Der Weg des Bösen - Hannes Wildecker - E-Book

Der Weg des Bösen E-Book

Hannes Wildecker

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Beschreibung

Seine panische Angst steigert sich ins Unermessliche. Nun weiß er auf einmal, wo er sich befindet. Sein Blick fällt auf den Baseballschläger, und es ist, als sauge er sich daran fest. Schlagartig wird ihm bewusst, was ihn erwartet ... An einem abgelegenen Haus am Ortsrand von Hermeskeil geschehen grausame Morde. Sie weisen das gleiche Muster einer Tat auf, die vor 18 Jahren in diesem Haus geschah. Mit einem Baseballschläger werden den Opfern die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Heiner Spürmanns Nachfolger, Kriminalhauptkommissar Overbeck, jagt gemeinsam mit Leni einem Phantom hinterher, und schließlich kommen sie einer Wahrheit auf die Spur, die selbst ihnen als erfahrene Ermittler ein Wechselbad der Gefühle bereitet.

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Seitenzahl: 356

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Hannes Wildecker

Der Weg des Bösen

Der erste Fall für Leni und Overbeck

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Weg des Bösen

Impressum

Der Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Impressum neobooks

Der Weg des Bösen

Hannes Wildecker

Ein Hunsrück-Krimi

Der erste Fall für Leni und Overbeck

Impressum

Texte: © Copyright by Hans Muth Umschlagfoto: Pixabay

Umschlag: © Copyright by Hans Muth

Verlag: Hans Muth

Kapellenstr. 6 54316 [email protected]

Druck: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin,

Printed in Germany

Nach dem Roman „Die Brut des Adlers“, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Stephan Moll, Burg Ramstein 2012

Der Autor

Hannes Wildecker wurde 1944 im Kreis St. Goarshausen geboren und war Kriminalbeamter beim Polizeipräsidium Trier. Mit dem Schreiben von Lyrik und regionalgeschichtlichen Abhandlungen begann er in den 70er Jahren. Die Liebe zur kriminalistischen Belletristik entdeckte er erst im Alter von 60 Jahren. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und lebt in der Nähe von Trier.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Prolog

Die zierliche Gestalt mit dem dunklen Anorak und der übergroßen schwarzen Kapuze sieht nieder zu Jörg Dellmann, der vor ihr mit dem Rücken auf dem Schmutz des Hinterhof-Bodens liegt und mit teils ängstlichem, teils erwartungsvollen Blick zu ihr aufsieht.

Erst als er den Baseball-Schläger in der Hand des Gegenübers bemerkt und das verzerrte Lächeln in seinem Gesicht sieht, weichen Erwartungshaltung und Angst einer ihn umklammernden Panik. Mit aufgerissenen Augen will er schreien, doch irgendetwas schnürt ihm die Kehle zu, dass er glaubt, ersticken zu müssen.

Er registriert, wie sich die Person, deren schattenumhülltes Gesicht er nicht sehen kann, mit beiden Händen auf den Baseball-Schläger stützt und ihn stumm ansieht.

Der Blick seiner vor Angst geweiteten Augen sucht in dem Gesicht des anderen zu lesen. Langsam kommt ihm die Erinnerung wieder. Er hatte in einer Gaststätte etwas getrunken. Dann wurde ihm übel und der Black-Out nahm ihm das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

Ohne seinen Kopf zu bewegen, streifen seine Augen die Umgebung ab und plötzlich hat er das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.

Sein Gegenüber scheint seine Gedanken zu erraten. Er nickt mehrfach mit dem Kopf und lächelt, höhnisch und übermächtig. Mit einer energischen Bewegung schiebt er die Kapuze in den Nacken und verharrt einen Moment, den Blick auf sein Opfer gerichtet, dessen Augen sich angesichts des Offenbarten mehr und mehr weiten.

Dann tritt die Gestalt auf den Daliegenden zu, der sich, auf die Ellbogen stützend, in eine sitzende Stellung begeben hat und nach hinten wegzukriechen versucht. Seine Muskeln sind immer noch wie gelähmt, so, wie es in der Natur bestimmter Betäubungsmittel liegt. Schweiß hat sich auf seiner Stirn gebildet und läuft, Tränen gleich, an den Falten seiner Wangen hinunter.

Seine panische Angst steigert sich ins Unermessliche. Nun weiß er auf einmal, wo er sich befindet. Sein Blick fällt auf den Baseballschläger und es ist, als sauge er sich daran fest. Schlagartig wird ihm bewusst, was ihn erwartet.

Noch ehe die zierliche Gestalt ihn mit erhobenem Schläger erreicht, hebt er reflexartig beide Arme zur Abwehr vors Gesicht.

„Nein!!!“

Dann trifft ihn der erste Schlag und zertrümmert seinen rechten Unterschenkelknochen.

Der Schmerz jagt durch seinen gesamten Körper und droht ihn in eine neue Ohnmacht zu versetzen. Er schreit mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und fasst sich reflexartig mit beiden Beinen an das lädierte Bein, wobei er damit gleichzeitig seinen oberen Körperbereich entblößt.

Der zweite Schlag trifft ihn mitten im Gesicht, noch ehe er seinen Mund schließen kann. Er spürt nicht mehr, wie er in einer Reflexbewegung einen Teil seiner Zähne verschluckt und auch nicht den dritten Schlag auf die gleiche Stelle, der das Leben von Jörg Dellmann jäh beendet.

Die Gestalt sieht noch einen Moment auf den Toten. Dann nimmt sie einen Zettel aus einer Innentasche des Anoraks, beugt sich über ihn und schiebt das Papier unter dessen Pullover.

„Wer Tod sät, wird Tod ernten“, flüstert die Gestalt, während sie sich die Kapuze wieder über den Kopf zieht. „Flieg zur Hölle, Adler!“ Doch niemand vernimmt die Worte und das Flüstern verpufft ungehört im Rauschen der Bäume des nahen Waldes.

Kapitel 1

Gegenwart

Während Maggie Heidfeld mit leerem Blick aus dem Fenster des fast lautlos dahinschwebenden ICE in die unendliche Ferne blickte, tastete sie zum wiederholten Mal das Innere ihrer eigentlich zu großen Handtasche mit der Herkunft irgendeines Supermarktes ab, bis sie schließlich das kalte Metall der Walther PPK auf ihrer Haut spürte.

Ihre Hand umfasste den harten Griff der Waffe und ihre Fingerspitzen glitten über die Riffelung der Hartholzschalen. Ein Schaudern ging bei der Berührung durch ihren Körper. Ihr Daumen fasste den Hahn und zog ihn ein bis zwei Millimeter nach hinten, um ihn dann wieder behutsam in die Ausgangsstellung zurückzuführen.

