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Andrea Piancastelli

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Der Zauber Der Medusa Zwischen Kunst, Mythos Und Legende

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Andrea Piancastelli

DER ZAUBER DER MEDUSA ZWISCHEN KUNST, GESCHICHTE UND LEGENDE

© 2017 - Andrea Piancastelli

übersetzt von Birgit Elisabeth Horn

veröffentlicht von Tektime

Copyright Andrea Piancastelli, 2017

I. Auflage Andrea Piancastelli, 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Übersetzung von: Birgit Elisabeth Horn

Für weitere Informationen: [email protected]

Titelfoto: © Roberto Bocchini, 2020

Abbildungen: Copyright-freie Bilder aus dem Web

Inhaltsverzeichnis

I. ARCHAISCHE GORGONEN

1. Schreckensmaske

2. Der Schrecken des Todes

3. Medusas Krieg: Jenseits des Schreckens

4. Zerstörung und Schutz: Medusa und die Aigis der Athene

II. KÜNSTLERISCHE WENDEPUNKTE

1. Medusa zwischen Babylon und Korinth

2. Medusa und die Ambiguität des Wassers

III. DAS KLASSISCHE ZEITALTER

1. Die Quelle des Wissens: Metamorphose eines Blicks

2. Die Kunst des Sehens: ein Überblick

3. Der Spiegel der Medusa

IV. HELLENISTISCHE UND RÖMISCHE GORGONEN

1. Die besiegte Medusa

2. Die zerstückelte Medusa: die Teile der Medusa

Fazit: Unsterbliche Medusa. Das Faszinosum des Mehrdeutigen

Einführung

1. Zeitrechnung: vom Matriarchat zum Patriarchat

2. Den Kopf verlieren

3. Die geraubte Medusa

4. Wirklichkeit oder Legende?

5. Athene und Medusa, die innere Verwandlung

6. Medusa und die weiblichen Mysterien

7. Die Macht der Medusa, die Macht der Göttin

8. Medusa und das Blut

Fazit: Die Macht der Medusa. Das Faszinosum des Mysteriums

Bibliographie

DIE AUTORIN

I. Auflage Andrea Piancastelli

DER ZAUBER DER MEDUSA ZWISCHEN KUNST, GESCHICHTE UND LEGENDE

Sterben heißt eine Maske sein, denn der ist nur die Maske eines Menschen, der nicht das Leben eines Menschen hat.

W. Shakespeare, Heinrich IV.

MEDUSA: ZWISCHEN KUNST UND MYTHOS

Einführung

Es gibt eine Verbindung zwischen dem Wort und dem Bildnis, sie fungieren beide als Überträger der menschlichen Stimme und des menschlichen Auges. Man kann den Mythos in der Kunst sehen und man kann die Kunst im Mythos lesen. Ich werde über einen Mythos sprechen, der zu sehen ist, dem man in die Augen schauen kann, ein Mythos, dessen Blick die griechischen Dichter bei seiner Beschreibung fast des Wortes beraubte. Der bloße Anblick der Figur der Medusa ist ausreichend: Ein Mythos, der angesichts der spärlichen Informationen, trotz der zahlreichen schriftlichen Quellen, der Kunst das Wort überlässt.

Es gibt viele verschiedene Definitionen des Mythos, entsprechend den unzähligen Gelehrten, die sich mit ihm beschäftigt haben: hier folgen wir der Analyse von R. Otto. Im Griechischen hat das Wort Mythos die grundlegende Bedeutung von „Rede“, etwas, das gesagt wurde. Der erste Autor, der den Begriff Mythologie verwendet, ist Platon. Für den Philosophen hatte er die Bedeutung „Geschichten erzählen oder über sie reden". Auf diese Weise erhält das Wort

Mythos die Bedeutung einer Sache, die in Form einer Erzählung, einer Geschichte geäußert wird. Aber natürlich sind nicht alle Geschichten Mythen: Mit Mythen meinen wir gemeinhin „überlieferte Geschichten", so wie die alten Griechen mit dem Wort mythoi auf die überlieferten Geschichten von Göttern und Helden anspielten.

Das ist der Moment der Entstehung der griechischen Götter: Die mythologische Überlieferung erzählt die Geschichten ihrer Taten und schreibt ihnen einen Namen und entsprechende Funktionen, eine körperliche Erscheinung und eine Reihe von Verhaltensweisen zu, die um ihre menschliche Erscheinung herum angeordnet sind. Und die Dichter errichteten mit ihren Hymnen und ihren Theogonien, Liedern, die die Entstehung der Götter feiern, ein Pantheon, das dazu bestimmt war, so „traditionell" wie der Mythos zu werden.

Unter Berücksichtigung der Studie von K.O. Müller1 erscheinen Gedankenschöpfung und Wirklichkeit, das Ideale und das Reale, in einer mythischen Erzählung oft eng verbunden, und je älter der Mythos ist, desto inniger ist in ihm das reale Element mit der Gedankenschöpfung verschmolzen. Das wird auch in der Tatsache deutlich, dass rein historische Berichte oft von denselben Umständen sprechen, die in den Mythen erwähnt werden. Der Mythos, so K.O. Müller, leitet sich also aus der Geschichte ab; er ist aber auch Ausdruck des Glaubens an die griechischen Götter, der Religion, denn in diesen Erzählungen ist der Einfluss der Gottheiten immerwährend. Zur Geschichte und Religion kämen dann seit dem Altertum „ethische" Vorstellungen hinzu, die die Grundlage von Sitte und Recht bilden und in Mythen ihren Ausdruck finden. Da der Mythos aus der Realität und der Religiosität entstanden ist, nimmt er als Mittel für eine überzeugende Kommunikation auch einen hohen Stellenwert für alle poetischen und gedanklichen Aktivitäten ein.

Der Mythos entsteht aus der Realität, aber aus der Sicht des Menschen: Deshalb sind Mythen weder einheitlich, noch logisch, noch innerlich kohärent; sie sind vielgestaltig und wandelbar wie die menschliche Seele, die sie hervorbringt. Und auch das Gegenteil ist der Fall: Der Entwicklung des griechischen Menschen folgend, misst sich der Mythos am Prozess der Rationalisierung der Wirklichkeit und der Welt; indem er Gedanken symbolisiert, bringt er eine Welt hervor, die er durch seine eigene Erzählung, durch das Wort, selbst erschafft und sein lässt. Auf diese Weise wird parallel zum normalen menschlichen Universum ein geordnetes Universum konfiguriert, das aus Göttern mit genau definierten und abgegrenzten Kompetenzen und Handlungsbereichen besteht; eine Art übermenschliche Ebene der Realität, eine Welt, die, vom Menschen geschaffen, als Mittel zur „Selbstbestätigung" seines eigenen Status als rationale und reale Person dient.

Dem Menschen bleibt das -unterdrückte- Bewusstsein der Irrationalität und Wandelbarkeit seiner eigenen Seele. Diese Gegebenheit erschreckt, ängstigt, weil es nie die Gewissheit gibt, sie vollständig gemeistert zu haben. So gibt es rund um die große olympische Familie weiterhin Konstellationen von Nebenfiguren, die schwer als Gottheiten einzuordnen sind. Sie bewegen sich in marginalen Bereichen und verwandeln hier und da den beunruhigenden und drohenden Alptraum der Unordnung in die Form einer zerklüfteten Reihe von mythischen Gemeinschaften, wie die Riesen und die Zyklopen: am Rande des Pantheons platzierte und in jedem Fall von der Anbetung ausgeschlossene Figuren.

Zu diesen Figuren gehört Medusa. Ein ambiger Daimon, der Bestürzung, ein innerliches Zusammenfahren verursacht, sobald man ihn ansieht. Und da, wo das Wort dieses Ungeheuer nicht beschreiben kann, kann die Kunst es durch ihre Bildkraft erreichen. Denn dieses Beben, das bereits durch seinen Namen ausgelöst wird, ist jedoch untrennbar mit seiner Erscheinung verbunden. Medusa kann man sehen, Medusa richtet ihren Blick auf uns. Ein ikonographischer Weg über die Angst vor der Affirmation von etwas Unkontrollierbarem, Unbeschreiblichem: die Kunst des „Doppelten", des Doppelsinnigen.

I. ARCHAISCHE GORGONEN

Abb. 1

Medusa, Relief einer kykladischen Amphore aus Theben, 670 v. Chr., Paris, Louvre.

1. Schreckensmaske

Die bildlichen Quellen dokumentieren zunächst nur den Kopf der Gorgonen (gorgoneion). Von Anfang an gibt es in der Ikonographie des Monsters kein genaues ikonographisches Schema, sondern verschiedene Typen, die allgemein monströs sind und sich durch frontale Abbildungen und große Augen auszeichnen. Eine Tonmaske aus Tiryns mit großen abstehenden Ohren, kugelförmigen Augen und einem Mund mit wilden Reißzähnen, die als die Maske einer Gorgo identifiziert wurde, ist auf das Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. datierbar. Sie wurde zusammen mit anderen Masken in einer dem Heiligtum der Hera zugeschriebenen Opfergrube gefunden und befindet sich im Archäologischen Museum von Neapel2.

Wertet man diese frühen Darstellungen der Gorgo aus, so lässt sich leicht ableiten, dass Medusa als Maske entstanden ist. Aber befassen wir uns näher mit dem Bedeutungsinhalt der Maske. Wenn wir die Definition von H. Pernet verwenden, ist eine Maske „im strengen und üblichen Sinne des Wortes ein falsches Gesicht, hinter dem man sich versteckt, um sich zu verkleiden"3. Mit anderen Worten, es ist ein Mittel, mit dem man aufhören kann, das eigene Ich zu verkörpern: Indem man eine Maske trägt, verkörpert man die Macht, deren Gestalt man annimmt, um in den Besitz dieser Macht zu gelangen. Ein Besitz, der den Menschen mit dem Göttlichen überlagert und bewirkt, dass dieses Göttliche den Zelebranten in Besitz nimmt, ihn unerkennbar macht und eine Entfremdung in Bezug auf seine Identität erzeugt. Auf diese Weise erfolgt eine Vertauschung zwischen Mensch und Gottheit, eine Identifikation, die den Menschen von seiner Natur entfernt, um ihn der von der Gottheit verkörperten Andersartigkeit näher zu bringen.

Wenn wir aber die bei Ausgrabungen in Tiryns gefundene Maske, eine der ersten künstlerischen Produktionen der Gorgo, genau betrachten, können wir feststellen, dass die Löcher der Augen fehlen: Tatsächlich ist das Gesicht der Medusa eine Maske, aber sie wird nicht getragen, um die Gottheit zu imitieren; es sind keine auf Medusa bezogenen Kulte bekannt.

Abb. 2

Terrakottamaske der Gorgo Medusa, 6.-5. Jahrhundert v. Chr., aus dem Palaikastro-Tempel des Zeus Diktaian, Kreta, Archäologisches Museum Heraklion.

Vertiefen wir unsere Analyse, so entdecken wir eine weitere Funktion der Maske: die des Erschreckens. Pindar beschreibt uns die Gorgo als eine furchterregende Gestalt, von der eine scheinbar tödliche Kraft ausging4. Damit ist die besondere Funktion der Gorgo aber nicht mehr nur das Erschrecken: Es ist der Tod durch Erstarren vor dem schrecklichen Anblick. Die Starre ist typisch für alle Masken; im Mythologem der Medusa tritt diese Eigenart verstärkt als Effekt eines übermenschlichen Wesens auf, eines Gesichts, das diese Wirkung auch dann noch ausübt, wenn es vom Körper losgelöst ist. Maske und Gorgo sind nicht zu trennen, sie sind identisch. Medusa ist die Maske. Sie konnte zunächst für sich selbst existieren, ohne menschliche Träger. Der Angst eine Gestalt zuschreiben ist eine Möglichkeit, ihr einen Körper zu geben, sie zu objektivieren und sie damit erträglich zu machen. Man könnte sagen, dass die ersten Kunstwerke also nicht aus dem Bedürfnis heraus entstanden, Gottheiten zu verehren oder sich bei unsichtbaren Mächten einzuschmeicheln, sondern eher aus dem Bedürfnis heraus, die Macht der Toten zu beschwören. Religion und Kunst hätten also einen gemeinsamen Ursprung: den Anspruch, sich den Schutz des Jenseits zu sichern5.

Abb. 3

Terrakottamaske der Gorgo Medusa, 6.-5. Jahrhundert v. Chr., aus dem Palaikastro-Tempel des Zeus Diktaian, Kreta, Archäologisches Museum Heraklion.

Die Maske verbirgt, die Maske erschreckt, vor allem aber schafft sie eine Beziehung zwischen dem Menschen, der sie trägt, und dem Wesen, das sie darstellt. So wird die Maske in der Archaik aufgrund ihrer Starrheit vor allem mit den Toten verbunden. Sie schafft eine Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten: Die Einen verwandeln sich in die Anderen. Sie ist das Instrument einer vereinigenden Verwandlung. Im negativen Sinne, indem sie die trennenden Grenzen aufhebt, in diesem Fall die zwischen den Lebenden und den Toten, und das Verborgene zum Vorschein bringt. Im positiven Sinne, indem diese Freisetzung des Verborgenen, Vergessenen oder Vernachlässigten für den Träger der Maske eine Identifikation damit bedeutet. Im Falle der Medusa wird die vereinigende Verwandlung jedoch zu einer verwandelnden Vereinigung. Es ist eine Identifikation, die sich nicht überschneidet, sondern in dem Moment Form annimmt, in dem sich die Blicke treffen, und ereignet sich wie bei einem Spiegelbild6. Der Blick der Gorgo hat die gleiche Funktion, die die Maske in religiösen Riten hat. Durch den Kontakt, der beim Betrachten stattfindet, realisiert sich die Besessenheit.

Die Maske der Medusa weist zwei konstante Charakteristika auf: zum einen ihre Frontalität. Entgegen den figurativen Konventionen des Bildraumes in der archaischen Zeit, wird die Gorgo immer von vorne, frontal zum Betrachter dargestellt. Medusa schaut der Person, die sie anschaut, direkt in die Augen und verwickelt sie so in eine Art mimetische Ansteckung, indem sie in ihren eigenen Blick eintaucht.

Abb. 4

Gorgo-Applique, Bronzeplatte mit Repoussé-Dekoration, spätes 7. Jahrhundert v. Chr., aus dem Kabeirion von Theben.

Zum anderen: das Grauenhafte. Eingehende Untersuchungen der gorgonischen Masken aus der archaischen Zeit führen zu der Feststellung, dass der Aspekt der Medusa im Laufe der Zeit, auch wenn er Mutationen erfahren hat, in seiner expressiven Verzerrung eine systematische Mischung des Menschlichen und des Bestialischen bleibt und damit in die Sphäre des „Andersartigen", des „Fremden" eindringt. Die expressive Verzerrung kommt in einem vergrößerten, breiten, abgerundeten Kopf, der an eine Löwenschnauze erinnert und weit aufgerissene Augen mit starrem, durchdringendem Blick zum Ausdruck; das Haar wird zu Schlangen oder zu einer animalischen Mähne. Die vergrößerten und deformierten Ohren sitzen an einem Schädel, der manchmal Hörner hat; das höhnisch grinsende Maul nimmt die gesamte Breite des Gesichts ein und enthüllt bestialische Reißzähne oder Wildschweinhauer. Die Zunge ragt heraus und streckt sich dem Betrachter entgegen; das Kinn ist behaart oder bärtig und die Haut manchmal von tiefen Falten durchzogen7. Menschen- und Tiergestalt vermischen sich ständig in der Darstellung der Medusa und stellen sie auf die Grenze zwischen Mensch und wilde Bestie. Ihre Natur scheint sie in die Welt des Trägen und Unbelebten zu vertreiben. Ein Beispiel dafür ist die protoattische Amphore im Museum von Elefsina, die dem als Polyphem-Maler bekannten Künstler zugeschrieben wird, wo sich die Gorgonenschwestern dem Auge des Betrachters als primitives Terrakottaantlitz darbieten8.

Abb. 5

Eine der Schwestern der Medusa, protoattische Amphore aus Elefsina, Polyphem-Maler, 670-650 v. Chr., Elefsina (Eleusis), Eleusis Museum.

Es ist kein Antlitz: Es ist eine Hydria, ein Krug mit monströs hässlichem und gleichzeitig lächerlichem Aussehen. Wir befinden uns auf der Stilebene des völkischen Scharfsinns, der auf Scherze zurückgreift, um das Grauen zu beschwören. Der Kopf als spöttische und gutmütige Vase, bemalt mit raubtierhaften Attributen: übergroße, weit auseinanderstehende mandelförmige Augen und wilde Reißzähne, die sich eng aneinanderreihen. Angst wird verbannt, indem man das Menschliche, das Diese Kreaturen haben könnten, verleugnet. Das Antlitz der Gorgo ist grauenerregend, aber gleichzeitig auch grotesk. Es erweckt Angst, aber da es sich versachlicht hat, zu einer Maske versteinert ist, wird es die Zurschaustellung seiner selbst: Des Lächerlichen.

Abb. 6

Kotyle mit Gorgo, Maler des bösen Wolfs, ca. 600-585 v. Chr., Pontecagnano.

2. Der Schrecken des Todes

Abb. 7

Antefix mit Gorgo aus Murlo, 6. Jh. v. Chr., Murlo, Antiquarium Poggio Civitale.

Kehren wir nun zu den ersten Darstellungen des Dämons zurück. Wie die figurativen so beschreiben auch die literarischen Quellen zunächst nur den Kopf der Gorgo: Homer präsentiert uns Medusa als Schreckensbild9 oder als Ornament auf Agamemnons Schild10.

Odysseus findet sich im Hades wieder und fürchtet, dass Persephone ihn mit dem abscheulichen Haupt der Medusa konfrontiert. Die Odyssee präsentiert uns also eine höllische Gorgo, einen Geisterkopf, die Maske, derer sich Persephone für ihre Herrschaft über die Unterwelt bedient.

Im 11. Gesang erzählt Odysseus:

[...] Und bleiches Entsetzen ergriff mich

Fürchtend, es sende mir jetzo die strenge Persephoneia,

Tief aus der Nacht die Schreckengestalt

des gorgonischen Unholds11.

(Übers. Gottwein).

Eine monströse Gorgo, ein schwebender Kopf in der Unterwelt, unter der Autorität von Persephone. Hier weicht Odysseus zurück. Medusa ist zu Hause im Land der Toten, zu dem sie keinem lebenden Wesen Einlass gewährt. Diese Gorgo wird als Schatten präsentiert, ein darstellbarer, aber nie präsentierbarer Schatten; unter der zweideutigen Maske bewahrt Medusa ihr Geheimnis. Sie lebt unter den Toten, die von Homer als leere, kraftlose, von Dunkelheit eingefangene Köpfe beschrieben werden, die keine Erinnerungen haben, weil sie einen außerhalb der Zeit liegenden Raum bewohnen. Ihr Kopf, dessen Blick zu Stein wird, markiert die Grenze zwischen den Toten und den Lebenden und verbietet denjenigen, die noch der Welt des Lichts und der Erinnerung angehören, die Schwelle zu überschreiten12. In diesem Sinne ist sie die Hüterin des Hades, des Ortes des Vergessens. Ihre Rolle ist spiegelgleich zu der des Kerberos (Anm. d. Ü. auch: Zerberus): Sie hindert die Lebenden daran, das Reich der Toten zu betreten, Kerberos hindert die Toten daran, in die Welt der Lebenden zurückzukehren13. Eine Maske also, die die radikale Andersartigkeit der Welt der Toten, der sich kein Lebender nähern kann, ausdrückt und bewahrt. Um die Schwelle zu überschreiten, müsste man sich dem Gesicht des Schreckens stellen und sich in das verwandeln, was die Toten sind: Köpfe, leere Köpfe ohne Kraft und Glut14. Odysseus hatte diesen schrecklichen Schrecken, den die Maske der Gorgo auslöst, schon zu Beginn der Geschichte gespürt und mit denselben Worten ausgedrückt: „Bleiches Entsetzen ergriff mich"15. Was ihn damals mit Entsetzen erfüllte, war nicht die Maske der Medusa, sondern das monströse Anderssein, das sich durch sie manifestiert. Dieses „bleiche Entsetzen", das das vom Antlitz der Medusa im Menschen hervorgerufen wird, ist durch ihre Monstrosität gegeben, die direkt auf die Andersartigkeit verweist, die sie verkörpert: In ihre Augen zu schauen bedeutet, dem Tod ins Auge zu sehen, dem Leben entrissen zu werden, um nach unten zu stürzen, in die Verwirrung und das Grauen des Chaos und des Unfassbaren. Vernant16 definiert den griechischen Tod als einen Tod mit zwei Gesichtern: Einerseits erscheint er als der Gipfel des Grauens, das unabänderliche menschliche Übel; andererseits aber legt er die Grundlagen für einen Heldentod, der versucht, den Tod selbst zu besiegen, und dem dies teilweise gelingt, weil der sterbende Held für immer in der Erinnerung der Menschen lebendig bleibt. Aber eines ist sicher: Schrecklich oder glorreich, real oder ideal, der Tod betrifft immer nur die, die leben. Es ist diese Unmöglichkeit, den Tod aus der Sicht der Toten zu denken, die ihn so erschreckend macht: Wenn wir da sind, gibt es keinen Tod, und wenn es den Tod gibt, gibt es kein Wir17. Im Tod ist die Veränderung so tiefgreifend und vollständig, dass derjenige, der sie vollzogen hat, nicht mehr das ist, was er vorher war. Tot zu sein bedeutet, völlig anders zu sein. Die Richtung des Todes ist die Richtung, die zum „ganz Anderen" führt. Dem Lebenden bleibt die Beunruhigung angesichts dieses Zustandes des Nicht-Seins, der nur im Tod anderer erkannt werden kann. Der Mangel an Sein, der dem Tod innewohnt, verursacht eine natürliche Angst vor ihm18. So ist das Epos in seiner Funktion des kollektiven Gedächtnisses nicht für die Toten gemacht; wenn es von ihnen oder vom Tod spricht, richtet es sich immer an die Lebenden. Über den Tod selbst, über die Toten unter den Toten, gibt es nichts zu sagen. Sie sind jenseits einer Schwelle, die niemand überschreiten kann, ohne zu verschwinden, die kein Wort erreichen kann, ohne an Bedeutung zu verlieren. Die Verherrlichung des griechischen Heldentodes verdeutlicht den Versuch, über die unüberwindbare Schwelle hinaus den Schrecken des Chaos so weit wie möglich abzuweisen und das soziale Fortdauern dieser menschlichen Individualität zu beteuern, die sich von Natur aus notwendigerweise zersetzen und verschwinden muss19.

Abb. 8

Bronzesarkophage, mit Gorgonenkopf im Relief auf den Knien, ca. 550-500 v. Chr., aus Ruvo, Apulien.