und auch das Generalgouvernement erhielt im Südosten mit dem Distrikt Galizien um die Stadt Lemberg eine substantielle Erweiterung.

Die dortigen Juden mussten ganz zu Beginn dieser nächsten Besatzung ebenfalls einen Durchmarsch von Einsatzgruppen erleiden, aber anders als 1939 ging es nun nicht mehr um die Ausschaltung einer lokalen Elite, sondern um einen antijüdischen Rassenkrieg. Massaker mit insgesamt vielen hunderttausend Opfern waren die Folge, in nicht wenigen Orten erschossen die Deutschen tatsächlich alle Juden. In der Region Wolhynien töteten die Einsatzgruppen alleine in den Monaten September und Oktober 1941 rund 25 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Anderswo, wie etwa in dem kleinen ostgalizischen Städtchen Kosów Huculski, wo 2000 der ursprünglich über 4000 Juden ermordet wurden, starb sogar fast die Hälfte der Einwohner.

Die Vernichtung stellte auch die Judenräte vor veränderte Herausforderungen. In den dezimierten Städtchen war es oft gar nicht mehr möglich, eine halbwegs funktionsfähige Selbstverwaltung zu errichten. In Orten wie Czortków oder Krzemieniec ließen sich kaum mehr als eine Suppenküche und Kleiderspenden aufbauen; eine darüber hinausgehende Sozialfürsorge, Schulen oder gar ein religiöses Leben gab es nicht mehr, die lokalen Gesellschaften zerfielen. Unfähige Kollaborateure, die die Deutschen mehr denn je für Leitungsfunktionen auswählten, taten ein Übriges, um die Situation noch unerträglicher als in den westlichen Teilen des Generalgouvernements zu machen.[10] Im galizischen Stanisławów notierte die 21-jährige Elsa Binder kurz nach Neujahr 1942 voller Verzweiflung:

Am schlimmsten sind die Abende. Um sieben Uhr, wenn das Licht auf Befehl gelöscht werden muss, geht die ganze Familie ins Bett. Nur ich verschwende eine Kerze, in deren Licht ich schreibe oder lese. Schließlich gehe ich ins ungeheizte Zimmer, in das von einem Ziegel angewärmte Bett, wo ich ausreichend Gelegenheit habe, über mein gegenwärtiges Leben nachzudenken.

Leben? Es ist sehr zweifelhaft, ob man das Leben nennen kann.

Vegetieren? Auch das nicht. Schließlich denke, fühle und leide ich. Alles in mir ist ein Zusammenklang aus Schmerz und Hoffnung.[11]

Die Verelendung der Juden schritt unter deutscher Herrschaft rasch fort, und zwar in allen okkupierten Gebieten. Die Ghettos waren weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten, was sich insbesondere bei der Lebensmittelversorgung bemerkbar machte. Die Besatzer waren nicht bereit, die notwendigen Mengen unentgeltlich zu liefern, während die verfügbaren Gelder schnell aufgebraucht wurden. Und was für die Ghettos als Ganzes galt, betraf auch jeden Einzelnen: Zwar konnten die Judenräte für die Ärmsten der Armen etwas Essen gratis zur Verfügung stellen, aber das reichte nicht einmal notdürftig aus. Die Menschen verhungerten, alleine für Warschau ist bis zum Sommer 1942 von etwa 80.000 Toten infolge von Mangelernährung und den damit verbundenen Krankheiten auszugehen. Auch bei Medikamenten war die Versorgungslage katastrophal, so dass Seuchen wie Typhus oder Tuberkulose grassierten und ihren Blutzoll forderten. Leichen lagen auf offener Straße, die Totengräber kamen mit ihrer Arbeit nicht nach. Chaim Kaplan schreibt:

Es gibt Häuser, die der Hälfte ihrer Bewohner beraubt sind. Jeder Einzelne zählt in seiner engeren Umgebung Dutzende von Todesfällen, die auf dem Altar des schrecklichen Fleckfiebers hingegeben wurden. Unzählig sind ihre Opfer.[12]

Vor diesem Schicksal boten selbst große Vermögen keinen wirksamen Schutz. Sie zerrannen in den Fingern bei einer schwindelerregenden Preissteigerung von 18.000 Prozent auf dem Schwarzmarkt. Eine durchschnittliche vierköpfige Familie musste weit über zwei Drittel ihres verfügbaren Einkommens für Essen ausgeben, ohne dass sie davon auch nur annähernd satt geworden wäre.[13] Viele konnten sich allerdings überhaupt kein Essen leisten. Unerlässlich war eine Beschäftigung, denn sie sicherte einen minimalen Lohn, vor allem aber eine Verpflegung am Arbeitsplatz. Angesichts der deutschen Wirtschaftspolitik blieb daher oft nur, sich für das Arbeitsbataillon des Judenrats zu melden, wobei die harte körperliche Tätigkeit gerade für Akademiker – die von den antisemitischen Maßnahmen besonders betroffen waren – schnell über die Belastungsgrenze hinausging und zu bleibenden Schäden führte. Doch die Judenräte zahlten vier bis fünf Złoty am Tag, Suppe und eine Scheibe Brot gab es obendrauf, so dass es an Freiwilligen nicht mangelte – das galt selbst dann noch, als wegen der zur Neige gehenden finanziellen Mittel oftmals nur noch Essen ausgegeben werden konnte, Zahlungen jedoch unterblieben.

Weil die Deutschen einen enormen Bedarf an den spottbilligen jüdischen Arbeitskräften hatten, boomte das System. Seit Mitte 1940 achteten sie immerhin auf die Bezahlung der Juden von Seiten ihrer «Nutzer» – Firmen, staatliche Dienststellen, teilweise sogar Privatleute, die sich Haushaltshilfen hielten –, für die die Sklavenlöhne nach wie vor höchst attraktiv waren. Die Not in den Ghettos war allerdings so groß und die Zahl der in den Bataillonen benötigten Männer letztendlich viel geringer als die der Arbeitslosen, dass anfänglich selbst Freiwillige für Lagerarbeit zu finden waren: Im Distrikt Lublin hatte es sich der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik zum Ziel gesetzt, Flüsse begradigen, Sümpfe entwässern und einen Abwehrwall gegen die Sowjetunion bauen zu lassen.

Ökonomisch und militärisch machte das wenig Sinn, aber in der nationalsozialistischen Ideologie gab es die Vorstellung, Juden zu körperlicher Arbeit zu erziehen. Für diese Idee schufteten bis Herbst 1941 weit über zehntausend von ihnen, und tatsächlich erhielten ihre Angehörigen daheim wie versprochen ihren kargen Lohn ausbezahlt. Doch die Bedingungen waren so unsäglich, die Todesraten so hoch, dass es nur bei den allerersten Werbeaufrufen auch Meldungen gab, danach musste auf Zwangsrekrutierungen zurückgegriffen werden. Nicht wenige kehrten aus den Lagern in die Ghettos so misshandelt und geschwächt zurück, dass sie bald darauf verstarben. Sogar das deutsche Arbeitsamt konstatierte: «Die Neigung zum Einsatz der Juden in den Lagern ist nach manchen bitteren Erfahrungen nicht mehr groß.»[14]