Maggie verspürte ein eigentümliches Gefühl in der Magengegend, als sie die klobige Tasche schloss und daran dachte, dass gerade sie mit einer Waffe unterwegs war. Zeitlebens war sie ein Feind von Gewalt gewesen, hatte das Morden in den zahlreichen Kriegen nie nachvollziehen können und sie hatte es ihrem Vater stets übelgenommen, damals, als sie Kind war, wenn er die kleine Pistole auseinandernahm und reinigte. Es war schon allein der Besitz, den sie verachtete.

Die Waffe hatte ihrem Vater gehört. Jerry Thompson. Doch der brauchte sie nicht mehr. Er brauchte sie nicht mehr, seit sie 12 Jahre alt war. Heute, mit 30, dachte sie anders über Waffen. Vielleicht lebte er noch, wenn er dieses kleine metallene Mordinstrument bei der Hand gehabt hätte. Das war 1994. Er war 33. Damals starb er. Nicht auf natürliche Weise. Um es genau zu sagen, er starb an den Folgen eines einzigen Schlages. Es war ein Baseball-Schläger. Er traf ihn mitten ins Gesicht und deformierte es bis zur Unkenntlichkeit. Ihr Vater hatte keine Chance. Es waren vier Männer, bewaffnete Männer. Es waren dieselben Männer, die sich auch auf ihre Mutter gestürzt hatten und ihr das Schlimmste angetan hatten, was man einer Frau antun konnte.

Damals war Maggie 12. Ein fröhliches Kind wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter. Bis zu jenem Tag. Von da an war ihr Herz kalt. Es war mehr und mehr erfroren, wie der Winter, der langsam hereinbrach und schließlich eine Eiseskälte über das Land hauchte. In ihrem Herzen war kein Platz mehr für die schönen Dinge des Lebens. Damals hatte sie sich geschworen, die Mörder ihres Vaters zu finden.

Dann starb die Mutter, mit 38. Sie hatte es nie verwunden, was man ihrem Mann und ihr angetan hatte. Man fand sie in der Scheune, erhängt. Einen Abschiedsbrief hatte sie ihrer Tochter an ihrem Todestag hinterlassen, einen Tag nach Maggies achtzehntem Geburtstag.

Maggie wischte sich eine Träne aus dem Auge. Sie hatte lange nicht mehr geweint, zu stark war ihr seelischer Schmerz. Mit fahriger Hand öffnete sie erneut die billige Handtasche und fasste hinein. Ihre Hand suchte nach einem Fach an der Innenseite und fühlte ein Stück Papier, den letzten Gruß ihrer Mutter. Ihre zarten Finger ballten sich zur Faust und ohne es wahrzunehmen, zerknüllten sie das, was sie umklammerten, als sie die Erinnerungen überfielen.

Kapitel 2

Hermeskeil 1994

Jerry Thompson stand am Fenster des Schlafzimmers, das er sich mit Conny Heidfeld teilte und blickte über die Wiesen und die Dächer der Stadt bis zum Horizont. Eigentlich sah er die Wiesen nicht, denn die Dunkelheit war bereits seit einigen Stunden hereingebrochen. Doch er musste sie nicht sehen, er wusste, dass sie da waren. Er sah ihr Grün mit geschlossenen Augen und er roch ihren Duft, der nach dem Mähen durch die schweren Traktoren mit ihren riesigen Mähwerken noch intensiver geworden war.

Der Abend lag schwer und schwül über der Kleinstadt. Dunkle wassergeschwängerte Wolken zogen von Westen her über den Osburger Hochwald und das dumpfe Grollen des nahenden Donners in der Ferne kündigte das Ende der Hitzeperiode und den lang ersehnen Regenguss an.

Das Haus der Thompsons befand sich am Ende der Stadt, einige Minuten Fußmarsch von den letzten Häusern der Stadt entfernt, am Rande eines dichten jungen Fichtenhains. Ohne die Nachbarschaft weiterer Häuser lag das kleine Anwesen gespenstig im Dunkel der Nacht. Die kleine Buchenhecke verstärkte den Eindruck der Verlassenheit noch um einiges. Daran änderte auch nichts die Sportanlage, die verlassen hundert Meter weiter, zur Hauptstraße hin, großzügig angelegt war.

Das nächste Haus lag knapp einen Kilometer weiter entfernt am Stadtrand. Ein landwirtschaftliches Gehöft, zu dem von den Thompsons aus ein kleiner Feldweg durch die bestellten Äcker führte.

Jerry Thompsons kräftiger Brustkorb hob und senkte sich, bevor er noch einmal einen Blick in den mannshohen Spiegel in der mittleren Tür des Kleiderschranks warf.

„Dann wollen wir mal“, rief er seinem Spiegelbild zu und rückte seine dunkelblaue Krawatte unter der blauen Uniformjacke zurecht. Dann drehte er sich entschlossen um, warf sich den Riemen der schweren Reisetasche über die Schulter und stieg die Treppe der Balustrade hinab ins Wohnzimmer.

Conny Heidfeld erwartete ihn am Ende der Treppe und sah ihm nachdenklich entgegen. Der Moment der Trennung war gekommen. In den nächsten Wochen würde sie alleine sein, alleine in der Abgeschiedenheit, alleine mit Tochter Maggie, die sie Meg nannten, obwohl Meg eigentlich die Abkürzung von Megan war. Sie lächelte, doch ein Hauch von Traurigkeit legte sich um ihre vollen sinnlichen Lippen. Ihr blondes glattes schulterlanges Haar fiel nach hinten über und Jerry blickte in das Gesicht, das er so liebte. Zart und zerbrechlich erschien ihm Conny heute. Ihr Gesicht war blass und ihre blauen Augen erschienen ihm in dieser Blässe wie zwei Edelsteine.

Jerry sah auf seine Uhr auf dem kräftigen braungebrannten Unterarm und als er bei ihr angekommen war, zog er Conny zärtlich zu sich heran.

„Danke für die schöne Zeit, Liebes, aber es wird langsam Zeit für mich. Es ist schon spät. Das Manöver beginnt in aller Frühe und wenn …“

„Und wenn du zu spät kommst, kann der Krieg nicht pünktlich beginnen, ich weiß“, unterbrach sie ihn leise und schmiegte sich an ihn. Sie gab Jerry einen flüchtigen Kuss, wobei ihr die langen blonden Haare erneut weit nach hinten über die Schultern fielen.

Er sah in ihre blauen Augen, die er so liebte, er spürte ihre zarten Oberarme unter seinen starken Händen. Sie zitterte leicht. Es war nicht die Kälte. Dann entzog sie sich seinen Armen.

