Die zerrissene Handschrift - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Die zerrissene Handschrift E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Man kann es nicht begreifen, dass der Diakon und Jugendleiter Fred Ritter nun doch das Mädchen heiratet, das ihn bitter enttäuscht hat. Er lässt sich weder von dem Gerede noch von Warnungen beeinflussen, die ihm ein Scheitern der Ehe voraussagen. Bereits am Anfang scheinen mancherlei Hindernisse den Weg des jungen Paares zu verbauen. Nachdem Fred seine bisherige Stelle im Pfarramt aufgegeben hat, findet er aus verschiedenen Gründen nirgends ein Aufgabengebiet, das seinen Vorstellungen entspricht. Besorgt fragt er sich: Was hat Gott mit uns vor? Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Die zerrissene Handschrift

Fortsetzung zu „Alle deine Wasserwogen“Band 22

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-143-5

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Die zerrissene Handschrift

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Die zerrissene Handschrift

„Ehrlich gesagt, Herr Ritter, ich begreife Sie nicht! Nehmen Sie mir ein offenes Wort nicht übel. Wir haben doch wahrhaftig genug nette Mädchen in der Gemeinde – intelligente, ansehnliche, ja geradezu hübsche Mädchen, und ich könnte Ihnen einige der Väter und Mütter auf zählen, die sich glücklich schätzen würden, Sie ihren Schwiegersohn nennen zu können.“

Pfarrer Stehfaß machte eine Pause und blieb einen Augenblick vor seinem jungen Mitarbeiter, dem Diakon und Jugendleiter Fred Ritter, stehen, als müsse er sich der Wirkung seiner Worte vergewissern. Aber Fred schwieg, was seinen Vorgesetzten veranlasste, aufs Neue sein Studierzimmer zu durchqueren und in seiner Rede fortzufahren: „Denken Sie doch daran, was für ein Gerede es in unserem Klatschnest gegeben hat, als vor drei Jahren bekannt wurde, dass Friedegard Flemming, die Tochter des angesehenen Studienrats, von einem verheirateten Mann ein Kind erwartete, sie, die einmal Kindergottesdiensthelferin gewesen war, also in der kirchlichen Arbeit gestanden hatte. Haben Sie das denn alles vergessen?“

„Nein, Herr Pfarrer, das nicht – aber ich habe ebenfalls bis zu dieser Stunde keinen Augenblick vergessen, dass ich die junge, unverdorbene Friedegard einmal von Herzen geliebt habe. Und ob Sie das verstehen oder nicht: Nichts, aber auch wirklich nichts, nicht einmal die dazwischenliegenden Geschehnisse haben vermocht, diese Liebe in mir auszulöschen.“

„Das ist es ja, was ich nicht begreife. Jeder andere Mann hätte sich von einem solchen Mädchen empört und bis ins Innerste verletzt zurückgezogen und es aus seinem Leben gestrichen.“

„Ich hatte mich auch von ihr zurückgezogen. Sie hatte sich ja durch ihre Beziehung zu diesem Mann, der dann der Vater ihres Kindes wurde, gegen mich entschieden. Aber meine Liebe zu ihr blieb bestehen. Sie wurde nur von einer tiefen Traurigkeit überschattet, einer Traurigkeit darüber, dass Friedegard sich soweit verirren und derart vergessen konnte. Als dann dieser Mann sie und ihr Kind kaltblütig im Stich ließ und ich sie hilflos und schutzlos preisgegeben wusste, erwachte die Liebe zu ihr aufs Neue in mir.“

„Und Sie glauben, dass Sie ihr den Fehltritt vergeben und ihn vergessen können?“

„Weil ich sie liebhabe – ja.“

„Herr Ritter, ich fürchte, Sie sind ein Schwärmer. Sie machen sich etwas vor. Ich könnte mir vorstellen, dass es in der ersten Zeit Ihrer Ehe gutgeht. Aber wenn dann der graue Alltag von Ihnen Besitz ergreift und Situationen kommen – und sie bleiben bei keinem verheirateten Paar aus –, wo es dem einen schwerfällt, den anderen in seiner Art zu ertragen, dann wird gerade in Ihrem Fall die Vergangenheit vor Ihnen aufstehen, und Sie werden sie bei aller Liebe nicht zum Schweigen bringen können.“

Ja, so oder ähnlich hatten sie alle reagiert, denen Fred Ritter sein Vorhaben, Friedegard Flemming zu heiraten, anvertraute – alle, mit Ausnahme seiner Mutter. Sie hatte ihn eine ganze Weile still angeblickt, nicht ohne eine gewisse Traurigkeit, aber voller Liebe und Vertrauen.

„Es ist kein leichter Weg, den du wählst, mein Junge. Er wird über Vorurteile, Spott, schlimmste Prophezeiungen, ja sogar Gehässigkeiten führen. Es mag sogar sein, dass sich einige deiner Freunde von dir zurückziehen. Aber ich weiß, dass du mit all diesen Möglichkeiten gerechnet und diese Entscheidung nicht unüberlegt getroffen hast.“

„So ist es, Mutter.“

„Wenn du bereit bist, dies alles auf dich zu nehmen, dann will auch ich mein volles Ja dazu geben und Gott bitten, dass er eure Ehe segnet.“

„Ich danke dir, Mutter“, hatte Fred geantwortet, „und auch Friedegard wird es dir zu danken wissen; denn sie ist sich der auf uns zukommenden Schwierigkeiten wohl bewusst. Glaub mir, sie hat lange gezögert, ehe sie sich bereit erklärte, meine Frau zu werden.“

„Bring sie mir bald, meine zukünftige Schwiegertochter. Ich will ihr und dem Kind mein ganzes Herz auf tun.“ So und nicht anders hatte diese Frau reagiert, die im Leben schon so manches Schwere durchzumachen gehabt und es gemeistert hatte; sie, die als Witwe damals im Krieg mit zwei kleinen Kindern allein stand, nachdem ihr Mann gefallen war, und die dann bei einem Fliegerangriff ihr Töchterchen verloren hatte. Unter Qualen war das Kind in ihren Armen gestorben. In unsagbarem Schmerz, doch mit der Kraft ihres Gottvertrauens, hatte sie über dem Kindergrab einen Stein aufrichten und die Worte einmeißeln lassen: Gott weiß, warum! Auf einem anderen Grabstein dagegen, unter dem ebenfalls ein Kind lag, war vor einer zum Himmel erhobenen Faust nur das Wort „Warum?“ zu lesen.

So vermochte Frau Ritter auch jetzt stille zu sein und Gott zuzutrauen, dass er den Entschluss ihres Sohnes segnen und alles zum Besten wenden werde. Zwar hatte sie sich in stillen Stunden ausgemalt, dass Fred ihr einmal eine Schwiegertochter mit einem tadellosen Ruf ins Haus bringen würde, ein Mädchen, das sich vor der Ehe keinem Mann hingegeben hatte, wie man es zu ihrer Zeit im allgemeinen für selbstverständlich hielt. Aber sie wusste ja, dass man darüber heute anders dachte.

Als Fred sich vor vier Jahren mit der Tochter des inzwischen verstorbenen Studienrats Flemming angefreundet hatte, war sie darüber erfreut gewesen. Im Kirchenchor, in der Jugendarbeit und als Kindergottesdiensthelfer waren sie immer wieder zusammengetroffen. Ein frischfröhliches, wenn manchmal auch ein eigenwilliges Geschöpf war diese Friedegard gewesen. Fred hatte damals fest damit gerechnet, dass aus dieser Freundschaft eine Verbindung fürs Leben werden würde.

Niemand hatte darum verstehen können, was die eigentliche Ursache war, dass Friedegard sich dann plötzlich von Fred zurückzog. War es Eifersucht gewesen? Hatte sie es nicht ertragen, dass er als Jugendwart und Diakon sich auch um andere Mädchen kümmern musste? Nie war er dabei unkorrekt gewesen. Stets hatte er seine Grenzen gewahrt. Allerdings war es Frau Ritter aufgefallen, dass Friedegard einige Male bei verschiedenen Anlässen recht trotzig und aufbegehrend sein konnte. Doch schließlich hatte jeder irgendwelche Schwächen, die man beim Älterwerden ablegen würde. Eines Tages war Fred recht niedergeschlagen nach Hause gekommen und hatte ihr, der Mutter, gesagt, dass Friedegard die Verbindung mit ihm gänzlich abgebrochen und ihm zu verstehen gegeben habe, dass sie nie ernstlich daran gedacht hätte, sich mit ihm zu verheiraten. Es war für ihn ein herber Schlag gewesen, denn er hing mit ganzem Herzen an diesem Mädchen. Friedegard hatte sich dann auch völlig vom Gemeindeleben zurückgezogen. Sie besuchte nicht mehr die Gottesdienste, ließ sich auch im Jugendkreis nicht mehr blicken, legte ihre Aufgabe als Kindergottesdiensthelferin nieder und schien sich völlig anderen Kreisen zugewandt zu haben. Man erzählte sich in der Stadt, dass sie sich von ihrem Elternhaus ebenfalls losgesagt habe und im Hause eines Rechtsanwalts, bei dem sie als Sekretärin arbeitete, ein eigenes Zimmer bewohne. Etwas später lief das Gerücht um, Friedegard Flemming gehe mit einem verheirateten Mann, der als leichtfertig bekannt war. Ein solches Gerede fand natürlich in der kleinen Schwarzwaldstadt fruchtbaren Nährboden. Bald darauf war es nicht mehr zu verbergen, dass Friedegard ein Kind erwartete. Nun entrüsteten sich selbst diejenigen, die sonst wahrlich keine Moralisten waren – wohnte doch die Frau des Mannes mit ihren kleinen Töchtern im gleichen Ort, so dass Friedegard ihr unter Umständen immer wieder begegnen konnte. Noch bevor das Kind geboren wurde, hatte Friedgards Freund Hans-Jürgen Schnitter das Mädchen im Stich gelassen und sein Versprechen, sich scheiden zu lassen, nicht wahrgemacht. Er wandte sich wieder seiner Frau zu. Für Friedegards Eltern war dies alles ein furchtbarer Schlag gewesen. Man musste wohl auch darin eine der Ursachen sehen, durch die der schwer herzkranke Studienrat einen Infarkt bekam, an dessen Folgen er Monate später starb. Friedegard hatte darunter sehr gelitten und sich fast bis zur Unerträglichkeit mit Vorwürfen gequält. Mit ihrem kleinen Sohn führte sie ein sehr zurückgezogenes Leben. Der Rechtsanwalt, ein ernster und gediegener Mann, hatte sie auch nach der Geburt des Kindes weiter beschäftigt.

Fred Ritter, der seine verschmähte Liebe zu ihr nie ganz überwunden hatte und der unter dem Geschehenen mehr litt, als er zeigte, war der festen Überzeugung gewesen, dass sie sich durch den Einfluss des Mannes, der sie schließlich verführte, völlig verrannt und verirrt hatte. Die noch gänzlich Unerfahrene war auf seine Beteuerungen hereingefallen, dass sie die erste große Liebe seines Lebens sei. Er würde sich von seiner Frau scheiden lassen, zumal die Ehe mit ihr ohnehin nur noch nach dem Papier bestehe.

Später, als Friedegard erkannte, wie sie betrogen worden war, hatte sie ihr Handeln selbst nicht verstehen können. „Ich stand geradezu unter einem Bann“, hatte sie gegenüber ihrer Patentante, Frau Marie-Ann Steilknecht, in einer Stunde der Verzweiflung geäußert. „Und weil ich mein Handeln vor mir selbst rechtfertigen musste, löste ich mich von allen familiären Bindungen, gab ich die Freundschaft mit Fred auf und wandte mich auch von dem Glauben an Jesus Christus ab. Hätte ich es nicht getan, wäre ich unter der Last meiner Selbstvorwürfe zusammengebrochen. So aber brachte ich mein Gewissen zum Schweigen und redete mir ein, in dieser vermeintlichen Freiheit glücklich zu sein.“

Nachdem ihr Mann gestorben war, hatte Frau Flemming Friedegards kleinen Sohn zu sich ins Haus genommen. Zunächst hatte er mit seiner Mutter bei ihrer Freundin, Frau Steilknecht, Aufnahme gefunden, als Friedegard wieder ihrer Arbeit bei dem Rechtsanwalt nachgehen konnte. Eines Tages war Fred Ritter zu Friedegard gekommen und schnurstracks auf sein Ziel losgegangen mit den Worten: „Friedegard, wärest du bereit, meine Frau zu werden?“

Ihre Augen hatten sich wie in großem Schrecken geweitet. Dann hatte sie in ihrer spontanen Art ausgerufen, während sie tief errötete: „Du bist nicht normal!“

„Mir scheint, du nimmst mich nicht ernst“, hatte er ruhig geantwortet. „Ich habe mir das alles gut überlegt. Dass ich dich von Herzen liebe, weißt du ja nicht erst seit heute. Das habe ich dir bereits vor Jahren gesagt.“

„Aber nicht nach allem, was inzwischen geschehen ist“, hatte sie geantwortet und krampfhaft versucht, ihre aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

„Wäre ich dann zu dir gekommen?“ hatte Fred gefragt.

Da hatte sie ihm den Rücken zugekehrt. Wie damals, dachte er, wenn der Trotz über sie kam. Aber es geschah deshalb, damit er ihre Tränen nicht sehen sollte.

„Ich brauche dein Mitleid nicht!“

„Ich habe nicht von Mitleid, sondern von Liebe gesprochen.“

„Ach, rede doch nicht – du bist dir über deine eigenen Gefühle nicht klar. Und übrigens kann ich schon aus dem Grunde niemals deine Frau werden, weil ich midi nie im Leben von meinem Kind trennen würde.“

„Habe ich das von dir gefordert?“

Sie wandte ihm ihr tränennasses Gesicht zu.

„Du wolltest …?“

Aber dann hatte sie wie in Abwehr die Hände gegen ihn erhoben. „Nein – nein – das ist niemals möglich! Was glaubst du, was die Leute sagen werden – dein Vorgesetzter, der Pfarrer, und die Frommen in der Gemeinde: Hat der Ritter keine andere Frau finden können als eine – eine“, – sie hatte es wie in Selbstquälerei beinahe herausgeschrien – „die von einem verheirateten Mann ein Kind hat? – Nein, Fred, das kann ich dir nicht zumuten! Wenn ich schon an Frau Schnitter schuldig geworden bin, indem ich …“, sie sprach nicht weiter und wandte sich erneut ab.

Am heftigen Zucken ihrer Schultern hatte Fred den inneren Aufruhr wahrgenommen, der in ihr tobte. Da war er einfach zu ihr getreten und hatte sie in seine Arme genommen. „Friedegard, du darfst mir glauben, dass ich mir das alles wohl überlegt habe. Ich kenne die Vorurteile, die man mir entgegenbringen wird, ich rechne mit mancherlei unguten Prophezeiungen, aber das alles macht mir nichts aus. Ich habe mich entschlossen, kein anderes Mädchen zur Frau zu nehmen als dich, und dabei bleibe ich!“

Oh, wie gerne hätte Friedegard sich den schützenden Armen anvertraut, die sie umfangen hatten – aber sie löste sich aus ihnen und schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Fred – es geht nicht – ich darf dir nicht deine ganze Karriere verderben. Wie stellst du dir das überhaupt vor? – Hier in unseren kleinstädtischen Verhältnissen, wo jeder von jedem jedes weiß. Ein Mädchen wie ich an deiner Seite im kirchlichen Dienst! Du weißt, für einen Diakon und Jugendleiter wird es nicht zu umgehen sein, dass seine Frau ihm manches abnimmt. Man würde mich hier nicht gelten lassen. Immer wieder würden spitze und lieblose Redensarten und Bemerkungen meine Vergangenheit neu vor mir erstehen lassen und dich und mich belasten. – Nein, Fred, das darf ich dir nicht zumuten. Ich weiß, man würde mich noch viel mehr ablehnen, wie man es schon jetzt tut. Das würde dich in deiner Arbeit hindern. Du musst damit fertig werden – es ist nicht möglich.“

„Ich will aber nicht damit fertig werden. Ich will dich heiraten, Friedegard. An meiner Liebe zu dir hat sich nichts geändert. Sie ist zwar von jener schweren Zeit überschattet, aber auszulöschen vermochte sie sie nicht. Und ich will es den anderen beweisen, die unken, dass es schief gehen wird, wie unrecht sie haben.“

Friedegard hatte in großer Traurigkeit, aber doch in klarem, logischem Denken geantwortet: „Fred, wohl bist du zehn Jahre älter als ich. aber du bist immer noch ein großer Junge, der das wirkliche Leben nicht genügend kennt. In jeder Ehe gibt es Krisen. Ich würde es nicht ertragen, wenn Augenblicke kämen, in denen du es um meiner Vergangenheit willen bereust, dich an mich gebunden zu haben. – Und, Fred, ich möchte das auch meinem Kind nicht zumuten. Muss es nun schon ohne Vater groß werden, so soll es an der Schuld seiner Mutter nicht zeitlebens leiden. Ich muss alles tun, um ihm, soweit es in meiner Macht steht, eine helle, freudenreiche Jugend zu gestalten, die nicht durch mein Versagen belastet ist. – Fred, bitte, versuche mich zu verstehen, ich muss mit meinem Schicksal allein fertig werden. Diese Last kann mir auch der liebste Mensch nicht abnehmen.“

Das war das Stichwort für ihn. Mit einem Schritt war er wieder ganz nahe bei ihr. Beide Hände hatte er auf ihre Schultern gelegt: „Der liebste Mensch hast du gesagt, Friedegard? Soll das heißen – sag es noch einmal – soll das heißen –“

Da hatte sie für einen Augenblick den Kopf an seine Schulter gelegt. „Ja, Fred, ich liebe dich. Aber ich habe dir so viel Schmerz zugefügt, dass meine Liebe keinerlei Ansprüche erheben kann. Und nun bitte ich dich – geh – geh, Fred – jetzt gleich – es übersteigt meine Kraft.“

Und er war gegangen, doch mit dem festen Vorsatz, wiederzukommen. Sie aber hatte wohl die bis dahin schwerste Nacht ihres Lebens durchlitten. Sie durfte nicht auf die Sprache ihres Herzens hören, sie musste bei ihrem Entschluss bleiben. Gerade weil ich ihn liebe, darf ich ihm das nicht zumuten, sagte sie sich.

Und dann hatte er am nächsten Tag wieder vor ihr gestanden. „Friedegard, ich werde kündigen. Wir werden von hier fortziehen und an einem neuen Platz ganz von vorn anfangen. Thomas wird mein Kind sein. Ich werde ihm meinen Namen geben. Niemand wird etwas von all dem Schweren wissen, was hinter dir liegt, und du wirst an meiner Seite ein neues Leben beginnen.“

„Fred, die Vergangenheit ist nicht auszulöschen.“

„Doch, Friedegard“, hatte er in großem und liebevollem Ernst geantwortet, „denn er, Christus, hat die Handschrift getilgt, die wider uns war, und an das Kreuz geheftet. Das heißt so viel wie vernichtet – zerrissen.“

„Wo steht das?“

„In der Bibel. In Kolosser 2,14. – Und weil das so ist, hat niemand ein Recht, dir irgendeinen Vorwurf zu machen.“ Und so war es gekommen, dass Friedegard Flemming Fred Ritter das Jawort gegeben hatte.

„Hast du dir das wohl überlegt?“ hatte Peter, der Theologe, Friedegards ältester Bruder, Fred gefragt, als er erfuhr, dass dieser seine Schwester heiraten wollte. „Nicht, dass ich an ihr zweifeln würde. Friedegard ist durch große Tiefen gegangen und hat sich offensichtlich gewandelt. Sie hat auch zu Christus zurückgefunden. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass sie nun aufrecht ihren Weg gehen wird – aber vergiss nicht, du stehst als Diakon und Jugendleiter im Dienst am Menschen. Selbst wenn du mit ihr von hier fortziehen und ihrem Sohn deinen Namen geben würdest – ich fühle mich verpflichtet, dich darauf aufmerksam zu machen, dass es immer böse Mäuler geben wird, die die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Daran würde Friedegard, die trotz allem eine sensible Natur ist, zerbrechen. Und dich würde die Gehässigkeit und Bosheit der Menschen in deiner Arbeit hindern. Ist es nicht besser, du lässt Friedegard mit ihrem Kind hier im Elternhaus, und du bleibst frei von einer solchen Belastung?“

„Ich verstehe dich nicht, Peter“, hatte Fred geantwortet. „Wer anders sollte ein solches Beispiel vergebender Liebe aufstellen, wenn nicht wir Christen! Versuche nicht länger, mich umzustimmen. Friedegard und ich werden gemeinsam unseren Weg gehen. Wohin, das wissen wir noch nicht, aber Gott weiß ihn.“

„Nun wird Friedegard also doch Fred heiraten“, hatte Michaela ihrer Zwillingsschwester Gabriele mitgeteilt, als sie sich eines Tages ausnahmsweise miteinander auf dem Heimweg von der Schule befanden. Gewöhnlich hatte Gabi noch so viele Sachen zu erledigen, Verabredungen zu treffen oder ihre verschiedenen Freundschaften zu pflegen, dass ihre Schwester ohne sie heimging.

„Meinst du, mir damit eine Neuigkeit zu sagen?“ war die leicht ironische Antwort Gabrieles gewesen.

„Eine Neuigkeit nicht“, hatte Michaela ruhig geantwortet. „Dass die Besuche Freds grundlos gewesen wären, haben wir ja wohl kaum angenommen, aber bisher war von Seiten Friedegards doch immer eine gewisse Zurückhaltung zu beobachten.“

„Abgeschmackt finde ich das Ganze“, hatte die Schwester aufbegehrt. „Du bildest dir doch nicht ein, dass sie Fred heiratet, weil sie ihn über alle Maßen liebt? Wäre das je der Fall gewesen, dann hätte sie sich damals wohl kaum mit dem Schnitter eingelassen. Du darfst mir glauben, sie hat sich noch nie viel aus Fred gemacht. Wenn sie ihn jetzt heiratet, dann doch nur, weil sie mit ihrem Kind unter Dach und Fach sein will.“

„Abgeschmackt finde ich nun dich, Gabi. Lass dir sagen, dass ich die Dinge anders sehe als du. Als Friedegard noch ein junges Mädchen war und sich mit Fred befreundete, da ist er wirklich ihre erste große Liebe gewesen.“

„Dass ich nicht lache! Komm, verschone mich mit deinen romantischen Ideen. Was weißt denn du schon von großer Liebe? Du hast ja bis heute keinen Freund!“

„Mag sein, dass wir den Begriff Liebe in einem verschiedenen Licht sehen“, hatte Michaela geantwortet. „Um meine Freundschaften jedoch brauchst du dich wirklich nicht zu sorgen. Dafür hast du ja auf diesem Gebiet schon manche Erfahrungen hinter dir.“

„Aus dir spricht der blasse Neid!“

Michaela war auf diesen Einwurf nicht eingegangen. Sie kannte ja ihre Schwester, aber irgendwie hatte sie das Bedürfnis gehabt, Friedegard zu verteidigen.

„Sie war damals noch so jung und unerfahren und hat diesem Menschen, dem Schnitter, einfach vertraut. Außerdem lebte sie in dieser Zeit in einer gewissen Opposition zu den Eltern, und so konnte das alles kommen, wie es eben geschehen ist. Ich bin überzeugt, dass sie ihren Fehltritt schon ungezählte Male bereut hat.“

„Fehltritt! – Wenn ich das schon höre. Mensch, Micha – du sprichst wie eine Schwester von der Heilsarmee oder wie eine Anwärterin für ein Kloster. Was heißt denn heute schon Fehltritt? Ich sehe deine Lebensauffassung viel eher als Fehlentwicklung an. Wann wirst du nur um Himmels willen deine völlig unmöglichen und längst überholten Ideen aufgeben?“

„Ich werde nie anders über diese Dinge denken.“

„Mein herzliches Beileid! Aber das ist schließlich deine persönliche Angelegenheit. Mir jedenfalls kannst du damit nicht imponieren. Und was Friedegard anbelangt, da sehe ich schwarz. Es wird nicht lange dauern, und sie bricht aus dem frommen Käfig aus, in den ihr Herr Diakon sie sperrt, zumal er ihr bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihre dunkle Vergangenheit – wie er es sicher nennt – vor werfen wird.“

Michaela war empört stehengeblieben und blitzte ihre Schwester an: „Gabriele, du bist niederträchtig! Wer gibt dir ein Recht, so über Fred zu sprechen? Ich blicke hoch an ihm hinauf. Obgleich die Sache mit Schnitter und dass Friega von diesem Mann ein Kind erwartete ihm damals bestimmt einen Schock versetzt hat, hat er sich auf seine Liebe zu ihr besonnen und –“

„Wenn ich das schon höre! Hat sich auf seine Liebe zu ihr besonnen. Wo es um Liebe geht, gibt es meines Erachtens kein Besinnen. Da handelt man. Aber was hat es für einen Sinn, mit dir darüber zu reden! Unsere Gespräche sind ja meistens fruchtlos, und auch jetzt werden wir uns nicht verstehen.“

„Jedenfalls ist das die ganz große und bewundernswerte Liebe, die so verzeiht, wie Fred es tut. Keine neunzig von hundert würden so handeln. Und ich glaube nicht, dass es so sein wird, wie du es vorauszusehen meinst. Fred wird Friedegard wegen ihrer Vergangenheit keine Vorhaltungen machen, selbst dann nicht, wenn es zwischen ihnen zu Meinungsverschiedenheiten kommen sollte. Er hat sich das alles wohl überlegt.“

„Ach ja“, hatte Gabriele in spöttischem Ton das Gespräch fortgeführt. „Und nun will er dem verirrten Schaf helfen, den Heimweg wiederzufinden. Na, mir kann das ja alles gleichgültig sein. Ganz automatisch nehme ich je länger, desto mehr von eurer hirnverbrannten, rückständigen Lebensauffassung Abstand. Man müsste direkt dagegen demonstrieren.“

„Das sieht dir ähnlich!“ erwiderte Michaela. „Du würdest in der Tat mit einer Horde fragwürdiger Individuen auf die Barrikaden steigen, um diejenigen auszurotten, die nach eurer Meinung völlig verkalkte und veraltete Ansichten haben. Du hast tatsächlich recht, Gabi, wir leben in zwei völlig verschiedenen Welten. – Aber jetzt mal etwas ganz anderes. Hast du schon davon gehört, dass Mutti eine Einladung bekommen hat, mit Gerbrings und Tante Marie-Ann ins Allgäu zu fahren? Dort hat Herr Gerbring ein Ferienhaus gepachtet. Es liegt etwa 750 Meter hoch. Das ist gerade das, was seine Frau mit ihrem kranken Herzen verkraften kann. Im Hochgebirge könnte sie es nicht aushalten. Herr Gerbring hat Tante Marie-Ann gebeten, mitzukommen, und nun haben sie auch Mutti eingeladen. Sie wollte natürlich nicht, weil sie sagt, sie kann Thomas nicht alleine lassen. Aber diese Tage fallen doch gerade in die Osterferien.“

„Mutter könnte doch Thomas mitnehmen.“

„Eben das wollen Gerbrings und Tante Marie-Ann nicht. Sie sagen, Mutti brauche dringend Erholung, sie sehe in letzter Zeit wieder so schlecht aus.“

„Aber das Kind muss ja schließlich von irgendjemand versorgt werden. Dann soll doch Freds Mutter den Jungen nehmen, wenn er sich schon in den Kopf gesetzt hat, ihn zu adoptieren und Vaterstelle an Thomas zu übernehmen.“

„Nein, das will Friedegard nicht, solange sie noch nicht verheiratet sind. Dummerweise kann ihr Rechtsanwalt, der einige wichtige Termine hat, sie im Augenblick nicht entbehren, sonst würde sie jetzt Urlaub nehmen – aber das sind ja keine Probleme. Ich habe mich bereit erklärt, Thomas solange zu versorgen.“

„Ach, der barmherzige Samariter!“ hatte Gabriele spöttisch erwidert, „aber wie gesagt, mich betrifft das ja nicht. Ich werde ohnehin mit ein paar Klassenkameraden ins Kleine Walsertal gehen. Wir haben dort eine Hütte gemietet.“

Mit wem denn? hätte Michaela am liebsten gefragt, aber dann sah sie davon ab. Die Schwester würde ihr doch nichts sagen. Außerdem war man zu Hause angelangt, und damit fand das Gespräch ein Ende.

Frau Flemming war mit den Freunden wirklich ins Allgäu gefahren. Es kam ihr geradezu traumhaft vor. Seit Jahren sehnte sie sich danach, einmal die Ketten ihres Alltags sprengen zu können. Nicht, dass sie über die Fülle der Aufgaben, die das Leben ihr stellte, geseufzt hätte. Das Bewusstsein, gebraucht zu werden – von ihren Kindern, von ihrem Mann und nun seit zwei Jahren auch von dem Enkel – hatte in ihr eine selbstverständliche Bereitschaft zum Verzicht ausgelöst, ohne dass sie selbst sich dabei bemitleidenswert vorgekommen wäre. Dafür war auch nie Zeit gewesen.

In jungen Jahren, als ihre Kinder noch klein waren, hatte sie ihre Gedanken wohl manches Mal in die Weite geschickt: Wenn sie erst größer sind und mich nicht mehr so dringend brauchen, oder wenn mein Mann pensioniert ist, wenn wir nicht mehr so sparen müssen, dann fahren wir einmal irgendwohin. Bei diesen verschiedenen „Wenn“ war es geblieben.

Die Kinder hatten längst ein Stück von der Welt gesehen. Peter war in Israel gewesen. Friedegard hatte vor fünf Jahren eine Gesellschaftsreise nach Norwegen gemacht. Gerold verbrachte einige Male seine Sommerferien in Schweden, und die Zwillinge würden nach bestandenem Abitur mit ihrer Klasse sogar eine Studienreise nach Moskau unternehmen. Als Herbert, ihr Mann, noch lebte und im Schuldienst stand, hatte er, um sein krankes Herz zu stärken, etliche Male ein paar Wochen in einem Herzbad zubringen müssen. Immer wieder hatte er ihr versichert: „Esther, aber im nächsten Jahr fahren wir bestimmt beide zusammen in Urlaub – in die Schweiz oder nach Italien. Ganz gewiss, ich verspreche es dir! Die Kinder sollen sich einmal ohne dich behelfen. Liebe Zeit, sie sind doch nun wahrhaftig groß genug. Hab noch ein wenig Geduld! Es ist nur gut, dass wir im Schwarzwald leben – gewissermaßen mitten zwischen den Wäldern. So brauche ich wenigstens keine Sorge um deinen Gesundheitszustand zu haben; denn nirgends ist die Luft so aromatisch, so gesund wie hier bei uns.“

„Du hast recht, Herbert“, hatte sie geantwortet. „Wir leben glücklicherweise im Schwarzwald.“ So hatte sie ihr Fernweh und ihre Sehnsucht, auch einmal etwas anderes zu erleben, tapfer unter die Füße gezwungen und kein Wort davon gesagt, dass es ja nicht nur um die gute Luft gehe, sondern dass sie einfach gerne einmal Abstand genommen hätte von ihrem Alltag.

Aber dann waren die verschiedenen Schicksalsschläge ihres Daseins gekommen: Die große Enttäuschung, die ihnen damals Friedegard bereitet hatte – die schwere Zeit, in der sie sich vollständig von ihnen allen gelöst und jede Verbindung mit der Familie auf gegeben hatte. Wie war sie, Esther, damals dankbar gewesen, Marie-Ann, die mütterliche Freundin, zu haben. Dann die Sache mit Peter, der in einen fast unerträglichen Zwiespalt geraten war und glaubte, nicht mehr länger Theologie studieren zu können. Nicht an seinem Glauben, der aus dem Boden des unverfälschten, reinen Evangeliums hervorgegangen war, hatte er Schaden gelitten, aber an manchen von denen, die als Lehrer den Geist der jungen Menschen zu formen hatten, war er irregeworden.

Wie hatte sie damals als Mutter um ihren Ältesten gebangt, besonders in jener Zeit, als Peter erlebte, wie sein bester Freund, der ebenso wie er Theologie studierte und sehr sensibel war, bei all diesen Wirren der Zeit keinen Sinn mehr darin sah, weiterzuleben und einen Selbstmordversuch unternahm. Damals war wie ein rettender Engel Matthias Gerbring, der Apotheker, seit Jahren ebenfalls ein Freund ihres Hauses, zu Peter gekommen. Seine in vielen Stürmen des Lebens gefestigte innere Haltung, sein unerschütterliches Gottvertrauen, sein fester Glaube an die Sendung Jesu Christi, der für ihn das Zentrum seines Lebens war, hatte ihrem Ältesten wieder zurechtgeholfen, so dass er heute seinen Weg unbeirrt vor sich sah und das von Gott gesteckte Ziel verfolgte.

Dann war das seltsame Erlebnis mit Gerold und Susanne gekommen. Wie ein Berg hatte es vor ihr gestanden. Wie gut, dass sie nicht vorher gewusst hatte, was alles auf sie zukam – sie hätte niemals geglaubt, diese Probleme bewältigen zu können. Wenn sie heute zurückblickte, erkannte sie voller Staunen, dass Gott ihr nie mehr zugemutet hatte, als sie tragen konnte, und dass letztlich manche dieser Notzeiten zu Segenszeiten geworden waren.

Schließlich war der körperliche Zusammenbruch ihres Mannes gekommen. Wie manche Nacht hatte sie im Krankenhaus an seinem Bett gesessen, jeden Augenblick damit rechnend, dass sie ihn hergeben müsse. Auch diese Zeit hatte in ihr Erkenntnisse reifen lassen, die sie unter keinen Umständen missen wollte. Wie klein und unbedeutend war damals manches geworden, was ihr noch kurze Zeit vorher unerträglich groß und schwer erschien: kleine Disharmonien, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Ehe und anderes. Wie oft hatte sie sich mitten in der eigenen Familie, an der Seite ihres Mannes allein gelassen und unverstanden gefühlt. Geringfügige Dinge hatten es manchmal vermocht, den Frieden des Hauses zu stören. Sie war nie der Mensch gewesen, der zornig und heftig aufbegehrte. Das überließ sie ihrem Mann, dessen Veranlagung mehr dazu neigte. Aber oft hatte sie resigniert, bitter, nicht liebevoll wartend geschwiegen und ihren beiden Jüngsten, besonders der heftigen Gabriele, Ursache gegeben, zu behaupten, es sei absolut nichts mehr mit ihrem Familienleben und es dürfe sich kein Mensch wundern, wenn man außerhalb der Sippe – sie liebte solche starken Ausdrücke – einen Ausgleich suche.

Das war damals eine schwere Zeit gewesen, und doch musste Esther Flemming heute zugeben, dass diese sie einander wieder nähergebracht hatte und dass es in den Wochen, als ihr Mann fast regungslos im Krankenhaus liegen musste, zwischen ihnen zu so wertvollen, tiefen Aussprachen gekommen war wie kaum je zuvor. Sie hatten beide erkannt, dass sie seit Jahren eigentlich nebeneinanderher gelebt hatten. Sie hatten sich immer weniger zu sagen gewusst, Ohne dass sie es wollten, war zwischen ihnen eine Entfremdung eingetreten.

So hatte Gott ihren Mann durch die Krankheit beiseite genommen und in die Stille gezwungen. Und da sie als seine Lebenskameradin ja untrennbar zu ihm gehörte, war sie zwangsläufig mit hineingezogen worden in diese ihm auferlegte Stille und in die Zeit des Wartens, die dann zu einer Zeit des Reifens wurde. Keine der Stunden am Krankenbett ihres Mannes hätte Esther missen mögen. Rückblickend meinte sie zu erkennen, dass diese von größerem Wert gewesen seien als diejenigen der Freude und des Glücks, die sie natürlich auch erlebt hatten. Gemeinsam hatten sie in jenen Monaten die Lasten auf sich genommen, die ihnen durch das Verhalten ihrer Kinder zugewiesen worden waren, und sich darunter gebeugt.

Wohl hatte Herbert Flemming das Krankenhaus wieder verlassen dürfen und die Wochen, die er noch zu Hause verbrachte, waren wie das milde Abendrot eines sinkenden Tages gewesen. Dann hatte er sie ganz still verlassen – so still, dass sie, seine Frau, die neben ihm im Bett lag, es nicht einmal bemerkt hatte, als er von ihr ging. – Das war nun etwas mehr als zwei Jahre her.

Auch diese Zeit blieb nicht ohne Probleme. Esther war sich längst darüber klar, dass immer wieder neue Anforderungen an sie gestellt würden. So hatte sie nach dem Tode ihres Mannes den kleinen Thomas, Friedegards Sohn, zu sich genommen, weil seine Mutter berufstätig sein musste. Und da sie noch die beiden jüngsten Töchter, die jetzt acht zehnjährigen Zwillinge, zu versorgen hatte, bedeutete es in keiner Weise ein Opfer, wenn noch der Kleine hinzukam, der ohnehin vom ersten Tag an die Freude aller Familienglieder und Freunde gewesen war.

Nein, auch jetzt fand Esther keine Zeit, sich sehnsuchtsvollen Grübeleien hinzugeben. Der Traum, einmal nach Italien oder in die Schweiz zu fahren, war längst ausgeträumt. Allein, ohne Begleitung eine solche Reise zu unternehmen, wäre ihr nie eingefallen. Von jeher hatte sie jemand gebraucht, mit dem sie nicht nur das Leid, sondern auch die Freude teilen konnte. Ihre Kinder aber waren entweder so beschäftigt oder bereits mit anderen Menschen so stark verbunden, dass ihnen kaum noch der Gedanke gekommen wäre, die Mutter könnte sich über eine gemeinsame Reise mit ihnen freuen.

Sie, Esther, hatte sich längst damit abgefunden.

Nun saß Frau Flemming an ihrem Schreibtisch, der am Fenster des Gaststübchens in Gerbrings Ferienhaus stand, und blickte hinaus in die schöne Landschaft. „Hier ist Ihr Zimmer“, hatte Herr Gerbring gesagt, nachdem sie ihr Ziel erreicht und seine Frau behutsam auf die Couch in dem gemütlichen Wohnzimmer gebettet hatten. Esther war mit ihm von einem Zimmer zum anderen gegangen.

„Wie schön!“ hatte sie glücklich ausgerufen. „Da ist sogar ein Schreibtisch. Solange ich denken kann – nein, das ist übertrieben, seit ich erwachsen bin, habe ich mir immer einen solchen gewünscht. Nach meiner Verheiratung benutzte mein Mann täglich unseren Schreibtisch. Er brauchte ihn zum Korrigieren der Hefte seiner Schüler und bei anderen Arbeiten. Später hatten wir sogar einen zweiten Schreibtisch, aber der wurde dauernd von den Kindern beschlagnahmt, besonders als die Söhne studierten.“

„Na, seh'n Sie“, hatte Herr Gerbring erwidert. „Immer, wenn Sie hier sind, soll dies Ihr eigener Schreibtisch sein, und niemand darf Ihnen diesen Platz streitig machen.“

Sie hatte sich so darüber gefreut, dass sie gar nicht antworten konnte. Und während ihr Blick durchs Fenster eilte, hinüber zu den weitausgebreiteten grünen Wiesen, die sich bis an die Türschwelle des Ferienhauses und weiter bis zu den sanft ansteigenden Hügeln erstreckten, überdachte sie die soeben gehörten Worte noch einmal: „Immer, wenn Sie hier sind …“ Das klang ja gerade, als habe er vor, sie des Öfteren einzuladen, gemeinsam mit ihnen Tage der Erholung im Allgäu zuzubringen. Im Laufe der arbeitsreichen und problemgeladenen Jahre hatte sie ihre Erwartungen und Lebensansprüche ziemlich heruntergeschraubt – nicht immer ohne inneres Aufbegehren, aus dem mit der Zeit dann Ergebenheit geworden war. Aber seit der Krankheit ihres Mannes vermochte sie über vieles innerlich ruhig zu werden und empfand solche Überraschungen als doppelt kostbar. Wenn es nun auch nur das Allgäu war und das Ferienhaus der Freunde nicht einmal zwischen hohen Bergen lag, wie etwa die Häuser im Walsertal, so dachte sie doch nicht im geringsten daran, zu vergleichen. Nein, sie genoss ihr Hiersein in vollen Zügen und freute sich auf den Gedankenaustausch mit den Freunden.

Wie wohltuend war die Stille, die sie hier umgab. Es war Frühherbst. Zwischen den dunklen Tannenwäldern leuchteten die von der Sonne beschienenen Lärchenbäume wie pures Gold und belebten das Bild der friedlichen Landschaft. Was Esther als besonders wohltuend empfand, war die Weite, die sich vor ihr auftat. Gewiss, sie hatte den Schwarzwald im Laufe der Jahre lieben gelernt – die stillen Wege durch den tiefen Wald, das Rauschen der Tannen, das Aroma der nach Harz duftenden Luft. Und wenn man auf die Höhe, etwa zur Baumwiese, stieg, gab es auch dort manch wunderschönen Weitblick. Aber das bedeutete für sie, die mit ihrer Familie unten im Kurort wohnte, immer erst einen Aufstieg von wenigstens einer Stunde. Dazu fühlte sie sich oft einfach zu verausgabt. – Hier aber war beglückende Weite. Sie meinte, freier atmen zu können. Am liebsten hätte sie am offenen Fenster die Arme weit ausgebreitet, um all die Schönheit tief in sich aufnehmen zu können.

Seitlich neben dem Fenster streckte eine mächtige alte Esche ihre weit ausholenden Äste empor. Einige reichten sogar ein Stück über das Dach des Ferienhauses hinaus, als wolle der Baum es unter seine Fittiche nehmen. Ein Eichhörnchen turnte um seinen Stamm herum. Geschmeidig und wendig hüpfte es von Ast zu Ast und ließ sich keineswegs durch die Frauengestalt stören, die in Bewunderung versunken hinter ihrem kleinen, zierlichen Schreibtisch am offenen Fenster stand.

Und die Wolken! – dachte Esther – „die Wolken“. Sie sprach diese Worte leise vor sich hin. Immer schon hatten die verschiedenartigen, flüchtigen Gebilde, die ein Windhauch verändern oder gar zu zerstören vermochte, sie gefesselt.

Plötzlich erinnerte sie sich eines Gedichtes von Marti Lang-Sommer, das sie einmal gelesen hatte und von dem sie sehr beeindruckt gewesen war:

Weit ist der Himmel – wolkenbesät, und mitten im Raum der Baum nur steht.

Er steht, er lebt!

Ein Wölklein strebt so leicht nur drüberhin.

Und andere jagen – eilen.

Es gibt kein Verweilen.

Der Baum aber stehet mitten im Raum.

Und die grünen Zweige zum Himmel ragen. – Und siehst du den Baum, so hörst du ihn sagen: Was eilt ihr so – was treibt ihr dahin, ihr Sommerwolken – wohin steht der Sinn?

Weit – weit – in die unendliche Ferne!

Höher hinauf, bis an die Sterne! –

Ach, beides könnt ihr nicht erjagen, und wolltet im Flug ihr das Leben wagen.

Denn Ferne wird auch einmal Nähe sein.

Was bleibt dann, als eure Sehnsucht allein!

Und die Sterne hält Gott selbst in der Hand.

Ein Traum nur, wo immer der Sinn danach stand. Ich stehe im Raum – schweigend und still und frage allein, was Gott nur will.

Die Krone in Wind und Wetter erhoben, Gott zu gefallen – Gott zu loben.

Dies macht mein Leben reich und schön, und darum bleibe ich stille stehn mitten im weitbewegten Raum.

Was sagt er dir – der stille Baum?

Esther warf noch einen Blick auf die alte Esche mit ihren weit ausholenden Ästen. War es nicht gerade, als habe der Baum soeben zu ihr gesprochen? Einem raschen Impuls folgend, setzte sie sich an den Schreibtisch – an ihren Schreibtisch. Ein Lächeln huschte gleich einem Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Wenigstens für die Ferienzeit gehört er mir, dachte sie und öffnete das Buch, das in feines rotes Leder gebunden vor ihr lag.

Michaela, ihre jüngste, besinnliche Tochter, hatte es ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt. „Falls du einmal eine ruhige Stunde erübrigst – dann schreibe Aussprüche oder Gedanken hinein, die in deinem Herzen gewachsen sind und die du nicht vergessen möchtest.“

Bisher hatte sie keine Zeit gefunden, Eintragungen zu machen. Fast zärtlich strich sie mit der Hand über den feinen Einband. Michaela – ich glaube, du gleichst mir am meisten von meinen fünf Kindern. Irgendwie hast du etwas geahnt von der ungestillten Sehnsucht in meinem Innern, von den Augenblicken, in denen ich mich sehr einsam fühle, obgleich ich verheiratet war und eine Kinderschar habe!

Und nun drängte es Esther, ihre Empfindungen aufzuschreiben – vielleicht gerade für diese ihre so feinsinnige Tochter. Möglicherweise würde es ihr später einmal helfen, zu lesen, dass ihre Mutter ähnlich gefühlt hatte wie sie.

Sie schrieb:

Ist nicht letztlich jeder von uns im tiefsten Grunde allein? Und muss es nicht so sein? Ich war verheiratet – und ich glaube, ich darf sagen, trotz allem glücklich verheiratet. Im Rückblick auf mein Leben meine ich zu wissen, dass ich nicht der Mensch gewesen bin, dem es nichts ausgemacht hätte, alleine durchs Leben gehen zu müssen. Ich war nie eine Kämpfernatur – ich schien eher ängstlich zu sein, ja, ich brauchte jemand, an den ich mich lehnen konnte. Euer Vater war gut zu mir.

Plötzlich merkte Esther, dass sie ihre Kinder anredete, während sie schrieb. Nein, es war einer Mutter wohl nie möglich, sich auch nur gedanklich ganz von ihnen zu lösen. So ließ sie ihre Worte unverändert stehen.

Während wir verlobt waren und auch später in der ersten Zeit unserer Ehe, zeigte Euer Vater sich sehr zärtlich und liebevoll. Als er aber aus dem schrecklichen Kriegserleben von der Front und aus der Gefangenschaft zurückkehrte, war er herb und verschlossen geworden. Der Krieg verändert die Menschen. Manchmal habe ich darunter gelitten und ihn mir anders gewünscht – herzlicher, liebevoller – nicht so wortkarg und so schnell erregt. In der Zeit seiner schweren Krankheit und danach trat dann wieder sein wirkliches Wesen hervor. Ja, da schien es, als wolle er gutmachen oder nachholen, was er versäumt hatte. Nie werde ich die kurze Zeit nach seiner Krankheit vergessen. Es waren uns ja nur noch wenige Wochen des Beieinanderseins vergönnt, aber sie waren so reich, und zwischen uns schwang mehr als nur Zärtlichkeit und gegenseitiges Verstehen. Nach seinem Tod habe ich manches Mal gedacht, es sei schon irgendwie etwas von der Atmosphäre jener anderen Welt zu spüren gewesen, die ihn ja bald aufnahm.

Wir hatten wohl beide in der vorausgegangenen schweren Zeit seiner Krankheit gelernt, zum Einsam- und Alleinsein ein Ja zu finden. Denn die tiefsten Erlebnisse vor allem das, was mit unserer persönlichen Beziehung zu Gott zusammenhängt, muss in Wirklichkeit jeder allein durchstehen, durchleiden und erfahren. Irgendwo las ich einmal von der Selbsterziehung zum Einsam- und Alleinsein. Auch als Mutter erkennt man das immer wieder. Man kann zu seinen Kindern in einem guten und innigen Verhältnis stehen. Letztlich ist man allein und muss dies zu bejahen lernen – und auch Ihr, meine Kinder, die Ihr nun alle flügge seid und Eure Mutter nicht mehr so dringend benötigt – jedenfalls nicht mehr in jeder Lebenslage –, die Ihr bereits Eure Partner gewählt oder Euch doch schon nach ihnen umgeschaut habt,

Ihr werdet es erleben, wie einsam man sein kann – und wie nötig es ist, dazu ein „Ja“ zu finden.

Esther ließ die Hand sinken. Ihre Augen überflogen das Geschriebene, und sie fragte sich, ob wohl nichts anderes als solche ernsten Gedanken die Seiten ihres roten Buches füllen würden. Aber sie freute sich daran, überhaupt niederschreiben zu können, was sie bewegte. Während all der Jahre ihrer Ehe hatte sie nie Zeit dazu gefunden. Wie dankbar war sie den Freunden, dass sie hier einige Tage verleben durfte – und dass diese auch Verständnis zeigten, wenn sie sich stundenweise auf ihr Zimmer zurückzog oder einen stillen Weg für sich allein ging. Sie brauchte es einfach.

Wieder blickte sie eine Weile empor zu den Wolken, die gleich hellen Segelschiffen im tiefen Blau des Himmels schwammen. Und dann blieb ihr Blick erneut an dem Baum, der alten Esche, haften. Wieder schrieb sie: