Der vergessene Widerstand - Stephan Lehnstaedt - E-Book

Der vergessene Widerstand E-Book

Stephan Lehnstaedt

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Beschreibung

Die Nationalsozialisten sahen für Menschen jüdischer Abstammung nur eine Rolle vor: die des passiven Opfers. Dass sich in Deutschland und den besetzten Gebieten zehntausende Jüdinnen und Juden aktiv gegen diese Zuschreibung wehrten, ist bis heute kaum bekannt. Ihre vergessenen Geschichten hat Holocaust-Experte Stephan Lehnstaedt für dieses Buch zusammengetragen. Erstmals gibt er damit einen Überblick über die Aktivitäten des jüdischen Widerstands und erinnert an einen beispiellosen Kampf gegen die Entmenschlichung – ein Ringen um Würde, Kultur und das Recht zu leben. «Hitler will alle Juden Europas töten. [...] Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen!», proklamierte der Student Abba Kovner 1941. Seine entschlossene Haltung wurde von Tausenden Jüdinnen und Juden im besetzten Europa geteilt. Sie alle begehrten auf gegen die nationalsozialistische Unterdrückung, die Schikanen und Vernichtungspläne eines menschenfeindlichen Regimes – ihre mutigen Aktionen blieben von Öffentlichkeit und Forschung jedoch lange unbeachtet. Stephan Lehnstaedt gibt nun erstmals einen Überblick über die verschiedenen Formen jüdischen Widerstands im NS-Staat und seinen Besatzungsgebieten. Er erzählt die Geschichten von Menschen, die auch im Angesicht des Todes für sich und andere einstanden: Sei es durch Sabotage, die Archivierung von Wissen, Fluchthilfe, Aufstände oder den Kampf mit der Waffe. Es ist die lange überfällige Erinnerung an einen vergessenen Krieg, bei dem es nicht nur, aber vor allem ums nackte Überleben ging.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Stephan Lehnstaedt

DER VERGESSENEWIDERSTAND

Jüdinnen und Juden im Kampfgegen den Holocaust

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

1. WIDERSTAND LEISTEN

Was ist jüdischer Widerstand?

Die Erforschung jüdischen Widerstands

2. DEUTSCHE JÜDINNEN UND JUDEN IM WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS

3. DAS BESETZTE EUROPA VOR DEM BEGINN DES MASSENMORDS

Jüdische Organisationen in Polen

Unter Besatzung in Westeuropa

Vorbereitungen auf die Invasion der Sowjetunion

4. DER ÜBERFALL AUF DIE SOWJETUNION UND DIE JÜDISCHEN PARTISANENORGANISATIONEN

Wege zum Ghetto-Untergrund

Flucht zu den Partisanenverbänden

Jüdische Partisaninnen und Partisanen

5. HANDLUNGSSPIELRÄUME ZWISCHEN MASSENERSCHIESSUNGEN UND VERNICHTUNGSLAGERN

Verzweiflung und Hoffnung in den Ghettos

Das Entstehen von Widerstand in den Ghettos

Widerstand im Westen

6. GEGEN DIE DEPORTATIONEN IN DIE VERNICHTUNGSLAGER

Wissen sammeln und verbreiten

Flucht vor der Deportation

Verstecken und Untertauchen

Die Arbeitsgruppe in der Slowakei: Rettungsversuche durch Bestechung

Kampf im Untergrund

7. DIE GROSSEN AUFSTÄNDE 1943

Der Aufstand im Warschauer Ghetto

Nach Warschau

Die Aufstände in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor

Im Angesicht der Vernichtung

8. LETZTE KÄMPFE

Gegen die Vernichtung in Auschwitz

Die Rettung ungarischer Jüdinnen und Juden vor Auschwitz

9. REPRÄSENTATIONEN: ZUR BEDEUTUNG DES JÜDISCHEN WIDERSTANDS NACH DEM HOLOCAUST

Heldinnen und Helden in Israel

Deutsche Leerstellen

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

1. Widerstand leisten

2. Deutsche Jüdinnen und Juden im Widerstand gegen den Nationalsozialismus

3. Das besetzte Europa vor dem Beginn des Massenmords

4. Der Überfall auf die Sowjetunion und die jüdischen Partisanenorganisationen

5. Handlungsspielräume zwischen Massenerschießungen und Vernichtungslagern

6. Gegen die Deportationen in die Vernichtungslager

7. Die großen Aufstände 1943

8. Letzte Kämpfe

9. Repräsentationen: Zur Bedeutung des jüdischen Widerstands nach dem Holocaust

LITERATURVERZEICHNIS

Berichte von Überlebenden und Quelleneditionen

Sekundärliteratur

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

NAMENSREGISTER

ORTSREGISTER

Zum Buch

Vita

Impressum

1.

WIDERSTAND LEISTEN

Antisemitismus ist nicht nur der Hass auf Jüdinnen und Juden, sondern auch die Angst vor ihnen. Es ist die Angst, wirtschaftlich ausgebeutet zu werden. Es ist die Angst vor Menschen als Krankheitsüberträgern, wie es der Diskurs über Hygiene seit dem Ersten Weltkrieg suggeriert. Und es ist die Angst davor, dass sich das Jüdische, das Fremde, in einem «Krieg der Rassen» durchsetzen könnte – und zwar durch List und Tücke, nicht zuletzt, weil «die Juden» als Kapitalisten und als Kommunisten angeblich die Welt beherrschen.

Es sind bekannte Klischees, die nicht zuletzt auf einem Minderwertigkeitskomplex beruhen. In SS- und Polizeischulungen wurden sie nach 1933 ausführlich besprochen und in zahlreichen Reden von großen und kleinen Nationalsozialisten immer wieder betont.[1] Als der amerikanische Rabbiner Stephen S. Wise für den 27. März 1933 eine Großdemonstration gegen die antisemitische Politik in Deutschland im New Yorker Madison Square Garden ankündigte, ließ Hermann Göring Vertreter des Centralvereins der deutschen Juden in sein Büro kommen: Sie sollten intervenieren und die Versammlung verhindern. Und tatsächlich bat der Verein darum, die Demonstration abzusagen, fand damit aber kein Gehör.[2]

Die Nationalsozialisten nahmen die Vorstellung eines Weltjudentums ernst – sie fürchteten einen global vernetzten Gegner und hatten Angst vor einer vorgeblichen jüdischen Weltverschwörung.[3] Schließlich seien «die Juden» gut darin, andere zu manipulieren. Selbst kämpfen könnten sie nicht. Am gefährlichsten seien diejenigen Jüdinnen und Juden, die äußerlich gar nicht als solche zu erkennen seien – weshalb sie stigmatisiert und gekennzeichnet werden müssten. Erst einmal ausgesondert, wären sie ohne Gegenwehr zu vernichten.

Das taten die Deutschen nach 1939 in einem präzedenzlosen Völkermord gigantischen Ausmaßes. Angesichts von etwa sechs Millionen Menschen, die in Europa zwischen 1939 und 1945 im Holocaust starben, die von Deutschen und ihren Helfern erschossen, vergast oder auf andere Weise umgebracht wurden, entstehen nur allzu leicht Vorstellungen einer überwältigenden, unausweichlichen Totalität des Genozids. Der Blick auf die Täter und ihre Gewaltpraktiken verstärkt zusätzlich den Eindruck paralysierter Opfer, die lediglich Objekte in den Händen der Mörder darstellten.[4] Es ist der Mythos angeblicher jüdischer Passivität, der bis in biblische Zeiten zurückreicht: «Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.»[5]

Derlei Sichtweisen dominieren nach wie vor die Wahrnehmung des jüdischen Verhaltens im Angesicht der Vernichtung. Insbesondere der Widerstand von Jüdinnen und Juden gegen den Holocaust ist wenig bekannt. Meist beschränkt sich das Wissen darauf, vom Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 gehört zu haben, oder vielleicht noch von Revolten in den Vernichtungslagern Sobibor und Auschwitz-Birkenau. Dabei belegen unzählige Berichte die Aktivitäten der Verfolgten und nicht zuletzt bezeugen die Überlebenden den unbedingten Willen und die Fähigkeit, die eigene Existenz selbst unter den desaströsen Bedingungen der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu behaupten.[6]

Wahrgenommen aber werden die wenigsten dieser kleinen und großen Heldentaten. Sicher, es gibt beispielsweise über die jüdischen Partisanen der Bielski-Brüder den Film Defiance mit Daniel Craig. Aber wer kennt die Geschichte von Oswald Rufeisen, die sich kaum 30 Kilometer von den Bielskis entfernt abspielte? Rufeisen war ein polnischer Jude, der nach dem deutschen Einmarsch in seine Heimat 1939 erst nach Wilna floh und 1941 bis nach Mir im heutigen Belarus gelangte. Dort gab er sich als sogenannter Volksdeutscher aus und verdingte sich beim lokalen deutschen Polizeiposten als Übersetzer. Als im August 1942 das Ghetto mit etwa 300 Insassinnen und Insassen liquidiert werden sollte, warnte Rufeisen diese Menschen. Und mehr noch, er führte die Deutschen auf eine falsche Spur auf der Suche nach angeblichen Widerstandskämpfern und ermöglichte dem Ghetto so überhaupt erst die Flucht. Als die Mörder ihren Irrtum bemerkten, folterten sie Rufeisen, bis dieser zugab, selbst Jude zu sein. Unter abenteuerlichen Umständen gelang ihm dennoch die Flucht und das Überleben bei den sowjetischen Partisaneneinheiten – weil Flüchtlinge aus Mir für den höchst verdächtigen ehemaligen Übersetzer bürgten.

Und wer hat schon von der 1922 in Mannheim geborenen Marianne Cohn gehört, die im besetzten Frankreich seit 1943 mit der jüdischen Widerstandsbewegung Organisation Juive de Combat (Jüdische Kampforganisation) verfolgte Kinder in die sichere Schweiz schmuggelte? Sie bewies wahren Mut, als sie mit einem Transport von 32 Jugendlichen aufflog und von den deutschen Tätern verhaftet wurde: Obwohl sich ihr die Gelegenheit zur Flucht eröffnete, wollte sie ihre Schützlinge nicht im Stich lassen. Diese Haltung bezahlte sie mit dem Leben.