„Wirst du lange fort sein? Das Manöver, wann wird es beendet sein?“, fragte sie und Enttäuschung schwang in jedem Wort in ihrer Stimme mit.

„So an die zwei Wochen musst du schon ohne mich auskommen“, erwiderte Jerry. „Aber wir fahren ja nicht raus in die weite Welt. Wir werden den Krieg in und um Baumholder führen, immer in der Nähe meiner Kaserne.“

Er sagte meiner Kaserne. Er sagte es, wie er es fühlte. Conny wusste, dass Jerry Soldat durch und durch war. Nach der Wehrpflicht in den USA hatte er sich freiwillig gemeldet um in Deutschland stationiert zu werden. In Baumholder wurde er kaserniert und auf der Karriereleiter stieg er Sprosse um Sprosse empor.

Sein Dienstgrad war Captain. Die Beförderung zum Major stand bevor. Und es würde weitergehen. Jerry liebte das Soldatenleben und er liebte Conny. Das war sein Leben und so sollte es auch bleiben. Sie würde ihn nicht in ein Familienleben herkömmlicher Art und Weise drängen. Nicht, solange sie so zu leben vermochten.

Conny war stolz auf Jerry. Sie waren schon über vierzehn -nein, sie überlegte kurz- über fünfzehn Jahre miteinander liiert. Sie hatten sich kennengelernt, als sie noch Sekretärin der überörtlichen Verwaltung gewesen war. Jerry hatte damals mit den zuständigen Ressortleitern über die Häufigkeit von Flugstunden der Düsenjets über diesem Teil des Hunsrücks verhandelt. Solche Treffen gab es immer wieder. Die Bevölkerung beschwerte sich über den unzumutbaren Fluglärm, der Bürgermeister setzte sich mit den Militärbehörden auseinander und für einige Zeit schien es, als würden die stählernen Vögel die Region tatsächlich meiden. Doch irgendwann ging das Spiel wieder von vorne los. Die Bevölkerung beschwerte sich, der Bürgermeister intervenierte, das amerikanische Militär gab klein bei. Das gleiche Problem gab es mit dem deutschen Militär, der Bundeswehr. Eine unendliche Geschichte.

Jerry hatte man stets in schlichtender Mission in den Hunsrück ausgesandt. Als er das erste Mal das Vorzimmer des Bürgermeisters betrat, traf es ihn wie ein Blitz und Conny ging es ebenso. Es war Liebe auf den ersten Blick. Noch am selben Abend hatte Jerry Conny ausgeführt und seit jenem Tag waren sie ein unzertrennliches Paar. Geheiratet hatten sie nie, obwohl sie eine gemeinsame Tochter hatten: Maggie. Sie war zwölf.

Eine Ehe? Warum eigentlich nicht? dachte Conny in stillen Momenten und gab sich danach selbst die Antwort: Es ist uns nicht wichtig. Wir gehören zusammen, auch ohne Trauschein. Aber vielleicht wird er mich ja irgendwann fragen …

„Wenn es keiner merkt, werde ich dich von meinem Feldtelefon aus anrufen“, hörte sie wie durch einen Schleier seine Stimme, die sie in die Gegenwart zurückrief.“

„Feldtelefon? So etwas gibt es heute noch“, lachte Conny und legte ihre Stirn in Falten. „Du nimmst mich auf den Arm!“

„Nein, nein, das war doch nur ein Scherz“, lachte nun auch Jerry. „Ich werde mich über mein Handy melden. Öfter, als dir lieb sein wird.“

Jerry knöpfte die Jacke seiner Uniform zu und zog die Krawatte gerade. Conny sah ihm dabei zu und betrachtete ihn lächelnd von Kopf bis Fuß.

Eine stolze Erscheinung, stellte sie wieder einmal fest. Jerry war über einen Kopf größer als sie selbst und war mit Muskeln bepackt, wie es die meisten US-Soldaten waren, die dem Sport frönten, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Und dennoch konnte er zärtlich sein, wenn sie sich dabei auch manchmal allzu zerbrechlich vorkam, wenn er seine Arme um sie schlang.

Sie mochte es, wenn er eine Strähne seines schwarzen Haupthaares mit den Fingern der rechten Hand durchforstete, um sich mit der anderen seine Dienstmütze aufzusetzen und darauf zu achten, dass gerade diese Strähne darunter verschwand.

„Gib Meg einen Kuss von mir, morgen, wenn sie aufwacht und ihren Vater vermisst“, sagte Jerry plötzlich entschlossen und packte seine Reisetasche aus dunkelbraunem dickem Stoff. Früher, als er noch in der Ausbildungen war und auch später als unterer Dienstgrad hatte er immer einen Seesack mit sich herumgeschleppt. Mit einem Ruck hob er die Tasche an und warf den Trageriemen über seine Schulter. „Zwei Wochen gehen schnell vorüber. Mach`s gut, Liebes.“

Jerry beugte sich nach vorne und zog Conny zu sich heran, um sie ein letztes Mal zu küssen, doch er verharrte in der gebeugten Stellung. Etwas war plötzlich anders. Es war Conny, die in einen Armen erstarrte, es waren ihre aufgerissenen Augen, die an ihm vorbeisahen, als habe sie den Teufel gesehen.

Jerrys Kopf bewegte sich langsam in die Richtung, in die Conny mit starrem Blick sah und sein Atem stockte. Er hatte manch gefährliche Situation während seiner Militärzeit erlebt. In Afghanistan war er mit seinen Kumpels in eine Falle geraten, die nahezu ausweglos erschien. Doch sie hatten sich freigekämpft. Mit ihren Waffen. Dort hatten sie Waffen. Griffbreit. Geladen. Sie spürten das kalte Eisen, es machte sie stark.

Manches Handgemenge hatte er auch in seiner Heimat zu seinen Gunsten bestritten. Da ging es meist um Frauen. Das war lange her, lange vor Conny. Nie ging er Problemen oder Aggressionen aus dem Weg. Darauf war er gedrillt worden, es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Heute war es anders. Er hatte keine Waffe in der Hand. Waffen hatten die anderen. Die, die er nicht hatte kommen hören. Die nun in seiner Wohnung standen. Bewaffnet. Vier an der Zahl. Ihre Gesichter bedeckten Wollmützen mit Sehschlitzen.

Jerry erfasste die Gestalten mit einem Blick. Soldaten waren es keine. Wären es Soldaten gewesen, er hätte es gerochen. Er konnte Soldaten riechen, darauf war er gedrillt. Das hier waren keine. Das bestätigte auch ihre Kleidung. Normale Straßenkleidung, dachte er. Einbrecher, Räuber. Ein Überfall. Sie wollten sein Geld. So musste es sein.

„Auf den Boden, Alter! Und die da auch!“, schrie plötzlich der, der am nächsten zu ihnen stand und offensichtlich der Anführer war. „Und keine krummen Sachen! Vergiss alles, was dir dein Militär beigebracht hat. Es wird dir nichts nützen!“

Jerry Thompson richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf und schob mit einer starken Armbewegung Conny hinter sich, wobei er sie mit seinem breiten Körper fast vollends verdeckte. Er sah in das Gesicht des Sprechers und starrte in ausdruckslose Augen. Sie waren grau und eiskalt.

„Was wollt Ihr? Geld? Wertsachen?“, versuchte Jerry die Situation von vorneherein zu entschärfen, indem er Bereitwilligkeit zu demonstrieren versuchte. Seine Gedanken überschlugen sich. Conny! Ihr durfte nichts geschehen. Und Maggie! Mein Gott, Meg! dachte er panisch. Ihre Tochter war oben, in ihrem Zimmer hinter der Balustrade. Er betete zu Gott, dass sie schliefe.

Mit einem Blick versuchte Jerry die Situation einzuschätzen. Vor ihm standen vier Männer, das konnte er anhand ihrer Kleidung und der Staturen feststellen. Alle trugen Wollmasken mit Sehschlitzen über dem Kopf und alle waren bewaffnet. Unterschiedlich bewaffnet.

Der ihm am nächsten Stehende war offensichtlich ihr Anführer. Er hatte eine Pistole in der Hand. Ein großes Kaliber, das konnte Jerry sofort erkennen, dafür hatte er ein Auge. Der Mann hinter ihm hatte einen Baseballschläger dabei und von dem Moment an, als der Anführer das erste Wort gesprochen hatte, klopfte er sich damit rhythmisch in die Handfläche. Jerry konnte sich sein provozierendes Grinsen unter der Maske förmlich vorstellen.

Der Anführer der Gruppe trat einen Schritt näher und wiederholte seine Aufforderung. Der Mann hinter ihm, derjenige, der den Baseballschläger in seinen Händen hielt, folgte ihm langsam.

„Ich sagte: auf den Boden!“, zischte der Anführer

„Was wollen Sie?“, fragte Jerry erneut und mit einem Mal wurde ihm die Situation erst so richtig deutlich. Hier standen vier fremde Männer in seiner Wohnung, bedrohten ihn und Conny mit ihren Waffen und er konnte nichts dagegen tun. Conny stand hinter ihm und hielt sich an seinen kräftigen Armen fest. Er spürte, wie sie zitterte.

Was wollten diese Männer? Ihn berauben? Nein, dann hätten Sie ihre Forderungen bereits gestellt. Seine Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Er hatte keine Feinde. Weder hier im Privatleben noch beim Militär. Das waren auch keine Soldaten, die da vor ihm standen. Soldaten sahen anders aus, auch ohne Uniform. Selbst wenn sie diese Masken trugen, konnte Jerry ihnen ansehen, ob es Soldaten waren. Soldaten gingen anders, Soldaten standen anders da. Soldaten verbreiteten eine Soldaten-Aura. Die dort vor ihm standen, das waren irgendwelche Galgenvögel, Verbrecher. Vielleicht waren sie geflohen. Aus irgendeinem Gefängnis? Jerry überlegte. Das nächste Gefängnis von hier aus befand sich 20 Kilometer entfernt. Er verwarf den Gedanken gleich wieder. Vier Personen, die gleichzeitig flüchten konnten? Wohl kaum.

Er kam nicht zu weiteren Überlegungen.

„Ich sagte: Auf den Boden!“, hörte er erneut die Stimme des Anführers und seine Gedanken jagten durch den Kopf. Er konnte nicht zulassen, dass Conny und seiner Maggie etwas zustößt. Er musste handeln. Und er handelte.

„Lauf weg!“, rief er und stieß Conny nach hinten weg, um gleichzeitig den Angriff nach vorne zu suchen. Während er seine Umhängetasche von sich warf, stürzte er mit gesenktem Kopf, gleich einem Football-Spieler, nach vorne und rammt ihn in den Magen des Anführers, der sofort in der Körpermitte abknickte und zu Boden ging. Seine Pistole polterte auf den Boden und Jerry setzte zu einem Hechtsprung nach der Waffe an.

Der Baseball-Schläger traf ihn mitten im Gesicht. Er traf ihn mit voller Wucht. Das Bersten des Schädelknochens erfüllte den Raum. Noch bevor Jerry den Fußboden erreichte, war er bereits tot. Aus einer weit klaffenden Öffnung, dort, wo sich vorher sein Gesicht befunden hatte, sickerte das Blut und breitete sich zu einer Lache unter seinem Kopf aus.

Conny war durch den Stoß Jerrys nach hinten getaumelt, aber sie war nicht in der Lage, der Anordnung Jerrys zu folgen und zumindest den Versuch zu wagen, wegzulaufen. Reglos stand sie in der Mitte des Raumes und als ihn der grausame Schlag mit dem Baseballschläger traf, entschwand alle Kraft aus ihrem Körper und ohnmächtig fiel sie zu Boden.

Der Anführer der Gruppe hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und seine Pistole im Hosenbund untergebracht.

„Zeigt es der Schlampe!“ rief er, noch auf dem Boden kniend und sich die Magengegend haltend.

Die Meute stürzte sich, einer nach dem anderen auf Conny, deren Ohnmacht ihr die beiden ersten Schänder ihres Körpers aus dem Bewusstsein fernhielt.

Als sie kurz darauf dem stinkenden Atem einer der Gewalttäter mit dem Kopf auswich und an ihm vorbeisah, fiel ihr Blick auf die Balustrade der oberen Etage. Dort stand Maggie, ihre Tochter, in ihrem Nachthemd, die langen blonden Haare fielen ihr über die Schultern. Die Arme hingen kraftlos am Körper entlang. Ihr Körper schüttelte sich wie in einem Kälteschock. Ihr Mund war aufgerissen, doch kein Ton verließ ihre Lippen, zu tief saß der Schock in Bezug auf das, was die 12-Jährige miterleben musste.

Connys Blicke hatten die ihrer Tochter erreicht und versuchten, alle telepathischen Kräfte zu bündeln, ihr die Nachricht zu übermitteln, dass sie weglaufen, sich verstecken solle. Conny schüttelte leicht mit dem Kopf und sah Maggie mit weit aufgerissenen Augen durchdringend an.

Lauf weg, mein Kind. Verstecke dich! schrie sie ihr in Gedanken zu. Dir geschieht dasselbe wie mir, wenn man dich sieht! Lauf, mein Kind!

Doch Maggie stand wie versteinert. Sie war nicht imstande, den Blick abzuwenden von dem, was man dort unten ihrer Mutter antat. Sie sah ihre großen Augen, die auf sie gerichtet waren, sah die Angst in den Augen ihrer Mutter. Sie sah die Tätowierung an der rechten Schulter des Mannes, der ihre Mutter bedrängte. Einen Adler im Flug, so groß wie ein Handteller, auf dem rechten Schulterblatt dieses Verbrechers.

Sie starrte auf den Adler, der nun immer mehr ein Teil von ihr zu werden schien. Ein Teil ihres Geistes. Der Adler auf der Schulter des Mannes hatte ein neues Zuhause bekommen. Ein Nest in ihrem Kopf. Er würde ihr für die nächsten Jahre zum Freund werden und gleichzeitig zum Feind.

Die Augen Connys hingen weiterhin an Maggie und es schien, als bündele sie alle telepathischen Kräfte auf ein Ziel, den stummen Schrei: Lauf! Flieh!

Und dann geschah es. Maggie rückte langsam von dem Geländer der Balustrade weg, ging weiter rückwärts durch die offene Tür zu ihrem Zimmer und schloss diese leise hinter sich. Dann schien plötzlich die Starre von ihr abzufallen. Sie schaute sich hektisch im Zimmer um, suchend nach einem Versteck. Es gab keines. Sie wusste: Wenn die Männer hierher kamen, würde man sie finden.

Maggie öffnete das Fenster und sprang hinaus. Sie sprang in die Dunkelheit.

Die Rückseite des Hauses war an einer leichten Böschung gelegen und Maggie kam auf Händen und Füßen auf, als sie den Boden berührte. Dann spürte sie die Schmerzen auf den Knien, auf den Handflächen. Sie kümmerte sich nicht darum. Ich muss fort von hier. Ich muss Hilfe holen. Schnell blickte sie noch einmal zurück zum Fenster ihres Zimmers. Niemand stand dort, niemand hatte sie gesehen.

Dann lief sie, barfuß und in wehendem Nachtkleid über die Wiese, den frisch bestellten Acker, auf das am nächsten gelegene Haus zu, das ihr meilenweit entfernt vorkam. Als sie es erreichte, schlug ein Hund an. Maggie sah die Haustür und lief. Der Hund bellte jetzt pausenlos. Als Maggie die Tür erreichte, verließen sie die Sinne und ihr zierlicher Körper fiel auf die Eingangsstufen. Das Bellen des Hundes schien nicht zu enden. Es rettete Maggie das Leben.

Kapitel 3

Gegenwart

Wie in Trance blickte Maggie aus dem Fenster des ICE. Die Gegend flog nur so an ihr vorbei und die auftauchenden Bäume und Masten entlang der Bahnstrecke ließen ihr Spiegelbild in schnellem Wechsel auftauchen und verschwinden. Kurz konzentrierte sie sich auf ihr Gesicht im teilweise beschlagenen Fenster und fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen mittelblonden Haare. Sie schüttelte kurz den Kopf und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, um danach etwas näher an die Glasscheibe zu rücken. So gut es ging betrachtete sie ihr Spiegelbild, das schmale Gesicht mit den hohen Backenknochen, das ihr etwas Exotisches verlieh. Sie versuchte, in ihre Augen zu sehen, doch die Konturen ihres Kopfes verschwammen in der Dunkelheit vor ihren Augen.

Maggie sah auf die Anzeigetafel über der Verbindungstür des Waggons. 175 km/h war dort zu lesen. Sie schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten würde sie am Ziel sein. Dort wo sie hinwollte, hielt dieser Zug nicht. Sie musste auf andere Weise dorthin gelangen. Wie, das war ihr gleich. Mit einem Bus, einem Taxi, per Anhalter. Es gab nicht mehr viel auf dieser Erde, was sie interessierte. Alles hatte sich auf eines konzentriert: Auf ihre Rache. Sie werden bezahlen für das, was sie meinen Eltern und mir angetan haben. Alle vier. Und wenn es vollbracht war, dann wollte auch sie nicht mehr leben.

„Sie fahren auch nach Trier?“

Maggie erschrak und erst jetzt nahm sie die Anwesenheit des Mannes ihr gegenüber bewusst wahr. Ein junger, adrett gekleideter Mann, Maggie schätzte ihn auf höchstens Zwanzig, sah sie freundlich abwartend an.

Sie überlegte kurz, ob sie den Mann und seine Frage ignorieren sollte. Sie entschloss sich dagegen und gab eine knappe Antwort.

„Ja, nach Trier. Von dort aus weiter.“

„Zu einer der Ortschaften, die man heutzutage nicht mehr mit der Bahn erreichen kann“, stellte der Mann fest und nickte verstehend. „Mir geht es ebenso. Ich muss nach Hermeskeil. Kann nur hoffen, dass um diese Zeit noch ein Bus fährt.“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Was meinen Sie? Kein Bus?“

Maggie schüttelte den Kopf und sah durch das beschlagene Fenster auf die tief hängenden Wolken, dorthin, wo sie ihre Lieben vermutete.

Wir werden uns wiedersehen, sprach sie lautlos vor sich hin. Wenn alles vorüber ist, werden wir uns wiedersehen. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen einen Plan zurechtgelegt. Nichts durfte schiefgehen. Sie würde sich Zeit lassen. Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr? Zeit spielte für sie keine Rolle mehr. Ihr Leben war bereits zu Ende gelebt. Was bedeutete da schon Zeit?

„Wir sind da“, hörte sie den Mann gegenüber sagen. Seine Anwesenheit hatte sie bereits wieder ignoriert.

Maggie nickte und im gleichen Moment ging ein leichter Ruck durch den Zug. Sie hatte nicht wahrgenommen, dass sich draußen die weite Landschaft zunehmend in ein Häusermeer verwandelte und der Zug schließlich in den Bahnhof einlief.

Die Fahrgäste erhoben sich und eilten an ihr vorbei, den Ausgängen entgegen. Türen schlugen, Pfiffe ertönten. Eine weibliche Stimme verkündete monoton-freundlich, dass man sich nun in Trier, der ältesten Stadt Deutschlands befände.

Maggie war an ihrem Ziel angekommen, an ihrem vorläufigen Ziel. Langsam erhob auch sie sich und der Mann ihr gegenüber fragte: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ihren Koffer?“

Sie schüttelte wortlos den Kopf und verließ das Abteil und den Zug, ohne den Mann weiter zu beachten, die Handtasche mit ihrem gefährlichen Inhalt fest an ihre Brust pressend. Vor dem Bahnhof rief sie nach einem Taxi. „Nach Hermeskeil. Zu einer Gaststätte, die noch geöffnet hat. Wo man übernachten kann.“

Der Mann aus dem Zug war aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden.

Das Taxi hielt direkt vor dem Eingang der Kneipe. Im Inneren brannte noch Licht. Es begann zu nieseln. Der Regen fühlte sich warm an. Das Jahr hatte nicht gerade vielversprechend begonnen. Mit Eiseskälte und sehr viel Schnee. Danach war die Temperatur angestiegen und es hatte ein paar Tage geregnet. In den Tälern hatte es Hochwasser gegeben. Dann kam neuer Schnee. Und die Angst vor erneutem Hochwasser stieg. Doch schließlich brach der Sommer herein mit allem, was er zu bieten hatte. Hitze, Trockenheit, Dürre. Die Bauern bangten um ihre Ernte und flehten um Regen. Nun schienen ihre Gebete erhört.

„Mehr kann ich Ihnen nicht bieten“, sagte der mehr als korpulente Taxifahrer undefinierbaren Alters mit einem Wink seines kahlgeschorenen Kopfes auf die diffus erleuchtete Gaststätte und zündete sich eine Zigarette an. Sofort breitete sich ein beißender Geruch im Inneren des Fahrzeuges aus und Maggie begann zu husten.

„Entschuldigen Sie.“ Der Taxifahrer öffnete die Fahrertür und stieg aus, was ihm offensichtlich aufgrund seines Körperumfangs nicht leichtfiel. Er ging um das Fahrzeug herum und öffnete die Beifahrertür.

„Es ist die einzige Kneipe, die noch aufhaben dürfte“, sagte er schulterzuckend. „Ist zwar eine kleine Stadt, aber wenn die Leute am anderen Tag arbeiten müssen … Ist nicht mehr so wie früher.“

Er schaute auf seine Armbanduhr.

„Dreiundzwanzig Uhr fünfzehn“, sagte er. „Zweiunddreißig Euro.“ Er hielt die Innenseite seiner klobigen rechten Hand nach vorne. „Brauchen Sie eine Quittung?“

Maggie schüttelte wortlos den Kopf und bezahlte den Fahrer, der sich daraufhin schwer atmend hinter den Fahrersitz quälte und gemächlich davonfuhr.

Zum alten Hermeskeiler flackerte es von einem offensichtlich defekten Transparent an der Hauswand. Maggie zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck und drückte die schmiedeeiserne Klinke der Gaststättentür nach unten. Ein Geruch nach Zigaretten und abgestandenem Alkohol nahm ihr fast den Atem. Sie starrte in die erstaunten glasigen Augen dreier Männer, die an einem Tisch sitzend, bei ihrem Eintreten die müden Köpfe hoben.

„Es wird langsam Zeit, dass ihr verschwindet. Schleicht euch! Wie man sich nur so zurichten kann.“ Maggie sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Hinter der Theke stand ein kräftiger Mann mit schütterem rotbraunem Haar, offensichtlich der Wirt, und schaute ebenso erstaunt, als sich in seine Aufforderung die Tür öffnete und die Frau eintrat.

„So spät noch auf den hübschen Beinen, junge Frau?“, kam es über seine wulstigen Lippen über der kräftigen, leicht gebogenen Nase und Maggie fühlte den abtastenden Blick des Wirtes, der über ihre hellblaue Bluse mit der darübergezogenen dunkelblauen wollenen Weste, die enganliegenden Jeans und die braunen Straßenschuhe glitt.

„Sie sind sicher, dass Sie sich nicht verlaufen haben?“

Maggie antwortete nicht. Sie sah sich in der Gaststätte um und fixierte angewidert die besoffenen Männer. Einschließlich des Wirts ordnete sie die Gestalten in die gleiche Altersklasse ein. Anfang fünfzig, dachte sie.

„Ich bin Franz Leonhard, der Gastwirt“, sagte der stoppelbärtige Mann mit den lichten rotbraunen Haaren hinter der Theke und zündete sich eine filterlose Zigarette an. „Wollen Sie ein Zimmer? Es ist schon spät. Haben Sie kein Gepäck?“

Maggie überhörte die Fragen.

„Ist das die einzige Gaststätte hier?“

„Ist Ihnen wohl nicht gut genug? Nein, ist es nicht. Aber die anderen haben um diese Zeit alle geschlossen. Doch keine Sorge, junge Frau, die Zimmer sind sauber. Agnes … Agnes ist meine Frau … versteht da keinen Spaß, müssen Sie wissen.“

Franz Leonhard legte seine Zigarette in einem Aschenbecher ab und kam hinter der Theke hervor. Er baute sich vor den vier Gestalten auf, die wie ein jämmerliches Häuflein Elend in den Seilen hingen. Den halbvollen Biergläsern auf dem billigen Kneipentisch konnte man entnehmen, dass nichts mehr ging. Sie waren bis zur Oberkante Unterlippe zu, alle vier.

Es war dreiundzwanzig Uhr zwanzig.

„Also, was ist? Ich brauche auch meinen Schlaf“, hustete Leonhard die Aufforderung über die Theke.

„Einen noch“, lallte der am jüngsten aussehende. „Eine Runde noch. Und du trinkst einen mit. Und die da auch.“

„Es gibt nichts mehr, hast du verstanden? Wenn ihr nicht in zwei Minuten verschwunden seid, setze ich euch eigenhändig an die Luft!“

„Is ja gut“, gab der Angesprochene mit schweren Augenlidern zur Antwort und rempelte seine glasig dreinschauenden Kumpels an. „Lasst uns verschwinden.“

Die vier Gestalten rappelten sich auf und trotteten mit einem letzten glasigen Blick auf die Frau und den Gastwirt aus der Kneipe. Die Tür fiel mit einem satten Geräusch hinter ihnen zu und die lallenden Wortfetzen entfernten sich mehr und mehr, bis es draußen still wurde.

„Kann ich einen Tee haben, oder ist es bereits zu spät dazu?“, fragte Maggie, während sie sich an einen Tisch setzte und auf das flimmernde Bild des tonlos eingeschalteten Fernsehers schaute. Ein altes Röhrengerät. Was sollte hier auch schon ein neues? Keiner dieser Barbaren, wie die von heute Abend beispielsweise, würde dorthin sehen. Er gehörte einfach dazu, der Fernseher, als bilderbewegende Kulisse. Bei der nächsten Fußball-WM, da würde sich wieder alles um ihn versammeln. Nüchterne und Besoffene. Falls er bis dahin nicht den Geist aufgegeben hatte.

Es vergingen einige Minuten, bis der Wirt den Tee brachte. „Es ist ein Früchtetee“, sagte er. Es klang beflissener. „Irgendeiner. Agnes sagt, er ist gut.“

„Es ist in Ordnung so“, sagte Maggie, ohne auf den Tee zu blicken.

„Meine Frau sagt, sie könne Ihnen eine Kleinigkeit zu essen machen. Wenn Sie möchten“, meinte Leonhard und sah Maggie erwartungsvoll an.

Maggie schüttelte verneinend den Kopf. „Danke. Ich bin müde. Ein Zimmer wäre gut. Für ein paar Tage. Mit Frühstück.“

„Das geht in Ordnung“, sagte der Wirt. „Sie sehen müde aus. Ich werde Agnes Bescheid sagen, damit sie alles herrichtet. Wenn Sie gleich noch das Anmeldeformular ausfüllen, Frau …“

„Kollinger. Margreth Kollinger.“

„Sie haben kein Gepäck, Frau Kollinger? Wissen Sie schon, wie lange Sie hierbleiben wollen?“

Maggie schüttelte den Kopf.

„Kann ich noch nicht sagen“, antwortete sie leise. „Vielleicht länger. Ich habe einige Dinge hier zu erledigen.“

Kapitel 4

„Wie? 1994 bis 1996 Sagen Sie? Da können Sie lange im Internet suchen. Es tut mir leid, junge Frau, aber die Artikel aus dieser Zeit sind bei uns noch nicht elektronisch erfasst. Diese Art der Archivierung gibt es in unserer Redaktion erst seit … warten Sie mal … seit dem Jahr 2000, glaube ich. Damals …“

„Das bedeutet, Sie können mir nicht weiterhelfen?“

„Nein, nein. Nicht so hastig, junge Frau.“ Der Redakteur des Trierischer Volksfreund durchmaß mit großen Schritten das langgezogene schmale Büro der Zeitungsfiliale in der Hermeskeiler Innenstadt. Maggie sah ihm nach, doch ihre Gedanken kannten nur ein Ziel: die Presseberichte aus jenen Tagen, als ihr Vater zu Tode kam.

Redakteur Steiner, ein schlanker Mann in den Dreißigern –seine blonden Haare waren kurz geschnitten bis auf eine Strähne an der linken Seite, die er aus dem Mundwinkel ständig aus seinen Augen blies- kam zurück und hielt eine Visitenkarte in der Hand.

„Sie müssen nach Trier in die Zentrale. Dort sind alle Artikel seit Bestehen unserer Zeitung abgelegt. Man wird Ihnen zeigen, wie Sie sich im Archiv zurechtfinden können. Hier, nehmen Sie. Dieser Kollege …“, der Redakteur schaute auf die Visitenkarte, als sei ihm der Name des dort Aufgeführten völlig fremd. „Dieser Kollege, Klaus Krämer heißt er, wird Ihnen weiterhelfen. Aber die Suche ist nicht umsonst.“ Der Redakteur kicherte. „Wäre sie umsonst, könnte man sie ja im Internet durchführen. Aber, keine Sorge, sehr teuer ist es nicht.“

Maggie nahm die Karte an sich und sah in das blasse Gesicht des Redakteurs, der sich kurz über einen nicht vorhandenen Kinnbart strich und auf etwas zu warten schien.

„Danke“, sagte sie und irgendwie fühlte sie tatsächlich so etwas wie Dankbarkeit. Ihre Suche hatte begonnen. Hier an dieser Stelle, in diesem Büro der Redaktionsfiliale. Sie würde nicht rasten, bis sie die Männer gefunden hatte, die ihr Leben und das ihrer Familie zerstört hatten.

„Danke“, sagte sie noch einmal. Der Redakteur lächelte und beugte sich leicht nach vorne, wobei ihm die Strähne seines dunkelblonden Haares über das rechte Auge fiel. „Suchen Sie etwas Bestimmtes, Frau …?“, fragte er und blies die Strähne aus seinem Sichtfeld.

„Meg“, sagte die junge Frau freundlich. „Nennen Sie mich Meg.“

„Steiner. Albert Steiner. Entschuldigen Sie ... Meg. Es geht mich nichts an, tut mir leid. Wenn ich Ihnen wieder einmal behilflich sein kann, ich stehe stets zu Diensten.“

Sie lächelte. Der Mann war ihr irgendwie sympathisch. Sie nickte. Vielleicht würde sie darauf zurückkommen. Sie würde seine Hilfe in Anspruch nehmen, sollte es einmal erforderlich sein.

Ihr nächster Weg führte sie zu einem kleinen Gebrauchtwagenhandel, wo sie nach kurzem Feilschen einen kleinen ockerfarbenen Fiat Cinquecento erstand.

„Wir werden ihn gleich zulassen“, sagte der Verkäufer beflissentlich. „Kommen Sie in einer Stunde wieder.“

Maggie nutzte die Zeit für einen Stadtbummel. Sie schlenderte durch ein Kaufhaus, kaufte dies und das, etwas Wäsche und Toilettenartikel, eine neue Handtasche. In der Sportabteilung fiel ihr Blick auf ein in Reih und Glied aufgestelltes Sortiment von Baseballschlägern. Sie spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte und sie schloss die Augen.

Wie durch einen Schleier sah sie ihren Vater auf dem Boden des Wohnzimmers liegen, den Kopf in einer großen Blutlache. Sie sah das Gesicht des Schlägers, der nach der Tat zufrieden mit dem Schläger in seine Handfläche schlug. Sie sah die flehenden Blicke ihrer Mutter, die auf sie gerichtet waren und ihre Gedanken beeinflussten.

Maggie wollte den Blick von den Baseballschlägern abwenden, doch sie fühlte sich magisch zu ihnen hingezogen. Ihre Hand streckte sich aus und ergriff den, der ihr vom Material her das wenigste Gewicht zu haben schien. Sie versuchte ihn mit der rechten Hand am Schaft festzuhalten und mit der Keule in ihre linke Handfläche zu schlagen. Doch ihr fehlte dazu die Kraft, zu schwer war er für die Handhabung einer einzelnen weiblichen Hand. Dann fasste sie den Schläger mit beiden Händen und hob ihn über den Kopf und wunderte sich, wie problemlos ihr dies gelang. Ihre Augen verengten sich.

„Ihr werdet büßen“, flüsterte sie. „Alle werden ihr bezahlen für das, was ihr uns angetan habt.“

Zwei Stunden später parkte Maggie ihren kleinen Fiat vor der Bibliothek des Trierer Priesterseminars. Beim Volksfreund hatte man ihr nicht weiterhelfen können. „Es tut mir sehr leid, junge Dame“, hatte ein höflicher Redakteur ihrer Hoffnung vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht. „In den Neunzigern wurde hier noch nichts elektronisch erfasst. Wir haben zwar Bände klassisch auf Papier und gebunden im Hause, Die sind aber leider nur zur internen Nutzung.“

Doch der Redakteur hatte ihr den Rat gegeben, in der Bibliothek des Priesterseminars ihr Glück zu versuchen.

„Ich stand vor etlichen Jahren für meine Magisterarbeit vor einem ähnlichen Problem und habe mich einige Wochen in der Bibliothek des Priesterseminars vergraben“, verriet er. „Dort kann man alte Bände mit gesammelten Zeitungsausgaben über Jahrzehnte hinweg öffentlich einsehen.“

Dankbar hatte Maggie das Verlagshaus verlassen und nun wartete sie auf den Geistlichen in dunkelgrauem Anzug, der sie gebeten hatte, sich einen Moment zu gedulden.

Während sie ihre Handtasche mit der rechten Hand an ihren Körper drückte, sah sie sich in dem geräumigen Raum um. Ein Lesesaal für die Studenten, dachte sie. Eine Bibliothek. Ihr Blick glitt über die hohen Einbauschränke, die den Raum mächtiger erscheinen ließen, über die darin angeordneten Bücher und über überdimensionale Gebinde. Sie überlegte, ob sich darin die Zeitungen befänden, auf deren Suche sie war.

Sie sah dem Geistlichen nach, der sich ihrer angenommen hatte. Doch ihn schienen die Exemplare, die Maggie ins Auge gefasst hatte, nicht zu interessieren.

„Die Jahre 1994 bis 1996“, hatte ihm Maggie gesagt. „Ich möchte mir die Zeitungsberichte aus diesem Zeitraum ansehen. Es geht um eine Ermittlungssache, einen Strafprozess. Sie wissen ja, die Gerichte. So was kann sich über Jahre hinziehen.“

Der Geistliche nickte nachdenklich und zustimmend. „Ich werde Ihnen die Jahre raussuchen.“

Der in Grau Gekleidete war groß und schlank. Maggie beobachtete ihn, wie er an der gegenüberliegenden Wand aus einem Fach über sich mehrere übergroße Gebinde herausnahm, ohne eine Leiter benutzen zu müssen. Wenn sie jemand nach dem Alter des Mannes gefragt hätte, sie hätte kaum eine Antwort geben können. Irgendwie sah er jugendlich aus, von seiner Statur zumindest. Aus der Nähe betrachtet wurden die Zeichnungen des Lebens präsenter. Zwischen 40 und 60 schätzte sie das Alter des Geistlichen ein. Sie schüttelte kurz den Kopf. Unsinn. Was sollte sie sich mit dem Alter eines Priesters befassen, der vielleicht jünger aussah, als er es war.

Der Geistliche hatte zwei der Gebinde, bei denen es sich offensichtlich um Tageszeitungen handelte, auf einem kleinen Transportwagen mit Rollen abgelegt. Die restlichen stemmte er nacheinander wieder in ihre ursprüngliche Position, einen Meter über seinem Kopf. Dann kam er zu Maggie herüber.

„Trierischer Volksfreund. Die Jahre 1994 bis 1996.“

Er schob den Wagen neben den Tisch und legte eines der beiden Exemplare vor sie ab. „Wenn Sie mich brauchen, Sie finden mich dort hinten an meinem Schreibtisch.“

Maggie sah dankbar zu dem Geistlichen auf und nickte.

„Danke“, sagte sie und schlug das Buch mit der Bezeichnung Trierischer Volksfreund, Sammlung des Jahres 1993 auf.

Die eichenholzumrahmte Uhr über der Eingangstür zeigte 13:45 Uhr an. Maggie sah sich um. Außer ihr und dem Geistlichen befanden sich nur wenige Leser im Raum. Sie schlug das Buch auf. Dann vergaß sie die Zeit. Gegen 17 Uhr verließ sie das Priesterseminar. In ihrer Handtasche befand sich nun neben ihrer kleinen Pistole ein Bündel von Fotokopien, die ihr der Geistliche für wenige Euro gefertigt hatte.

Ihr Gesicht war blass und ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Entschlossenes. Sie machte sich auf den Weg zurück nach Hermeskeil. Auf den Weg in die Vergangenheit. Dorthin, wo vor 18 Jahren das Unheil seinen Lauf genommen hatte.

Kapitel 5

Mit gestreckten Armen schob Reporter Hans Satorius sich an der Schreibtischkante ab, wobei sein Oberkörper in der beweglichen Lehne seines Bürostuhls nach hinten wippte. Noch vor einigen Tagen hätte er sich diese luxuriöse Ruhestellung maximal für einige Sekunden gönnen können. Doch momentan war die Situation eine andere, eine vorübergehend bessere. Es ist jedes Jahr um diese Zeit dasselbe: Der redaktionelle Stress fährt innerhalb kürzester Zeit auf halbe Kraft zurück. Man nimmt nicht nur seine Kollegen in den Großraumbüros als umherhuschende Gestalten wahr, man erkennt sie sogar als lebende menschliche Wesen. Was in der übrigen Jahreszeit während des Dienstes undenkbar ist, tritt nun ein. Man spricht miteinander. Die Redakteure des Trierischer Volksfreund warten einerseits das ganze Jahr auf diese nachrichtenarme Zeit, an der teils die Politiker schuld sind, da sie das Land verlassen und irgendwo versuchen, einen Urlaub ohne Medien zu verbringen. Auch die Sport-Ligen gehen in die Sommerpause und so überbrücken die Medien diese Zeit mit Berichten über Personen und Ereignissen, für die sonst kein oder nur wenig Platz in einem Zeitungsblatt vorhanden wäre.

Sommerloch nennt man so etwas.

Nun war es da, dieses Sommerloch, und plötzlich stellte sich etwas ein, das man vor Beginn dieses Phänomens nicht erwartet hätte. Man sehnte sich den Stress der vergangenen Wochen herbei, wartete sehnsüchtig auf jede noch so kleine Sensation. Doch das Sommerloch lässt sich in dieser Hinsicht nicht umkehren. Kontinuierlich grasen Redakteure und Mitarbeiter ihre Regionen nach personellen Storys oder halbwegs interessanten Ereignissen ab.

Satorius sah durch das riesige Fenster des Verlagshauses auf den blauen Himmel, die Wolken, die langsam in Richtung Süden zogen, große Teile des blauen Himmels dabei offenlassend.

Urlaub! Er überlegte, wann sein Urlaub fällig würde. Jetzt im Sommerloch war ein großer Teil der Kollegen unterwegs in vermeintlich sonnigere Gefilde. Doch die Welt machte einen Klimawandel durch, der diesen Kollegen hier und da die Erkenntnis brachte, ihren Urlaub besser in der Heimat zu verbringen.

„Urlaubsgedanken?“