ORGANE - Hannes Wildecker - E-Book

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Hannes Wildecker

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Beschreibung

An verschiedenen Orten des Hunsrücks werden Leichen gefunden, denen man die Herzen aus dem Leib entfernt hat. Kriminalhauptkommissar Heiner Spürmann und seine Kollegin Leni stehen vor eine großen Aufgabe, zumal die Toten aus Serbien stammen und der Kroatienkrieg alle Spuren ihrer Identität verwischt hat. Wer sind die Täter und welche Motive sind es, die sie zu solch grausamen Taten hinreißen lassen? Sind es dunkle Mächte, die im Okkulten Schwarze Messen lesen und dem Teufel ihre Opfer darbringen? Die Ermittler scheinen einem teuflischen Phantom auf der Spur, doch dann stoßen sie auf einen Hinweis, der sie an einen Ort des Schreckens führt, der das bisher Erlebte in den Schatten stellt. Hannes Wildecker lässt in dem E-Book "Teufelspakt" seine Protagonisten von einem Sumpf in den anderen waten und der Leser wird mit Okkultismus und illegalem Organhandel hautnah konfrontiert. Und wieder ermitteln die Hauptfiguren in den Weiten des Hunsrücks von Zerf über Bad-Kreuznach und Sargenroth bis hin nach Bad Sobernheim. Und wie man es von Wildecker gewohnt ist, kommen Beschreibungen der geografischen Besonderheiten und die Charaktere der Menschen auf dem Hunsrück nicht zu kurz.

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Seitenzahl: 283

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Hannes Wildecker

ORGANE

Ein Hunsrück-Krimi

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Hannes Wildecker

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Aus der Reihe „Tatort Hunsrück“ sind bisher erschienen:

Ein Leben ohne eine Niere ist möglich, ein Leben ohne ein Herz nicht.

Allen Organspendern gewidmet

Impressum neobooks

Hannes Wildecker

ORGANE

Ein Tatort Hunsrück-Krimi

Der vierte Fall für Leni und Spürmann

Impressum

Texte: © Copyright 2019 by Hans Muth

Umschlag und

Umschlagsfoto: © Copyright by Hans Muth

Verlag: Hans Muth

Kapellenstr. 6

54316 Lampaden

[email protected]

Druck: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Nach dem Roman „Teufelspakt“, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Stephan Moll, Burg Ramstein 2009

Prolog

Der lauwarme Maiwind wehte durch die Wipfel der stämmigen und knorrigen Eichen am Fuße des Hunsrücker Hochwalds und ließ die Wipfel der hohen Bäume wie in leichtem Tanze wiegen. Es schien, als wäre ihnen bewusst, dass in den nächsten Stunden einige unter ihnen aus ihrer Mitte gerissen würden und ihr Totentanz, gleich einem Winken mit ausgestrecktem Arm, sei der leise Abschied von ihren Artgenossen.

„Also, Leute, gebt mir ja acht, dass der Baum keinen Schaden erleidet. Er darf auf keinen Fall gegen den Steinhügel schlagen!“

Steinhügel war etwas untertrieben. Immerhin war der Felsen, den Forstwirt Herbert Keller während seiner Arbeitsausführung als Hindernis empfand, über zwanzig Meter hoch und bestand, zumindest dem Anschein nach, aus zahlreichen einzelnen Steinhügeln mit dunklen ausgewaschenen Stellen und wiederum darin enthaltenen weißen Flächen mit milchweißen Kristallen.

Keller schaute mit gesenktem Kopf aus den Augenwinkeln in Richtung des steinernen Ungetüms, als wolle er es mit einem bösen Blick verbannen. Dass dieser Felsen einen Namen trug und dass er zu einem der beeindruckendsten Naturdenkmäler der Region zählte, das wusste Keller zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass Ausflügler hierherkamen, um den Felsen zu erklettern, war ihm schon bekannt. Er hatte es sogar während der Arbeitszeiten hier im Wald selbst miterleben können. Während er und seine Leute sich abrackerten, schickten sich Freizeitsportler an, den Felsen zu erklimmen und manche waren dabei so leichtsinnig, ohne irgendeine Sicherung nach oben zu steigen und so hatte es Keller oftmals den Atem geraubt, wenn er ein solches Unterfangen mit ansehen musste und sich dabei kaum auf seine Arbeit konzentrieren konnte.

Keller, der als kräftiger Mittfünfziger immer noch selbst mit anpackte, sah wieder zu seinen Arbeitern und der Buche hin und sein breites von Sorgenfalten durchzogenes Gesicht schaute nachdenklich drein. Seit einer Woche durchforstete er mit seinen Waldarbeitern den Buchenbestand auf dieser Anhöhe zwischen Hentern und Schillingen, ein Unterfangen, das sich schwieriger gestaltete, als es sich zu Beginn darstellte. Heute am Freitag, dem letzten Arbeitstag der Woche, wollten sie die Arbeit beenden. Dieser Baum noch - und gerade den hatten sie sich aus gutem Grund bis zum Schluss aufgehoben.

Keller sah auf seine Armbanduhr. Nahezu siebzehn Uhr, stellte er fest. Eine Stunde noch, wenn alles so liefe, wie man sich das vorgestellt hatte. Doch da hatte Keller so seine Bedenken.

Da war zum einen das abschüssige Waldgelände, das die angekeilten Bäume nach dem finalen Schnitt nicht immer auf die Stelle fallen ließ, die man sich dafür ausgesucht hatte und zum anderen erwies sich das Gefahrenpotenzial erheblich höher als auf ebenem Gelände.