Es sind nur zwei von unzähligen Berichten über aktives Handeln, über Selbsthilfe, Rettung und Widerstand. Dennoch werden die Opfer häufig bloß als unschuldig und passiv dargestellt, um so ihr sinnloses Sterben zu betonen. Eine moralische und oft auch politische Legitimation nährt sich aus dieser Deutung unmilitärischer Zivilität.[7] Doch das unterschlägt nicht nur wichtige historische Ereignisse, sondern konstruiert auch einen Gegensatz, wo gar keiner ist: Natürlich waren auch jüdische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer Opfer des Holocaust – und nur die wenigsten von ihnen überlebten die deutsche Verfolgung. In diesem Sinne ist jüdischer Widerstand ein integraler Bestandteil jeder Geschichte der Shoah.

Die entscheidende Frage ist eher, wie diese Geschichte zu schreiben ist. Denn die Täter zeigten sich damals durchaus beeindruckt – etwa nach zwei Angriffen jüdischer Untergrundkämpferinnen und -kämpfer im besetzten Krakau am 22. Dezember 1942. Heinz Doering von der Regierung des deutschen Generalgouvernements schrieb an seine Familie: «Dass auch viele Juden bei den Banden sind, ist natürlich selbstverständlich. Es gibt unter den Juden auch eine ganze Menge schneidiger Hunde! Gerade von ihnen hört man tolle Geschichten von äußerster Verwegenheit.»[8] Es war der gleiche Blickwinkel, den SS-Gruppenführer Jürgen Stroop in seinem Bericht über die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto einnahm, als er die weiblichen Mitglieder der Jugendbewegung Hechaluz als besonders niederträchtig diffamierte.[9]

Die Handlungen dieser Jüdinnen und Juden widersprachen der von den Tätern so gerne gepflegten Vorstellung von passiven Opfern. Zugleich aber bestätigten sie in ihren Augen die Propagandalüge, wonach jede Untergrundaktivität letztlich von «den Juden» orchestriert sei. Und offensichtlich erschien ihnen die Gegenwehr der Jüdinnen und Juden illegitim – wie jegliche Auflehnung gegen ihre Herrschaft.

Die deutsche Perspektive zeichnet eine offensichtliche Einseitigkeit aus. Allerdings liegt es in der Natur jeglichen konspirativen Handelns, dass es geheim bleiben soll, weshalb zeitgenössische schriftliche Dokumente des Widerstands entsprechend selten sind – es war schlicht überlebensnotwendig, keine Aufzeichnungen anzulegen, damit diese nicht in die Hände der Verfolger fallen konnten. Umgekehrt konnten jene nur notieren, was sie zufällig in Erfahrung brachten, und blieben meist notorisch uninformiert. Beide Seiten betonten ihre eigene Schlagkraft und neigten dabei zur Übertreibung: Wo die Deutschen die jüdische Bedrohung herausstreichen wollten, suchte der Untergrund seine Legitimation zu erhöhen. Oft rivalisierten außerdem verschiedene Widerstandsgruppen um die Sympathien der jüdischen Gemeinschaften.

Als Quellen nutzen lassen sich öffentliche Aufrufe, Informationsschriften oder Flugblätter sowie die äußerst seltenen Rechenschaftsberichte. Aussagekräftiger sind illegale Druckerzeugnisse und Zeitschriften, Tagebücher und Briefe. Protokolle offizieller jüdischer Gremien bleiben in Hinblick auf den Widerstand oft unvollständig, denn mit deutschen Lesern, denen gegenüber Verschwiegenheit gewahrt werden musste, war immer zu rechnen. Im Umkehrschluss heißt das auch, dass die Abwesenheit von Untergrundaktivitäten in solchen Niederschriften keine Rückschlüsse über deren faktische Existenz zulässt.[10]

Prozessakten beispielsweise von nationalsozialistischen Sondergerichten gibt es nur selten, weil Angehörige des jüdischen Widerstands in aller Regel sofort erschossen bzw. in Lager deportiert wurden – oft genügten schon Gerüchte oder die zufällige Anwesenheit am falschen Ort für eine solche Behandlung. Ganz zentral sind daher Aussagen, Videointerviews und Memoiren, die nach dem Krieg entstanden.[11] Jahre nach den Ereignissen werden die konkreten Fakten darin nicht immer präzise erinnert, doch das tut der zentralen Bedeutung dieser Quellengattung keinen Abbruch, denn in ihnen geht es um das Bezeugen: Diese Quellen berichten vielfach über Erfahrungen und Empfindungen, über Gefühle in der außerordentlichen Situation des Holocaust. Auf diese Weise sind sie «authentisch», und das macht sie so wertvoll – sie vermitteln einzigartige historische Einsichten.[12]

Um in der Gesamtheit ein Puzzle zusammenzusetzen, das trotz aller Anstrengungen vielfach lückenhaft bleiben muss, können zudem Hinweise und Erzählungen der nichtjüdischen Bevölkerung bedeutsam sein. So berichteten etwa litauische Bauern aus Niemenczyn, 30 Kilometer von Wilna entfernt, über eine Jüdin, die im Frühjahr 1943 bei einer Mordaktion das Gewehr eines einheimischen Helfers der Deutschen ergriffen und diesem damit den Schädel eingeschlagen habe.[13] Weitere Nachweise dieses Ereignisses existieren nicht, insbesondere deshalb, weil die Jüdinnen und Juden des Dorfes alle ermordet wurden und die Besatzer es entweder nicht notierten oder ihre Dokumente verloren gingen.

Abgesehen davon ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Bauern aus Niemeczyn einen Vorfall aufgebauscht haben oder nur aus der dörflichen Überlieferung berichten. Doch gegen eine reine Erfindung spricht die Tatsache, dass Heldinnen jüdischen Widerstands meist ohnehin marginalisiert sind. In zahllosen Erinnerungen ebenso wie in der Forschungsliteratur oder fiktionalen Darstellungen werden sie zu Nebenpersonen, zu bloßen Freundinnen eines «großen» Mannes herabgestuft.[14] Auf passive und schüchterne Anhängsel reduziert, verkennt diese Tendenz ihren Überlebenswillen, ihre Selbständigkeit und Tatkraft.

Zur allgemeinen Quellenproblematik tritt deshalb auch die spezifische Frage, wie Frauen darin repräsentiert sind. Ihnen werden meist alltägliche Tugenden der Sorge und Würde zugeschrieben, während scheinbar «heroische» Eigenschaften ohne primären Zweck, wie das Streben nach einer Idee oder einem Symbol, üblicherweise männlich konnotiert sind.[15] Das gilt für die jüdische Vergangenheit besonders, wo viele Jahrhunderte lang das religiöse Studium auf der Suche nach Gotteserkenntnis als wichtigste Aufgabe der Männer galt, wohingegen die Frauen nicht nur den Haushalt führten, sondern auch dessen finanzielles Überleben gewährleisteten. Vor diesem Hintergrund galten Juden der christlichen Mehrheitsbevölkerung seit dem Mittelalter im antisemitischen Klischee oft als verweiblicht und auf die heimische Sphäre beschränkt, weshalb ihr Kampf nun, nach 1939, umso bemerkenswerter und unerwarteter erschien. Dabei war es gerade der Zusammenbruch der bisherigen, patriarchalischen Gesellschaftsordnung, der den Jüdinnen Tätigkeiten und Rollen zugänglich machte, die Männer ihnen unter anderen Bedingungen nicht zugestanden hätten.[16]

Nach 1945 war es die Orientierung am augenfälligen Heldentum, die zum Leitmotiv der Geschichtsschreibung über und zur Erinnerung an jüdischen Widerstand wurde – auch, um das dominierende Bild vom weltfremden Talmud-Studierenden zu überdecken. Das wiederum führte zum Verschwinden vieler Frauen aus den Erzählungen, was ironischerweise im Diskurs dahingehend gedeutet wurde, dass Männer als aktive Verteidiger und Beschützer firmierten, während Frauen eine metaphorische, symbolische Rolle spielten. Die Rückkehr zur überkommenen, binären Geschlechterordnung war nur möglich in der Umdeutung beziehungsweise Negierung der historischen Tatsachen.[17]

Zwei weitere Sichtweisen waren nochmals folgenreicher für das Unsichtbarmachen großer Teile des jüdischen Widerstands. Erstens nationale bzw. geographisch beschränkte Perspektiven: Wenn beispielsweise Frankreich der Referenzpunkt ist, dann kommt den Jüdinnen und Juden lediglich eine kleine Rolle innerhalb der Résistance zu.[18] An die Bekanntheit eines Jean Moulin als archetypischem französischen Kämpfer reicht Marianne Cohn nicht annähernd heran, auch wenn sie über 200 Kindern zur Flucht in die Schweiz verhalf.[19] In dem Moment, wo die Befreiung eines ganzen Landes als ultimatives und einzig legitimes Ziel von Widerstand gelten soll, gibt es höchstens einen jüdischen Beitrag dazu. Das Auflehnen gegen den Holocaust wird zu einem nachrangigen Geschehen innerhalb einer breiteren Gesamtperspektive.

Zweitens führt auch die Verengung auf bewaffneten Kampf als «eigentlichem» Widerstand zu einem beschränkten Blickwinkel. Selbst wenn man ihn jenseits nationaler Kategorien denkt, kommt dem Aufstand im Warschauer Ghetto in diesem Zuge ein Modellcharakter zu, der dessen Außergewöhnlichkeit sogar in gesamteuropäischer und nichtjüdischer Betrachtung ignoriert: Vor dieser mehrwöchigen Erhebung war es schlicht nirgendwo zu auch nur annähernd vergleichbaren Akten der Auflehnung gekommen.[20]

Doch das Zelebrieren dieser Revolte, die selbstverständlich als herausragendes Ereignis gebührend gewürdigt werden muss, hatte tragische Konsequenzen für die Erinnerung an die vielen jüdischen Heldinnen und Heldinnen, die auf so unterschiedliche Weise gegen die Vernichtungspolitik agiert hatten. Die allermeisten von ihnen fielen schlicht durchs Raster, wodurch letztlich der Mythos einer Passivität der Opfer perpetuiert wurde. Nur die allerwenigsten hatten schließlich versucht, deutsche Besatzer zu töten. Vielfach waren die Widerstandsgruppen im Untergrund deshalb nicht bekannter, weil sie vor größeren Aktionen verraten oder die Ghettos von den Deutschen aufgelöst und deren Insassinnen und Insassen unterschiedslos in Lager deportiert wurden – bekannt ist das beispielsweise für Tschenstochau, Baranawitschy oder Brest-Litowsk. Doch naheliegenderweise existiert ein Quellenproblem, das weitere, unbekannte Fälle vermuten lässt.[21]

Es war insbesondere Raul Hilbergs ansonsten so wegweisende Gesamtdarstellung des Holocaust aus dem Jahre 1961,[22] die die Sichtweise eines im Grunde nichtexistierenden jüdischen Widerstands festigte, worauf sich wiederum Hannah Arendt umfangreich bezog.[23] Beide betonten die Totalität des Genozids, vor dem es kein Entkommen gab. Doch Widerstand ausschließlich von dessen Erfolg her zu denken, verkennt die Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, die mit ihrem Waffenarsenal eine umfassende staatliche Kontrolle ausübten und mit ihrer mörderischen Ideologie eine bis dato unbekannte Vernichtung ins Werk setzten. Der Vergleich mit den in jedem besetzten Land aktiven nationalen Untergrundbewegungen führt die Absurdität dieses Maßstabs vor Augen, denn eine Selbstbefreiung oder Überwindung der Besatzer gelang nirgendwo. Selbst räumlich und zeitlich begrenzte Revolten deutlich besser bewaffneter Aufständischer wurden schlussendlich niedergeschlagen. Nachgerade ahistorisch und nicht selten mit antisemitischen Konnotationen behaftet ist deshalb das Postulat, die Jüdinnen und Juden hätten energischer Widerstand leisten müssen als alle anderen, gerade weil nur sie dem Holocaust ausgesetzt waren.[24]

Was ist jüdischer Widerstand?

Dieses Buch folgt in enger Anlehnung an die zeitgenössischen Absichten der Akteurinnen und Akteure einer praxeologischen Definition: Widerstand möchte die Macht des Unterdrückers mindern. Eine Effizienzmessung der daraus resultierenden Haltungen und Handlungen ist dafür nicht notwendig und oft gar nicht möglich.[25] Das gilt sowohl für den bewaffneten Kampf als auch für die vielfachen Rettungs- und Fluchtanstrengungen. Bereits deren bloße Existenz war von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die Moral der Verfolgten – sie waren eben nicht passiv und hilflos der Vernichtung ausgesetzt.

In dieser Hinsicht sind kontrafaktische Überlegungen und Fragestellungen nach dem, was hätte geschehen können, von Bedeutung. Derartige Gedankenexperimente wenden sich gegen Geschichtsdeterminismus, denn die Totalität des Holocaust war weder von den Tätern bereits ab 1939 so geplant noch für die Opfer absehbar. Wer allerdings nicht zwingend damit rechnete, sowieso sterben zu müssen, für den machte es sehr wohl einen Unterschied, ob er sich dem Untergrund anschloss, wo die Überlebenschancen offensichtlich gering waren.

Widerstand ist also reaktiv. Und natürlich konnten sich Nichtjuden anders gegen die Unterdrückung positionieren als Jüdinnen und Juden gegen den Holocaust. Für konkrete Entscheidungen sind deshalb individuelle Wahrnehmungen und Beurteilungen genauso bedeutsam wie reale Abläufe und Ereignisse: Man musste sich erst als bedroht begreifen, sich dann als Gruppe auf diese Tatsache verständigen, und dann eigene und kollektive Maßnahmen ergreifen. Diese Koordinierungsprozesse sowie die daraus resultierenden Handlungen unterschieden sich grundlegend in West- und Osteuropa, genauso wie in Städten und Landgemeinden oder später in Ghettos und Lagern.[26]

Wegen der Totalität der Vernichtung ist jüdischer Widerstand nicht mit herkömmlichen Kategorien der Resistenzforschung zu erfassen. Er ist im Holocaust begründet und schon allein deshalb ein eigenes Phänomen – für das es natürlich vielfache Anknüpfungspunkte gibt. Doch die Besonderheit der gegen die Shoah gerichteten Aktivitäten liegt darin, dass sie allgemein-menschlich und universell waren. Es ging eben nicht um Politik und politische Ziele, sondern um die eigene, die jüdische Existenz: Zu beobachten war eine elementare Erfahrung, nämlich die Behauptung des Menschen und der Menschlichkeit angesichts totaler Gewalt.[27]

Ist also angesichts des deutschen Staatsziels «Judenmord» jegliches Überleben als Widerstand zu bezeichnen?[28] Eine derartige Deutung berücksichtigt zwar die Asymmetrie der Möglichkeiten auf beiden Seiten, wurde aber bereits unmittelbar nach dem Krieg von vielen Angehörigen jüdischer Untergrundorganisationen als Verhöhnung empfunden: Sie hätten doch ganz andere Ziele gehabt, als lediglich ihre Haut zu retten. Nicht selten schwang bei solchen Interpretationen außerdem ein antisemitischer Unterton mit, weil es «den Juden» wie stets doch immer gelinge, sich irgendwie durchzuwursteln.[29]

Dieses Buch untersucht die Handlungen von Jüdinnen und Juden, die darauf abzielen, die Pläne des Feindes in irgendeiner Weise zu durchkreuzen. Deshalb sind die psychologischen, soziologischen und politischen Motive wichtig, die sie zu ihrem Tun veranlassten. Zugleich muss eine wie auch immer geartete Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Widerstand als obsolet gelten, denn weder gab es passiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie, noch hätte dieser irgendeinen Erfolg zeitigen können. Wesentlich zielführender ist stattdessen eine Kategorisierung der verschiedenen Formen von Resistenz: Von wirtschaftlichen Aktivitäten wie Schmuggel von Lebensmitteln über Maßnahmen, um das geistige Durchhaltevermögen zu stärken – etwa kulturelle Angebote oder Schulunterricht – bis hin zu gegenseitiger Hilfe bei der Flucht sowie bewaffnetem Kampf.

Analysiert wird hauptsächlich der Widerstand gegen den Holocaust, den Gruppen und Zusammenschlüsse ausführten, die sich selbst als jüdische Organisationen verstanden. Außen vor bleiben nichtjüdische Parteien oder Verbände, in deren Reihen Jüdinnen und Juden zwar Mitglied waren, sich aber beispielsweise über ihre politische Zugehörigkeit definierten.[30] Oft war das der kommunistische Untergrund, der von allen Partisanen- und Widerstandsgruppen am wenigsten antisemitisch war.

Als «Widerstand von Jüdinnen und Juden» firmieren zudem individuelle Taten, die durchaus im Rahmen nichtjüdischer Institutionen stattfinden konnten. Allerdings ist dabei die Eigenwahrnehmung von Bedeutung, denn wer dem Kommunismus anhing oder sich selbst als assimiliert betrachtete, mochte zwar nach nationalsozialistischen Kriterien als jüdisch gelten, handelte aber aus anderen Motiven und mit anderen Absichten. Diese Selbstdeutungen sollte die Geschichtswissenschaft respektieren.

Schlussendlich geht es hier ausschließlich um illegale Tätigkeiten gegen den Holocaust. Das im Juni 1940 in Frankreich gegründete Comité de la rue Amelot, das Hilfe und Auswanderung für die Jüdinnen und Juden in Frankreich organisierte, war eine bemerkenswerte Organisation, die vielen Menschen das Leben rettete. Allerdings war sie bis November 1941 vollkommen legal. Erst danach verboten die Besatzer viele ihrer Aktivitäten, sodass nur ab diesem Zeitpunkt von Widerstand die Rede sein kann. Geleitet von David Rapoport und konspirativ getarnt als eine zugelassene Institution wurde das Comité erst im Juni 1943 von den Deutschen zerschlagen.[31]

Jüdinnen und Juden waren in allen von Deutschland kontrollierten und besetzten Gebieten im Widerstand. Mehr noch, sie überschritten gerade im östlichen Europa ständig die von den Besatzern gezogenen Grenzen, tauschten Waffen und Informationen aus, verhalfen Menschen zur Flucht und bauten verzweigte Netzwerke auf. Sie agierten außerhalb der deutschen Strukturen und Logiken, weil ihre Sichtweise auf die Verfolgung vollkommen anders als die der Täter war. Deswegen darf eine Darstellung ihres Handelns den Holocaust nicht aus einer rein deutschen Sichtweise denken, sondern muss die jüdische Perspektive integrieren.[32] Und sie darf sich nicht lediglich auf ausgewählte Gebiete beschränken, selbst wenn es bereits bei den über drei Millionen Jüdinnen und Juden aus Polen unzählige Beispiele für widerständiges Handeln gibt. Stattdessen muss eine Untersuchung zeigen, wie der jüdische Untergrund innerhalb seiner transnationalen Bezüge und Referenzen[33] beispielsweise illegale Grenzübertritte organisierte oder den Informationsfluss über die Vernichtung aufrechterhielt – Kurierinnen und Kuriere transportierten Nachrichten ebenso wie bescheidene finanzielle Mittel. So verbreitete sich etwa das Wissen über den Aufstand im Warschauer Ghetto rasend schnell und inspirierte jüdische Resistenz in ganz Europa. Spektakuläre Erfolge blieben dennoch meist aus – aber diese Bilanz verbindet den jüdischen Widerstand mit dem nichtjüdischen.

Darum soll sich die nachfolgende Untersuchung nicht auf oberflächliche Sichtbarkeiten beschränken, genauso wie sie neben den meist männlichen Anführern die nicht minder bedeutsamen Aktivitäten der Frauen im Untergrund in den Blick rückt. Sie erzählt jüdischen Widerstand gegen den Holocaust zwischen 1939 und 1945 in seiner zeitlichen Abfolge und als Reaktion auf die deutsche Vernichtungspolitik in ganz Europa, was ein besonderes Augenmerk auf die jeweiligen Handlungsspielräume der Verfolgten einschließt.

Die Erforschung jüdischen Widerstands

Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem hielt ihre erste wissenschaftliche Konferenz von internationalem Maßstab im April 1968 ab. Hauptsächlich jüdische Forscherinnen und Forscher aus aller Welt waren gekommen, um sich mit «Jewish resistance during the Holocaust» zu beschäftigen. Die Teilnehmerschaft war illuster, viele Heldinnen und Helden des ehemaligen Untergrunds waren anwesend, hielten Vorträge und beteiligten sich rege und kontrovers an der Diskussion eines ebenso emotionalen wie relevanten Themas – die Holocauststudien waren damals noch kaum etabliert.[34] Allerdings zeigte schon die englische Übersetzung des Tagungstitels das grundsätzliche Problem des Gegenstands: Das ursprüngliche hebräische Wort für «Resistance» war «Amidah», was wörtlich so viel wie Beharrung oder allerhöchstens Widerständigkeit bedeutet, und zwar in einem inklusiven Sinne, der soziale, mentale, moralische, religiöse und kulturelle Resistenz umfasst, aber kaum mit dem sehr aktiv konnotierten «Widerstand» übersetzt werden kann.[35]

Doch letztere Lesart dominierte die Debatte und auch das wissenschaftliche Programm von Yad Vashem. Und so publizierte die Gedenkstätte in den folgenden Jahren in Zusammenarbeit mit der Hebräischen Universität Jerusalem sowie der Universität Tel Aviv verschiedene Studien von Akteuren des jüdischen Untergrunds, die vor allem vom bewaffneten Kampf handelten und diese Aktivitäten auch meist schon im Titel trugen.[36] Die Autoren hatten nicht Geschichte an einer Universität studiert, waren aber aufgrund ihrer autobiographischen Erfahrungen mit ihren Themen bestens vertraut. Und weil die Bücher auf vielen Zeugenaussagen, deutschen und osteuropäischen Dokumenten sowie den grundlegenden jüdischen Quellen beruhen, sind sie auch heute noch Standardwerke – trotz ihres teils nostalgischen und apologetischen Tons.[37]

In den ersten Dekaden nach Kriegsende erforschten vor allem Überlebende den Holocaust. Zahlreiche historische Kommissionen sammelten und dokumentierten jüdische Schicksale, widmeten sich mit einem stark sozialwissenschaftlichen Ansatz aber nur peripher dem Widerstand.[38] Dennoch erschienen unmittelbar nach 1945 immer wieder Berichte über den heldenhaften Kampf gegen die Deutschen.[39] In den allermeisten Fällen handelte es sich hierbei um jiddische Publikationen, die sich ganz gezielt an andere Überlebende richteten und keine Anschlussfähigkeit an einen – sowieso noch nicht existierenden – wissenschaftlichen Diskurs anstrebten. Eine Aufklärung der nichtjüdischen Bevölkerung hingegen wurde etwa von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes intendiert, die zu diesem Zweck bereits 1949 Zivia Lubetkins Bericht über den Aufstand im Warschauer Ghetto publizierte.[40]

Doch das blieb eine Ausnahme. Zwar gründeten Angehörige des Warschauer Untergrunds um Lubetkin und ihren Mann Yitzhak Zuckerman[41] in Israel den Kibbuz Lochamej haGeta’ot – «Kämpfer der Ghettos» –, der mit einem eigenen Museum und wissenschaftlicher Tätigkeit die Erinnerung an den Widerstand wachhielt. Allerdings ging es dabei vorwiegend um die innerisraelische Debatte. In Polen wiederum eignete sich das kommunistische Regime das Gedenken an den Warschauer Ghettoaufstand an und interpretierte ihn als Ergebnis der internationalen Solidarität linker Widerstandskämpfer, die sich 1943 manifestiert habe,[42] was im Westen ebenfalls nicht für eine breite Rezeption der ansonsten durchaus substanziellen Forschung sorgte.

Als wesentlich bedeutsamer erwies sich in der akademischen Forschung das in den späten 1950ern von «survivor scholars» wie Mark Dworzecki oder Nathan Eck entwickelte Konzept der Amidah, das später insbesondere der israelische Grandseigneur der Holocaust-Studien, Yehuda Bauer, propagierte. Über Jahrzehnte befasste er sich mit seinem Lebensthema und verstand darunter schrittweise immer größere Aktivitäten wie Selbstaufopferung in der Familie, um das Verhungern oder eine Deportation zu vermeiden; kulturelle, erzieherische, religiöse und politische Tätigkeiten, die die Moral heben sollten; medizinische Bemühungen mit der gezielten Absicht, die Gesundheit fürs Überleben zu erhalten; bewaffneten Widerstand sowie auch den Kampf mit bloßen Händen. Besonders wichtig war Bauer das Fortführen jüdischen Lebens und jüdischer Zivilisation, also das Beharren auf Religion, Humanismus und Kultur im Angesicht der deutschen Bedrohung.[43] In verschiedenen Studien präparierte er heraus, in welchem Maß sich die jüdischen Reaktionen an die deutsche Politik anpassten: Wo es zunächst um Gegenwehr gegen eine antisemitische Ideologie und die daraus resultierenden Maßnahmen ging, musste man später versuchen, den direkten Massenmord zumindest zu unterbrechen und ein Überleben zu ermöglichen.[44]

Das Schlagwort «Amidah» wurde anfänglich vor allem genutzt, um auf die Vielfalt des Lebens während der Shoah hinzuweisen – jenseits der Dichotomie der passiven und der heroischen Jüdinnen und Juden, die die innerisraelische Debatte dominierte und zugleich paralysierte. In vielerlei Hinsicht ist es eine Entsprechung des in Deutschland entwickelten Konzepts der Resistenz, mit welchem Forscherinnen und Forscher des Münchener Instituts für Zeitgeschichte Anfangs der 1980er Jahre das Verhalten der Deutschen im Nationalsozialismus zwischen den beiden Polen Widerstand und Täterschaft analysierten.[45]

Doch sehr früh schon wiesen jüdische Historikerinnen und Historiker wie Lucy Dawidowicz oder Raul Hilberg darauf hin, dass Amidah eben kein historischer Quellenbegriff sei; zugleich polemisierten sie gegen die volkspsychologischen Vorzüge einer Phrase, die lediglich dazu diene, sich keine unbequemen Fragen zum jüdischen Verhalten während des Genozids stellen zu müssen.[46] Freilich tut dieser Vorwurf den wissenschaftlichen Bestrebungen Bauers und anderer unrecht, deren genuines Interesse vor allem eine Perspektiverweiterung war. Allerdings verselbständigte sich dieses Ziel: Eine eindeutige Beschreibung von Amidah wurde immer schwieriger, und tatsächlich gibt es auch heute noch keine klare Definition davon. Dadurch aber wird der Vergleich mit anderen Formen des Widerstands erschwert und die Adaption von Forschungsideen aus anderen Kontexten verhindert.[47]

Rein wissenschaftlich ist Amidah deshalb wenig ertragreich, denn ein Begriff, der beinahe alle reaktiven Verhaltensweisen in einer spezifischen Situation umfasst, liefert kaum analytische Trennschärfe. Doch das liegt nicht an einer wie auch immer gearteten Agenda einer jüdischen Holocaustforschung. Die wesentliche Ursache dafür ist die spezifische Verfolgungssituation des Holocaust, die sich fundamental etwa von Besatzung oder anderer Herrschaft unterschied, gegen die sich Untergrundaktivitäten üblicherweise richten.

Vor diesem Hintergrund muss die Geschichte des jüdischen Widerstands erzählt werden. Es geht nicht um militärische Erfolge oder eine Quantifizierung, die nach getöteten Deutschen oder geretteten Verfolgten verlangt, sondern um die Anstrengungen, die in dieser Hinsicht unternommen wurden.[48] Die bloßen Zahlen nämlich erklären nichts. In Ungarn beispielsweise hatte das Nationalkomitee für Deportiertenfürsorge unmittelbar nach Kriegsende 3629 Interviews unter den ca. 5000 betreuten Überlebenden durchgeführt. Vor den Deportationen und während der Ghettoisierung war es zu 422 Fällen von widerständischem Handeln gekommen, darunter 173 Fluchtversuchen, aber zu keinen offenen Kämpfen. Wenig später, in den Lagern, wandelte sich das Bild: Hier konnten 2425 Fälle von Widerstand dokumentiert werden, darunter 445 Fluchten. 57 Jüdinnen und Juden hatten darüber hinaus an bewaffnetem Widerstand teilgenommen. Der Rest betraf Kleinigkeiten wie etwa Befehlsverweigerungen, Diebstahl von Essen oder Ähnliches – was freilich erfolgreiche Überlebensstrategien waren: Gegen die Regeln zu verstoßen, Fluchtversuche und die Konzentration auf die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse.[49]

Wie Elie Wiesel vor über 60 Jahren schrieb: «Die Frage ist nicht, warum all die Juden nicht kämpften, sondern wie so viele von ihnen es taten. Gequält, geschlagen, ausgehungert – woher nahmen sie die geistige und körperliche Kraft zum Widerstand?»[50] Wichtig sind also die Formen und die Motivationen jüdischen Widerstands gegen den Holocaust, nicht jedoch deren politische oder moralische Beurteilung.

Hinweis zur Schreibweise der Namen: Viele Überlebende haben ihre Namen nach dem Holocaust, nach der Emigration v.a. nach Israel oder in die USA, geändert oder gemäß der dortigen Schreibweisen aus dem Jiddischen und anderen europäischen Sprachen übertragen. Zu verschiedenen Zeiten existieren also verschiedene Namen, die alle korrekt sind und ihre Berechtigung haben. Aufgrund der besseren Verständlichkeit habe ich mich jeweils für eine Version entschieden – üblicherweise diejenige mit der größten Bekanntheit.

Bei der Verwendung des Begriffs «Täter» wird in diesem Buch durchgängig zum generischen Maskulinum gegriffen, weil hier – und nur hier – die große zahlenmäßige Dominanz der Männer dies angebracht erscheinen lässt. An allen anderen Stellen sind Formen gewählt, die Aufschluss über die Zusammensetzung der jeweiligen Gruppe geben.

Die Ortsnamen entsprechen der historischen Bezeichnung zur jeweiligen Zeit, wobei ich eingeführten deutschen Varianten den Vorzug gebe, aber nationalsozialistische Versionen vermeide (also etwa Gdingen statt Gdynia oder Gotenhafen).

2.

DEUTSCHE JÜDINNEN UND JUDEN IM WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS

Nach Hitlers Machtübernahme 1933 wählten nicht wenige seiner Gegnerinnen und Gegner den Weg in den Widerstand. Für Teile der sozialdemokratischen und kommunistischen Gefolgschaft und die mit ihr sympathisierende Gewerkschaftsbewegung war es politisch konsequent, manche Geistliche fürchteten den antichristlichen, übergriffigen neuen Staat, und für viele Intellektuelle war der Nationalsozialismus schlicht eine primitive und vulgäre Massenbewegung. Außerdem gibt es zahlreiche Beispiele von Heldinnen und Helden des Kampfes gegen den Nationalsozialismus auch jenseits der genannten Kreise. Ihnen allen ist die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin gewidmet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zu dokumentieren, zu ehren und Wissen zu vermitteln.

Doch viele Menschen ließen sich vom Regime «bekehren» oder kamen erst zu später Einsicht über den verbrecherischen Charakter des «Dritten Reichs». Die Ausgangsüberlegung der Dauerausstellung in der Gedenkstätte ist daher, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung überhaupt widerstehen wollte.[1] Jenseits eigener Überzeugungen bestand auch kein zwingender Grund dafür: Die auf Inklusion abzielende nationalsozialistische Volksgemeinschaft war offen für alle Deutschen, solange sie sich zum neuen Staat bekannten.[2]

Ganz anders sah die Situation für diejenigen aus, die nicht aus politischen, sondern aus sogenannten rassischen Gründen verfolgt wurden; das traf neben psychisch Kranken oder Sinti und Roma vor allem Jüdinnen und Juden. Sie galten dem Nationalsozialismus als ideologische Feinde. Doch diese Gegnerschaft beruhte ausschließlich auf einer Fremdzuschreibung, die sich durch keinerlei Bekenntnis ändern ließ. Aus diesem Grund erlebten die nicht aus Rassismus stigmatisierten Deutschen keine andauernde Verfolgung und waren in den Jahren 1933 bis 1945 keinem unausweichlichen staatlichen Terror ausgesetzt. Widerstand oder auch nur Abwehrreaktionen gegen die Politik des Regimes waren für sie nicht zwingend notwendig.[3]

Die etwa 550.000 jüdischen Deutschen waren bis Kriegsbeginn 1939 noch nicht von einem Genozid bedroht. Erst 1941 begann das Regime, sie zu den Vernichtungsstätten im besetzten Osteuropa zu deportieren. Zunächst jedoch zielten die vielfältigen antisemitischen Maßnahmen auf den ökonomischen Niedergang sowie die gesellschaftliche Aus- und Absonderung der Jüdinnen und Juden von der «arischen» Mehrheitsbevölkerung ab. Zuvorderst sollten sie auswandern, um das ideologische Ziel der «Rassereinheit» in Deutschland zu erreichen.

Schon gegen diese Verfolgungen vor dem eigentlichen Holocaust gab es Widerstand, der heute selbstverständlich in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand thematisiert wird.[4] Auf vielfältige Weise widersetzten sich jüdische Deutsche der Politik des Nationalsozialismus, womit sie mehr oder weniger offen vom staatlich erwünschten Verhaltensmodell abwichen.[5] Individuelle Reaktionen waren ganz unterschiedlich und reichten von Verweigerung und Flucht bis hin zu Selbstmord; es gab Abwehr und Auflehnung, etwa durch illegale Schriften, Sabotage oder Spionage. Ebenfalls zu beobachten war organisierter Widerstand, wobei es sich dabei in Deutschland nur in Ausnahmefällen um tatsächlich jüdische Gruppen handelte, sondern hauptsächlich um Jüdinnen und Juden, die Mitglied in politischen Gruppen waren.[6]

Im Alltag der Einzelnen war Widerspruch zum Nationalsozialismus und seiner Politik vielfach zu beobachten, auch an öffentlichen Orten wie Gaststätten, in Behörden, auf der Straße oder im Gespräch mit den Nachbarn. Noch aus dem Jahre 1941 ist der Fall von Hertha Reis überliefert, die vor dem Berliner Landgericht ausrief: «Hitler der Strolch, verfluchte Regierung, verfluchtes Volk! Bloß weil wir Juden sind, haben wir Unrecht bekommen!»[7] Nicht selten kam es zu Eingaben an staatliche Institutionen, in denen der Protest gegen die Diskriminierung auf förmliche Weise erhoben wurde[8] – was allerdings stets folgenlos blieb. Auch diejenigen, die sich gegen antisemitische Pöbeleien mit ihren Fäusten zur Wehr setzten, wurden schnell zum Schweigen gebracht.

Statt Protest oder Kampf wählten viele Jüdinnen und Juden den bis Kriegsbeginn möglichen und wesentlich ungefährlicheren Weg in die Emigration. Diese Entscheidung fiel nur Wenigen leicht, denn man musste das bisherige Leben hinter sich lassen. Oft war Flucht jedoch keine realistische Möglichkeit, weil die finanziellen Mittel dafür fehlten und überhaupt nur wenige Länder bereit waren, jüdische Flüchtlinge – insbesondere die ohne Geld – aufzunehmen. Mit der Diskriminierung wuchs allerdings der Wille zur Selbstbehauptung. Viele deutsche Jüdinnen und Juden, die sich bislang schlicht für ganz normale Staatsbürger mit einer nichtchristlichen Religion oder lediglich mit jüdischen Vorfahren gehalten hatten, nahmen überlieferte konfessionelle und kulturelle Traditionen zum ersten Mal bewusst wahr.[9]

Die Auswanderungswilligen mussten ihr Vermögen abliefern, davon abgesehen legte ihnen der nationalsozialistische Staat keine Hürden in den Weg. Ganz im Gegenteil wurde das antisemitische Programm gerade mit dem Ziel intensiviert, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben. Die 1938 nach dem «Anschluss» Österreichs in Wien gegründete «Zentralstelle für jüdische Auswanderung» unter Adolf Eichmann war dafür die berüchtigtste Institution, die die bürokratische Abwicklung des Auswanderungsvorgangs inklusive der Beraubung der Betroffenen tatsächlich deutlich beschleunigte, obgleich die Einwanderung nach Palästina aus jüdischer Perspektive ein hochriskantes, weil von der britischen Mandatsmacht fast immer für illegal erklärtes Unterfangen blieb.[10]

Auf diese Weise entkamen bereits 1933 rund 52.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland – von denen vor Kriegsbeginn 16.000 wieder zurückkehrten, weil die Bedingungen vor allem in Palästina nicht ihren Erwartungen entsprachen. Die Notwendigkeit einer Flucht um jeden Preis war vor dem Einsetzen des Holocaust nicht offensichtlich, stattdessen dominierte das Prinzip Hoffnung: Kaum jemand ging davon aus, dass sich Hitler dauerhaft würde an der Macht halten können. Spendengelder aus dem Ausland blieben deshalb in jenen Jahren die Ausnahme, das amerikanisch-jüdische Joint Distribution Committee als bedeutsamste in Europa tätige Hilfsorganisation verfügte 1933 über Mittel von 1,15 Millionen Dollar – nicht wenig, aber für über eine halbe Million jüdische Deutsche doch verschwindend wenig.[11]

Tabelle 1: Emigration von Jüdinnen und Juden aus Deutschland[1]

«Altreich»

Freie Stadt Danzig

Österreich

1933

63.400

1934

45.000

1935

35.500

1936

34.000

1937

25.500

1938

49.001

3.900

62.958

1939

68.000

1.600

54.451

1940

20.996

6.500

1941

5.787

6.000

Gesamt

486.703

Die wenigsten dieser Flüchtlinge gingen nach Palästina, insgesamt nur etwa elf Prozent. Sie waren in der großen Mehrzahl nicht vom Zionismus überzeugt, sondern sahen sich als Deutsche und die Auswanderung entsprechend als Vertreibung aus der Heimat an. Deshalb war die individuelle Emigration nur selten ein politisches Zeichen gegen den Nationalsozialismus, sondern primär Einsicht in die antisemitische Realität. Viel wesentlicher aber: Über 400.000 Menschen konnten sich so vor dem Holocaust retten. Nur aufgrund dieser Massenflucht überlebten prozentual mehr Jüdinnen und Juden aus Deutschland als in beinahe allen besetzten Ländern Europas.

Doch die nationalsozialistische Politik setzte nicht nur auf Auswanderung, sondern teils gleichzeitig auch auf Vertreibung bzw. später auf Deportation. Von einer Abschiebung waren im Oktober 1938 etwa 17.000 in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden aus Polen betroffen. Sie hielten sich meist schon seit vielen Jahren im Reich auf und hatten kein Interesse an einer Rückkehr in ihre Heimat – die ebenfalls keinerlei Wert auf sie legte und stattdessen im März 1938 ein Gesetz verabschiedet hatte, das es erlaubte, ihnen bei einem längeren Aufenthalt im Ausland die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Die deutsche Regierung schuf daraufhin Fakten und ließ vor allem jüdische Männer verhaften und an die Grenze transportieren. Dort verweigerte Polen allerdings die Aufnahme, so dass Tausende unter elenden Bedingungen wochenlang in einer Art Niemandsland ausharren mussten, bis ihnen im Januar doch noch die Einreise in ihre frühere Heimat gestattet wurde.[12]

Diese sogenannte Polenaktion war der unmittelbare Auslöser für einen der bekanntesten Akte frühen jüdischen Widerstands: Das Attentat Herschel Grynszpans auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938. Grynszpans Eltern und Verwandte waren von den Ausweisungen betroffen und mussten in Zbąszyń in einem der Lager auf polnischer Seite der Grenze ausharren. Mit seinem Anschlag wollte Grynszpan auf das Leid seiner Familie aufmerksam machen, doch da es keinerlei Bezug zwischen ihrem Schicksal und dem niederrangigen Pariser Botschaftssekretär vom Rath gab, war dessen Tod kaum zu rechtfertigen. Folglich wurden die Motive des Täters in der Berichterstattung marginalisiert.[13] Gleichwohl nutzten die Nationalsozialisten den Fall, um den Antisemitismus zu schüren und die Pogrome vom 9. November 1938 auszulösen.

Eine weitere Folge dieser antisemitischen Gewalt war ein bislang ungekannter Anstieg der Anzahl jüdischer Konzentrationslagerhäftlinge. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Jüdinnen und Juden selten unter derartiger Verfolgung leiden müssen und lediglich einen geringen Anteil an den Lagergesellschaften gestellt; nun stieg er von fünf Prozent auf über 50 Prozent an. Das war vorübergehend,[14] denn nach wie vor galt das Staatsziel Emigration. Langjährige jüdische Gefangene saßen meistens aus politischen und viel seltener aus rassischen Gründen in den KZ,[15] ein Beispiel dafür stellt der Rechtsanwalt Hans Litten dar, der vor 1933 in mehreren Prozessen als Nebenkläger gegen die SA aufgetreten war und nach fünf Jahren in verschiedenen Lagern 1938 in Dachau Selbstmord beging.[16]

Noch drastischer war der Fall der aus München stammenden Olga Benario-Prestes, die als Kommunistin bereits in Weimarer Zeiten nach Moskau ging und dort eine Ausbildung erhielt. Auf komplizierten Wegen gelangte sie nach Brasilien, wo sie einen Aufstand organisieren wollte, aber von der Polizei verhaftet und unter rechtlich fragwürdigen Umständen 1936 nach Deutschland ausgeliefert wurde. Die Gestapo hatte sie seit Jahren überwachen lassen und sperrte sie nun in das Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin, wo sie ihre Tochter Anita Leocádia zur Welt brachte. Danach kam sie ins KZ Lichtenburg und später ins KZ Ravensbrück, bevor sie 1942 in der «Euthanasie»-Tötungsanstalt Bernburg ermordet wurde.[17]

Mit Kriegsbeginn 1939 verschlossen sich die allermeisten Wege in die Emigration. Bald drohte jüdischen Deutschen die Deportation in Ghettos in Osteuropa, und nur wenig später die direkte Verschleppung in ein Vernichtungslager. An den Reaktionen auf die nationalsozialistische Politik im Reich änderte dies aber nur wenig. Nach wie vor blieben diese hauptsächlich individuell und waren selten formal gesetzwidrig.[18] Deutschland war die Heimat dieser Menschen: Sie waren nicht unter eine Okkupationsherrschaft geraten, sondern sahen sich der Politik einer legal gewählten und von einer großen Mehrheit unterstützten Regierung gegenüber. Sich in den Untergrund zu begeben, war selbst im besetzten Europa nicht einfach. Doch im Unterschied zu den Verhältnissen in den okkupierten Nachbarländern war im Deutschen Reich nicht mit Sympathien für eine solche Handlung zu rechnen.

Deshalb agierten auch bereits vor 1933 existierende jüdische Institutionen weiter im Rahmen der Vorschriften und Gesetze, selbst als diese immer diskriminierender wurden. Doch das entsprach den Gepflogenheiten sämtlicher Organisationen, die die Nationalsozialisten nicht – wie etwa die Kommunistische Partei Deutschlands – in die Illegalität gedrängt hatten. Der Übergang vom Rechts- zum Unrechtsstaat war ein längerer Prozess, und das Regime verwendete einige Mühe darauf, seinen Maßnahmen einen formal legalen Charakter zu verleihen, der Freiheit immer mehr durch Verfolgung ersetzte. Dagegen wehrten sich die jüdischen Einrichtungen zwar, versuchten aber vor allem, in diesem Rahmen den Verfolgten auf legalem Wege zu helfen.

Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) vertrat die Interessen der assimilierten Jüdinnen und Juden seit 1893 und hatte sich stets gegen Antisemitismus und für Gleichstellung eingesetzt. Deshalb beobachtete ein Büro der Organisation unter der Leitung von Alfred Wiener bereits seit 1928 die Nationalsozialisten und warnte vor ihnen. Wiener floh 1933 zunächst nach Amsterdam, wo er im von ihm gegründeten Jewish Central Information Office seine Tätigkeit fortsetzte, und später weiter nach London, wo seine Materialsammlung den Grundstein für die nach ihm benannte Wiener Holocaust Library bildete.[19] Der CV wiederum wurde 1933 Teil der neugegründeten Reichsvertretung der Deutschen Juden, die unter dem Vorsitz von Leo Baeck alle Strömungen des deutschen Judentums vereinigte und sich 1939 dem SS-Reichssicherheitshauptamt unterstellen musste; der Centralverein selbst war schon 1938 nach dem Pogrom vom 9. November verboten worden.[20]

Die Reichsvereinigung nahm ihre Aufgabe als Repräsentantin der jüdischen Deutschen ernst. So protestierte sie beispielsweise 1940 gegen die Verschleppung von Jüdinnen und Juden aus Stettin in die besetzten polnischen Gebiete sowie gegen die von 7654 Menschen aus Baden und der Pfalz nach Frankreich. Julius Seligsohn, der als Vorstandsmitglied der Reichsvereinigung Widerspruch erhoben hatte, musste dafür büßen: Obwohl er für sich und seine Familie gültige Ausreisepapiere besaß und mehrfach ins Ausland gereist war, kehrte er – ganz ähnlich wie sein Kollege Paul Meyerheim – nach Kriegsbeginn sogar freiwillig nach Deutschland zurück, um weiterhin anderen helfen zu können. Als Rache für seinen Einspruch verhaftete ihn die Gestapo und sperrte ihn ins KZ Sachsenhausen, wo er 1942 starb; seine Frau und Kinder überlebten im amerikanischen Exil.[21]

Auch der Centralverein entwickelte bis zu seinem Verbot vielfältige Initiativen.[22] Vor allem Kultur galt als wichtige Geste der Selbstbehauptung, um sich gewissermaßen geistig-seelisch gegen die Zumutungen und Diskriminierungen zu stärken. Darüber hinaus war das Festhalten einerseits an den eigenen und andererseits an den deutschen Traditionen selbst unter stetig wachsendem Druck eine Form von Resistenz im Alltagsleben.[23] Hier machte sich der 1933 ins Leben gerufene Kulturbund Deutscher Juden verdient und versuchte außerdem, Betätigungsfelder für die unzähligen entlassenen jüdischen Künstlerinnen und Künstler zu schaffen. Allein in Hamburg zählte er fast 6000 Mitglieder und beschäftigte bis zu seiner Zwangsauflösung im Herbst 1941 über 400 Menschen in verschiedenen Funktionen, deren Gehälter sich ausschließlich aus Beiträgen finanzierten.[24]

Kurt Singer dirigiert Händels «Judas Maccabaeus» mit dem Orchester des Kulturbunds Deutscher Juden in der Berliner Philharmonie, Mai 1934.

Darüber hinaus waren Formen organisierter Selbsthilfe besonders bei der Auswanderung zu beobachten. Zionistische Organisationen waren auf diesem Feld schon länger aktiv.[25] Sie hatten bereits vor 1933 die Alijah genannte Auswanderung nach Palästina sowie die Gründung einer jüdischen Heimstatt im Nahen Osten propagiert und fanden nun mehr Gehör. Recha Freier etwa rief im Januar 1933 das Hilfskomitee für die Jüdische Jugend ins Leben, das sich kurz darauf in Kinder- und Jugend-Alijah umbenannte und damit die Emigration zum Programm erhob. Die 1892 in Ostfriesland geborene Freier hatte zunächst als Lehrerin gearbeitet, bevor sie Anfang der 1930er auf Jugendliche traf, die aufgrund antisemitischer Diskriminierung arbeitslos geworden waren. In Berlin organisierte sie noch in den letzten Tagen der Weimarer Republik eine erste Auswanderung von 13- bis 17-jährigen Kindern nach Palästina, wo sie von der Erzieherin Henrietta Szold weiter betreut wurden. Und obwohl ihr Mann und die drei Söhne bereits 1937 nach London emigriert waren, blieb Freier mit ihrer 1929 geborenen Tochter in Deutschland, um weiteren Jugendlichen bei der Alijah zu helfen. Dabei riskierte sie viel, weil ihre Methoden zur Beschaffung der notwendigen Dokumente nicht immer ganz legal waren.

Das war auch der Grund, warum sie bald nicht mehr im Namen ihres Vereins agieren durfte: Der fürchtete Sanktionen und schloss Freier aus dem Vorstand aus, was diese allerdings nicht von ihren Aktivitäten abhielt. Ganz im Gegenteil organisierte sie nun zusätzlich Fahrten für jüdische Kinder aus Österreich ins benachbarte Jugoslawien. Dort arbeitete sie mit Josef Indig zusammen, der nach dem deutschen Einmarsch 1941 mit 43 jüdischen Kindern zunächst ins italienische Nonantola und später, mit einer nochmals vergrößerten Gruppe, in die sichere Schweiz entkam. Ein solch wagemutiges, höchst riskantes Engagement zeichnete auch Recha Freier aus: Sie entschloss sich erst 1940, als sie wegen regimekritischer Äußerungen denunziert worden war, zu einer halsbrecherischen Flucht über Zagreb und die Türkei nach Palästina, um sich dort für die landwirtschaftliche Ausbildung der eintreffenden Jugendlichen einzusetzen.[26]

Beispiele wie das von Recha Freier sind in Deutschland wenig bekannt, hauptsächlich die noch zu betrachtende Gruppe um Herbert Baum erlangte hier eine gewisse Prominenz. Doch Untersuchungen zeigen, dass etwa 3000 deutsche Jüdinnen und Juden im Widerstand aktiv waren, vor allem in der illegalen Arbeiterbewegung, in kommunistischen Gruppen sowie der zionistischen Jugendbewegung.[27] Die Ursachen für das Unwissen sind vielfältig und gehen teilweise auf die Überlebenden selbst zurück, denen ihre Aktivitäten angesichts des Holocaust irrelevant und erfolglos erschienen, weshalb sie nicht darüber sprachen.[28] Die Mehrheitsgesellschaft wiederum nahm die Kämpferinnen und Kämpfer oft weniger als jüdisch, sondern beispielsweise als kommunistisch wahr – was im Kalten Krieg ausreichte, um als suspekt zu gelten.

3.

DAS BESETZTE EUROPA VOR DEM BEGINN DES MASSENMORDS

Die Tschechoslowakei war wie Polen nach 1918 aus der Konkursmasse der im Ersten Weltkrieg untergegangenen Kaiserreiche entstanden. Eine große deutsche Minderheit lebte dort, aber auch etwa 400.000 Jüdinnen und Juden. Mit dem Münchner Abkommen vom September 1938 gelang Hitler mit Zustimmung Englands, Frankreichs und Italiens eine Aufteilung des Landes: Das Sudentenland wurde deutsch, und auch Ungarn bekam wenig später Territorien zugesprochen. Dennoch trieb Berlin die Desintegration des verbliebenen Restgebiets weiter voran, nicht zuletzt durch die Stärkung sezessionistisch veranlagter Kreise im slowakischen Landesteil. Dieser erklärte am 14. März 1939 – mit deutscher Rückendeckung – seine Unabhängigkeit, und einen Tag später besetzte die Wehrmacht die sogenannte Rest-Tschechei, die als Protektorat Böhmen und Mähren nun vollständig dem deutschen Machtbereich eingegliedert wurde. Eine tschechische Regierung bestand formal weiter, aber die Entscheidungen traf de facto der von Hitler eingesetzte Reichsprotektor Konstantin von Neurath. Fast 120.000 Jüdinnen und Juden gerieten unter nationalsozialistische Herrschaft.[1]

Die bisher im Reich eingeführten antisemitischen Gesetze und Verordnungen erlangten in kurzer Folge auch im Protektorat Gültigkeit. Die Deutschen forcierten außerdem die Zwangsemigration. Adolf Eichmann, der spätere Organisator der Massendeportationen nach Auschwitz, hatte zu diesem Zweck – ähnlich wie schon in Wien nach dem «Anschluss» Österreichs – im Juni 1939 eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung errichtet. Doch trotz allen Drucks und mancher Hilfe etwa aus dem britischen Palästina-Einwanderungsfonds gelang es bis Herbst 1941 nur etwa 25.000 Menschen, das Land zu verlassen.[2]

Die im Protektorat verbleibende jüdische Gesellschaft war viel eher vergleichbar mit Deutschland als mit Polen: Weitgehend assimiliert und integriert, gab es keine Schtetl oder ein umfangreiches orthodox-chassidisches Judentum, das weltlichen Dingen abgeneigt war. Die Deutschen setzten nicht auf die Errichtung geschlossener Wohnbezirke, sondern beschränkten die Zwangsseparation auf mit dem Reich vergleichbare Maßnahmen wie die sogenannten «Judenhäuser», in denen die jüdische Bevölkerung wohnen musste.[3] Das Ghetto Theresienstadt in der gleichnamigen Festungsstadt blieb ein Sonderfall.

Die tschechischen Jüdinnen und Juden standen insofern zwischen West und Ost, als Selbst- und Fremdwahrnehmungen nur teilweise von nationalen Fragen bestimmt waren. So hatte sich bei Volkszählungen 1921 und 1930 jeweils knapp die Hälfte der befragten Angehörigen der jüdischen Religion auch als Angehörige einer jüdischen Nationalität bezeichnet.[4] Doch diese Angabe fand sich nicht in ihren Ausweisen wieder, wie das weiter östlich der Fall war: Sowohl in Polen wie in der Sowjetunion – die beide multiethnische Staaten waren – hatte man der jüdischen Minderheit den Status als Nation zugesprochen, was sie eben nicht lediglich religiös definierte bzw. abgrenzte. Die Zugehörigkeit zu dieser Nation begründete sich ähnlich wie im Nationalsozialismus, denn sie wurde familiär weitergegeben, vom Vater an die Kinder. Hier wie dort kam es dabei zu einer Vermischung religiöser und ethnischer Kriterien, allerdings war die Nationalität im Unterschied zum deutschen Rassismus veränderbar. Die staatliche Kategorisierung erleichterte den Besatzern dennoch die Verfolgung, da Melderegister oder Pässe wesentlich zuverlässiger waren als Mitgliederlisten von jüdischen Gemeinden – zumal es keine Zwangsmitgliedschaften gab.

Gerade aufgrund der Verwobenheit der tschechischen Jüdinnen und Juden mit der Mehrheitsgesellschaft bildeten sich keine separaten, ethnisch getrennten Widerstandsorganisationen. Im Gegensatz dazu war der Untergrund in vielen osteuropäischen Ländern anhand nationaler Trennlinien organisiert, und statt einer Zusammenarbeit entwickelten sich Rivalitäten, gerade um die stets knappen Waffen. Nicht selten waren im Kriegsverlauf sogar gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen nichtjüdischen Gruppen zu beobachten, die sich höchstens in ihrer antisemitischen Grundhaltung einig waren.[5]

Die zeitgenössischen deutschen Quellen aus dem Protektorat betonten den jüdischen Anteil am tschechischen Ungehorsam – was allerdings eher antisemitisches Stereotyp als historische Tatsache war, denn das Verhältnis der nichtjüdischen zur jüdischen Bevölkerung verschlechterte sich schnell, selbst wenn es nach wie vor beeindruckende Akte von Solidarität gab.[6] Hauptsächlich in den kommunistischen und sozialdemokratischen Verbänden fanden sich jüdische Mitglieder, wofür der rund 3000 Mitglieder zählende Petiční výbor – Věrni zůstaneme (Petitionsausschuss – Wir bleiben treu) exemplarisch steht. Er war, wie viele andere Gruppen, die sich wesentlich weniger offen gegenüber Jüdinnen und Juden zeigten, im Dachverband Ústřední vedení odboje domácího (Zentrale Leitung des Widerstands in der Heimat) organisiert.[7] Die Geschichtswissenschaft diskutierte daher nach 1945, ob bzw. inwiefern Aktivitäten im Rahmen des tschechischen Untergrunds überhaupt als jüdischer Widerstand bezeichnet werden können.[8]

Das gemeinsame konspirative Umfeld hatte den Vorteil, dass ein späteres Untertauchen im Vergleich etwa zu Polen einfacher war. In den ersten Jahren der Okkupation konnten jüdische Intellektuelle außerdem weiter unter Pseudonym publizieren, nicht selten sogar unter dem Namen tschechischer Kolleginnen und Kollegen. Diese Tätigkeiten firmierten im Protektorat als «Zweiter Widerstand», was eine direkte Linie zu den nationalstaatlichen Bestrebungen im Habsburgerreich zog.[9] Parallelen gab es außerdem zu den Dokumentations- und Sammeltätigkeiten der polnischen Jüdinnen und Juden, als die SS im November 1942 ein Jüdisches Zentralmuseum in Prag errichten ließ. Die Initiative dafür ging wesentlich von jüdischen Intellektuellen aus, die mit dem Zugeständnis der Pervertierung für SS-Kaderschulungen erreichten, dass wichtige jüdische kulturelle und vor allem sakrale Gegenstände bewahrt – und von jüdischen Experten betreut – werden konnten.[10]

Diese späte Sammlungsaktion sagt etwas über die Verfolgungssituation der jüdischen Minderheit im Protektorat aus: Trotz Verarmung, «Arisierungen», Zwangsarbeit und drastischer Entrechtung riefen die deutschen Maßnahmen nicht den Eindruck einer unmittelbar bevorstehenden oder gar schon begonnenen Vernichtung hervor. Tödliche Verfolgung, ein elendsbedingtes Massensterben oder ungezählte Pogrome, wie sie in Osteuropa zuletzt im Zuge des russischen Bürgerkriegs und der Nationsbildungskonflikte zwischen 1917 und 1921 zu beobachten gewesen waren, kannten die tschechischen Jüdinnen und Juden bis 1942 nicht. Doch gegen die herrschenden Bedingungen wehrten sie sich. Max Mannheimer etwa war es möglich, die nächtliche Ausgangssperre bei seinem Zwangsarbeitseinsatz in Luhatschowitz zu ignorieren. Trotz des Verbots ging er in einen Kurpark, wie er berichtet: «Ich zähle die Verbotsschilder ‹Für Juden verboten›. Es sind sechs an der Zahl. Später, gegen elf, reiße ich alle Verbotsschilder aus dem Boden und werfe sie teils ins Gebüsch, teils in einen Bach.»[11]

Die tschechischen Jüdinnen und Juden hatten, genau wie jene im besetzten Westeuropa, die Deutschen im Ersten Weltkrieg nicht als virulente Antisemiten kennengelernt. Die Emigrantinnen und Emigranten aus dem Reich berichteten zwar, weshalb eine Flucht vor den Nationalsozialisten angebracht sein konnte, aber von Mordexzessen oder Genoziden wussten sie nichts: schlicht, weil es solche vor 1939 in Deutschland nicht gegeben hatte. Und so war ein heuristisches Vorgehen, das in intellektuellen Kreisen zu Prognosen über das weitere Vorgehen der Besatzer genutzt wurde, wenig zielführend – ganz im Gegenteil führte es zu systematischen und schwerwiegenden Fehleinschätzungen einer unbekannten Situation. Der präzedenzlose Holocaust ließ sich kaum erahnen, und noch weniger war es möglich, sich darauf adäquat vorzubereiten. Das Wissen über den Nationalsozialismus beeinflusste zwar das Verhalten in bestimmter Weise – etwa in Form der Emigration –, erlaubte aber keine zutreffende Vorhersage der Zukunft.[12]

Jüdische Organisationen in Polen

Das Jüdische Historische Institut in Warschau bewahrt einige der bemerkenswertesten und wichtigsten Quellen des Holocaust: Das sogenannte Ringelblum-Archiv, auch bekannt als Oneg-Schabbat-Archiv, das von Jüdinnen und Juden im Geheimen zusammengetragen wurde, um die Situation in den Ghettos in Polen und die Verbrechen der Deutschen zu dokumentieren. Zunächst knüpften sie damit an die jüdische Tradition des Totengedenkens (Zakhor) an, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Verfolgungen im russischen Zarenreich sowie die Pogrome des Bürgerkriegs nach 1917 fokussiert hatte. Damals waren zahlreiche Gemeindechroniken erschienen, die Schicksale festhielten, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Oft ging das mit einer religiösen Konnotation einher, dann wieder stand ausdrücklich die chronistische Absicht im Vordergrund.[13]

Diese älteren Arbeiten waren nicht während des Geschehens selbst entstanden, sondern aus einer nachträglichen Reflexion und Bewertung heraus. Schon deshalb haben die Sammlungen und Studien, die während des Zweiten Weltkriegs entstanden, einen anderen Charakter. Zur unmittelbaren Betrachtung kam außerdem der wissenschaftliche Fortschritt soziologischer und sozialgeschichtlicher Herangehensweisen, die insbesondere das Jiddischer Wissenschaftlecher Institut (YIVO) mit seiner Zentrale in Wilna und seiner Außenstelle in Warschau gefördert hatte.[14] Der marxistisch geprägte Emanuel Ringelblum war einer der ehemaligen Mitarbeiter und griff die neuen Methoden für die Konzeption der von ihm initiierten Sammlung auf, ohne die eschatologische Tradition dieser Art Geschichtsschreibung zu verkennen.[15]

Ganz im Gegenteil wuchs mit dem voranschreitenden Holocaust spätestens 1942 die Erkenntnis, mit einer anderen Dimension der Verfolgung konfrontiert zu sein, die auch die Vernichtung jeglicher Spur von jüdischer Existenz umfasste. Umso dringlicher wurde das Bewahrende der Ghettoarchive, das nun über die Beweissicherung hinaus einen existenziellen Aspekt enthielt: Im Bewusstsein war die Auflehnung gegen die totale Vernichtung und dass nicht die deutschen «Sieger» die posthumen Deutungen bestimmen sollten.[16] Erforderlich war eine kollektive Anstrengung, die weit über individuelle Bemühungen hinausging, selbst wenn diese gar nicht so selten waren. Im jüdischen Bersohn-Bauman-Krankenhaus in Warschau beispielsweise verfasste die als Schwester arbeitende Adina Blady-Szwajger Krankenberichte für den Arzt Michał Jaszuński,

denn er hasste diese Arbeit und hielt sie für Irrsinn. Doch wir dachten, wenn diese Krankengeschichten die deutsche Besetzung überleben sollten, würde sie vielleicht nach dem Krieg jemand finden, und sie wären dann historisches Beweismaterial.[17]

Doch es waren die extra zu diesem Zweck gegründeten Vereinigungen zur Dokumentation von Verbrechen, die weit über derartige Aufzeichnungen, über Tagebücher oder lyrische Ausdrucksformen von Dichtern wie Yitzhak Katznelson oder Hirsz Glik hinausgingen – selbst wenn der jüdische Untergrund deren Poesie gezielt verbreitete und teils auf halsbrecherischen Kurierfahrten zwischen den Ghettos transportierte, weil er ihr eine große moralische Wirkung zubilligte.[18]

Die Wurzeln jüdischer dokumentarischer Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg sind in Wilna zu finden. Weniger wegen des YIVO, sondern hauptsächlich deshalb, weil diese polnische Stadt östlich der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie lag und im Herbst 1939 zunächst zum selbständigen Litauen gelangte, das die Sowjetunion erst im August 1940 annektierte. Bereits im November 1939 nahm dort das Komitet tsu zameln materialn vegn yidishn kurbn in Poyln (Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen) seine Tätigkeit auf. Etwa 60 hauptsächlich aus Warschau geflüchtete jüdische Schriftsteller und Journalisten – Zeugnis einer lebendigen jiddischen Kultur, die vor 1939 bereits einen genauen Blick auf die antisemitischen Entwicklungen in Deutschland geworfen hatte[19] –, beschlossen, sich im vertrauten Exil weiterhin ihrem Beruf zu widmen. Die Kriegserfahrung überbrückte die politischen Gräben, die diese Männer in der Heimat getrennt hatte. Nun trugen sie gemeinsam in einem halben Jahr rund 4000 mit Schreibmaschine eng beschriftete Bögen mit Aussagen von gut 400 aus Polen geflüchtete Jüdinnen und Juden zusammen. Dazu kamen weitere 25 Dossiers, was schlussendlich in sechs Bulletins mündete.[20]

Diese Tätigkeit musste auch im formal neutralen Litauen strikt vertraulich bleiben, denn Berlin verlangte nachdrücklich, alle deutschfeindlichen Aktivitäten zu unterbinden; den Flüchtlingen war ab Frühjahr 1940 deshalb unter anderem untersagt, sich frei im Lande zu bewegen. Wenig später, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, endete die Überlieferung des Komitees. Was es zusammengetragen hatte, war dennoch ein Panorama der bisherigen Schrecken: Berichte aus Lagern, über antisemitische Gewalt, über Lebensbedingungen in den besetzten Städten und Dörfern, über Plünderungen und Vertreibungen.[21]

Neben der schlichten Dokumentation war eine zentrale Absicht, mit der man an den aus den USA geschickten Moses Beckelman vom American Jewish Joint Distribution Committee (Joint bzw. JDC) herantrat, die Weltöffentlichkeit zu informieren und aufzurütteln: «The material may be used as a weapon in the fight against the oppressors and persecutors.»[22] Das Joint, das sich im weiteren Kriegsverlauf als wichtige Netzwerk- und Hilfsorganisation für die verfolgten Jüdinnen und Juden erweisen sollte, war dem Komitee vor allem über Yitzhak Gitterman verbunden, der seit 1926 dessen lokaler Repräsentant in Polen war – und zugleich die Warschauer Dependance des YIVO geleitet hatte. In Wilna wurde er zu einer Art Spiritus Rector des Komitees und organisierte zugleich materielle Unterstützung für dessen Mitglieder, selbst wenn die Kooperation mit dem YIVO nur kurz währte.[23]

Gitterman hatte zuvor, in seiner Warschauer Zeit, unter anderem Hilfe für die während der «Polenaktion» 1938 ins Niemandsland zwischen deutscher und polnischer Grenze deportierten Menschen organisiert. Als Koordinator vor Ort gewann er den Lehrer Emanuel Ringelblum, den er als ambitionierten Sozialhistoriker ebenso schätzte wie für sein Engagement für Jüdinnen und Juden, die in Polen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren. Schon 1938 hatte Ringelblum Vertriebene darum gebeten, ihre Erfahrungen niederzuschreiben.[24]

Bei Kriegsbeginn blieb Ringelblum in Warschau und organisierte für das Joint und dessen polnisches Pendant, die Aleynhilf, materielle Hilfe für die Jüdinnen und Juden der Stadt, während er gleichzeitig Angehörige der Intelligenz für die verschiedensten Tätigkeiten bei diesem Projekt engagierte, um ihnen auf diese Weise zumindest ein gewisses materielles Auskommen zu sichern; die Journalistin Rachela Auerbach beispielsweise konnte er davon überzeugen, eine Suppenküche für Bedürftige zu leiten, worüber sie später in einer Studie für das Oneg-Schabbat-Archiv berichtete.[25]

Dieses Archiv rief Ringelblum am 22. November 1940 ins Leben, eine Woche, nachdem die Besatzer das Warschauer Ghetto errichtet und die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt – und wenig später viele weitere Deportierte aus West- und Zentralpolen – gezwungen hatten, darin zu wohnen. Er versammelte etwa 50 bis 60 Menschen, die das alltägliche Leben und Sterben der polnischen Judenheit dokumentieren und analysieren wollten.[26] Dafür trugen sie deutsche Ankündigungen genauso wie Verordnungen des von den Besatzern eingesetzten Judenrats zusammen, fertigten Statistiken an, verfassten Essays und wissenschaftliche Ausarbeitungen. Ringelblum hatte auf eine feste hierarchische Struktur verzichtet, aber im Exekutivausschuss fanden sich der im April 1940 auf abenteuerlichen Wegen nach Warschau zurückgekehrte Yitzhak Gitterman ebenso wie die Sekretäre des Archivs, Hersz Wasser und Eliasz Gutkowski.[27] Ihre Aufgaben waren unter anderem die Geldbeschaffung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – denn diese waren im Ghetto-Elend auf Honorare angewiesen – sowie die klandestinen Kontakte mit ihnen;[28] keinesfalls nämlich konnte die Gruppe offen agieren, weshalb der Name «Oneg Schabbat» auch ganz unverfänglich «Freude am Sabbat» bedeutete und sich längst nicht alle Mitglieder über die Dimensionen der Gruppe im Klaren waren.

Die Warschauer Aktivitäten waren zwar in ihrem Umfang außergewöhnlich, aber keinesfalls die einzigen ihrer Art. In Wilna beispielsweise mussten nach der deutschen Invasion der Sowjetunion bis zu 40 jüdische Helferinnen und Helfer die rund 100.000 Bücher umfassenden Bestände des YIVO für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg sortieren und diesem bei seinem systematischen Raub assistieren. Die Pläne sahen vor, rund 20.000 Sammlungseinheiten an ein von Alfred Rosenberg errichtetes antisemitisches Forschungsinstitut in Frankfurt zu liefern. Was dort nicht von Interesse war, sollte dem Papierrecycling zugeführt werden; außerdem wollten die Deutschen rund 500 Thora-Rollen zu Schuhen verarbeiten lassen. In den Worten des ebenfalls zu diesem Dienst eingeteilten Wilnaer Ghetto-Chronisten Herman Kruk: «Es ist herzzerbrechend und so schmerzvoll. Es ist unmöglich, diese Zerstörung ruhig zu beobachten.»[29]

Aber es gelang der als «Papierbrigade» in die Geschichte eingegangenen Gruppe um den Historiker Abraham Sutzkever und den Dichter Shmerke Kaczergiński, große Mengen an Büchern und Archivalien in etwa 30 Verstecken im YIVO und im Wilnaer Ghetto unterzubringen. Teils bargen sie sogar Broschüren von militärischem Wert – etwa über Waffen –, die sie an jüdische Partisanen übergeben konnten.[30] Skeptiker waren dennoch der Ansicht, dass besser Lebensmittel oder wichtige Gegenstände des täglichen Bedarfs geschmuggelt werden sollten – doch selbst sie hatten nichts gegen Lehrbücher für Schulen oder für das Theater im Ghetto einzuwenden. An mehreren Orten konnten deshalb nach dem Krieg wichtige Teile der YIVO-Sammlung geborgen werden, darunter Bücher aus dem 15. und 16. Jahrhundert, das Tagebuch von Theodor Herzl, ein Manuskript des Rabbiners Gaon von Wilna oder ein Bild von Marc Chagall – sowie bei polnischen Wilnaern versteckte christliche theologische Schriften und sogar ein Dokument mit einer Unterschrift des polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko.