Des Erbguts Hüterin - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Des Erbguts Hüterin E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Siegberte Streitmann, die kluge und tatkräftige Tochter eines alten Bauerngeschlechtes, gelobt ihrem einzigen Bruder vor seinem frühen Tode, das väterliche Erbe, den Eichenhof, der Familie zu erhalten. Dieses Versprechen wird ihr nicht leicht, denn es bedeutet für sie den Verzicht auf die Ausübung des Arztberufes, in dem sie die Erfüllung ihres Lebens sieht. Bald stellen sich der jungen Bäuerin ernste Schwierigkeiten in den Weg. In törichter Verblendung sucht ihre kränkliche Mutter sie zur Heirat mit dem Verwalter des Gutes zu zwingen, der seine Niedertracht hinter seinem glatten Wesen lange zu verbergen weiß. In ihrer großen Not und Einsamkeit wird ihr die Erkenntnis, dass Fleiß und Schaffenskraft nicht genügen, das Erbgut im Geiste der Ahnen zu verwalten. Tiefe Herzensfrömmigkeit und Gottverbundenheit waren es, die Siegbertes Vätern Kraft und Gnade gaben, das ihnen anvertraute Gut weise zu bewirtschaften und dem Gesinde Vorbild zu sein. Nach schweren Kämpfen gelangt auch die jetzige Herrin des Eichenhofes zu dieser Gottverbundenheit und zu einer inneren Reife, die sie befähigt, auf ihrem Posten treu auszuharren als Des Erbguts Hüterin. Die Fortsetzung heißt: … und dennoch erfülltes Leben Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Des Erbguts Hüterin

Band 10

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-131-2

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Des Erbguts Hüterin

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Des Erbguts Hüterin

Über dem mit Fichten und Tannen bewachsenen Hügel lag eine feierliche Stille, ein ernstes Schweigen, das für den, der sich im Harzwalde auskannte und etwas von dem wusste, was sich auf seiner Höhe abspielte, beredt und ergreifend war und auf den einen oder anderen schier unheimlich wirkte.

In den nahe liegenden Dörfern sprach man vom „Hügel des Todes“. Man erzählte, dass es etliche gebe, die dieses Namens wegen ihren Fuß niemals auf einen der Wege setzten, die zum Sanatorium hinaufführten. Natürlich war dies nichts anderes als eine lächerlich gesteigerte, törichte Angst, denn der sich etliche Stunden weit erstreckende Harzwald spendete mit seiner reinen, kraftvollen Luft tausendfach mehr Gesundheitsmöglichkeiten, als er Krankheitsgefahren barg. Aber es war nun einmal so, dass der „Todeshügel“ manchen ein unheimliches Grauen einflößte, so dass sie auf die nähere Bekanntschaft mit seinem schönen Wald verzichteten. Nur zu gut kannte man die Bedeutung von Fichtenhöhe, und wenn der Nachmittagszug wieder einen oder gar mehrere Patienten auf dem kleinen Dorfbahnhof ablud, und diese mit dem Auto ins Sanatorium weiterbefördert wurden, wusste man, dass längst nicht alle, die auf diese Art hinaufgelangten, auf ihren eigenen Füßen den Berg wieder heruntersteigen würden. – Dies nun war der Grund, weshalb über dem Hügel, dem der Volksmund seinen schauerlichen Namen gegeben hatte, diese Stille lag – eine atembeklemmende und doch so sprechende Stille. –

Die Visite war beendet. Doktor Kattwinkel, der leitende Arzt, schritt mit seinem Assistenten, Doktor Sorger, durch den großen, gepflegten Park, in dem Fichtenhöhe lag, seinem Privathause zu. Sie sprachen über den Patienten in Nr. 37, dem der Chef höchstens noch ein paar Tage gab.

„Schade um ihn“, sagte er, „ein prächtiger Mensch, aber ein hoffnungsloser Fall.“

Doktor Sorger begleitete seinen Vorgesetzten zum Eingang seiner Villa und schwenkte dann in den Seitenweg ein, der zum zweiten Krankengebäude führte, wo er heute die Visite allein vorzunehmen hatte.

Es riecht nach Frühling! dachte er und sog begierig den kraftvollen Erdgeruch ein, der dem Waldboden entströmte. Unwillkürlich reckte er sich und dehnte die Glieder. Frühling, Leben, Kraft! Gott sei Dank, er spürte es in sich. Gesundes Blut strömte durch seine Adern, und nichts von dem heimtückischen Gift dieser furchtbaren Krankheit, mit der alle Patienten hier behaftet waren, machte sich bei ihm bemerkbar. Es mochte sein, dass er sich mit der Zeit daran gewöhnte, täglich den Anblick der Dahinsiechenden vor sich zu haben, sie leiden und sterben zu sehen, und mitzuerleben, wie sie sich gegen ihr furchtbares Geschick in wilder Qual auf bäumten, um dann doch zu unterliegen. Jetzt aber meinte er oft, es hier, wo der Tod Dauergast war, nicht aushalten zu können. Als er vor wenigen Wochen die Assistentenstelle in Fichtenhöhe angenommen hatte, war ihm der Gedanke nicht gekommen, dass die Atmosphäre des Sanatoriums derart belastend auf ihn einwirken könnte. Nun aber, da er sah, dass es sich hier in den meisten Fällen um hoffnungslos Erkrankte handelte, um Menschen, die in andern Heilstätten bereits vergeblich Genesung gesucht und schließlich ihre letzte Hoffnung hierher getragen hatten, wollte ihn die Wucht all dieses Leides schier erdrücken. Es schauderte ihn plötzlich. Sterben, Vergehen, wo es Frühling werden wollte!

Drüben, in dem zweiten Hause, lagen solche Kranke, bei denen man wenigstens leichte Genesungsfortschritte feststellen konnte. Einige durften sich sogar bei gutem Wetter im Park aufhalten. Doktor Sorger beschleunigte seine Schritte. Es zog ihn förmlich hinüber zu den Kranken, über deren Dasein nicht dieses entsetzliche „hoffnungslos“ mit unerbittlicher Grausamkeit stand. – Um der leidenden Menschheit zu helfen, hatte er den Arztberuf erwählt und entsetzte sich doch immer wieder aufs Neue vor der Erkenntnis, wie gar oft menschliches Können versagt.

Nr. 37 – hoffnungsloser Fall! Er meinte noch die Stimme des Chefs zu hören. Eigentlich hätte er sich bereits an ein solches Urteil gewöhnt haben müssen, denn beinahe täglich wurde es über den einen oder anderen der vielen Patienten gefällt. Aber jedes Mal, wenn er es wieder hörte, war es dem jungen Mann, als griffe eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Doktor Kattwinkel hätte gewiss darüber gelächelt und ihn schwach oder sentimental genannt, obgleich er selber bestimmt nicht gefühllos zu nennen war. Im Gegenteil, er tat alles irgendwie Mögliche für seine Kranken und opferte sich buchstäblich für das Sanatorium auf, aber nie zeigte er eine weiche Regung. Er hatte erst kürzlich noch seinem Assistenten erklärt, dass er mit „Regungen“ erst gar nicht anfangen dürfe, sonst könne er keinen Tag länger in Fichtenhöhe bleiben. –

Eine Amsel sang ihr Liebeslied. Doktor Sorger blieb stehen und lauschte auf diesen ersten Frühlingsgruß, der sein Ohr erreichte, nachdem der strenge Winter endlich das Feld geräumt hatte.

Als der junge Arzt weitergehen wollte, erblickte er zu seinen Füßen eine Anemone. Behutsam pflückte er die zarte Blüte. Ich will sie Ursel bringen, dachte er. So kommt der Frühling auch zu ihr.

Ursula war eine sechzehnjährige Kranke, die im zweiten Hause lag, also kein ganz hoffnungsloser Fall. Doktor Kattwinkel hatte sie zwar zu den Schwerkranken legen wollen. Ihr Zustand war eine Zeitlang sehr bedenklich gewesen. Aber Doktor Sorger hatte gebeten, noch ein wenig damit zu warten. – Gott im Himmel, sechzehn Jahre und schon sterben! – Nein, er wollte an die Gesundung dieses jungen Menschenkindes glauben. Und er hatte es bei seinem Chef durchgesetzt. „Sie hätten nicht Arzt werden sollen“, war dessen Antwort gewesen, „aber mir soll's vorerst recht sein – so lassen Sie das Mädel hier.“ Und nun freute sich Doktor Sorger für die junge Patientin. Seit drei Tagen war das Fieber etwas zurückgegangen, und die rechte Lungenseite schien ihm plötzlich nicht mehr so bedenklich zu sein. Oder sollte sein Wunsch ihm Irrtümer vorgaukeln? Vielleicht war es doch möglich, dass sie gesund wurde.

Ursula sollte die Anemone, die erste Frühlingsblume haben. Nun aber durfte er nicht länger zögern. Es war höchste Zeit zur Visite. Doktor Sorger schritt eilig zu dem Hause derer, die von der Hoffnung lebten.

Indessen lag Martin Streitmann, der Patient in Nr. 37, blass und nach Atem ringend in seinem Bett, das sein Sterbelager sein würde. Er war Landwirt, dreißig Jahre alt. Zwei Frauen waren bei ihm in dem kleinen, hellen Zimmer mit den großen Fenstern und den freundlich gestrichenen Wänden, das ihn während der letzten vier Monate beherbergt hatte. – Am Fußende saß Katharina Streitmann, seine Mutter, eine Frau von dreiundsechzig Jahren, mit vergrämtem Gesichtsausdruck und rotgeweinten Augen. Sie trug ein schwarzes, strenges Kleid und hielt ein abgegriffenes Gebetbuch in den Händen. Aber sie betete nicht, weder in ihrem Herzen, das sich in Qual wand, wenn sie daran dachte, dass sie ihren einzigen Sohn nun hergeben sollte, noch mit den Lippen, die fest geschlossen das schmerzhafte Weinen zurückdrängten, das aus ihrem Innern hervorquoll. Abwechselnd blickte sie von dem todkranken Sohn zu der um vier Jahre jüngeren Tochter, die am Fenster lehnte und stumm hinausblickte in den von der Frühlingssonne durchleuchteten Park.

Siegberte Streitmann war eine große, kräftige Erscheinung. Sie schien, im Gegensatz zu ihrem Bruder, die verkörperte Gesundheit zu sein. Ihre Bewegungen waren ruhig und bewusst, obgleich ihre sprechenden braunen Augen bewiesen, dass sie lebhafter, temperamentvoller Natur war.

Der Bruder wandte sich mühsam zum Fenster und blickte wie in stummer Bitte hinüber, wo Siegberte in ihrem lichtblauen Kleide stand. Ein Sonnenstrahl hatte sich in ihrem reichen, blonden Haar verfangen und ließ es golden schimmern. Sie spürte die Augen des Bruders auf sich gerichtet, und wandte sich ihm zu: „Martin, möchtest du etwas?“

Da hob er die schmale Hand und winkte sie zu sich. Viel sprechen konnte er nicht mehr, aber sie wusste, was er ihr zu sagen hatte und half ihm.

„Du sorgst dich um den Hof, Martin. Ich verstehe dich. Aber du kannst ohne Sorge sein; ich übernehme ihn.“

Ruhig und sicher klang ihre Stimme durch den Raum, und ihren Worten war anzumerken, dass es sich hier nicht um eine Redensart, sondern um einen ernst gefassten Entschluss handelte.

Eine rasche Bewegung hinter ihrem Rücken ließ Siegberte in ihrer Rede innehalten. Sie wandte sich zur Mutter und sah in deren Augen, die eben noch schmerzerfüllt auf den Sohn geblickt hatten, den Schimmer eines verächtlichen Lächelns, das zwar nur für den Bruchteil einer Sekunde anhielt, aber doch lange genug dauerte, ihr zu zeigen, dass die Mutter in diesem Augenblick an ihr zweifelte. Das tat ihr weh. Aber der Ernst der Stunde war gewaltiger als die Verletzung ihres Gefühls und durchdrang sie, dass sie sich nun erst recht straffte und die Hand des leidenden Bruders wie zum Schwur ergriff: „Du kannst dich auf mich verlassen. Ich will das Erbe unserer Väter in Treue verwalten.“

Ein befreiender Seufzer entrang sich der wunden Brust des Kranken. „Es ist nicht leicht für dich“, erwiderte er, „aber ich weiß, du wirst es schaffen!“

Dann war es wieder eine ganze Weile still zwischen den drei Menschen, die alle wussten, dass es hier um ein letztes Abschiednehmen ging. Alle drei aber beschäftigten sich mit dem gleichen Gedanken, mit dem Gedanken an den heimatlichen Hof.

„Es ist eine mächtige Umstellung für dich“, hob der Sterbende mit matter Stimme an. „Aber etwas Halbes liegt dir nicht; du wirst auch dieses zu meistern wissen. Der Hof wird unter deiner Führung nicht zugrunde gehen.“

„Der Hof, das Erbgut“, gab Siegberte zurück, „ich habe nie damit gerechnet, das Vatererbe übernehmen zu sollen, aber ich weiß, es muss sein; ich bin es dir und dem Vater schuldig. Und es wird gehen!“

Es gibt ein Unglück, sagte sich Frau Streitmann. Siegberte hat sich nie für Landwirtschaft interessiert. Man kann nicht damit beginnen, wenn man schon bald sechsundzwanzig Jahre alt ist. Sie kann kaum Unkraut vom Weizen unterscheiden. Das Mitleid mit dem Jungen bestimmt ihren Entschluss. Sie mag den guten Willen haben, aber es wird nichts daraus, nein, es gibt gewiss ein Unglück. – Ach Gott im Himmel, der Hof! Und meine Kraft reicht doch nicht mehr aus!

Das Frühlingslied der Amsel drang auch in Nr. 37, das Sterbezimmer. Da flüsterte Martin Streitmann den Namen seiner Braut, die er in wenigen Wochen hatte als sein Weib heimführen wollen. Und wieder richteten sich seine Augen flehend zur Schwester.

Und sie nickte ihm zu, tapfer und trostbereit. „Ja, ich will mich auch um Heidi kümmern.“

Die Mutter schluchzte leise auf. Da wandte der Kranke mühsam den Kopf zu ihr. „Und auch um Mutter!“ hauchten seine Lippen. Um Frau Streitmanns Selbstbeherrschung aber war es nun geschehen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte in haltlosem Schmerz, während ihre Tochter auch diese Sorge dem Bruder abnahm. Nun falteten sich Martins müde gewordene Hände, als sei es ihnen erst jetzt möglich zu rasten, jetzt, da Amt und Verantwortung auf andere Schultern gelegt war.

Gegen Mittag des folgenden Tages war es. Siegberte saß Doktor Kattwinkel gegenüber und besprach mit ihm die Überführung des Bruders in den Heimatort. Martin Streitmann war in der Frühe des Morgens gestorben. Die durchwachte Nacht hatte leichte Spuren auf dem Angesicht des Mädchens hinterlassen, und wer sie kannte, hätte wohl auch den Ausdruck tiefen Schmerzes in ihren Augen wahrgenommen, ein oberflächlicher Beobachter aber mochte sich über die sachliche, bestimmte Art ihres Auftretens unmittelbar nach dem Sterben des Bruders wundern.

Entweder ist sie gleichgültig oder gar hart, dachte Heiner Sorger, der sich ebenfalls im Sprechzimmer befand und nun schon eine Weile über seine schriftliche Arbeit hinweg Siegberte, die ihm bisher keinerlei Beachtung geschenkt hatte, betrachtete. Vielleicht aber weiß sie sich auch meisterhaft zu beherrschen.

Er hatte es hier im Büro des Chefs nun schon öfters erlebt, dass Angehörige verstorbener Patienten unter der Wucht ihres Schmerzes zusammenbrachen. Er hatte seiner Art gemäß Verständnis dafür. Die Ruhe dieses Mädchens aber reizte ihn. Vielleicht hatte kein geschwisterliches Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und der Schwester bestanden. Hätte der Chef von diesen Gedankengängen gewusst, er hätte ihn sicher daran erinnert, dass er sich um nichts anderes als um die körperliche Beschaffenheit der Patienten, nicht aber um deren Familienangelegenheiten zu kümmern habe. Aber Heiner Sorger war nun einmal ein Philosoph, und als Doktor Kattwinkel für einige Minuten abgerufen wurde, nahm er Gelegenheit, ein Gespräch mit Siegberte Streitmann anzuknüpfen.

„Es tut mir leid, dass wir Ihrem Bruder nicht helfen konnten“, sagte er. Da wandte sie ihm ihr Gesicht zu, und nun erkannte auch er, dass das Leid aus ihren Augen sprach, obgleich sie ruhig und gefasst antwortete.

„Es war vorauszusehen“, sagte Siegberte. Doktor Sorger blickte sie fragend an. Sie aber fuhr fort: „Als ich von den zwei Kavernen in seiner linken Lunge hörte, befürchtete ich schon das Schlimmste und konnte nicht glauben, dass die Anwendung des Pneu noch erfolgreich sein würde, wenigstens nicht in seinem Fall. Mein Bruder hat sich in jungen Jahren zu sehr überanstrengen müssen.“

Sorger wunderte sich über ihre Kenntnisse. „Hat Doktor Kattwinkel mit Ihnen über die Art der Krankheit Ihres Bruders gesprochen, dass Sie so orientiert sind?“ fragte er.

„Nur einiges – ich studiere selbst Medizin.“

„Ah – Verzeihung!“

Der Chefarzt trat ein. Das Gespräch fand damit ein rasches Ende. Siegberte hatte bald das Notwendige geordnet und verabschiedete sich. Doktor Kattwinkel reichte ihr die Hand. „Ich bin froh, bei Ihnen so viel Verständnis zu finden. Ihre Frau Mutter scheint zu glauben, dass man ihrem Sohn hier nicht die rechte Behandlung und Pflege habe zuteilwerden lassen. Wir haben jedoch unser Möglichstes getan.“

„Das ist fraglos“, antwortete das Mädchen. „Bitte, rechnen Sie ein solches Urteil dem Schmerz meiner Mutter zu. Es war ihr einziger Sohn.“

Dann wandte sie sich zur Türe. Den jungen Arzt grüßte sie mit leichtem Neigen ihres Kopfes. Er aber stand auf und verbeugte sich. Irgendetwas zwang ihn, Achtung vor ihr zu empfinden, vielleicht war es die Art, wie sie von ihrer Mutter sprach. Selbständige, herbe Frauen waren ihm sonst nicht sympathisch, von dieser aber ging etwas seltsam Bestimmtes und zugleich Beruhigendes aus. – Er beugte sich aufs Neue über die Akten, um seine Eintragungen zu beenden, aber seine Gedanken gingen wieder einmal eigene Wege. Doktor Kattwinkels Meinung, er, Sorger, hätte nicht Arzt werden sollen, war sicher richtig. Er war ein Schwärmer, ein Dichter, kurz, alles andere als ein nüchterner Mediziner. Auf dem Wege zu seinen Patienten fand er Frühlingsblumen, lauschte er dem Sehnsuchtsgesang der Vögel. Ob sich das mit seinem Beruf vertrug? –

Die Sekretärin des Chefarztes aber löschte Martin Streitmanns Namen in der Kartothek. Nr. 37 wurde für einen neuen Patienten frei.

Es war am Tag nach der Beerdigung, früh am Morgen. Millionen Tautropfen glänzten im Grase. Über der neuerwachten Erde wölbte sich ein klarer Himmel und verhieß einen schönen Tag. Auf dem Eichenhof war noch kein Laut vernehmbar. Vor der Einfahrt und im Hof raum lagen einzelne Tannenzweige verstreut. Da und dort auch eine geknickte Blume. Es waren Spuren der vielen Kränze und Sträuße, mit denen sie Martin Streitmanns Bahre und letzte Ruhestätte geschmückt hatten. – Wie ausgestorben lag er da, der Eichenhof. Kein Wunder, man hatte seinen Besitzer hinausgetragen auf den stillen Gottesacker und mit ihm – so hätte man wenigstens in der Stille dieses Morgens glauben können – alles Leben.

Doch jetzt wurde die schwere Eichentüre, an der noch der alte eiserne Klopfer seinen Platz hatte, leise geöffnet, und Siegberte trat heraus, aufrecht, mit offenem, klarem Blick und kraftvollen Bewegungen. Hier allerdings war Leben und Lebenskraft. Einen Augenblick stand das Mädchen vor dem Hause und atmete in vollen Zügen die erfrischende, würzige Morgenluft ein. Das tat gut, das wirkte befreiend. Es war wie eine Gebärde des Empfangens, als Siegberte unwillkürlich die Hände hob. Wahrlich, dieser Morgen war ein Geschenk! Dann schloss sie sachte die Haustüre. Die Mutter durfte nicht gestört werden, sie brauchte dringend Ruhe nach den schweren Tagen, die hinter ihr lagen. Siegberte aber ging mit den ihr eigenen energischen Schritten über den großen Hof und durch die hintere Einfahrt hinaus aus dem Gehöft.

Da lagen sie nun vor ihr, die ausgedehnten Äcker und Wiesen, das Erbgut ihrer Väter, der heimatliche Boden, den ihre Vorfahren schon Generationen hindurch bearbeitet und bebaut hatten. Hunderte Male hatte sie hier gestanden, als Kind, als junges Mädchen, als Studentin, die die Ferien daheim verbrachte, im Sommer und Winter, zur Tages- und Nachtzeit. Immer hatte sie die Heimat geliebt und ihr auch in den Jahren ihres Fernseins Anhänglichkeit und Treue bewahrt. Heute aber, an diesem taufrischen Morgen, war es ihr, als befände sie sich zum ersten Mal hier. Jetzt stand sie für das Land verantwortlich an dieser Stelle, an dem Besitz, den die Hand des Sterbenden ihr an vertraut hatte; es war das Erbgut der Väter, dessen Hüterin sie sein sollte.

Besitz verpflichtet! Siegberte wusste, es war kein Kleines, was sie da übernehmen musste. – Musste? – Jawohl! Heilige Forderungen standen vor ihr, Forderungen, die kein langes Besinnen und Erwägen über Für und Wider duldeten, sondern tatkräftiges Handeln und bewussten Einsatz aller Kräfte verlangten. Wohl hatte sich Gottfried Streitmanns einzige Tochter ein so ganz anderes Lebensziel gesteckt, aber sie wusste, jetzt handelte es sich nicht mehr um die Erfüllung eigener Wünsche, es ging um weit Größeres.

Fast zweihundert Morgen Land wollten bearbeitet sein. Dazu kam der fünfzig Morgen große Waldbesitz, aus dem Nutzen gezogen werden sollte. Der saubere, geräumige Stall beherbergte zwanzig Stück Rindvieh, darunter zwei Gespanne Fahrochsen. Weiter waren da sechs stattliche Pferde. Und außerdem gehörten zum Viehbestand des Hofes zwanzig Schlacht- und Zuchtschweine und reichlich Geflügel. Ja, Arbeit über Arbeit lag vor. Aber in Siegberte wohnte ein starker Wille, diese Arbeit zu bewältigen. Und jetzt, an diesem Morgen, wo sie das Land ihrer Väter überschaute, regte sich dieser Wille und wuchs und gab ihr die Gewissheit: es wird gehen! Und das umso mehr, als Martin, ihr Bruder, alles in mustergültig geordnetem Zustand verlassen, ja noch in seiner letzten Zeit neue Maschinen an- geschafft hatte, die eine rationelle und fortschrittliche Bewirtschaftung ermöglichten.

Siegberte hatte sich nie fromm genannt, aber irgendetwas zwang sie in diesem Augenblick, die Hände zu falten. War es eine Bitte oder ein Gelübde, das aus ihrem Innern zum Himmel stieg? Woher kam ihr plötzlich die Erinnerung an das alte Wort: „Ziehe deine Schuhe aus, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land“? – Ja, heiliges Land! Der Schweiß ihrer Väter hatte es getränkt. Nun schienen sie ihr aus weiten Fernen zuzurufen: Jetzt mache du weiter, beweise, dass unser Schaffen und Ringen ums tägliche Brot nicht vergeblich war!

Siegberte war keine Schwärmerin Als sie jedoch auf das vor ihr liegende Land blickte und den kraftvollen Erdgeruch atmete, war es ihr plötzlich, als seien die braunen Ackerschollen vor ihr lebendig. Nie vorher war ihr das so deutlich zum Bewusstsein gekommen als an diesem Morgen, da sie das Land übernahm. Und während sie ihren Weg am Rande der Felder fortsetzte und der Morgen, von güldenen Strahlen der Sonne durchwirkt, sich immer klarer und herrlicher ausbreitete, hielt sie Zwiesprache mit ihrer eigenen Seele.

Die letzten Tage waren sehr unruhig gewesen. Das Sterben des Bruders, die Vorbereitungen für die Beerdigung, der Empfang der vielen Verwandten und Bekannten, die an der Beerdigung teilnahmen – das alles hatte ihr keine Zeit zum Besinnen gelassen. Überall hatte man ihrer bedurft, überall hatte sie einspringen müssen. Da die Mutter vollständig zusammengebrochen war, hatte alles auf ihren Schultern gelegen. Nun aber musste sie sich einmal innerlich zurechtfinden und all das Viele, was sich da angehäuft hatte, ordnen und jedem einzelnen seinen Platz zuweisen.

Es war Siegberte ein Bedürfnis, ihr Leben von seinen Anfängen an zu überdenken. Dafür aber war dieser stille Weg in der Frühe des neuen Morgens wie geschaffen.

Der Hof, die Heimat, das war das erste gewesen, oder sogar das einzige. Mehr und Weiteres gab es damals nicht für das kleine, blondhaarige Mädel, das im Wohnhaus, Stall und Scheune auf Entdeckungsreisen ausging und allerlei Geheimnisvollem nachspürte. Der Hof war lange Zeit ihre Welt gewesen, eine Welt, die ihr vollkommen genügt hatte. Was sich jenseits des großen Waldes und der dahinter ansteigenden Berge, die ihr damals unendlich hoch, dunkel und unheimlich vorkamen, befand, hatte sie keineswegs interessiert. Es gab zu Hause so viel zu entdecken und zu ergründen, dass man sich gar nicht nach draußen sehnte. Übrigens hätte sie es damals auch nicht gewagt, die Grenzen des väterlichen Gutes zu überschreiten, denn rings um dasselbe standen, wenngleich erst am äußersten Ende, die alten ehrwürdigen Eichbäume, nach denen der Besitz benannt war. Ihre mächtigen Kronen ragten gewiss bis an die Grenze des Himmels. Das kleine Persönchen kippte jedes Mal beinahe hintenüber, wenn es sich bemühte, zu ihnen hinaufzublicken. Aber sie flößten ihm große Ehrfurcht ein und deuchten ihm wie treue Wächter, ohne deren Willen niemand hinaus oder herein kam. –

Und etwas anderes war auch von Anfang an dagewesen: die Arbeit. – Wie atmen, essen und trinken zum Leben zu gehören schien, so war die Arbeit wohl auch etwas Unentbehrliches; denn nicht einer auf dem Hofe ließ die Hände ruhen. Nur die Sonntage bildeten eine Ausnahme, denn der Eichenhofbauer forderte Sonntagsheiligung. Die Arbeit aber wurde als Gottesgabe betrachtet. So hatte Bertel spielend gelernt, mitzumachen. Wurden von einem der Mädchen die Hühner gefüttert, so war das dreijährige Kind auf seinen festen Beinchen eilig herbeigestapft. Mit dem Ruf: „Bertel auch!“ hatte die Kleine in die gefüllte Schürze der Magd gegriffen und mit vollen Händchen laut jauchzend dem gackernden Federvolk die Körner hingestreut. Zur Zeit der Heuernte hatte die Fünfjährige nicht geruht, bis der Vater ihr eine kleine Harke gezimmert hatte und sie „mithelfen“ ließ. Etwa um dieselbe Zeit bestieg sie zum ersten Mal ein Pferd, um Reitversuche zu machen. Der Bruder, der die Anfangsschwierigkeiten der Reitkunst damals bereits überwunden hatte, half ihr dabei ritterlich.

So wurde Siegberte sehr bald mit den heimischen Gewohnheiten vertraut und wuchs unter fleißigen Menschen heran, die alles, was sie besaßen, in den Tag legten, aber auch alles, was dieser hergab, aus ihm herausholten.

Groß und ehrfurchtgebietend stand die Gestalt des Vaters vor ihrem Auge. Der Vater! Er war für sie der Inbegriff alles Guten, er war die verkörperte Wahrhaftigkeit, die Treue und Gerechtigkeit. Sein Wort galt allen im Hause als unumstößlich. Niemand hätte gewagt, sich ihm zu widersetzen. Aber er war nicht nur der Fordernde, sondern auch der Gebende, Austeilende. Gewissenhafte Pflichterfüllung belohnte er gut. Nie war er kärglich, und väterlich sorgte er für das Wohlergehen seiner Knechte und Mägde. Aus seinen stahlblauen Augen sprach ein eiserner Wille, aber auch Gerechtigkeit, gepaart mit milder Güte. Sie verehrten ihn alle, den Eichenhofbauern; seine Kinder aber liebten ihn leidenschaftlich.

Katharina Streitmann, die Mutter, war aus einem kleinen Hause gekommen. Eichenhofbäuerin zu werden, war für sie der Inbegriff höchsten Glückes gewesen. Ihrem Mann war sie in rührender Treue ergeben und setzte ihren Stolz und ihre äußerste Kraft daran, gemeinsam mit ihm sich für den Hof, das Erbe seiner Väter einzusetzen. Nie schonte sie sich und verlangte von Knechten und Mägden ebenfalls den Einsatz aller Kräfte. Sie kannte kein Nachgeben eigener Schwäche gegenüber, sie zeigte kaum je einmal eine weiche Regung und war, da mit der Zeit eine herbe Art in ihrem Wesen Obermacht gewann, vom Gesinde mehr gefürchtet, als geliebt. Aber das Rechte wollte au di sie; dafür war sie bekannt. Auch galt sie überall als tüchtige, strebsame Bäuerin.

Über den ersten fünfzehn Jahren ihrer Ehe lag ein Schatten. Sie hoffte vergebens auf Kindersegen. Ein Erbhof ohne Nachkommen – sie empfand es als Schmach und litt unsagbar unter ihrer Kinderlosigkeit. Kurz vor ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag wurde dann Martin geboren. Jetzt atmete Katharina Streitmann wie von einer Last befreit auf und fühlte sich gleichwertig mit den Bäuerinnen der Nachbarhöfe. Sie hatte dem Hof einen Erben geschenkt! Vier Jahre später kam Siegberte. Die Kinder wuchsen in einer gesunden Atmosphäre fröhlich heran. Des Vaters Lebensgrundsätze prägten sich ihnen frühe ein. Sie hießen: Bete und arbeite! Er selbst tat beides und forderte dasselbe von den Seinen. Der Hof, das Erbe seiner Väter, war ihm heilig. Er fühlte sich Gott und seinen Nachkommen gegenüber dafür verantwortlich. In diesem Sinne erzog er auch seine Kinder und weckte besonders bei seinem Sohn, der einmal den Eichenhof übernehmen sollte, das Verständnis für die Aufgaben, Freuden und Leiden, die seiner als späterem Besitzer warteten. Siegberte meinte noch heute, den Vater mit dem damals noch jungen Bruder an den Äckern, auf denen das Korn der Ernte entgegenreifte, entlangschreiten zu sehen. Manchmal hatte sie sich solchen Gängen angeschlossen und glaubte noch heute die tiefe, wohlklingende Stimme des Vaters zu hören, die zu ihr und dem Bruder, ihrem kindlichen Verständnis entsprechend, von dem Wunder des Lebens sprach, das sich vor ihren Augen in Saat und Ernte offenbarte. Ja, der Vater! – der war bei ihr gleich nach dem lieben Gott gekommen und schien ihr lange Zeit beinahe wie er, allmächtig und sogar allwissend. Es war nämlich seltsam, man konnte vor ihm nichts verbergen. Wenn seine klaren Augen unter den buschigen Brauen ruhig forschend auf eines seiner Kinder gerichtet waren, so gab es bei diesem kein Verdrehen der Wahrheit, kein Ausweichen, man machte schon gar nicht den Versuch, ihn zu hintergehen; er sah ja doch allem auf den Grund. Dazu hatte man ihn viel zu lieb, um ihn zu kränken, ihn, den Wahren, der nichts so sehr verabscheute, als die Lüge. Nur selten strafte er. War es aber doch einmal nötig, so geschah es nachdrücklich. –

Kindlichen Spielen nachzugehen, dafür blieb Siegberte wenig Zeit. Früh hieß es mitzuhelfen und sich nützlich zu machen.

„Müßiggänger haben keinen Platz auf unserem Hof“, pflegte die Mutter zu sagen. Was aber anderen Kindern Spielen und Tollen bedeutete, das wurde für Siegberte die Schule. Sie lernte ohne Mühe und mit dem größten Vergnügen. Der Vater, der die Begabung seiner Tochter bald erkannte, bestimmte, dass Siegberte einmal studieren solle. Er ahnte allerdings nicht, dass er das nicht mehr erleben werde.

Siegberte war im vierten Schuljahr, als der Weltkrieg ausbrach. Ihr Vater gehörte zu denen, die gleich in den ersten Kriegstagen an die Front gerufen wurden. Dreimal wurde er schwer verwundet, und jedes Mal genas er wieder. Dann traf ihn doch noch die verhängnisvolle Kugel, die ihn nach schweren Leidenswochen in den Tod riss. Das war zwei Monate vor Kriegsende. Frau Streitmann glaubte, diesen Schlag nicht überleben zu können. Sie hatte stets geglaubt, vor dem Schwersten bewahrt zu bleiben. Nun traf sie es doch. Und als dann die Übriggebliebenen heimkehrten, packte es sie aufs Neue. Für sie gab es keine Wiedersehensfreude: ihr blieb nur das Grab. Es schien, als habe die Kugel, die den Gatten traf, auch der Eichenhofbäuerin das Herz durchbohrt. Zur Schwermut neigend und verbittert wankte sie fortan durch ihre Tage.

Nach dem Tode ihres Mannes fand sich in seiner Brieftasche ein an sie gerichteter Brief, aus dem hervorging, dass er seinen Tod vorausgeahnt hatte. Er bat sie, nicht zu verzagen und daran zu denken, dass sie für die Kinder leben müsse. – Ja, das war ganz des Vaters Art!

Auch an den Sohn hatte er geschrieben. Siegberte würde es nie vergessen, wie Martin sich damals mit dem letzten Gruß und Vermächtnis des Vaters in sein Zimmer eingeschlossen hatte. Als er wieder zum Vorschein kam, schien er um Jahre älter. Es war, als sei er plötzlich zum Manne gereift. Aus seinen Zügen sprach ernste, zielbewusste Entschlossenheit. Von diesem Tage an übernahm er, der Achtzehnjährige, den Hof. Heinrich, der alte Knecht, stand ihm beratend zur Seite und brachte seinem Eifer und Schaffensdrang großes Verständnis entgegen. Er wusste, was in dem Jungen vor sich ging; er hatte das Erbe aus der Hand seines Vaters entgegengenommen.

Unglaubliches leistete Martin Streitmann. Seine Kraft und Zeit gehörten vollkommen dem Hof. Seine Leistungen waren erstaunlich, obwohl er bei allem guten Willen doch längst nicht die genügende Erfahrung besaß, die das große Gut verlangte. Aber er hielt durch und wusste sich zu behaupten. Selbst die Mutter richtete sich nach und nach an der Tatkraft ihres jungen Sohnes wieder auf und warf schließlich ihre ganze Zukunftshoffnung auf ihn.

Auch Siegberte traf der Tod des geliebten Vaters hart. Das Glück ihrer Kinderzeit wurde durch ihn reichlich gekürzt. Aber ihr blieb als größtes Glück die Schule. Ihre Lehrer behaupteten, kaum je eine so lernbegierige Schülerin gehabt zu haben, und es erschien allen selbstverständlich, dass sie studiere. Ein inniges Verhältnis bestand zwischen ihr und dem Bruder, der nach dem Tode des Vaters auch für die Schwester Verantwortung fühlte, obgleich er nur vier Jahre älter war als sie.

Als Siegberte durch die bedrückenden Zeitgeschehnisse beunruhigt, eines Tages mit Martin über ihre Zukunft sprach und ängstlich den Gedanken berührte, ob ein jahrelanges Studium für sie überhaupt durchführbar sei, zerstreute er alle ihre Bedenken in zuversichtlicher Selbstverständlichkeit. „Natürlich studierst du, es war doch Vaters Wille, und wir werden es schon schaffen“, sagte er. Sie atmete auf und sah ihn dankbar an. Es wäre sie hart angekommen, hier verzichten zu müssen. Sie hatte sich von Anfang an entschlossen, Ärztin zu werden, und im Gedanken an dieses Ziel war sie ein froher Mensch geworden. Eines nur bedrückte sie oftmals. Die Mutter teilte ihre Freude an dem erwählten Beruf nicht. Sie fand es überflüssig, dass so viel Geld für das Studium der Tochter ausgegeben wurde. Martin, ja, der schaffte wenigstens etwas, und seine Arbeit brachte etwas ein. Siegberte hätte ihm auf dem Hofe helfen sollen, bis sie sich mit einem reichen Bauernsohn aus der Umgebung verheiraten würde. Aber so ein Stadtfräulein, nein, das behagte ihr nicht. Martin versuchte, ihr diese engen Ideen auszureden. „Lass Siegberte!“ sagte er. „Es war doch auch Vaters Wille, dass sie studiere.“

„Ich sage ja auch nichts“, erwiderte die Mutter dann wohl in müdem Ton. „Mir soll's auch so recht sein.“

Martin Streitmanns Fleiß und Treue blieben nicht unbelohnt. Segen und Erfolg begleiteten seine Arbeit, die er im Sinne des Vaters fortsetzte.

Die Mutter wünschte, dass er heirate. „Es muss eine Frau ins Haus“, sagte sie. „Ich selber bin am Ende meiner Kraft, und Siegberte zählt nicht.“

Der Sohn aber zögerte. „Erst wenn ich die Rechte gefunden habe.“ Als er ihr dann aber seinen Entschluss mitteilte, Adelheid Wolkhardt, die jüngste Tochter des verstorbenen Dorfschullehrers, zur Frau zu nehmen, passte ihr dieses gar nicht.

Sie begehrte auf: „Was kann solch zierliches Ding dir nützen? Du brauchst eine starke und auch eine wohlhabende Frau, die vor allem versteht, in einem Gehöft, wie das unsrige es ist, ihren Platz als Bäuerin auszufüllen und sich bei den Leuten durchzusetzen.“

Er aber ließ sich nicht beirren, und da sie wusste, dass Widerstand hier erfolglos war, schwieg sie. Zu sehr glich er seinem Vater, der sich von einem einmal gefassten Entschluss durch nichts und niemand hätte abbringen lassen.

Im Sommer dieses Jahres hätte die Hochzeit stattfinden sollen. Da packte ihn, den einzigen Sohn und Erben des Eichenhofes, die heimtückische Krankheit. Ihre Anzeichen musste Martin schon längere Zeit bemerkt haben, nahm sie aber nicht weiter wichtig. Als er endlich ärztlichen Rat suchte, war es längst zu spät. Wohl wurde alles Menschenmögliche getan, um die kranke Lunge zu heilen; aber es war vergebens. Noch ehe der Bruder das Furchtbare erfasst hatte, war sich Siegberte über die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes klar.

Und nun sollte sie den Hof übernehmen! Wie so ganz anders war alles gekommen, als sie gedacht hatte! Sie stand vor dem Abschluss ihres Studiums und hatte sich gefreut, in etlichen Jahren eine eigene Praxis gründen zu können. Was der Entschluss sie gekostet hatte, auf alle diese Pläne Verzicht zu leisten, wusste allein Gott. Aber nicht einen Augenblick waren ihr Zweifel gekommen. Sie hätte es nicht verantworten können, den Eichenhof einem Fremden zu übergeben – das Erbe, in das die Väter Gut und Blut gesenkt. Undenkbar, dass ein anderer den Acker bearbeiten sollte, den Vater und Bruder gepflügt hatten! Undenkbar, dass ein Fremder über den Hof bestimmen würde, der einst ihrer Führung an vertraut war! Mutters Kraft reichte bei weitem nicht aus. Also kam nur sie in Frage. Das bedeutete aber den Verzicht auf den Beruf, der ihr als höchstes Lebensziel vorgeschwebt hatte, denn beides, Bäuerin und zugleich Ärztin zu sein, war nicht zu vereinen. Jeder dieser beiden Plätze würde einen ganzen Menschen, den Einsatz aller Kräfte fordern.

Als dann die Stunde kam, da Martin schied, stand ihr Entschluss fest, gereift in Tagen und Nächten ernstlichen Ringens und Erwägens. Sie würde den Eichenhof übernehmen, das Erbe verwalten im Sinne des Vaters und des Bruders, die beide ihr Letztes dafür gegeben hatten. Wohl hieß es nun für sie, ein neues Studium zu beginnen, denn zur Übernahme des Hofes waren mehr Kenntnisse nötig, als sie bis dahin besaß; ein gründliches Kennenlernen ihres neuen Aufgabengebietes war jetzt unerlässlich. Sollte sie nun einmal Bäuerin sein, so wollte sie es recht sein. Aber ein anderes stand ebenfalls als fester Entschluss vor ihr: sie würde ihr Studium und auch das praktische Jahr vorher beenden, ehe sie dem Hof ganz gehören würde. Es wäre ein Jammer und ein nie einzubringender Verlust, so kurz vor dem Ziele abzubrechen. Sicherlich würde sie ihre medizinischen Kenntnisse auch später dann und wann verwerten können.

Jetzt blieb Siegberte stehen. Die Sonne war nun über den Bergen emporgestiegen und hatte die Landschaft voll in ihr goldenes Licht getaucht. Heimat! dachte Siegberte, Heimat! Sie empfand diesen Morgen aufs Neue als ein Geschenk. Sie war einen weiten Weg gegangen! Bis in ihre ersten Kindheitstage hatte er sie geführt! Und nun schaute sie noch einmal über das Land hin – über ihr Land. Und indem sie schaute, wusste sie, dass ein neuer Abschnitt ihres Lebens begonnen hatte.

Siegberte stand jetzt vor Gott und nahm das Land, die Heimaterde, aus seinen Händen entgegen. Sie dachte an den Vater, an den Bruder, die dem Vatererbe Treue hielten bis zum Tode. Sie wollte nicht zurückstehen und gelobte in ihrem Herzen die gleiche Treue. „Ich will des Erbguts Hüterin sein.“

Vom Kirchhof hallten jetzt sechs Schläge durch den Morgen. Erwachendes Leben mit dem Geräusch des Schaffens erfüllte den jungen Tag.

Ohne dass Siegberte es eigentlich geplant hatte, war sie in die Nähe des Gottesackers gekommen. Nun wollte sie, ehe sie zurück zum Eichenhof kehrte, doch für einen Augenblick an das Grab des Bruders treten. Schon von weitem sah sie Adelheid, die Braut Martins, dort stehen. Leise trat sie hinzu. Da wandte die andere den Kopf und warf sich mit wehem Aufschluchzen an die Brust Siegbertes, die ihr längst Schwester geworden war.

„Heidi!“ Leise und beruhigend streichelte Siegberte den blonden Kopf an ihrer Schulter. Still standen sie so eine ganze Weile am Grabe dessen, den sie beide geliebt. Wie grausam war doch der Tod!

„Wann fährst du wieder?“ fragte schließlich die jüngere.

„Schon nächste Woche“, erwiderte Siegberte, „aber vorher sollst du von meinen Plänen wissen.“

Auf dem Eichenhof war das Leben ebenfalls erwacht, als Siegberte von ihrem reichen Morgengang zurückkehrte. Franz, der zweite Knecht, war mit dem Hütejungen im Stall beschäftigt, aus dem soeben Lene und Hanne mit frisch- gefüllten Milcheimern traten. Beide Mädchen waren schon etliche Jahre auf dem Hof und zuverlässig. Auf dem Vorplatz begegnete ihr Hinnerk, der Altknecht. Er war schon Vaters rechte Hand gewesen zu der Zeit, da Siegberte noch ein Kind war. Obwohl er jetzt als Sechsundsiebzigjähriger am Ende seiner Kraft war, hätte sie den treuen Alten doch nicht missen mögen.

„Guten Morgen, Siegberte!“ grüßte er. „Die Frau hat schon nach dir gefragt.“

„Ich will gleich zu Mutter gehen“, erwiderte sie. „Du musst wissen, dass ich heute schon einen weiten Weg zurückgelegt habe. – Ich habe mir mein Land besehen.“

Der Alte, dessen Rücken von schwerer Arbeit gebeugt war, musste zu ihr emporblicken, wenn er mit ihr sprach. Er liebte Siegberte wie eine Tochter. Plötzlich streckte er ihr die zitternde, schwielige Hand hin: „Mit mir kannst du rechnen, solange ich mich noch auf den Füßen halten kann.“

Sie erwiderte seinen Händedruck. „Das weiß ich, Hinnerk, und ich danke dir. Nun darf ich aber Mutter nicht länger warten lassen.“

In der Küche hantierte Minchen, eine entfernte Verwandte, am Herd. Ihres Fußleidens wegen vermochte sie keine andere als die Arbeit im Hause zu verrichten. Das aber geschah pünktlich und genau. „Der Kaffee ist fertig“, rief sie Siegberte zu.

„Ich will heute mit Mutter allein frühstücken“, erwiderte diese. „Bringe doch das Geschirr in ihr Zimmer. Wir haben einiges zu besprechen.“

„Wo bleibst du nur?“ murrte Frau Streitmann statt jeder Begrüßung. „Das kann ja in Zukunft gut werden, wenn du des morgens so lange im Bett liegst.“

„Ich bin schon seit halb fünf Uhr auf“, war Siegbertes Antwort. „Und wie hast du geschlafen?“

„Gar nicht! Kein Auge hab ich zugetan. Die Sorge, was nun werden soll, lässt mir keine Ruhe.“

Minchen trug das Kaffeegeschirr herein, und Siegberte setzte sich zur Mutter. „So, nun wollen wir zusammen frühstücken. Dabei lässt sich über manches reden.“ Sie goss den Kaffee in die Tassen und fuhr fort: „Du musst dich wirklich jetzt nicht unnötig sorgen, wenn ich auch notwendigerweise noch eine Zeitlang fort muss.“

Frau Streitmann unterbrach sie erregt: „So bestehst du doch darauf?“

„Ja, Mutter, aber ich komme zurück.“

Da jammerte diese: „Ich hab's gewusst, gleich als du dem Martin so große Versprechungen gemacht hast. Ich hab gewusst, dass nichts dahintersteckt. Das hab ich kommen sehen. Aber recht ist es nicht, einem Sterbenden sein Wort geben und nachher …“

Das ertrug Siegberte nicht länger. Hart zuckte es aus ihren Augen.

„Mutter, ich vergesse nicht, dass deine Nerven sehr mitgenommen sind, aber ich bitte dich doch, gehe nicht zu weit. Was ich Martin auf dem Sterbebett gelobt habe, ist mir heilig, und ich stehe heute noch genauso bewusst dazu, wie in jener Stunde. Warum ich nun aber noch einmal fortgehe, das weißt du; ich habe es dir in den letzten Tagen zur Genüge auseinandergesetzt.“

„Ach was!“ Frau Streitmann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wozu jetzt noch länger das viele Geld hinaus werfen? Was brauchst du weiter zu studieren, wenn du den Hof übernehmen willst! Den Kühen und Schweinen wirst du doch einmal nicht helfen können.“

„Aber Mutter, nimm doch Vernunft an! Du sprichst von dem vielen Geld, das hinausgeworfen wird. Siehst du nicht ein, dass ganz andere Summen verlorengingen, wenn ich nun nicht weiterstudieren würde? Alles Bisherige wäre dann doch umsonst gewesen. Nein, es behagt mir nicht, etwas Unfertiges auf die Seite zu legen. Ich mache meinen Doktor und komme dann zurück, um den Hof zu übernehmen. Du musst doch schließlich einsehen, dass dies das einzig Richtige ist.“

Aber Frau Streitmann blieb unzugänglich. „Es dauert noch länger als ein Jahr, und bis dahin ist hier alles her- untergewirtschaftet.“

„Ein Hof, der so lange in Martin Streitmanns Händen war, ist so schnell nicht herunterzuwirtschaften.“

Die Bäuerin jammerte weiter: „Denkst du denn nicht daran, dass du immer älter wirst? Du bist im Sechsundzwanzigsten und hast noch keine Heiratsaussichten.“

„Und darum sorgst du dich?“