Die vorgeschriebene Schutzkleidung trug jeder seiner Mitarbeiter und er selbst natürlich auch, angefangen bei der Schutzlatzhose und der dazugehörigen Jacke, wasserdicht und rutschhemmend, Schutzwirkungsklasse zwei, geeignet für eine Kettensägengeschwindigkeit von 24 Metern pro Sekunde, dazu die schnittsicheren Stiefel, die Handschuhe und natürlich der Helm mit bruchfestem Visier. Doch was nützte das alles bei einem unkontrollierten Verspringen des Baumes. Höchste Vorsicht war in jedem Fall geboten.

Kellers Männer taten alles, um die Präzision zu erreichen, die man von ihnen gewohnt war, die sie schon hunderte Male unter Beweis gestellt hatten, doch heute waren sie schier der Verzweiflung nahe. Sie waren erfahrene Leute und sie setzten mit traumwandlerischer Sicherheit die metallenen Keile an den richtigen Stellen an und justierten diese ständig nach, während ein Kollege mit der Motorsäge den Sägeschnitt mehr und mehr vergrößerte, bis das Geräusch der reißenden Bruchkante, die wie das Scharnier einer sich öffnenden Tür den Baum in die Fallrichtung lenkte, erst leise, dann immer lauter werdend mit dem Fall des Baumes in einem berstenden Krachen endete.

Doch bei dieser Buche war das alles irgendwie anders. Sie Er war ein sehr schönes Exemplar, das hatte Keller oft genug betont, doch dann zeigte sich ein Nachteil. Er war im unteren Bereich schief, ja verdreht gewachsen und gerade das machte Keller Sorgen.

Er fasste mit der Linken seinen Sicherheitshelm und nahm ihn vom Kopf. Die schwarzen Haare waren schweißnass und lagen glänzend eng am Kopf an. Keller wischte sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht und sah nach oben zum Wipfel der starken Buche. Eine gleichmäßig gewachsene Krone, stellte er zufrieden fest. Sie würde keine Schwierigkeiten bereiten, würde den Baum nicht in eine andere Richtung als die vorgegebene drehen. Auch der Wind verhielt sich ruhig, eigentlich kein Grund zur Sorge, wäre da nicht dieser schiefe Teil im unteren Bereich des Stammes und der Steilhang gewesen.

Keller war Forstmann durch und durch und er liebte seine Arbeit. Über dreißig Jahre arbeitete er im Forst. Mit siebzehn hatte er, der er aus einer traditionellen Holzfällerfamilie stammte, seine Lehre begonnen und war seit dieser Zeit im Wald wie zuhause.

„Wenn der Baum auf den Felsen fällt, ist er hin.“ Keller wiederholte sich und sah seinen Vorarbeiter, Walter Reinig, fragend an. Reinig war etwa in seinem Alter, etwas schwerfällig und seine Einstellung zur Arbeit ließ zu wünschen übrig, darüber hatte sich Keller schon des Öfteren geärgert.

So fiel auch seine Antwort aus. „Es gibt Schlimmeres“, antwortete er und Keller zuckte zusammen.

„Was ist das denn für eine Einstellung“, dachte er bei sich und laut sagte er: „Aber den Baum werden wir als Möbelholz dann wohl kaum noch verkaufen können.“

Keller sah sich den Felsenhügel an. Gute fünfzehn Meter, vielleicht sogar zwanzig mochte er hoch sein und, obwohl er tiefer im Abhang begann, konnte er die Beschaffenheit seines Plateaus nicht einsehen.

Eigentlich bestand der riesige Fels aus einem Stück des harten Gesteins, doch an den Seiten wölbten sich vom Regen rund gewaschene Vorsprünge und gegensätzlich dazu kantige und scharf geschliffene Grate, die einem mit ihnen kollidierenden Baum schon sehr zusetzen konnten.

Die Fäller hatten den Baum inzwischen so weit, dass es nur noch einiger Schläge und eines letzten Schnitts bedurfte, den Waldriesen zu Fall zu bringen. Die Männer schauten erwartungsvoll zu Keller, der schließlich mit dem Kopf nickte.

„Denkt an die Sicherheit!“, rief er ihnen zu, um dann in den Wald hinein zu rufen: „Baum fällt!“

Und dann kam es, wie es kommen musste.

„Verdammte Schei…!“ Der Rest des laut gerufenen Fluches von Keller ging im Krachen und Bersten des fallenden Baumes unter, der sich unter den ungläubig dreinschauenden Augen der ihn zu Fall bringenden Holzhauer leicht aus dem „Scharnier“ drehte und im Fall vehement seine Richtung änderte, geradezu auf den riesigen Felsbrocken zu, um ihn, begleitet von einem knochenbrecherischen Geräusch, mit seiner vollen Länge zu treffen. Der Schlag war so stark, dass der elastische Wipfel, der über den Felsen ragte, durch die Hebelwirkung abbrach und auf der gegenüberliegenden Seite des Massivs in die Tiefe stürzte.

Dann herrschte plötzlich absolute Ruhe. Für ein paar Sekunden schien die Welt still zu stehen. Alle Beteiligten schauten zu dem Baum, der keine Anstalten machte, von dem Felsen abzurutschen und den Hang hinunter zu stürzen. Wie in Zeitlupe wippten seine gewaltigen Äste noch ein paar Mal auf und nieder, dann lag er still, der Koloss, so, als habe er soeben nach kurzem Todeskampf sein Leben ausgehaucht.

Nun kam auch wieder Leben in die Männer.

„Wir müssen retten, was zu retten ist“, rief Keller seinen Männern zu. „Wir müssen den Baum in den Hang legen.“

„Dazu müsste einer von uns auf den Felsen klettern, um die Baumspitze mit einem Strick zu versehen.“ Walter Reinig kam auf Keller zu und betrachtete mit diesem gemeinsam die Situation. „Wir könnten an der Krone, ich meine, an dem Teil unterhalb der abgebrochenen Krone einen Strick befestigen, ihn mit vereinten Kräften an der Spitze nach unten auf den Boden ziehen.“

Keller nickte gedankenverloren. So etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert, ihm, der er sich selbst für einen alten Hasen hielt, der jeden Trick in der Holzfällerei kannte. Er schüttelte den Kopf.

„Du bist anderer Meinung?“ Reinig sah seinen Kollegen von der Seite an.

„Nein, nein, das ist schon richtig so. Ich war in Gedanken. Du hast ja Recht. Kümmere dich bitte darum. Ein Mann soll da hochklettern!“

Dann besah sich Keller den Felsen, den er bis dahin mehr oder weniger ignoriert hatte, an, wobei er ihn mit seinen Augen von oben bis unten abtastete.

„Der sieht aus wie eine Anhäufung von Felsen“, dachte Keller. „Der scheint nicht aus einem Stück zu sein und dennoch hat die Wucht des Baumes es nicht geschafft, Teile davon abzusprengen. Muss schon ein hartes Mineral sein.“

Sein Blick folgte der Unregelmäßigkeit des Gebildes bis zu dessen Spitze, die aussah, als hätte man eine Figur bilden wollen und als Abschluss einen Kopf obenauf gesetzt. Dennoch musste dort oben noch ein kleines Plateau sein, denn die Wanderer, die er beobachtet hatten, machten es sich gerade neben diesem „Kopf“ gemütlich, hielten eine Brotzeit und ließen die Beine nach unten baumeln.

Inzwischen hatte Walter Reinig kurz mit der Gruppe Männern gesprochen. Schließlich nickte ein junger Arbeiter kurz mit dem Kopf und trat vor. Er war Mitte zwanzig, klein sportlich und drahtig, mit dunklen gewellten Haaren, einem schmalen Oberlippenbart und … er hatte ausgeprägte O-Beine.

Für ihn würde der Aufstieg kein Problem darstellen. Er legte seine Schutzkleidung, die nur hinderlich gewesen wäre, ab, warf sich die Rolle mit dem gut 30 Meter langen Seil über die Schulter und begann den Aufstieg, den ihm die fest an dem Felsen anliegende Buche leichtmachte. Seine gebogenen Beine erinnerten an Steigeisen, wie sie Arbeiter der Post beim Besteigen von Telefonmasten verwendeten.

Innerhalb kurzer Zeit kam der Mann auf dem Plateau an. Doch er machte keine Anstalten, mit seiner Arbeit dort oben zu beginnen. Er stand wie angewurzelt und Keller hatte schon Bedenken, dass der Mann nicht schwindelfrei sei.

„Das hätte man ihn doch zumindest fragen können“, dachte Keller und sah Reinig, der, den Helm in der linken sich mit der freien Hand durch das schüttere Haar fuhr, von der Seite her vorwurfsvoll an.

Doch plötzlich kam Bewegung in den Mann auf dem Felsen. In Windeseile band er das Seil um den abgebrochenen Kronenstumpf, zurrte kurz an dem Seil und ließ sich, mit den Füßen am Felsen abstoßend, an dem Seil nach unten gleiten, die ihm ins Gesicht schlagenden Astenden ignorierend.

Dann stand er schwer atmend vor Keller und Reinig und in seinen Augen war etwas, was die beiden erschrecken ließ.

„Was ist los?“ Keller sah den Mann verständnislos an. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“

Der Mann, dem tatsächlich alles Blut aus dem Gesicht gewichen war, versuchte seine Atmung in den Griff zu bekommen und zeigte mit seinem rechten Arm nach oben, den Blick nicht von Keller wendend.

„Da oben…!“

„Was ist da oben?“

„Da liegt einer!“

„Wo?“

„Na da oben…da oben liegt einer!“

„Wie, da oben liegt einer?“

„Da…da liegt einer. Ich glaube…der ist tot.“

„Was reden Sie da? Ein Toter? Wie soll ein Toter da oben hinkommen?“

Dann dachte er an die zahlreichen Wanderer, die diesen Felsen an vielen Tagen des Sommers bestiegen. Vielleicht war einer alleine dort hinaufgestiegen und einem Herzinfarkt oder sonst etwas erlegen.

Er wandte sich an Reinig. „Sieh bitte nach da oben, Klaus! Nein, besser, du bleibst hier unten, wegen der Spuren. Ich verständige Polizei und Notarzt. Vielleicht lebt er ja noch.“

„Er lebt nicht mehr“, meldete sich der Arbeiter, der sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzündete, obwohl er genau wissen musste, dass dies im Wald ausdrücklich verboten war. Keller, der so etwas unter normalen Umständen mit aller Strenge geahndet hätte, ließ es geschehen.

„Wieso sind Sie sich da so sicher? Sie haben sich doch kaum dort oben aufgehalten.“

Der Mann blickte nach oben zur Felsspitze. „Es hat gereicht, um das festzustellen“, sagte er und sog gierig an seiner Zigarette. „Wenn man kein Herz mehr im Leib hat, dann muss man tot sein.“

1. Kapitel

„Terry, lass das, ich bin heute nicht in der Verfassung, mit dir Gassi zu gehen! Lisa, kannst du das nicht übernehmen? Bitte! Ich bin irgendwie geschafft heute?“

Ich versuchte, eine bemitleidenswerte Miene aufzusetzen, ließ mich auf den mir am nächsten stehenden Stuhl in der Küche fallen und betrachtete Terry, der sich sofort vor mich setzte und mich mit seinen treuen Augen ansah.

„Überarbeitet ist der Herr Hauptkommissar?“ Lisa Bauer schaute von der Seite zu mir herüber und ich glaubte einen Anflug von Ironie in ihrer Mimik zu erkennen.

„Nein, nicht überarbeitet.“ Es klang trotzig und so fühlte ich mich auch. „Du weißt genau, dass es in der letzten Woche keinen Grund dazu gab. Es darf mir doch wirklich auch einmal vergönnt sein, eine ermittlungsruhige Phase zu erwischen.“

„Und wo ist jetzt das Problem? Warum gehst du dann nicht mit Terry Gassi?“

„Weil ich…weil ich…ich glaube, ich bin krank.“

„Krank?“ Lisa zog den Ausdruck dieser Feststellung auf eine Art und Weise in die Länge, die alle Glaubhaftigkeit ad absurdum führte.

„Zumindest fühle ich mich nicht gesund. Vielleicht ist eine Grippe im Anzug.“

„Ach ja, die Frühlingsgrippe. Fieber?“

„Wie, Fieber?“

„Ich meine…hast du Fieber? Wenn man die Grippe hat, bekommt man Fieber. So ist das zumindest bei mir, wenn ich krank werde.“ Lisa, die ihr brünettes Haar in den vergangenen Monaten auf Schulterlänge hatte wachsen lassen und es heute in Form eines Knotens trug, der das schöne Gesicht mit den grünen Augen, den vollen roten Lippen und den markanten Wangenknochen so richtig zum Ausdruck brachte, stülpte einen Deckel über den größten der drei Kochtöpfe, in denen das Abendessen vor sich hin garte und wischte sich die Hände in einem Abtrockentuch ab.

„Fieber ...? weiß nicht.“ Ich legte eine Hand auf meine Stirn. Sie war kalt. „Vielleicht…ja… ich glaube schon.“

„Lass mich mal!“

Lisa legte ihre rechte Hand auf meine Stirn und sah mir in die Augen.

„Hohes Fieber, Heiner. Ich vermute, so um die 36 Grad. Da sollten wir besser Doktor Grothe anrufen. Du kannst dich schon mal ins Bett legen, ich werde das für dich erledigen.“

„Ist ja schon gut!“ Ich schlug ergeben die Augen gen Himmel, um sie dann mit kapitulierender Miene auf Terry ruhen zu lassen. Terry, das Findelkind. Terry war uns zugelaufen und der ehemalige Eigentümer hatte sich gegen die Zahlung eines Geldbetrages dazu überreden lassen, nicht auf seinem Eigentumsrecht zu bestehen.

So wechselte der Hund, den sein ehemaliger Besitzer seltsamerweise Benno getauft hatte, die Familie, und Lisa nannte ihn schlicht und einfach in Terry um, denn wie sie im Internet erfahren hatte, entstammte unser neues Familienmitglied der Rasse des „Schwarzen Terriers“.

Als ich schließlich mit Terry vor der Haustür stand und die frische Abendluft des schon fast sommerlich wirkenden Maimonats schnupperte, erschien es mir doch einigermaßen angenehmer, als in der Stube zu hocken und auf das Servieren des Abendessens zu warten.

„In einer Stunde ist das Essen fertig“, hörte ich die Stimme Lisas hinter mir. Ich hob den Arm zum Zeichen der Verständigung, ohne mich umzudrehen und ging hinter Terry her, der es keine Sekunde versäumte, die Leine straff zu halten und mir zu zeigen, wo es lang ging.

„Da kommt ja unsere Spürnase! Wohin möchte der Hund Sie denn gerne ausführen?“

Die Stimme gehörte Schaeflein, dem Pastor der Gemeinde Forstenau, der aus einer Nebengasse mit gemächlichen Schritten auf mich zukam und seinen breitkrempigen Hut kurz lüftete.

„Sie sehen ja selbst, Herr Pfarrer. Die Wildheit des Tieres siegt über die Kraft des Menschen. Übrigens, ich habe Sie beim letzten Stammtisch vermisst. Hat Ihr Chef Ihnen Überstunden verordnet?“

„Spürmann, immer für einen Scherz zu haben.“ Schaeflein lachte, wobei sein runder Bauch zu wippen begann. Der Pfarrer war von der Statur her nicht der größte und so drängte sich die Vorwölbung seines mittleren Körperteils bei der kleinsten Bewegung in den Vordergrund.

„Aber im Ernst, ich hatte tatsächlich keine Zeit. War ein paar Tage verreist, dienstlich, auch wenn das offensichtlich hier kaum jemand mitbekommen hat. Na ja, sehr vermisst haben mich meine Schäflein wahrlich nicht. An der Beteiligung der Messe am vergangenen Sonntag war die Freude über meine Rückkehr kaum zu ermessen.“

„Ja die Moral schwindet immer mehr. Während das Haus mit Ihren Schäfchen immer leerer wird, füllen sich unsere Zwangsquartiere umso mehr. Man könnte meinen, es handele sich um Überläufer.“

„Da sagen Sie was, Spürmann.“ Schaeflein erhob die Augen in Richtung Himmel. „Die Gottlosigkeit scheint immer mehr zuzunehmen. Wenn das so weitergeht, was der Herr verhindern möge, kann ich meine Messen mit den wenigen Gläubigen in der Sakristei lesen.“

„Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand! In Ihrem Beruf darf man die Hoffnung doch niemals aufgeben.“

„Ich bin Realist, Spürmann. Ich sehe, wie die Werte schwinden. Nicht generell, nein beileibe nicht. Aber in vielen Bereichen der Menschheit. Verfolgen Sie doch nur die Nachrichten! Aber wem erzähle ich das? Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Verrohung, Okkultismus, Mord an den eigenen Kindern. Was ist das nur für eine Zeit? Gerade heute berichtete der Trierer Merkur darüber, wenn auch nur als Randnotiz, was auch wiederum bezeichnend ist, dass eine Mutter irgendwo hier in Deutschland ihre drei Kinder ermordet und in der Tiefkühltruhe aufbewahrt hat. Diese Berichte liest man ständig, jede Woche. Und das hier, in unserem ach so zivilisierten Land, das in der Öffentlichkeit mit seinen Werten hausieren geht! Sagen Sie, Spürmann, was ist aus diesem Land geworden?“

„Na ja, es ist nicht alles schlecht, aber Sie haben Recht, Veränderungen sind schon wahrzunehmen.“

„Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber wie es scheint, hat die Gottlosigkeit auch inzwischen unsere Region erreicht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja, es muss nicht allzu viel zu bedeuten haben, aber es werden immer mehr Stimmen laut, die behaupten, dass sich satanische Umtriebe ausbreiten. In einem Nachbarort, den ich wohlweißlich nicht beim Namen nennen möchte, wurden einheimische Jugendliche von schwarz gekleideten und im Gesicht bemalten Motorradfahrern belästigt und fast kam es zu Ausschreitungen, als man sie aus dem Ort vertreiben wollte. Aber Spürmann, das wissen Sie doch sicher alles selbst? Spielen Sie nicht den Unwissenden!“

„Ja, ich habe davon gehört“, gab ich nachdenklich zu. „Die Gestalten waren aber nicht aus der hiesigen Gegend. Wahrscheinlich wird man sie nicht wiedersehen.“

„Dessen bin ich mir nicht so sicher.“ Schaeflein nahm seinen Hut ab und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. „Eine Hitze ist das, viel zu warm für die erste Hälfte des Maimonats.“

„Wieso sind Sie sich nicht sicher?“ Ich wusste die Antwort bereits, ehe Schaeflein antwortete, aber vielleicht wusste der Pastor ja etwas, was mir selbst bislang verborgen geblieben war. Natürlich wusste ich von dem Vorfall, denn in einem benachbarten Hochwaldort hatten bei einigen Einwohnern die Alarmglocken geschlagen:

„Habt ihr die Springerstiefel gesehen? Das sind doch eindeutig Neonazis. Glatzköpfe, wenn ihr mich fragt!“, rief einer der Einheimischen, als die Gruppe den Ort verlassen hatte, obwohl man die vorurteilend als fehlend beschriebene Haarpracht unter dem Sturzhelm nicht hatte sehen können.

„Teufelsanbeter sind das!“, schrie ein anderer. „Sieht man doch sofort. Oder habt ihr keine Augen im Kopf? Das hat uns gerade noch gefehlt. Unsere Jugend ins Verderben führen!“

Ein dritter schrie seine Erkenntnis nicht lauthals heraus. Er nickte wissend und flüsterte seinem Nebenmann zu: „Hast du den ältesten der Bande nicht erkannt?“ Sein Gegenüber schüttelte verneinend den Kopf und wartete gespannt auf die Information, die sofort folgte.

„Da war einer dabei, der aus unserem Ort stammt.“

„Hier aus dem Ort?“

„Hier aus dem Ort!“

„Wer?“

„Er heißt Dirk Bartok.“

„Dirk Bartok? Kenne ich nicht?“

„War ein Zugezogener, kam um 1995 hierher und wohnte auf der anderen Bachseite zur Miete, gemeinsam mit seiner Mutter“, flüsterte der Wissende.

„Kann mich nicht erinnern.“

„Der Dirk hat ungefähr fünf Jahre hier gewohnt. Hat nie den Anschluss an die Dorfgemeinschaft gefunden und ist dann, wie gesagt, rund fünf Jahre später in einen Ort an die Saar gezogen. War ein komischer Kauz. Ging immer in Schwarz. Hatte die Augen und die Fingernägel angemalt. In der Kirche hat man ihn auch nie gesehen. Hatte kaum Kontakt zu den Leuten im Ort. War schon ein seltsamer Vogel.“

Ja, ich erinnerte mich an den Vorfall, denn besorgte Bürger hatten mir damals fast das Büro auf meiner Dienststelle eingelaufen. Ich sah Schaeflein nachdenklich an.

„Herr Pfarrer, Sie glauben, dass diese, sagen wir mal ungewöhnlich anmutenden Personen die Gegend hier weiter unsicher machen werden? Sehen Sie nicht gleich so schwarz!“

„Schwarz scheint derzeit die Modefarbe zu sein.“ Die Bemerkung des Pfarrers veranlasste mich, etwas intensiver dessen Bekleidung zu betrachten, die schwarze Hose, den schwarzen Blazer, die schwarzen Schuhe und als kleinen Farbtupfer den weißen Steg über dem schwarzen Hemd. Nicht zu vergessen, der schwarze Krempenhut, ohne den man den Pastor kaum irgendwo sah.

Schaeflein sah an sich herunter und zog die Stirn in Falten.

„Ist doch wohl etwas Anderes, oder?“ Dann wechselte er schnell das Thema.

„Sagen Sie, seit wann haben Sie eigentlich diesen Hund. Ist doch kein Diensthund, oder?“

„Nein.“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen und versuchte Terry, der ungeduldig an der Leine zog, zu bremsen. „Ist er nicht. Und wie er in meinen Besitz kommt? Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie Ihnen beim nächsten Stammtisch. Bis bald Herr Pfarrer, Sie sehen ja, Terry beharrt auf seinem Recht.“

Schaeflein lüftete ein letztes Mal seinen Hut und machte sich auf den Weg, während ich hinter Terry her stolperte und als ich mein Handy, das in meiner linken Hosentasche unaufhörlich klingelte, nach außen zu befördern versuchte, wäre ich um ein Haar lang auf den Boden geschlagen.

„Terry, stopp!“

Seine Reaktion überraschte mich. Terry stand tatsächlich. Wohl kaum, dass er das Kommando verstanden hätte, vielmehr war es mein kompromissloser Schrei, der ihn dermaßen einschüchterte und erst einmal zum Abwarten bewegte.

„Geht doch!“ Ich wischte mir über die Stirn, denn Terry hatte mir mal wieder bewiesen, wie es um meine Kondition stand.

„Was geht?“, tönte es aus der Leitung. „War das etwa für mich gemeint?“

Es war Kriminaldirektor Willibald Wittenstein, mein Chef beim Polizeipräsidium Trier und Leiter der Kriminalpolizeiabteilungen.

Nun war ich doch versucht, laut heraus zu lachen, denn ich hatte es noch nie erlebt, dass wir beide zur gleichen Zeit in einem Gespräch gemeinsam nach Luft ringen würden.

In meinem Fall war der Grund Terry, der mich erbarmungslos immer geradeaus gezogen hatte mit dem Ziel, alle paar Meter das Bein zu heben und sein Revier zu markieren.

Bei Wittenstein lag der Fall etwas anders. Sein Problem lag im gesundheitlichen Bereich. Er hatte Asthma und er war allergisch gegen die verschiedensten Einflüsse, die jedoch keiner der zahlreichen Ärzte, die er im Laufe der Zeit besucht hatte, im Einzelnen hatte bestimmen können. Besonders schlimm war es im Frühjahr, wenn Pollen und Blütenstaub sich ihren Weg suchten und hierbei oftmals in den Atemwegen von Wittenstein landeten.

Diese waren inzwischen so weit in Mitleidenschaft gezogen, dass er diese intensiven Phasen nur durch Inhalieren eines bestimmten Kortisons haltigen Medikamentes durchstehen konnte.

In etwas mehr als einem Jahr würde er pensioniert sein, der dienstliche Stress würde von ihm abfallen und auch die allergischen Reaktionen etwas mindern, das jedenfalls sagten ihm die Ärzte voraus.

„Nein, ich meinte meinen Hund“, antwortete ich und wusste sogleich, dass dies heute kein ruhiger Abend werden würde.

„Sie haben einen Hund? Seit wann denn das?“

„Seit ein paar Wochen. Ist mir zugelaufen“.

„Aber Spürmann, sie sind doch Polizist! Haben Sie nach dem Eigentümer gesucht?“

Der Vorwurf brachte mich zum Grinsen. „Ich bin der rechtmäßige Eigentümer, Chef. Habe dem Mann den Hund abgekauft und ihn Lisa, meiner Lebensgefährtin geschenkt.“

„Das trifft sich gut. Dann liefern Sie das Tier mal wieder bei der Eigentümerin ab und schwingen sich in Ihren Wagen. Es hat einen Toten gegeben. Offensichtlich…ach, was sage ich…mit Sicherheit war es Mord.“

„Mord? Woher wissen Sie das so genau?“

„Fahren Sie zum Tatort. Sie werden schon sehen. Ach, übrigens: Wie steht es mit Ihrer Kletterkunst? Besitzen Sie Bergsteigerausrüstung?“

Ich sah im Geiste das breite Lächeln im Gesicht Wittensteins, verkniff mir jedoch eine Bemerkung, die auf meinen Lippen nach einem Ausweg suchte.

„Der Tote liegt auf einer Felsansammlung im Waldgebiet zwischen Hentern und Schillingen“, meldete sich Wittenstein wieder. „Die Kollegen vom Dauerdienst und von der Polizeiinspektion Saarburg sind bereits vor Ort und sichern den Tatort. Rufen Sie folgende Handynummer an! Der Kollege wird Sie zum Tatort dirigieren.“

Ich notierte die Nummer mit der rechten Hand, mit der ich auch Terry festhielt, auf meinem Notizblock und der Hund gab diesen Notizen durch sein Drängen, zum nächsten Markierungspunkt zu gelangen, eine eigene Note.

„Wie es mit meiner Kletterkunst steht?“, hörte ich mich zu mir selbst reden und sah an meiner Kleidung herab. „So weit kommt es noch, dass ich einen Felsen hinaufkraxele.“

„Wann bist du wieder zu Hause?“ rief mir Lisa nach, als ich das Haus verließ und ich zuckte im Weitergehen ratlos mit den Schultern. Sie würde mir das Essen warmhalten, mein Lieblingsgericht: Rouladen mit Rotkraut und Kartoffelpüree.

2. Kapitel

Der alte Opel Astra fauchte und spuckte, als ich ihm auf dem mit Schotter übersäten Waldweg hinter Hentern den steilen Hang hinauf die Sporen gab. Ich nahm meist meinen Privatwagen zum Tatort mit, wenn ich beispielsweise am Wochenende Bereitschaft hatte und zuhause in Forstenau darauf hoffte, dass es ein ruhiges Wochenende werden würde.

Ich hing an meinem Gefährt, das mir nun schon 17 Jahre lang treue Dienste erwiesen hatte und mir wie ein Freund geworden war. Und genauso behandelte ich das Fahrzeug auch. Bei Extremsituationen wie dieser heute redete ich meinem Gefährt zu wie ein Reiter seinem Pferd, wenn es vor einem Oxer stand und den Dienst zu verweigern beabsichtigte.

„Auf, alter Junge, wir schaffen das schon!“, rief ich und klammerte meine Hände mit aller Kraft um das Lenkrad, als sollte sich meine Kraft auf die des arg strapazierten Motors übertragen.

„Es geht doch!“, rief ich erleichtert, als ich das Plateau erreicht hatte, hielt den Wagen an, kurbelte das Fenster der Fahrerseite herunter und sog die frische Waldluft, die den Innenraum des Autos zu überfluten gedachte, mit tiefen Atemzügen ein.

Ich war immer wieder von Neuem von der Natur des Hunsrücks begeistert, von seiner Frische, der Vielfalt der Pflanzen, den herrlichen Farben und der Ruhe, die ich in meiner Freizeit nicht selten mitten in den Bäumen des Waldes suchte. Diese Leidenschaft teilte auch meine Lebensgefährtin Lisa mit mir, die sich von mir gerne mal hierher mal dorthin in die Regionen des Hunsrücks entführen ließ.

Ich nestelte mein Handy hervor, das ich wieder einmal in meiner Hosentasche verstaut hatte, wozu ich erst einmal den Sicherheitsgurt lösen und mich zur Seite wälzen musste, um überhaupt in die Tasche zu gelangen und wählte die von Wittenstein angegebene Nummer. Es dauerte eine Weile, dann meldete sich Helmut Leuck von der Polizeiinspektion Saarburg. Er gab mir eine kurze Wegbeschreibung und zehn Minuten später traf ich am Tatort ein.

Tatort war eigentlich zu viel gesagt, denn der lag nach Aussagen der Holzfäller rund zwanzig Meter über dem Standort der Anwesenden.

Ich schaute mich suchend um und sah Leuck, der sich aus einer Gruppe Männer löste, auf mich zukommen.

„Der Tote liegt da oben“, sagte er und zeigte mit dem Finger nach oben, zur Spitze des riesigen Felsens. „Die Leute hier nennen ihn ‚Fleschfelsen’, weiß der Geier warum. Da drüben stehen die Holzfäller, die ihn gefunden haben.“ Leuck drehte seinen Kopf mit dem dichten grauen Haar zu der Gruppe von Männern, die zum Teil noch in ihren Schutzanzügen steckte.

„Was heißt: gefunden? Dort oben kann man doch nicht so einfach jemanden finden. Wer hatte denn dort oben etwas verloren?“

Leuck runzelte die wettergebräunte Stirn, an deren Anzahl der Falten man wohl erkennen konnte, dass die Pensionierung dieses Beamten nicht mehr fern war.

„Einer von ihnen ist da hochgeklettert. Ein Baum hatte sich in dem Felsen verkeilt und als dort oben ein Seil an der Baumspitze anband, um den Baum zu Fall zu bringen, entdeckte er den Toten.“

„Ist die Feuerwehr verständigt?“

„Nein, wozu?“

„Die Dienststelle soll die Feuerwehr zur Bergung des Toten herbestellen“, sagte ich, ohne mich auf weitere Erklärungen einzulassen. „Ach ja, und dann noch das Übliche: Notarztwagen, Arzt, Leichenbestatter und so weiter. Ist der Tote identifiziert?“

„Ja wie denn. Es war doch noch niemand dort oben.“

„Also her mit der Feuerwehr! Sie soll das Leiterfahrzeug mitbringen, in Saarburg ist doch eines stationiert, soviel ich weiß. Wenn das nicht verfügbar ist, verständigen Sie bitte die Berufsfeuerwehr in Trier!“

Leuck strebte von dannen und ich begab mich zu der Gruppe, in der auch die Holzfäller standen.

„Wer von Ihnen hat den Toten, wenn es denn einen gibt, gefunden?“, fragte ich in die Runde.

„Das war er hier, Theodor Heinen“, meldete sich ein älterer Waldarbeiter und schob den Genannten etwas nach vorne, in meine Richtung. „Er hat…“

„Lassen Sie ihn doch selbst reden“, fuhr ich dem Mann ins Wort. Und zu dem jungen Arbeiter gewandt: „Erzählen Sie mal. Was haben Sie gesehen?“

„Ja, das war so: Wir haben einen Baum gefällt…eine Buche … ein richtig dickes Ding. Doch der Baum fiel nicht so, wie er sollte und hat sich in dem Felsen verkeilt.“

„Der Baum ist fast wertlos geworden dadurch, jedenfalls ist er kein Möbelholz mehr“, warf der ältere, der Heinen nach vorne geschoben hatte, ein.

„Also weiter!“ Ich sah Heinen auffordernd an.

„Ich bin dann hochgeklettert, um ein Seil an die Baumspitze zu binden. Damit wollten wir den Stamm in den Hang legen.“

„Und dann haben sie einen…Toten gesehen?“

Heinen sah zu dem Felsen hinüber und nickte.

„Der Mann da oben liegt so da, als habe man ihn aufgebahrt. Er ist unbekleidet, nackt.“

„Keine Kleidungsstücke da oben?“

„Nur so etwas wie eine schwarze Decke. Liegt allerdings neben dem Mann.“

„Haben Sie etwas Besonderes feststellen können? Verletzungen oder so?“

„Ob ich etwas Besonderes festgestellt habe? Und ob ich das habe! Der Mann hat kein Herz mehr im Leib!“

„Was heißt das: Kein Herz mehr im Leib?“

„Ich war ja nicht so lange da oben, aber das habe ich genau gesehen. Sein Brustkasten ist offen, da ist nichts drin!“

Ich schaute den Mann an, der vor Aufregung und offensichtlich darüber, dass er im Mittelpunkt stand, zitterte, und machte mir meine Gedanken. Wahrscheinlich hatten Raubvögel den Toten, der, auf welche Art auch immer, dort oben hingelangt war angefressen. Aber warum lag der Mann dann da oben?

Ein grauer Pkw näherte sich und als er anhielt, stiegen Heinz Peters und drei weitere Kollegen von der Kriminaltechnik aus.

Peters war so etwas wie ein Urgestein der Spurensicherung beim Polizeipräsidium Trier. Kollegen kamen, Kollegen gingen, doch Peters war immer da und im Geiste rechnete ich schon nach, ob man seine Pensionierung etwa vergessen hatte. Peters war noch einer aus altem Schrot und Korn. Auf ihn hatte ich mich immer verlassen können, an zahlreichen Tatorten hatten wir gemeinsam ermittelt und die fachlichen Kenntnisse auf dem Gebiet der Spurensicherung von Peters hatten nicht selten zur Klärung der Fälle beigetragen.

Ich verließ die Gruppe, ging Peters entgegen und begrüßte ihn freundschaftlich.

„Man sagte mir, ein Toter soll auf irgendeinem Berg liegen.“ Peters sah mich fragend an.

„Ja, das ist eine seltsame Angelegenheit hier. Ich weiß auch noch nicht, was ich davon halten soll.“ Ich zeigte mit dem Arm in Richtung Felsenhügel. „Wir können nichts unternehmen, ehe die Feuerwehr hier ist. Ich habe sie mit der Drehleiter angefordert. Ein Gutes hat das Ganze: Außer uns und dem Arzt wird niemand dort oben sein und Spuren verwischen.“

„Dann bin ich mal gespannt, was uns dort erwartet.“ Peters stellte seinen Spurensicherungskoffer vor sich zwischen seinen Beinen auf der Erde ab und sah sich suchend um.

„Fehlt da nicht jemand? Ist Leni nicht dabei?“

Leni…ja…natürlich! Ich hatte bisher nicht einen Gedanken an Leni Schiffmann verschwendet und mich deshalb auch nicht gewundert, dass sie nicht am Tatort war.

„Man wird sie wohl nicht verständigt haben. Offensichtlich konnte man sie nicht zu Hause erreichen. Vielleicht kommt noch jemand vom Dauerdienst zur Unterstützung.“

„Das hättest Ihr wohl gerne?“, tönte eine Stimme hinter uns und Peters und ich sahen uns an und konnten ein Lachen gerade noch unterdrücken.

Die Stimme gehörte Leni, die in einem eng anliegenden Jeansanzug mit hellen Sportschuhen darunter, auf uns beide zukam. Das brünette Haar, das sie normalerweise locker bis auf die Schultern fallen ließ, hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Dazu trug sie eine eher unpassende lederne Umhängetasche, in der sie offensichtlich die dienstlichen Utensilien wie Pistole, Handschellen und Pfefferspray mitführte, abgesehen von den zahlreichen wichtigen Kleinigkeiten, wie sie eine Frau ständig zur Hand haben musste.

„So untätig, wie Ihr hier herumsteht, habt ihr doch sicherlich auf mich gewartet“, flötete Leni. „Aber im Ernst: Wo ist der Tote? Oder gibt`s gar keinen?“

„Doch Leni, es gibt einen.“ Ich zeigte hinauf zu dem Felsenplateau und Lenis Blick folgte meinem gestreckten Arm.

„Da oben? Wie kommt ein Toter da hinauf?“

„Wir werden es hoffentlich bald wissen Die Feuerwehr muss jeden Moment hier eintreffen, dann werden wir nachsehen.“

Ich sah Leni prüfend an. „Du kommst doch mit nach oben?“

„Und ob! Warum sollte ich nicht? Glaubst du, ich habe Höhenangst?“

Ich verkniff mir eine weitere Bemerkung. Höhenangst! Wenn einer die hier hatte, dann war ich das.