Der Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiert - Jakob Springfeld - E-Book

Der Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiert E-Book

Jakob Springfeld

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Beschreibung

Angriffe auf Geflüchtete nehmen zu, die AfD plant massive Abschiebungen und neonazistische Positionen sind vielerorts »normal« geworden. Staatliche Behörden, die Bundeswehr, sowie unser Justizsystem sind Teil des Problems - die Brandmauer ist längst gefallen. Obwohl die extreme Rechte bundesweit auf dem Vormarsch ist, schaut Westdeutschland vor allem auf den Osten - gern von oben herab.

Der Autor ist mit seiner Angst vor Steigbügelhaltern, vorauseilendem Gehorsam und lautem gesellschaftlichem Schweigen nicht allein. Es reicht! Wer 2025 beansprucht, aus der Geschichte gelernt zu haben, muss sich positionieren, im Kleinen und Großen aktiv werden und darf die Krise der Demokratie nicht nur auf »den« Osten projizieren.

Denn das epochale Problem geht uns alle an!

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Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungTriggerwarnung1 – Ja, der Osten hat ein Problem2 – Deutschland in BlauExkurs: Der Einfluss der Rechten auf die KommunalpolitikExkurs: Rechte Angriffe auf Kommunalpolitiker:innen3 – Schluss mit der Gleichmacherei4 – Wiederholt sich die Geschichte?Exkurs: »III. Weg« und »Freie Sachsen« als neonazistische ParteienExkurs: Extrem Rechte und Social MediaExkurs: Sexistische Tradwife- und Incel-KulturExkurs: Die extreme Rechte und die friedliche Revolution5 – Wirtschaftskrise und Teufelskreis FachkräftemangelExkurs: Transformationsangst und KlimawandelleugnungExkurs: Demografischer Wandel in (Ost-)DeutschlandExkurs: Positionierung der WirtschaftExkurs: Sparpolitik und Rechtsruck6 – Die Brandmauer ist schon lange gefallenExkurs: Weitere politische Dammbrüchea) Polizeib) Verfassungsschutzc) Bundeswehrd) Justize) Medien7 – Was ich uns Linken vorwerfe8 – Verantwortungspingponga) Land vs. Stadtb) Gesellschaft vs. Regierungc) Ost vs. West9 – Müssen wir ins Exil?10 – Die »blaue Welle« bedroht auch WestdeutschlandDankAnmerkungen

Über dieses Buch

Angriffe auf Geflüchtete nehmen zu, die AfD plant massive Abschiebungen und neonazistische Positionen sind vielerorts »normal« geworden. Staatliche Behörden, die Bundeswehr, sowie unser Justizsystem sind Teil des Problems – die Brandmauer ist längst gefallen. Obwohl die extreme Rechte bundesweit auf dem Vormarsch ist, schaut Westdeutschland vor allem auf den Osten – gern von oben herab. Der Autor ist mit seiner Angst vor Steigbügelhaltern, vorauseilendem Gehorsam und lautem gesellschaftlichem Schweigen nicht allein. Es reicht! Wer 2025 beansprucht, aus der Geschichte gelernt zu haben, muss sich positionieren, im Kleinen und Großen aktiv werden und darf die Krise der Demokratie nicht nur auf »den« Osten projizieren. Denn das epochale Problem geht uns alle an!

Über den Autor

Jakob Springfeld ist Student und 2002 in Zwickau geboren und aufgewachsen. In Stuttgart erhielt er die Theodor-Heuss-Medaille für besonderes Engagement für Demokratie und Bürgerrechte. ZEIT-Campus hat ihn zu den 100 wichtigsten Ostdeutschen ernannt. In seinem Buch beschreibt er, warum im Osten der Boden für die Instrumentalisierung von Existenzängsten besonders fruchtbar ist. Aber struktureller Rassismus und Rechtsextremismus sind Probleme, aus denen eine gesamtdeutsche Bedrohung hervorgeht, in Halle wie in Hanau.

JAKOB SPRINGFELDMIT BURKARD MILTENBERGER

DER WESTEN HAT KEINE AHNUNG, WAS IM OSTEN PASSIERT

Warum das Erstarken der Rechten eine Bedrohung für uns alle ist

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an:

[email protected]

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: © Tomas Rodriguez, Köln

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-7342-3

luebbe.de

lesejury.de

Für meinen guten Kumpel Falko und die Jugendlichen im Erzgebirge, die im Theater in Stolberg die demokratische Fahne hochgehalten haben, bis ihr Stück zur Weißen Rose von rechten Jugendlichen bei der örtlichen AfD wegen angeblich linksradikaler Indoktrination gemeldet und anschließend von der Theaterleitung in vorauseilendem Gehorsam abgeändert wurde. Ihr seid so krass und verdient höchsten Respekt. Passt auf euch auf!

Triggerwarnung

In diesem Buch kommt es zu detaillierten Schilderungen physischer und psychischer Gewalt.

Du wurdest Zeuge oder bist betroffen von rechter, antisemitischer oder rassistischer Gewalt?

Es ist nicht so, dass es keine Hilfe gibt! Als ich mich das erste Mal bei einer Beratungsstelle, damals wegen Hasskommentaren und Morddrohungen, gemeldet habe, war das eine ziemlich große Hürde: einen Termin ausmachen und sich mit sensiblen Themen fremden Menschen anvertrauen? Ich kann nur sagen, es war sehr sinnvoll. Manchmal bleiben Menschen, die tagtäglich mit dieser Gewalt und diesem Hass konfrontiert sind, zurück mit einem Gefühl, das ihnen sagt, es sei »normal«, angefeindet zu werden. Es gibt Betroffene, die aufgehört haben, Vorfälle zu benennen, und ins »Ertragen« gewechselt sind. Das hat oft sehr nachvollziehbare Gründe, ist aber gefährlich, denn rechte Gewalt ist nicht »normal« und sollte es nie sein.

Wenn du oder deine Freund:innen also betroffen sind: Bitte geh den Schritt zur Beratung oder sag es weiter, damit Übergriffe überhaupt irgendwo erfasst werden, damit du Hilfe für deine psychische Gesundheit bekommst und damit du mit diesem beschissenen Angstgefühl nicht alleine bleibst! In jedem Bundesland gibt es Ansprechpartner:innen. Melde dich am besten hier:

www.verband-brg.de/beratung

1 Ja, der Osten hat ein Problem

Ich habe gerade geheult. Aber eigentlich bin ich wütend. Ich bin wütend wegen dem, was ich erlebe, was ich jeden beschissenen Tag erzählt bekomme. Wegen der Nachrichtenlage. Ich möchte der motivierte, gelassene, lächelnde und an Veränderung glaubende Typ bleiben, der ich bin. Aber: Bin ich dieser Typ überhaupt noch? Oder bete ich mir ein Mantra vor, an das ich eigentlich selbst kaum noch glaube?

Je mehr ich versuche, meine Gefühle in Worte zu fassen, desto deutlicher merke ich, dass das kaum möglich ist. Ich kann das, was ich erlebe, kaum beschreiben. Es fühlt sich manchmal so an, als würde die Welt über meinem Kopf zusammenbrechen. Und wenn ich ehrlich bin, dann tut sie das vielleicht auch. So kommt es mir zumindest vor. So kommt es mir vor, wenn ich bei meiner Lesung in Greiz davon höre, wie Kommunalpolitiker:innen bedroht werden. Marcel, Aktivist und Stadtrat in Greiz, berichtet mir:

»In der Stadt, nicht weit von meinem Wohnort, ist vor einiger Zeit dieses Graffito aufgetaucht. Der Schriftzug prangte groß auf der Fläche von sechs Garagentoren und darauf stand: MARCELBUHLMANNTÖTEN! Daneben ein Hakenkreuz, SS-Runen.« Und Marcel erzählt weiter, dass er mit seiner Freundin einen Koffer packen möchte. Einen Koffer für den Notfall. Denn er sieht die Möglichkeit, dass die AfD in Thüringen nicht nur stärkste Kraft wird, sondern sogar an die Regierung kommen könnte. Schon im Frühsommer 2023 hält Marcel das, was bei den Landtagswahlen im September 2024 dann tatsächlich eintreten sollte, für sehr wahrscheinlich. Die AfD wird mit Abstand stärkste Kraft. Und das, obwohl man den Chef der AfD in Thüringen sogar laut Gerichtsurteil als »Faschisten« bezeichnen darf. Marcel packt mindestens gedanklich seinen Koffer. Weil er Angst hat und meint, dass er seinen Reisepass wieder herauskramen muss, damit er im Notfall schnell abhauen kann. Weil im Ernstfall alles sehr schnell gehen kann, sehr gefährlich werden würde.

Auch in mir tickt die Uhr der Angst. Nur war Marcel der Erste, der in meinem näheren Umfeld so klar darüber spricht. Ich denke mir, dass ich noch nicht so weit bin. Ich möchte mich dem Gedanken an Flucht nicht aussetzen. Doch sogar mein Papa meinte letztens, dass er sich Sorgen macht: »Ich hoffe, dass Aktivisten wie du nicht irgendwann unter neuen Gesetzen zu leiden haben …« Und ich verstehe diese Angst, denn ich habe sie selbst. Zumal diese Ängste auch von Jugendlichen im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren bei meinen Lesungen immer und immer wieder bestätigt werden.

Heute Lesung in Zwickau. Sogar zwei Lesungen. Lesungen an einer Schule. Mehrere Kids erzählen mir, dass es wieder okay sei, Neonazi zu sein: »Die meisten machen da nur mit, weil’s cool ist. Die wissen gar nicht, was dahintersteht.« Ein Junge mit Migrationsgeschichte sagt: »Das Leben muss ja weitergehen, aber ich habe echt Schiss. Allein laufe ich hier nicht durch Zwickaus Innenstadt. Wir sind ja schon richtig lange hier, aber wegen meines Aussehens bekomme ich seit 2014/15 immer wieder Stress.« Viele berichten mir, dass sie Neonazis persönlich kennen oder in ihrem Freundeskreis haben. Es ist normal geworden, rechts zu sein. Es ist normal geworden, AfD zu wählen. Es ist normal geworden, Neonazi zu sein.

Zeitsprung, knapp zwanzig Jahre zurück. Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stand vor der Tür. »Die Welt zu Gast bei Freunden«, lautete das Motto damals. Natürlich kann ich mich nicht daran erinnern, im Sommer 2006 war ich gerade einmal vier Jahre alt. Doch für viele ist das »Sommermärchen« nach wie vor sehr präsent. Für zahlreiche Ostdeutsche auch noch aus einem Grund, der nichts mit Fußball zu tun hat. Uwe-Karsten Heye, ehemaliger Regierungssprecher von Bundeskanzler Gerhard Schröder und zu diesem Zeitpunkt Chefredakteur der SPD-Parteizeitung Vorwärts, äußerte sich drei Wochen vor Beginn der WM besorgt: »Ich sehe No-go-Areas vornehmlich im Osten Deutschlands. Das hat aber mit der Geschichte der alten DDR zu tun.« Und weiter: »Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht mehr verlassen.«1 Die Reaktionen fielen heftig aus. Politiker:innen empörten sich, solche Aussagen seien rufschädigend und stigmatisierend. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (ebenfalls SPD) warf Heye die »Verunglimpfung ganzer Regionen in Brandenburg«2 vor. Jörg Schönbohm, Innenminister des Landes, sprach von einer »unglaublichen Entgleisung«.3 Heye selbst hatte der Politik »Bagatellisierungen« vorgeworfen – unvergessen der legendär idiotische Satz des langjährigen sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf: »Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.«4 Hohe Wellen schlug dann auch noch Heyes Begründung: »Die DDR hat sich, ohne dass sie sich in der Sache auch nur irgendwie mit dem Nationalsozialismus und der braunen Zeit auseinandergesetzt hätte, von vornherein als antifaschistischen Staat begriffen. […] Jeder, der sich zu diesem Staat bekannt hat, war auch schon Antifaschist.«5

Viele störten sich an der typisch lehrerhaften Lektion von westdeutscher Warte aus. Allzu oft mussten und müssen Ostdeutsche sich ihr Leben und die DDR vom Westen erklären lassen. Dabei ist Heye alles andere als ein polemischer Scharfmacher, sondern bis heute ein Kämpfer gegen die extreme Rechte. Im Jahr 2000 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Vereins »Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland«, in dem er dann lange Zeit als Vorstandsvorsitzender tätig war.

Zurück in die Gegenwart. Noch mal Fußball. »Mein« Verein, der FSV Zwickau, muss sich nach dem schmerzvollen Abstieg aus der 3. Liga 2023 in der Regionalliga Ost abmühen. Erneut liegt ein großes Fußballturnier in Deutschland hinter uns, die Europameisterschaft. Zwei Teams hatten sogar ihr Quartier während der EM in Ostdeutschland aufgeschlagen: die englischen Promifußballer im thüringischen Blankenhain und die kroatische Nationalmannschaft in Neuruppin, Brandenburg. An No-go-Areas hat man sich gewöhnt, auch wenn kaum darüber gesprochen wird, und die Stimmungslage, die Themen, die die Gesellschaft bewegen, erinnern erschreckend an damals.

So gehörten zu den meistverkauften Büchern des Jahres 2023 Dirk Oschmanns umstrittene Abrechnung Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet sowie Anne Rabes vielfach preisgekrönter Roman Die Möglichkeit von Glück, in dem die kurz vor dem Mauerfall geborene Protagonistin Stine schonungslos innerfamiliäre Gewalt, Sprachlosigkeit und Traumata schildert und bearbeitet, die für sie auch in den autoritären und brutalen Strukturen der SED-Diktatur begründet liegen. Oschmann will in seinem Buch, das in zensierter (!) Form auch auf Russisch erschien6, nachweisen, dass »der Osten« quasi ein westdeutsch dominiertes Konstrukt sei, das zu einer Stereotypisierung und verstetigten Benachteiligung der Ostdeutschen führte und nach wie vor führt. Anne Rabe hingegen zeigt mit dem Finger nicht nach Westen, sondern unternimmt in ihrem Roman eine genaue und schonungslose Untersuchung der Geschichte von Gewalt als ein identitätsstiftendes Merkmal Ostdeutschlands. Verkürzt gesagt, schreibt Oschmann den Ostdeutschen eine kollektive Opferrolle zu, während Rabe das Individuum ins Zentrum rückt, das befähigt ist, selbstbestimmt zu handeln. Diese Fähigkeit kann im Guten wie im Schlechten zum Einsatz kommen. Zwei äußerst unterschiedliche, teils gegensätzliche Herangehensweisen, auf ostdeutsche Geschichte vor und nach dem Mauerfall zu blicken.

Was viele Anfang der 1990er-Jahre für undenkbar hielten, ist heute ein Faktum: Knapp 35 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es nach wie vor Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ost und West. Der in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze klagt: »Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation aber der Goldstandard – also das, was eigentlich als Bezugspunkt gilt.«7 Sabine Rennefanz kritisiert in ihrer Spiegel-Kolumne Frank-Walter Steinmeiers Buch Wir. Der Bundespräsident, schreibt sie, »unterschlägt, dass es bis heute keine gemeinsame Erzählung für die Wiedervereinigung gibt. Als richtige, als eigentliche deutsche Geschichte gilt die Geschichte der Bundesrepublik, die Geschichte der DDR ist ein Exkurs, Regionalgeschichte, etwas für Experten.« Wie toll sei es doch, so Steinmeier, dass die Grundrechte nun in ganz Deutschland garantiert sind. Sicher, toll ist das wirklich, aber für Rennefanz klingt das so: »Was wollt ihr eigentlich noch, ihr Undankbaren!«8

Zunächst erfreut entdeckte ich im Programm des Berliner Theatertreffens 2024 eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel: »Was tun? Vom Umgang mit neurechten Kulturkämpfen«.9 Einigermaßen fassungslos war ich allerdings, als ich unter den Teilnehmenden keine:n einzige:n ostdeutsche:n Kulturschaffende:n entdecken konnte. Leute, wenn jemand eine Expertise zu neurechten Kulturkämpfen hat, dann doch wohl wir! Ich will der Veranstaltung keinesfalls die Sinnhaftigkeit absprechen: Ich finde es gut, dass auf einem Theaterfestival darüber gesprochen wird. Aber hier diskutierten unter anderem die Intendantin des Hamburger Kulturorts Kampnagel, die polnische Kuratorin Joanna Warsza und der erfolgreiche Regisseur Oliver Frljić, der zum Leitungsteam des Maxim Gorki Theaters in Berlin gehört. Warsza und Frljić berichteten aus ihren Heimatländern Polen und Kroatien über die schwierige Situation für Theatermacher:innen oder Kulturschaffende, die sich häufig Zensurversuchen und ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt sehen.

Aber warum in die Ferne schweifen? Haben die Organisator:innen einer solchen Veranstaltung denn keine Ahnung, wollen die nicht erfahren, was im Osten dieses Landes passiert, wie dieses Thema ostdeutsche Kultureinrichtungen tagtäglich beschäftigt? Hier tobt nämlich schon längst der Kulturkampf. Es wäre äußerst interessant gewesen – auch und gerade für die Berliner Kulturbubble –, Intendant:innen oder Schauspieler:innen aus Zwickau, Bautzen oder Bitterfeld-Wolfen zuzuhören, welche Erfahrungen sie machen.

»Neurechte Kulturkämpfe« sind mittlerweile natürlich auch ein westdeutsches Problem – weshalb es gut ist, dass darüber auch diskutiert wird. Was ich nur so ätzend finde, ist, dass durch die Teilnehmenden der Eindruck entsteht, dass irgendwo im schicken Berlin 2024 das Problem gelöst werden soll, mit dem wir Ossis schon ewig konfrontiert sind, während unseren Warnungen oft nicht wirklich Beachtung geschenkt wurde. Es ist richtig, dass das nicht »nur« als ostdeutsches Problem gesehen wird, aber es ist peinlich, dass wir nicht mit einbezogen werden und dass der Eindruck entsteht, dass es erst diskussionswürdig ist, wenn der rechte Kulturkampf auch in Westdeutschland richtig spürbar wird.

Genau das sprach dann der einzige Ostdeutsche auf dem Podium an, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, gebürtiger Thüringer. Er benannte die Leerstelle, die mich so aufregte: dass in dieser Diskussion die nichturbanen Orte unterrepräsentiert sind. Er sprach von Galeristen in Zwickau, denen in schöner Regelmäßigkeit von Rechten die Fenster eingeschmissen werden. »Es ist nicht klug, hier zu warten und zuzugucken, wie dieses Terrain im ländlichen Raum unter Druck gerät und teilweise auch verloren geht. Es ist wichtig, sich solidarisch zu erklären und mit unseren Körpern und unseren Ideen und Projekten dort präsent zu sein«, forderte Krüger. Es sei zentral, die Institutionen und Menschen im ländlichen Raum zu unterstützen, »denen es wirklich schlecht geht, die unter Druck sind, die diesen Druck täglich erfahren und nicht die komfortable Situation von Kampnagel oder den Berliner Kultureinrichtungen haben.«10

Es ist schon ein paar Jahre her, da verließen vier Ensemblemitglieder wegen rassistischer Anfeindungen das Theater Gera-Altenburg, sie hatten es satt, auf dem Marktplatz angepöbelt zu werden. Im Herbst 2023 machte die Absage eines queeren Theaterstücks am Theater meiner Heimatstadt Zwickau Schlagzeilen. Offiziell wurde der Rückzieher mit den zu hohen Kosten der Produktion begründet. Fakt ist, dass es im Vorfeld Hasskommentare von rechts hagelte. Die extrem rechten Parteien »Freie Sachsen« und »Der III. Weg« riefen dazu auf, die Veranstaltung zu stören und Zuschauer:innen anzugehen, um so den »Regenbogenkult« und die »Schmutzdarbietungen« zu unterbinden. Interessant wäre es gewesen, auch hiervon in Berlin zu hören. Doch viele Veranstaltungen wie die beschriebene Podiumsdiskussion bewegen sich meiner Beobachtung nach in urbanen Blasen der Metropolen.

Der antifaschistische Kampf in den urbanen Räumen ist selbstverständlich genauso wichtig wie überall. Ich möchte aber in diesem Buch ganz bewusst weniger die Großstädte in den Mittelpunkt rücken, sondern den Fokus auf die kleineren Kommunen richten, wo eine – natürlich richtige und wichtige – Demo gegen rechts weniger einem angesagten Familienevent gleicht, sondern echten Mut und Risikobereitschaft erfordert.

Seit der Aufregung um die Aussagen von Uwe-Karsten Heye sind fast zwei Jahrzehnte vergangen. Und die No-go-Areas, von denen er sprach, gibt es nicht nur immer noch, sie sind größer und mehr geworden. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Die jährliche Statistik rechtsmotivierter, rassistischer und antisemitischer Gewalt des RAA Sachsen e. V. zählte 2023 in Sachsen 248 Angriffe mit 380 Betroffenen – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr.11 Die Fachleute stellen fest: »Die gewalttätige rechte Raumnahme in sächsischen Schwerpunktregionen setzte sich nicht nur fort, sondern weitete sich aus.« Über die Hälfte aller Attacken hatte Rassismus als Tatmotiv. Weit dahinter folgen Angriffe auf »Nichtrechte und Alternative«, auf Angehörige der LGBTQIA+-Community und politische Gegner:innen.12 Und wenn hier von »Betroffenen« die Rede ist, bedeutet das körperliche Gewalt, Schläge, Verletzungen. Fast zwei Drittel der Attacken erfüllten nämlich den Straftatbestand der Körperverletzung.

Nur ein paar Beispiele, um die Menschen hinter der Statistik sichtbarer zu machen. Im Januar 2023 prügelte in Chemnitz ein Mann auf einen 23-Jährigen ein, bis dieser am Boden lag. Als der Angegriffene wegrannte, verfolgte ihn der Täter und bedrohte ihn mit einem Messer. Am 22. Juli 2023 traten vier Männer die Tür einer Geflüchtetenunterkunft in Sebnitz ein, schlugen die Bewohner und riefen rassistische Parolen. Am Bahnhof in Torgau wurde im August 2023 ein 39-Jähriger von einer Gruppe von Männern rassistisch beleidigt. Als er in einen Zug einsteigen wollte, warf ihm einer der Männer eine Glasflasche an den Kopf.

Geht man die die Protokolle des RAA über die Taten durch, so wird klar, dass Tage, an denen nichts dergleichen geschieht, herausstechen. 30. April, Brandis, Hakenkreuz (1,1 mal 1,1 Meter groß) auf der Straße. 1. Mai, Hartmannsdorf, rechte Parolen bei einem Maifeuer. Das Einschreiten der Polizei wurde durch mehrere Personen behindert. 2. Mai, Treuen, Beschmieren von Wahlplakaten mit SS-Runen. 2. Mai, Freiberg, Hakenkreuze und SS-Runen auf Tischtennisplatte entdeckt. 4. Mai, Dresden, Sieg-Heil-Gegröle. Und so geht die Chronik des Hasses weiter und weiter.

Die Ereignisse überschlagen sich: Der SPD-Politiker Matthias Ecke wurde beim Plakatieren für die Europawahl am 3. Mai 2024 brutal zusammengeschlagen und musste mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Wenige Stunden vor diesem Angriff in Dresden wurde eine Unterkunft für Geflüchtete im Landkreis Zwickau attackiert. Die Normalisierung dieser Dinge ist fucking perfekt, und der rassistische Angriff hat fast niemanden gejuckt, schon gar nicht in Westdeutschland. Sachsen 2024.

Zu einem Symbol extrem rechter Raumnahme, der Verharmlosung rechter Hetze und der offen zur Schau getragenen Sympathie für rassistisches und faschistisches Gedankengut wurde 2023 das malerische Örtchen Burg im Spreewald. Zwei Lehrkräfte, Laura Nickel und Max Teske, hatten sich in einem zunächst anonymen Brief an die Öffentlichkeit gewandt, da sie in ihrer Schule »täglich mit Rechtsextremismus, Sexismus und Homophobie konfrontiert« seien. Sie berichteten, dass an ihrer Schule Möbel mit Hakenkreuzen beschmiert, extrem rechte Musik gehört und in den Schulfluren demokratiefeindliche Parolen gerufen werden. »Lehrkräfte und Schüler, die offen gegen rechtsorientierte Schüler und Elternhäuser agierten, fürchteten um ihre Sicherheit. Die wenigen ausländischen und toleranten Schüler […] erleben Ausgrenzung, Mobbing und Gewaltandrohungen. Es herrscht das Gefühl der Machtlosigkeit und der erzwungenen Schweigsamkeit.«13 Nickel und Teske beklagten, dass sie von Seiten der Schulleitung, der Kolleg:innen oder von Ämtern keine Unterstützung erhielten.

Die erste Reaktion des Brandenburger Bildungsministeriums: beschwichtigen. Man werde die Vorfälle untersuchen, weise aber »pauschalisierte Vorwürfe gegen die Schule und Personen zurück«.14 Die Schulleiterin der Grund- und Oberschule Burg gab in der Zeit zu bedenken: »Diese Jungs sind Teenager, sie sind in der neunten Klasse und suchen ihren Platz. Sie wollen sich ausprobieren.«15 Brandenburgs Bildungsminister Steffen Freiberg wusste sogleich, dass es sich hier um einen Einzelfall handelte. Doch nach der Veröffentlichung des Briefs – Überraschung! – meldeten Lehrkräfte anderer Schulen des Landes Vergleichbares. Es folgte das Übliche: öffentlicher Aufschrei bundesweit, wir müssen mehr in Bildung investieren, bla, bla, bla. Was dann allerdings geschah, war unglaublich: Elternvertreter:innen forderten die Schule auf, Teske und Nickel zu entlassen. Im Ort wurden dutzendweise Aufkleber mit der Botschaft »’pisst euch nach Berlin« angebracht, darauf auch die Fotos von Nickel und Teske. Im Internet wurde »zur Jagd« aufgerufen.

Max Teske, der aus der Region stammt, reagierte desillusioniert: »Völlig überraschend kommt das für mich nicht. Wer sich offen gegen rechts positioniert, wird schnell zur Zielscheibe.«16 Tätliche Angriffe habe er selbst als Jugendlicher schon erlebt. »Ich weiß, wie die rechte Szene tickt und wie weit sie gehen kann.« Max Teske und Laura Nickel, die immer betonen, wie viel Zuspruch sie auch erhalten hatten, baten aber schließlich um Versetzung. »Ich hätte diesen Schritt gerne vermieden«, so Nickel im Spiegel, »aber die externen Anfeindungen sind zu bedrückend.«17 Jean-Pascal Hohm, Kreischef der Cottbuser AfD und frisch gewählter Landtagsabgeordneter, jubilierte auf Twitter: »Bürgerliches Engagement wirkt: Linksradikaler Denunziant verlässt Burger Schule.«18 Teske sagt heute noch, die Hetze und die Drohungen seien nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Wenn er abends unterwegs sei, drehe er sich häufiger mal um.

Der Tagesspiegel protokollierte die Ansichten von Bürger:innen des Orts zu den Ereignissen. Von großer Solidarität mit den beiden Lehrkräften bis zu dem Vorwurf, die Dinge seien »von den Medien aufgebauscht«, reichte das Spektrum. Ist ja auch nicht so schlimm, der »Hitlergruß wurde von einem von 500 Schülern getätigt. Das entspricht 0,2 Prozent der Schülerschaft«. Na, dann ist ja alles in Ordnung. Viele jedoch treibt die Sorge um, »dass die Region in einem schlechten Licht dargestellt wird«. Denn, so heißt es in einem der Beiträge: »Das einzige Problem, welches die sehen, ist, dass weniger Touristen kommen. Deswegen wird der schwarze Peter jetzt auf die Lehrer abgeschoben.«19

In dem gesamten Komplex der Ereignisse in Burg sehe ich die strukturelle Blaupause zahlloser extrem rechter Taten: Ein Fall wird öffentlich –> spontane Verharmlosung, Einzelfalllüge –> bei krasseren Sachen routinierte deutschlandweite Empörung (gerne mit kopfschüttelndem Staunen aus dem Westen) –> Forderung nach Konsequenzen (»mehr Demokratiebildung«) –> bei größerem Medienwirbel Vorwurf der Nestbeschmutzung, klassisches Victim-Blaming (dem Opfer die Verantwortung zuschieben) –> Rechte feiern ihren Erfolg.

So resümiert es auch die Initiative #unteilbar-Südbrandenburg: »Der Weggang der mutigen Lehrer:innen aus Burg ist ein Versagen der Kommunal- und Landespolitik […] Die Täter bleiben.«20

Die Routine, mit der das alles abläuft, macht mich krank. Ganz unaufgeregt passiert das, was immer passiert – und Konsequenzen? Bleiben aus. Zurück aber bleiben in vorderster Linie von Diskriminierung Betroffene, die für Rechte per se Zielscheiben darstellen und gefährdet sind. Und all jene, die Widerspruch wagen – mutige Demokrat:innen, Linke, Antifaschist:innen.

Dazu zählt der eingangs erwähnte Marcel Buhlmann aus dem thüringischen Greiz. Ein gutes Jahr ist es her, dass ich ihn kennenlernte, als er mir von der angespannten Lage berichtete und mir schließlich ein Foto von der Todesdrohung in meterlanger Graffiti-Form zeigte. Ein Bild, das mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht.

Hoffnung machte damals und macht es mir jeden Tag aufs Neue, Leute zu treffen, die Bock haben, sich zu engagieren und zu organisieren oder sich wie Marcel auch mutig in die Öffentlichkeit trauen. Im Vorfeld der Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wollte ich noch mal ein Stimmungsbild von Marcel einfangen und rief ihn an. Es hatte sich einiges getan in dem Jahr. Bei den Kommunalwahlen wollten AfD-Kandidaten das Bürgermeister:innenamt in Greiz und den Landratsposten erobern. Und dann der Paukenschlag: Björn Höcke tritt bei der Landtagswahl in Greiz nicht mehr wie zuvor im Eichsfeld an. Dahinter steckten wahltaktische Überlegungen, im Wahlkreis Greiz II war ein Direktmandat eher zu gewinnen als in der CDU-Hochburg Eichsfeld. Doch auch in Greiz II scheiterte die Galionsfigur der extremen Rechten. Björn Höcke, der ständig den seiner Meinung nach unaufhaltsamen Aufstieg der AfD zur Macht betont, unterlag dem CDU-Kandidaten Christian Tischner mit 38,9 zu 43 Prozent. Bei der Landesstimme (Zweitstimme) schnitt die AfD im gleichen Wahlkreis jedoch überdurchschnittlich ab und holte 37,1 Prozent. Allein die CDU (27,1 Prozent), das BSW (15,3 Prozent) sowie die Linke (10,6 Prozent) sind im Wahlkreis Greiz II noch relevante politische Kräfte. Wenn ich mir ansehe, dass die SPD in dem Wahlkreis bei 3,9 Prozent und die Grünen bei 1,3 Prozent landen, wird mir angst und bange.21 Zumal das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für mich ebenso bedrohlich autoritär auftritt. Immerhin positioniert sich Höcke-Besieger Tischner im Gegensatz zu manch anderen Parteifreund:innen in Sachen AfD klar gegen jegliche Kooperation mit den extrem Rechten.

Und dennoch verspürt Marcel eine veränderte Stimmung in der Stadt. Im Februar nahmen 800 Menschen – unter ihnen nur wenige Auswärtige – an einer Demo für Demokratie und Vielfalt teil. Marcel hatte ungefähr mit der Hälfte an Zuspruch gerechnet, und er traf dort Leute an, die er nicht erwartet hatte. Ernüchternd war andererseits, dass der von der CDU getragene Bürgermeister Alexander Schulze, der zunächst als Redner auftreten sollte, kurzfristig einen Rückzieher machte. Innerhalb der CDU werde, so Marcel, diskutiert, ob es sinnvoll sei, sich klar zu positionieren, wenn man AfD-Wähler:innen zurückgewinnen wolle.

Doch egal, ob mit oder ohne CDU, die Arbeit der Zivilgesellschaft geht weiter – auch nach den Landtagswahlen und über einzelne Demos hinaus. Und genau das halte ich immer wieder an den verschiedensten Orten für ganz zentral: dass über einzelne spektakuläre Aktionen hinaus kontinuierlich weitergearbeitet wird. Und dass das in Greiz der Fall ist, spendet Zuversicht. Zuversicht, die so schnell da ist, wie sie wieder verschwindet, um dann hoffentlich irgendwann wiederzukommen.

Es war an einem Montag. Kein guter Wochentag, um in Bautzen eine Lesung zu veranstalten, denn der Titel meines ersten Buchs, Unter Nazis, musste hier wörtlich genommen werden. An jenem Montag versammelten sich in Bautzen mehrere Hundert Menschen in der häufig anzutreffenden Mischung aus sogenannten Querdenker:innen und Extrem Rechten, die Russlandflaggen und Fahnen der »Freien Sachsen« schwenkten und viel vom »Frieden« faselten. Darunter auch ein Grüppchen, das sich »Balaclava graphics« nennt – mehrheitlich junge Männer im Hipster-Outfit mit Bart und schicker Brille, die als Influencer »hochwertigen« Content für Social Media produzieren. Sie erinnern ein wenig an Vertreter der »Identitären Bewegung«, machen aus ihrer Gesinnung aber keinen Hehl. Huldigungen für SS-Offiziere gehören genauso zum Portfolio wie Kleidung mit »White Race«-Aufdruck. Ich war vor der Lesung noch mit Journalisten auf dem Marktplatz und kam dann an diesem beängstigenden Aufmarsch vorbei, während wir uns zur Location der Lesung begaben, die die zivilgesellschaftliche Initiative Augen auf e. V. organisiert hatte. Veranstaltungsort war der Jugendklub Kurti, eine wichtige Anlaufstelle für junge Leute und immer wieder das Ziel extrem rechter Gewalttäter. Mitte Juli 2024 wurden zwei Personen, die sich vor dem Kurti aufhielten, von einer sechsköpfigen Gruppe von »überwiegend dunkel gekleideten, vermummten Unbekannten«22 gezielt angegriffen und verletzt, sodass sie ärztlich versorgt werden mussten. Wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung ermittelt die Polizei – hoffentlich. Ziemlich genau einen Monat vorher wurden die Scheiben der Eingangstür zum Kurti eingeworfen. Dabei sollen Parolen wie »Scheiß Antifa« gerufen worden sein.23 Kurti-Besucher berichten, dass immer wieder bis zu 25-köpfige Gruppen von Neonazis zur Einschüchterung vor dem Jugendklub aufmarschieren und beispielsweise »Deutschland den Deutschen« und »Sieg Heil« grölen.24

Noch vor Beginn der Lesung, zu der 25 bis 30 Leute erschienen waren, kam die Organisatorin aufgeregt auf mich zu und berichtete, vor der Tür hätten sich zehn bis fünfzehn vermummte Neonazis aufgebaut. Bedrohungen kenne ich – daran gewöhnen konnte ich mich nie und werde ich auch nicht. Aber das war das erste Mal auf meiner Lesetour, die mich an sehr viele Orte in ganz Deutschland geführt hat, dass so etwas passierte. Geradezu erschütternd fand ich, dass das Publikum vollkommen ruhig blieb und nicht sonderlich überrascht wirkte. Es herrschte so die Stimmung: »Kann man nichts machen, ist halt Bautzen.« Ich war aufgeregt und stand unter Adrenalin, übelst verängstigt war auch ich nicht. In solchen Situationen ist für mich immer das Wichtigste, nicht allein zu sein. Denn das ist das, wovor ich am meisten Angst habe, irgendwann einmal ganz allein auf die Fresse zu kriegen. Die Gemeinschaft schützt und hilft, solche Situationen einfacher durchzustehen. Die im Vorfeld schon organisierten Sicherheitsleute postierten sich an der Eingangstür, und die Polizei wurde gerufen. Ich habe dann, wenn auch mit leicht mulmigem Gefühl, meine Lesung begonnen, denn die einhellige Meinung war, dass wir uns die Veranstaltung nicht von den Faschos kaputtmachen lassen dürfen. Nach dem Eintreffen der Polizei verzogen sich die Neonazis aus der unmittelbaren Nähe des Kurti.

Es war letztlich ein schöner Abend mit anregenden Gesprächen. Das durchaus gemischte Publikum setzte sich natürlich aus Menschen zusammen, die teils seit Jahren Flagge zeigen und antifaschistische Arbeit leisten, was in Bautzen eine gehörige Portion Mut erfordert. Schon der Besuch einer solchen Lesung ist ein Statement. Man kennt sich schließlich in einer kleinen Stadt. Für mich völlig neu und wieder einmal unfassbar war die Wortmeldung eines Sorben, eines Angehörigen jener vor allem in der Lausitz seit dem Mittelalter beheimateten westslawischen Minderheit mit eigener Sprache und Kultur. Er berichtete, dass auch seine Minderheit rechten Bedrohungen ausgesetzt ist. Wie verrückt ist es, bitte schön, eine in Deutschland beheimatete Ethnie, die großen Wert auf Tradition und den Erhalt ihrer Kultur legt, anzufeinden? Sind es doch gerade die Sympathisant:innen der AfD und der extremen Rechten, die angeblich besonders viel Wert auf Traditionen und das Bewahren legen. Seit über tausend Jahren gehören die Sorben zur Lausitz. Das völkische Gedankengut der extremen Rechten bereitet dem Vorsitzenden des sorbischen Dachverbands Domowina, Dawid Statnik Sorgen. Die AfD sieht ihre Aufgabe darin, Deutschland als »Heimat der Deutschen« zu bewahren. »Dass es auch die Heimat von uns Sorben ist, wird an keiner Stelle erwähnt.«25 Statnik erinnert auch an Hakenkreuzschmierereien am Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen zu einer Zeit, als dort just ein Stück über eine sorbische Jüdin lief.26

Trotz allem kann ich wirklich sagen, dass wir mit einem guten Gefühl die Lesung beendet haben. Es war stressig und beängstigend, aber bei uns überwog der Stolz, der Bedrohung getrotzt und unser Ding durchgezogen zu haben.

Abenteuerlich gestaltete sich dann noch die Abreise. Zunächst versuchten wir, die jungen Leute, die zu Fuß gekommen waren, auf Autos aufzuteilen, damit niemand in die Situation gerät, in einer dunklen Gasse einem Trupp von Faschos zu begegnen. Ich hatte eigentlich geplant, von Bautzen direkt wieder zurück nach Halle zu fahren, was dann aber doch zu unsicher gewesen wäre. Deshalb eskortierten mich die Securities in zügigem Schritt zum Auto – ein absolut verrücktes Gefühl –, dann fuhren wir sofort los, nach Dresden.

Auch wenn diese Lesung quasi gut ausging, überkommen mich trotzdem immer wieder dunkle Gedanken, und ich zweifle an mir, dem gut gelaunten Typen, der jeden Strohhalm der Hoffnung ergreift, um sich daran aufzurichten. Dann frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn die AfD hier und anderswo, in den Ländern oder im Bund regieren würde, auch wenn es diesmal noch nicht dazu gekommen ist. Wie wäre es, wenn sich der Hass auf Geflüchtete und Linke wie mich und meine Mitstreiter:innen noch stärker entlädt? Würde ich offiziell zum Volksfeind erklärt, der ich für einige ohnehin schon bin? Würde die linke Subkultur, die ich so sehr schätze und liebe, als »entartet« gebrandmarkt? Bekämen wir ungarische Verhältnisse? Würde eine AfD-Regierung den Rechtsstaat zertrümmern und die Medien an die Leine legen, wie wir es in osteuropäischen Staaten und in Italien erleben, wo rechte und »postfaschistische« Parteien das Sagen haben? Würde das ohnehin schon beschränkte Recht auf Asyl gänzlich abgebaut, würde man Mauern um Deutschland bauen? Und wäre all das dann wirklich nur ein Problem für Ostdeutschland?!

2 Deutschland in Blau

Was war ich motiviert! 300 Menschen hatten sich am 15. März 2019 am Zwickauer Bahnhof versammelt, um anlässlich des globalen Klimastreiks nach Chemnitz zu fahren. Damals glaubte ich fest daran, dass sich endlich etwas Gewaltiges in Gang gesetzt hätte. Zusammen hatten wir eine Ortsgruppe von Fridays for Future gegründet. Wir demonstrierten für Klimagerechtigkeit, ob bei uns in Zwickau oder in größeren Städten. Ältere rot-rot-grüne Kommunalpolitiker:innen am Rande der Demos hatten Freudentränen in den Augen. Wir vernetzten uns, zum Beispiel mit dem Bündnis #unteilbar, das dem Motto »Solidarität statt Ausgrenzung. Für eine offene freie Gesellschaft« folgt. Es war einfach schön! So viele setzten sich in dieser Zeit für eine gute Sache ein. Und … hatten Spaß! Was gibt’s Besseres? Es tat sich etwas – sogar in Zwickau, und für einen Moment hatten wir das Gefühl, die taktgebende Jugendkultur vor Ort zu bestimmen.

Es ist ein fast wehmütiger Blick zurück, wenn ich mir die Bilder von damals anschaue. Ein Kumpel und ich – mit verspiegelter Sonnenbrille – am Zwickauer Hauptmarkt vor einem Wal aus Draht, der Plastik frisst. Wie sich das anhört – damals