... und alle warten - Elisabeth Dreisbach - E-Book

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Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Jahrelang glaubt Arno Dupier sich über die Stimme seines Gewissens hinwegsetzen zu können, aber Gott stellt Wächter und Mahner an seinen Weg. Da ist seine Mutter, diese edle, stille Dulderin, gereift durch viel Leid ihres Lebens. Da ist sein Freund, Thomas Wolkius, der mit ihm das Konservatorium besucht und Musik studiert hat, dann aber umschwenkte und Pfarrer wurde, Seelsorger aus göttlicher Berufung und innerem Auftrag. Er verhilft seiner gelähmten Schwester zu einem Lebensinhalt, indem er ihr das uneheliche Kind seines Jugendfreundes bringt, das dann bei ihr eine Heimat findet. Alle warten auf die Umkehr und Heimkehr dieses jungen Mannes; auch alle anderen Menschen, die uns hier begegnen, sind erfüllt von einem großen Warten: die einen verankern sich im Vergänglichen, während sie das Glück ihres Lebens suchen, den anderen sind die Augen und das Herz für das Ewige geöffnet. Sie alle aber warten! Aufgabe des Buches ist, zu zeigen, dass das Warten nicht vergeblich sein muss, sondern dass Antwort darauf gegeben wird. Gott selbst antwortet, und aus dem Warten wird Erfüllung. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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… und alle warten

Band 5

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-126-8

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

… und alle warten

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… und alle warten

In wildem Tanz wirbelten die herbstlich bunten Blätter durch die Luft, um gleich darauf zum Sterben und Vergehen zur Erde zu sinken und morgen oder übermorgen schon als welkes Laub unter den Schritten der Fußgänger zu verderben.

Durch den Park gingen zwei junge Männer, Thomas Wolkius, ein junger Musikstudent, und Arno Düpier, der Thomas auf dem Konservatorium kennengelernt und sich mit ihm befreundet hatte. Er war Kaufmann und sollte als einziger Sohn seines Vaters einmal das Konfektionshaus am Markt, das schon seinem Großvater gehört hatte, übernehmen.

»Riechst du den Herbst?« fragte Thomas. »Irgendwie stimmt er mich traurig.«

»Ach was«, spottete Arno. »Was du riechst, sind welke Blätter. Sei doch nicht immer so sentimental. Ich begreife mich selbst nicht, dass ich dich zum Freund erwählt habe, wo ich doch gerade das Gegenteil von dir bin. Du riechst den Herbst und denkst dabei an Tod und Vergehen. Ich rieche Bratäpfel und auf dem Rost geschmorte Knackwürste. Mich mahnt der Herbst an das Oktoberfest in München, an schäumendes Bier und zünftigen Rummel. Wie ist es nur möglich, Thomas, dass zwei so grundverschiedene Menschen Freunde geworden sind?«

»Darüber habe ich mir noch nie den Kopf zerbrochen. – Aber ich muss schon sagen, dass du mir mit dem frivolen Ton deiner Rede jede Lust genommen hast, ein ernstes Gespräch mit dir zu führen. Du bist einfach nicht reif für etwas Derartiges.«

Arno hakte seinen Arm unter den des Freundes. »Du magst recht haben. Komm mit mir nach Hause und leiste meiner Mutter ein wenig Gesellschaft. Du kannst ihr keine größere Freude machen. Sie ist jedes Mal sichtlich beruhigt, wenn ich ihr berichte, dass wir zwei wieder zusammen gewesen sind. Gewiss glaubt sie, dass es dir gelingt, mich vom bösen Weg abzuhalten, auf dem sie mich ständig wähnt, wenn ich allein bin.«

»Alter Spötter! Du weißt gar nicht, was du an deiner Mutter hast.«

Arno wusste, dass er jetzt andere Register ziehen musste.

Er kannte seinen Freund zu genau, um nicht zu wissen, dass er gedanklich beim Tode seiner Mutter angekommen war. Thomas' Vater war im Weltkrieg 1914 gefallen und hatte seine Frau mit fünf Kindern zurückgelassen. Vor zwei Jahren, noch bevor alle fünf Geschwister mit der Ausbildung fertig waren, hatte der Tod ihnen die Mutter entrissen. Thomas als der Älteste hatte am stärksten mit ihr gelitten. Sie war an Krebs gestorben in einem Alter, in dem andere Frauen sich auf dem Höhepunkt ihres Lebens befinden. Es war ihm nicht vergönnt, seinen Plan, ihr einen sorglosen Lebensabend zu bereiten, in die Tat umzusetzen.

Die beiden Freunde betraten die Wohnung im Hause Düpier. Arnos Mutter, die leidend war, saß wie gewöhnlich im sonnigen Erker ihres Esszimmers und blickte hinunter auf das bunte Treiben des kleinstädtischen Marktplatzes.

»Da bin ich wieder, Mama«, sagte Arno und beugte sich zu seiner Mutter, um sie leicht auf die Wange zu küssen. »Ich habe meinen Schutzengel Thomas mitgebracht. Ich weiß, wie sehr du dich immer über sein Kommen freust. Er hat sich zwar heute schon furchtbar über mich ärgern müssen.«

Thomas Wolkius beugte sich über die ihm entgegengestreckte Hand Frau Dupiers.

»Ist es wahr, Thomas, hat Arno Sie wieder geärgert?« fragte sie. »Er ist ein böser Junge.« Der den Sohn umfassende Blick jedoch strafte ihre Worte Lügen. Arno war ihr ein und alles. Zwar kannte sie seine Neigung zur Oberflächlichkeit, aber sie erhoffte viel von dem Einfluss des ruhigen Freundes.

»Sophie wird mir gleich meinen Tee bringen. Ihr könnt mittrinken. Ich freue mich über eure Gesellschaft.« Frau Düpier drückte auf die elektrische Klingel. Ein sauberes Mädchen im schwarzen Kleid und weißer Schürze erschien in der Tür.

»Bitte, Sophie, die beiden jungen Herren trinken mit mir Tee.«

»Ich habe bereits das Nötige gebracht«, erwiderte das Mädchen und kam gleich darauf mit einem Tablett zurück, um den kleinen runden Tisch im Erker zu decken. Thomas hatte sich inzwischen zu Frau Düpier gesetzt, während Arno sich noch für einen Augenblick entschuldigte. »Ich bin gleich wieder da!« Er zwinkerte dem Freund zu, und dieser wusste, dass Arno einen Sprung hinunter in das Geschäft seines Vaters machte, um in der Damenkonfektionsabteilung nach der jungen Verkäuferin zu sehen, von der er ihm vorhin auf dem Weg vom Konservatorium begeistert erzählt hatte. Sie war erst seit einigen Tagen im Geschäft angestellt und übertraf, nach Arnos Worten, alle anderen an Schönheit und Anmut. Thomas nahm diese Schwärmerei seines Freundes nicht ernst. Er war es gewohnt, dass Arnos Bekanntschaften wechselten wie die Jahreszeiten.

»Wie geht es Ihren Geschwistern, Thomas?« fragte Frau Düpier.

»Danke, bis auf Juliane, die sich in letzter Zeit gar nicht wohl fühlt, habe ich von allen gute Nachrichten. Unsere Zwillinge, die im Internat sind, stehen vor dem Abitur. Da ihre beiden Paten die Ausbildung übernommen haben, bin ich einer großen Sorge enthoben. Charlotte ist in der Charité in Berlin als Schwester tätig und wird im kommenden Frühjahr ihre Ausbildung beenden. Sie wird einundzwanzig Jahre alt und hat mir im letzten Brief erklärt, dass sie in Zukunft ohne fremde Hilfe durchkommen werde. Dass ich in den Semesterferien für mein Studium arbeite, wissen Sie. Außerdem erhalte ich immer wieder Stipendien. Allzu große wirtschaftliche Sorgen haben wir sonst nicht. Man lernt auch mit der Zeit, sich einzurichten und mit geringen Ansprüchen das Leben zu bewältigen.«

»Wie reif sind Sie für Ihr Alter, Thomas!« sagte Frau Düpier. »Ich fürchte, Arno wird in zwei Jahren, wenn er so alt ist wie Sie jetzt, noch längst nicht so vernünftig sein. Oft denke ich, es ist gar nicht gut, dass wir in der Lage sind, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Die Erlebnisse der Kriegs- und Inflationszeit werden viel zu rasch vergessen.«

»Sie mögen recht haben, Frau Düpier. Meine Mutter pflegte zu sagen: Notzeiten sind Offenbarungszeiten.«

»Das stimmt! Indessen nur für solche Menschen, die bereit sind, diese Offenbarungen zu bejahen.« Frau Düpier seufzte leise. Ihre Gedanken waren wieder bei ihrem Mann und dem Sohn angelangt. – Wenn nur Arno nicht in den Fußstapfen des Vaters ging! – Gewiss, geschäftlich konnte man ihrem Mann nichts nachsagen. Im Gegenteil! Louis Düpier war bekannt als ein außerordentlich tüchtiger Kaufmann und hatte das Geschäft, das er weit kleiner von seinem Vater übernommen hatte, zu erstaunlicher Höhe gebracht. Es war das beste Unternehmen im ganzen Städtchen. Ihr Mann wusste zu rechnen und hatte ein merkwürdig scharfes Gefühl für Börsenangelegenheiten. Er spürte es geradezu, wenn ein Preissturz oder -anstieg in der Luft lag und kalkulierte dementsprechend. – Was seine Frau bekümmerte, war seine innere Entwicklung. – Louis Dupiers Vorfahren entstammten einem Hugenottengeschlecht. Sie waren unter Ludwig XIV. aus Frankreich geflohen und in Deutschland ansässig geworden. Durch Generationen hindurch blieben sie ihren inneren Überzeugungen treu. Louis' Vater war noch begeistertes Mitglied des deutschen Hugenottenvereins gewesen. Der Sohn jedoch hatte keinerlei innere Beziehungen mehr zu dem religiösen Erbe seiner Väter und entfernte sich auch äußerlich in zunehmendem Maße vom Christentum und von der christlichen Kirche. Frau Dupiers stille Hoffnung richtete sich darum auf ihren Sohn, der trotz seiner Neigung zur Oberflächlichkeit religiösen Fragen gegenüber zugänglich und aufgeschlossen war. Sie meinte trotz allem in ihm ein Hugenottenerbe entdecken zu können. Darum war sie auch glücklich gewesen, als der alte Organist der Stadtkirche Arno vor etlichen Monaten gebeten hatte, ihn auf der Orgel zu vertreten, bis sein schweres Gichtleiden soweit geheilt sei, dass er sein Amt wieder aufnehmen könne. Er war es auch gewesen, der schon vor Jahren Arnos musikalisches Talent entdeckt und zum Besuch des Konservatoriums gedrängt hatte.

Frau Düpier war selig, wenn sie am Sonntag unter der Orgelempore der Stadtkirche saß und ihren Sohn spielen hörte. Er spielte wie ein ausgewachsener Organist. Das meinte nicht nur sie, sondern beteuerten ihr jeden Sonntag aufs neue Bekannte und Freunde. Und wer so innig zur Ehre Gottes spielen konnte, war sicherlich seinem Herzen nicht allzu fern. – Die Mutter erkannte nicht, dass Arno keineswegs zur Ehre Gottes spielte, sondern getrieben wurde von einem krankhaften Ehrgeiz, der sich aufgeblasen über die anderen Musikstudenten erhob, die nicht gewürdigt worden waren den alten Organisten zu vertreten. – Das aber, woran Frau Düpier am schwersten trug, glaubte sie nur allein zu wissen, außer denen, die unmittelbar beteiligt waren, nämlich ihr Mann und dessen Geliebte. Dabei flüsterte man über diese Geschichte bei allen Kaffeekränzchen und Stammtischen der kleinen Stadt. Louis Düpier hatte seiner Frau vor kurzem erklärt, dass sie nicht erwarten könne, dass er sich ihrer körperlichen Verfassung wegen als Greis fühle. Er schlage die Scheidung vor und gedenke, eine allerdings noch sehr junge Angestellte seines Geschäftes zu heiraten. Wochenlang hatte Frau Düpier daraufhin schwer krank darniedergelegen. In dieser Zeit der Stille hatte sie sich zu dem Entschluss durchgerungen, sich nicht scheiden zu lassen. Sie hatte ihrem Manne vor dem Traualtar Treue gelobt und war bereit, sie bis zum Tod zu halten. – Louis Düpier nahm es gelassen hin, dass seine Frau ihm erklärte, sich nicht von ihm trennen zu wollen. Er schien unberührt von ihren Empfindungen zu sein. Es machte auch keinen Eindruck auf ihn, dass sie nach langem inneren Ringen so weit gekommen war, ihm wieder freundlich zu begegnen. Er nahm ihre fürsorgliche Betreuung bei Tisch und bei hundert anderen kleinen Gelegenheiten des Tages wie selbstverständlich entgegen und lebte neben ihr her, als sei nie ein gemeinsames Leben innigster Verbundenheit vorausgegangen. Sie litt und schwieg. Zuerst war es ein bitteres Schweigen, das eine Atmosphäre der unausgesprochenen Vorwürfe und leidvoller Anklage schuf. Mit der Zeit aber lernte Frau Düpier, die Stimme Gottes in ihrer Einsamkeit zu vernehmen. Es wurde eine befruchtende Stille. Hass verwandelte sich in Mitleid und Erbarmen, Es kam sogar so weit, dass sie ihren Mann wieder lieben konnte wie eine Mutter ihr irregegangenes Kind, auf dessen Heimkehr sie wartet.

Theresia Stoll, die Geliebte Louis Dupiers, weigerte sich bald, länger in dessen Geschäft tätig zu sein. »Ich ertrage deine Frau nicht«, sagte sie. »Würde sie Türen schmettern, schimpfen und toben, würde sie mir Hass und Empörung entgegenschleudern, würde sie mich zu einer Auseinandersetzung herausfordern, es wäre dies alles erträglicher als die unheimliche Stille, die sie verbreitet. Ich habe Angst vor ihrer Freundlichkeit. Es geht etwas Unerklärliches von ihr aus. Selbst wenn sie tot wäre, würde ich sie fürchten.«

Louis Düpier lachte. »Ihr Frauen seid doch ein verrücktes Volk!« Aber er war reich genug, beide zu unterhalten. Nach der Inflation, die auch an seinem Geschäft nicht spurlos vorübergegangen war, überwand er überraschend schnell die zeitbedingten Schwierigkeiten. Er war bald wieder viel zu satt, als dass er Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen gewünscht hätte. Mochte Maria, die Mutter Arnos, in seinem Hause bleiben; er empfand keine Liebe mehr für sie; aber ihre Fürsorge rührte ihn. Und Theresia hatte wahrhaftig keinen Grund, sich über Zurücksetzung zu beklagen. Ihr ging nichts ab. Louis Düpier erfüllte ihr jeden Wunsch, den sie äußerte, und sie, die mehr als zwanzig Jahre jünger war als Maria, wünschte, ihr Leben zu genießen und erwartete in Selbstverständlichkeit von ihm, dass er ihrem Lebenshunger Rechnung trug. – Seit einigen Monaten war sie nun nicht mehr im Geschäft tätig. Sie hatte es nicht länger nötig. – Ob dieses Leben so weitergehen sollte? – Maria Düpier wusste es nicht. Sie sprach auch mit niemand darüber.

Still und zurückhaltend lebte sie ihr eigenes Leben im Raum ihres Denkens und Empfindens. Alle aber, die sie näher kannten und mit ihr verbunden waren, wussten, dass sie durch das Leid gereift war und in ihrem Innern eine Welt des Friedens aufgebaut hatte.

Wie aus tiefem Sinnen kam Frau Düpier zu sich. Sie strich sich mit der Hand über die Stirne und blickte Thomas Wolkius wie um Entschuldigung bittend an. »Jetzt hab ich mich wieder einmal ganz vergessen. – Wollten Sie mir nicht etwas von Ihrer Schwester Juliane erzählen? – Wo bleibt Arno denn überhaupt so lange? – Und hier steht ja schon Tee und Gebäck. Wo war ich denn nur mit meinen Gedanken?« – Sie füllte Thomas' Tasse und reichte ihm das Silberkörbchen mit den kleinen Kuchen.

»So ist es, wenn man viel allein ist. Da wird man mit der Zeit seltsam. Wissen Sie, Thomas, ich bin wirklich so etwas Ähnliches wie ein Einsiedler. Aber denken Sie nur nicht, dass ich das mit Bitterkeit sage. Sie glauben gar nicht, wie ich die stillen Stunden liebe, wie sie mich beschenken und wie ich es mit der Zeit lerne, ihre Sprache zu verstehen. Allerdings muss man schon ein wenig auf der Hut sein, dass man dabei nicht zu einseitig wird. Ich bin in letzter Zeit so geräuschempfindlich. Jedes laute Wort stört mich, und der zunehmende Straßenlärm macht mich richtig unglücklich. Ich erinnere mich noch so gut an das geruhsame Leben unseres Städtchens in meiner Kinderzeit. Da saß man am Feierabend um den warmen Ofen oder auf der Bank vor dem Haus und sprach ein paar Worte mit den Nachbarn, oder aber man schwieg zusammen. Sehen Sie, Thomas, das ist es, was die Menschen heute fast nicht mehr können: schweigen und die Stille mit Werten füllen.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wahrscheinlich haben in wenigen Jahren der Lärm und die Hast derartig von uns Besitz ergriffen, dass viele Menschen nichts mehr mit der Stille anzufangen wissen und sie fliehen. Man wird die Bedenken nicht los, dass trotz aller Entdeckungen auf technischem Gebiet und trotz aller Errungenschaften unsere Zeit immer ärmer wird.« –

Ein von der Tür kommendes Räuspern unterbrach die Unterhaltung. Arno war leise eingetreten und hatte scheinbar während des Gesprächs hinter der Plüschportiere, welche die Türe verdeckte, gestanden.

»Es sei mir gestattet, zu dem Gehörten Stellung zu nehmen«, sagte er und trat näher. Thomas vernahm den leisen Unterton der Ironie in seinen Worten und wandte dem Freund sein Gesicht zu. »Willst du wieder spotten?«

Arno zog einen Sessel herbei und ließ sich in denselben fallen. Beschwichtigend legte er die Hand auf Thomas' Arm. »Beruhige dich! Ich meine es ernst. In dir steckt ein Pfarrer. Sobald du den Mund auftust, kommt irgend etwas Erbauliches zum Vorschein. Trotzdem habe ich dich gern. Vielleicht schätze ich dich gerade deswegen, weil ich empfinde, dass ich einen Menschen wie dich als ständige Korrektur nötig habe. In dem, was ihr vorhin miteinander besprochen habt, kann ich euch indessen nicht zustimmen. Ich finde das Leben keinesfalls arm, sondern wunderbar reich und begehrenswert wie eine schöne, üppige Frau.«

»Arno!« Frau Düpier hob erschrocken die Hände. »Junge, wie redest du! Wenn ich dich nicht kennen würde, die Sorge um dich würde mich jeder ruhigen Stunde berauben. – Was weißt du mit deinen zwanzig Jahren überhaupt schon vom Leben und von Frauen?« Sie wandte sich Thomas zu. Bittend legte sie ihre Hand auf die seine. »Thomas, bleiben Sie Arnos Freund. Er braucht Sie.« –

Etliche Jahre später. Arno Düpier hatte es durchgesetzt, in Stuttgart zu bleiben. »Es ist noch früh genug, in der Kleinstadt zu verkümmern, wenn ich erst Vaters Geschäft übernehmen muss«, hatte er den Eltern erklärt. Louis Düpier sah ein, dass die Erweiterung seiner Geschäftskenntnisse dem Sohn nichts schaden könnte. Er erklärte sich sogar damit einverstanden, dass Arno noch einige Jahre ins Ausland ging. Vorerst gefiel es dem jungen Kaufmann jedoch in der Hauptstadt Württembergs noch sehr gut. Er hatte eine vorzügliche Anstellung in einem der ersten Konfektionsgeschäfte und verdiente genügend, um sich ein angenehmes Leben leisten zu können. Ein Kreis neuer Freunde ließ ihn die alten zum Teil vergessen. Obgleich er sich über jede von Thomas kommende Nachricht freute, war es ihm im Augenblick ganz recht, nicht ständig unter dessen Kontrolle zu stehen. Er wusste genau, Thomas hätte längst nicht alles gebilligt, was er tat. Es ging ihm eigentümlich mit dem Freund. Die Lebensauffassung dieses stillen Menschen war ihm oft geradezu lästig, und er nahm sich vor, sich in keiner Weise von ihm beeinflussen zu lassen. Dennoch verband ihn irgend etwas mit Thomas. Der Gedanke an ihn und seine Freundestreue hatte ihn schon mehr als einmal bewahrt, wo er sonst gedankenlos gehandelt hätte.

Thomas hatte sich inzwischen tatsächlich dem theologischen Studium zugewandt. Eines Tages war er zu Frau Düpier gegangen. Sie war ihm längst mütterliche Freundin geworden. Er musste mit ihr über das reden, was ihn so stark bewegte. »Ich habe mich entschlossen umzusatteln«, hatte er erklärt. »Zwar kann ich durch meine Musik andere Menschen erfreuen und ihnen erhebende Feierstunden bereiten, aber heilen kann ich durch sie niemand. Mir ist jedoch, als sei eine große Anzahl von Menschen heute körperlich und seelisch krank. Man sieht es an ihren müden Gesichtern und an ihren freudlosen Augen. Wenn sie in Scharen am Feierabend aus den geöffneten Fabriktoren fluten, dann schäme ich mich jedes Mal, dass ich so viele Jahre nur Musik studiert habe. Gewiss, ich werde mich auch in Zukunft mit ihr fleißig befassen; aber der Gedanke, helfen und heilen zu sollen, lässt mich nicht mehr los. Ich habe lange überlegt, ob ich Arzt oder Pfarrer werden soll. Beide Berufe geben mir Möglichkeiten, den Menschen zu dienen. Es ist mir jedoch klar, dass es hier zuletzt nicht um einen Beruf, sondern um Berufung geht. Dieses inneren Rufes darf ich gewiss sein, denn der Gedanke an die seelsorgerliche Aufgabe unter den Menschen lässt mich nicht mehr los. – Vielleicht ist es auch die Erinnerung an meine Mutter, die mir einmal erzählte, dass sie vor meiner Geburt anhaltend darum gebetet habe, dass ich, ihr erstes Kind, ein Diener Gottes werden möge. – Lange habe ich gemeint, Gott auch durch die Musik dienen zu können. Für viele mag das ein richtiger Weg zu echtem Gottesdienst sein. Mir selber ist es deutlich geworden, dass ich in anderer Weise gefordert bin. – So habe ich mich entschlossen, Pfarrer zu werden.«

In tiefer Bewegung hatte Frau Düpier ihm geantwortet: »Gott segne Sie, Thomas. Ich bin überzeugt, Sie werden noch vielen Menschen helfen können. Sie haben die Gabe des Tröstens. Gabe ist immer Aufgabe.«

Als Thomas seinen Entschluss Arno mitgeteilt hatte, war dieser zuerst mehr als überrascht gewesen. »Ich habe dir zwar des Öfteren spaßhaft den Rat gegeben, Pfarrer zu werden«, hatte er ihm erwidert, »aber nie im Leben habe ich daran gedacht, dass du diesen Berufswechsel ernstlich erwogen hast. Wenn du diesen Entschluss nur nicht einmal bereust! Na, wenn ich später nach meinem Tod vor die Himmelspforte kommen sollte, werde ich midi auf die gute Freundschaft mit dir berufen, und ich denke, dass ich dann durch deine Fürsprache eingelassen werde. Es ist sicher gut, auch dort Beziehungen zu haben.« – Er lachte wie über einen guten Witz. Als er merkte, dass Thomas nicht in sein Lachen einstimmte, brach er ab. »Habe ich dich schon wieder gekränkt?«

»Das nicht; aber ich hatte erwartet, du würdest meinen Entschluss ernst nehmen. Du darfst mir glauben, die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen!«

»Thomas, ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten. Im Grunde genommen kann ich es einfach noch nicht fassen: Thomas und Pfarrer. Aber ich gebe zu, du passt ganz gut zu diesem Amt.«

Thomas versuchte nicht, dem Freund seine inneren Gründe darzulegen. So trennten sie sich. Thomas, um die Universität zu besuchen, Arno, um in Stuttgart zu arbeiten, vor allem aber, um dort das Leben zu genießen.

*

Vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof stand ein junges Mädchen in leichtem, geblümtem Sommerkleid und blickte unruhig über den belebten Bahnhofsplatz in die Königstraße. Ob er heute überhaupt nicht kam? Ein buckliger Zeitungsverkäufer, der eine Weile die Wartende beobachtet hatte, sprach sie an: »Er hat Sie vergessen, Fräulein.«

Verärgert wandte Lore sich ab. »Dummer Kerl!« Was hatte er sich um sie zu kümmern? – Aber dort nahte endlich Arno. Befreit atmete sie auf, zeigte jedoch ihr abweisendstes Gesicht. Er sollte nicht sehen, wie froh sie war, dass er endlich kam. – Als Arno Düpier den Bahnhofsplatz überquerte und vor Lore Trüffel stand, blitzte sie ihn aus zornigen Augen an. »Das ist allerhand von dir, mich wieder so lange warten zu lassen. Über eine halbe Stunde stehe ich schon hier.«

»Über eine halbe Stunde?« Arno nahm ihren Arm und führte sie über die Straße, hinein in die Anlagen. »Wieso eine halbe Stunde? Wir haben doch ausgemacht, dass wir uns um acht Uhr treffen wollten.«

»Das ist nicht wahr. Du hast gesagt: um halb acht Uhr!« Lore war ehrlich entrüstet. So war es jedoch immer. Mit lachendem Gesicht würde er behaupten, dass sie sich geirrt habe und dabei bleiben. Sie kam einfach nicht gegen seine Art an. Wie oft war sie schon ernsthaft mit ihm böse gewesen; wie oft hatte sie schon vorgehabt, mit ihm Schluss zu machen; aber sie kam nicht von ihm los. Eine Welle heißer Angst stieg in ihr auf. Vermochte sie sich überhaupt noch von ihm zu lösen? – In einem Vergnügungslokal hatte Lore Trüffel Arno Düpier kennengelernt. Heimlich war sie hingegangen. Ihre Mutter und der älteste Bruder, der sie nach dem Tode des Vaters bevormundete, obgleich sie bereits vor einem Vierteljahr mündig geworden war, hätten es nicht geduldet. Und gerade dieses ewige Verbieten weckte den dauernden Widerstand in ihr. So galt sie als trotzige, eigensinnige Tochter und Schwester, fühlte sich unverstanden und sehnte den Augenblick herbei, wo sie die Fesseln abstreifen und völlig unabhängig von den Ihren tun und lassen konnte, was sie wollte. Bevor sie Arno kannte, hatte sie da und dort eine kleine Tändelei gehabt; aber etwas Ernsthaftes war es nie gewesen. Vor einem Jahr hatten sie und Arno sich kennengelernt. Es schmeichelte ihr, von dem jungen hübschen Mann, der aus wohlhabendem Hause kam, umworben zu werden. – Er hatte versprochen, sie zu heiraten. Seit einigen Wochen ging er auch in ihrem Hause ein und aus.

Die Mutter schien nicht gerade unzugänglich, aber der Bruder lehnte ihn ab.

»Siehst du nicht, dass er ein Luftikus ist? Ich würde mich nicht wundern, wenn er sich als Hochstapler entpuppte. Wer weiß, ob sein Vater wirklich ein so großes Geschäft hat, wie er es dir Vormacht. Lass die Hände davon und gib ihm den Laufpass. Übrigens bist du noch viel zu jung, um ans Heiraten zu denken.« So hatte Lores Bruder gesprochen und einen Sturm der Entrüstung in ihr wachgerufen. Was fiel ihm ein? Sie ließ sich nicht mehr herumkommandieren wie ein dummes Ding. –

Arno und Lore waren durch den Park geschlendert und nun in den Rosengarten gekommen. Sie setzten sich auf eine Bank in der Nähe des kleinen Teiches, auf dem Wasserrosen in ihrer kühlen Schönheit ruhten. Arno zündete sich eine Zigarette an. »Du bist außerordentlich beredt, Lore!«

»Ich frage mich, wie lange es noch so mit uns weitergehen soll.«

»Wie, was soll so weitergehen?«

Unwillig stampfte sie mit dem Fuß auf. »Tu doch nicht, als wüsstest du nicht, was ich meine. Wann willst du endlich mit meiner Mutter und meinem Bruder über unsere Verlobung sprechen?«

»Was habe ich mit deinem Bruder zu tun?«

»Du weißt ganz genau, dass er seit Vaters Tod mein Vormund ist. Wenn er jetzt auch rechtlich nicht mehr über mich zu bestimmen hat, so ist er doch gewissermaßen das Oberhaupt unserer Familie. Er hat mir schon einmal gedroht, wenn ich mich nicht fügen würde, gäbe es wohl noch ein Mittel, mich klein zu bekommen. Sicherlich denkt er daran, mich zu enterben.«

»Unverschämtheit!« fuhr Arno hoch. Im hohen Bogen warf er seine Zigarette in den Teich. Wie eine Rakete landete sie neben einer Wasserrose.

»Als wenn dein Bruder solche Rechte besäße! Und zu ihm soll ich gehen und winseln: ,Geben Sie mir Ihre holde Schwester zur Frau!' Nein, das hat ein Arno Düpier nicht nötig. Euer Haus in Ehren, Lore; aber an unser Geschäft reicht es längst nicht heran. Dein Bruder bildet sich wohl ein, dass er mir eine Gnade erweist, wenn er gütigst seine Erlaubnis zu unserer Heirat gibt?!«

In Lores ängstlichem Gesicht leuchtete es auf. »Also bleibst du dabei?« Arno zündete eine weitere Zigarette an. Lore drängte sich an ihn. »Ich habe dich etwas gefragt.«

»Ja doch. Ich habe es dir schon oft genug gesagt.«

»Gehst du dann jetzt mit mir nach Hause und sprichst mit meiner Mutter über unsere Verlobung?«

Ungeduldig schüttelte Arno ihren Arm ab. »Du wirst langsam lästig. Die Verlobung hat doch noch Zeit. Lass uns jetzt miteinander ins Kino gehen. Im Ufapalast wird ein toller Film gezeigt.«

Lore ließ ihn nicht los. Sie zog ihn zurück auf die Bank. Ihre Stimme klang fremd und seltsam erregt, als sie sagte: »Nein, Arno, es hat nicht mehr Zeit. Ich glaube – ich glaube«

Arno rückte von ihr ab und starrte sie beinahe entsetzt an: »Was ist mit dir?«

Der letzte Strahl der Abendsonne fiel auf die Blutbuche, die neben der schlanken Edeltanne auf dem gepflegten Rasen neben dem Teich im Rosengarten ihre Äste ausbreitete. Lores Augen weiteten sich schreckhaft, als sähe sie eine Vision. Sie krallte ihre Hände in Arnos Arm. »Sieh doch, dort – der Baum!« Arnos Blick folgte dem ihren. »Was denn? Was soll ich sehen?« – »Blut«, hauchte das Mädchen kaum hörbar und erbleichte bis in die Lippen.

»Lore!« Er schüttelte sie am Arm. »Komm zu dir. Was ist denn nur in dich gefahren? – Komm, lass uns gehen. Der Film wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Da fing das Mädchen an zu weinen. »Nein, es muss jetzt gesagt werden. Arno, ich glaube, ich erwarte ein Kind von dir.«

Er stieß sie beinahe von sich. »Du bist verrückt. Aber doch nicht von mir!« Jäh verstummte ihr Weinen. Ihre Augen weiteten sich. Ein völlig fremder Ausdruck veränderte ihr Gesicht. Sie krampfte ihre Hände zusammen, als müsse sie sich selbst Halt geben. »Was sagst du? Nicht von dir? – Ja, denkst du – denkst du vielleicht…?« Ihre Brust hob und senkte sich in keuchendem Atem. »Weißt du nicht mehr, was es mich gekostet hat, deinem ewigen Drängen nachzugeben? Und nur weil du mir hoch und heilig versprochen hast… und jetzt wagst du es, so etwas zu sagen?« – Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und weinte laut auf.

Arno fuhr sie an: »Ihr seid alle gleich. Wenn es soweit ist, dann spielt ihr den Unschuldsengel; dann ist es nur der eine, dem ihr euch hingegeben habt. Wie soll ich wissen, ob außer mir nicht noch andere da sind …?«

»Du Schuft! Du gemeiner Schuft!« – Lore kannte sich nicht mehr. Aber das war für ihre Art schon zu viel. – Ihn nur nicht verlieren müssen, nur nicht in diesem Elend Sitzenbleiben; lieber alle Schmähungen und Niederträchtigkeiten auf sich nehmen. Sie griff nach seiner Hand. »Arno«, bat sie, »sei vernünftig. Lass mich jetzt nicht allein. Ich schwöre es bei Gott, dass ich keinen Mann außer dir habe. Es ist dein Kind, das ich erwarte. – Ich bin ja auch noch nicht ganz sicher. Ich fürchte mich nur, zu einem Arzt zu gehen, um mir Gewissheit zu verschaffen. Lass uns bald heiraten, dann wird alles gut.«

»Dummes Gerede! Als ob das so einfach wäre! Meine Eltern wissen noch nicht einmal etwas von dir.«

»Aber du hast doch gesagt, dass du ihnen von mir geschrieben habest.«

»Ach was! Das hast du dir eingebildet!«

Er lügt. Er lügt wieder und errötet nicht einmal dabei, dachte Lore und hätte auf schreien mögen; eine wahnsinnige Angst, ihn zu verlieren, mahnte sie jedoch zur Beherrschung. – Mit einem halb unterdrückten Fluch knickte Arno eine Rose, über die er sich gebeugt hatte und zertrat sie. Aus Lores Augen stürzten Tränen, als sie es sah.

Arno fuhr fort. »Es gibt doch Möglichkeiten – das – das – – du weißt doch, was ich meine. Es gibt doch Mittel, die du einnehmen kannst, oder Frauen, die dich beraten. Hast du keine Freundin, der du dich anvertrauen kannst, die in diesen Dingen Bescheid weiß? So etwas müsst ihr Frauen doch selber wissen.«

In diesem Augenblick stand das Mädchen auf und ging wortlos davon. Nach ein paar Schritten wandte sie sich noch einmal um und beugte sich zu der zertretenen Rose. Mit einer ergreifenden mütterlichen Gebärde hob sie die abgefallenen Blätter auf und legte sie sorgsam in ihr Handtäschchen.

In Arno wogte es. Irgendwie tat sie ihm leid, aber er durfte jetzt nicht weich werden. Wie er sich allerdings aus dieser Affäre herausziehen sollte, wusste er nicht. Wenn sie recht hatte, war es ein verwünschtes Pech. Plötzlich war es ihm klar, dass er eigentlich nie ernsthaft daran gedacht hatte, Lore Trüffel zu heiraten. Ein nettes kleines Spiel war es gewesen, mehr nicht. Als Frau fürs Leben hatte er dem Vater eine andere Schwiegertochter zu bringen. Lore war im Grunde genommen ein Schäfchen. Gewiss, sie hatte ein ganz hübsches Aussehen, aber Überfluss an Geist besaß sie nicht, als Geschäftsfrau war sie nicht gewandt genug. – Arno schlenderte durch die Königstraße und bemühte sich, gelassen zu bleiben. Er blieb hier und dort an einem der hell erleuchteten Schaufenster stehen. Toll, was es jetzt schon wieder alles gab. Hatte es nicht ausgesehen, als würde kein Mensch sich nach der vorausgegangenen Inflationszeit je wieder erholen können! – Und jetzt. – Die Not war vorübergangen. So würde auch die augenblickliche Situation, in die er durch die Worte Lores zwangsläufig geschleudert worden war, vorübergehen. Wichtig war nur, die unangenehme Geschichte nicht zu tief in sich eindringen zu lassen. – Er schlenderte weiter. – Lächerlich! Er konnte doch Lore, die als Frau überhaupt nicht zu ihm passte, deswegen nicht ohne weiteres heiraten. – Familienvater werden! – Wieder blieb er vor einem Geschäft stehen. Hinter den ausgestellten Herrenhüten blickte ihn sein eigenes Bild aus der Spiegelscheibe an. –

Ich soll Vater werden? Ich soll mich mit meinen noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahren für mein ganzes Leben an eine Frau binden, die mir bisher nichts anderes bedeutete als eine kleine Spielerei? Ein ganzes Leben lang eine Frau um sich haben müssen, die nur von Kleidern und Schuhen, Kino und Tanz zu reden wusste? – Arno schüttelte sich, wenn er daran dachte. Der Vater würde ihm die Tür weisen, wenn er mit solchem Ansinnen an ihn herantreten würde. – Hast du schon diese Dummheit begangen, würde er sagen, dann zahlst du eben deine Alimente; aber eine Heirat steht nicht zur Debatte. – Den Gedanken an die Mutter ließ Arno in diesem Augenblick gar nicht aufkommen. – Weg damit! –

Arno kam in die Nähe der Stiftskirche. Glockengeläut kündete den Schluss eines Abendgottesdienstes an. Eine große Menschenmenge verließ das Gotteshaus, das noch von brausendem Orgelspiel erfüllt war. Seit Monaten war Arno in keiner Kirche mehr gewesen. Die Orgelklänge übten eine geheime Anziehungskraft auf ihn aus. Er trat durch das offenstehende Hauptportal, als die Kirche sich entleert hatte. In einer der hintersten Bänke nahm der späte Besucher Platz. Wohltuend empfand er plötzlich die Stille dieses Raumes, während die Orgeltöne ihn im Geiste heimwärts trugen. Er brauchte nicht einmal seine Augen zu schließen, um die Kirche vor sich zu sehen, in der er selber wochenlang die Orgel gespielt hatte. Er sah die Mutter an ihrem Platz in der Kirche sitzen. Hingegeben lauschte sie seinem Spiel. Ihre Wünsche und Hoffnungen für den Sohn verbanden sich mit den Klängen des gewaltigen Instruments. – Plötzlich stand Lores Bild wieder vor ihm. Lore, die Mutter seines Kindes? – Wenn es wahr wäre?! – Scheu blickte er sich um, als fürchte er, seine Gedanken könnten Gestalt annehmen und offenbar werden! Es musste etwas geschehen. Dieses Kind durfte nicht geboren werden! – Arno stand auf und verließ beinahe fluchtartig die Kirche. Gottes Stunde war vorübergegangen. Der Versucher hatte sich nicht gescheut, sich Arno an dieser Stätte zu nahen und ihn zu Fall zu bringen. Als ein Unterlegener ging der zur Entscheidung Gerufene hinaus in die Nacht.

*

»Und Sie glauben, dass meine Schwester nie mehr gehen lernen wird?«

Es war um dieselbe Zeit, da Arno Düpier endgültig von Lore erfuhr, dass sie Mutter werden würde, als Thomas Wolkius vor dem Chefarzt des Krankenhauses stand, in dem seine Schwester Juliane ohne Heilerfolg lag.

»Rauben Sie ihr nicht alle Hoffnung«, riet Doktor Baumgart dem jungen Mann. »Ein so zarter Mensch wie Ihre Schwester könnte daran zerbrechen. Sie aber müssen die Wahrheit wissen. Es gibt keine Möglichkeit mehr, Ihrer Schwester zum Gebrauch ihrer Beine zu verhelfen. Sie wird ihr Leben lang gelähmt bleiben.«

Thomas starrte vor sich hin. »Siebzehn Jahre«, flüsterte er. »Und keine Hoffnung mehr!«

»Sie kann natürlich sehr alt werden«, versuchte der Arzt zu trösten. »Was haben Sie mit ihr vor?«

»Wenn ich nicht noch im Studium stünde, würde ich sie zu mir nehmen. Aber bis das möglich ist, werden noch Jahre vergehen.«

»Sie studieren Musik?«

»Nein, ich habe umgesattelt. Ich werde Pfarrer.«

»Oh – schade!«

»Wieso schade?«

»Ich habe Sie bei einem Konzert spielen hören. Sie besitzen beachtliches Talent. Wie viele Menschen könnten Sie dadurch beglücken.«

»Helfen ist mehr als beglücken.«

»Und Sie meinen, dazu hätten Sie als Pfarrer mehr Gelegenheit?«

»Ja! Daran glaube ich fest.«

»Dann viel Glück, junger Mann.« Doktor Baumgart reichte Thomas die Hand, verneigte sich leicht und zog sich in sein Amtszimmer zurück. –

Der junge Wolkius betrat die Krankenstube, in der seine jüngste Schwester lag.

»Thomas!« rief sie froh, »wie schön, dass du schon da bist. Ich habe dich erst später erwartet. Sieh nur, die herrlichen Rosen! Meine Schulkameradinnen haben sie mir geschickt.«

Thomas hatte sich einen Stuhl an ihr Bett gezogen. Er sah sich um. »Ist deine Zimmerkollegin entlassen worden?« Es war ihm recht, seine Schwester allein zu haben für das, was er ihr zu sagen hatte. »Ja, heute früh hat ihr Vater sie geholt. – Ach, Thomas, wann darf ich nach Hause? – Hast du mit Doktor Baumgart gesprochen? – Ich habe genug von allen Versuchen, die man mit mir macht. Wann werde ich denn endlich wieder gehen können?«

Jetzt kam der schwere Augenblick. Thomas bat Gott, ihm das rechte Wort zu schenken. Keinen Moment dachte er daran, Juliane zu täuschen. Dieses Warten in Ungewissheit war viel schlimmer als das Wissen um die Wahrheit, dem natürlich eine klare Lebensplanung folgen musste. Thomas beugte sich zu Juliane und fasste ihre beiden Hände. »Juliane«, begann er, »ich habe mit dem Arzt gesprochen. Du musst jetzt tapfer sein. Menschlich gesehen, besteht keine Hoffnung mehr, dass du je wieder gehen lernst. Es ist einwandfrei festgestellt, dass du dir bei deinem unglücklichen Sturz von dem Heuwagen eine Verletzung im Rücken zugezogen hast. Alle Versuche der Ärzte konnten die Lähmung nicht verhüten. Es wäre natürlich möglich, dass die ärztliche Wissenschaft mit der Zeit durch Forschung und Behandlung ähnlicher Fälle Wege zur Hilfe erkennt; aber im Augenblick kann man nichts mehr für dich tun.«

Julianes Augen waren bei den Worten des Bruders weit geworden. Ein Zittern lief durch ihren Körper, dem ein so wehes Schluchzen folgte, dass auch Thomas' Augen sich mit Tränen füllten. Doch er wusste, dieses schmerzhafte Weinen musste sein. Es wirkte befreiend. Es durfte zu keiner Verkrampfung im Innern seiner Schwester kommen.

»Nie wieder gehen können?« stammelte sie, von Schluchzen unterbrochen. »Keine Wanderung mehr machen dürfen, nie mehr schwimmen und Rad fahren, auch nicht mehr reisen können! – Thomas, dann wäre es besser gewesen, ich wäre bei dem Sturz gleich umgekommen!«

Der Bruder hatte sich zu ihr auf das Bett gesetzt und den Arm um sie gelegt.

»Juliane, ich verstehe, dass du jetzt tief erschrocken bist. Es tröstet dich auch nicht, wenn ich dir sage, dass es noch viele Menschen gibt, denen es ähnlich geht wie dir. Denke zum Beispiel an den jungen Mann drüben in Zimmer Nummer siebzehn, der durch Kinderlähmung völlig unfähig ist, auch nur ein Glied zu rühren. Arme und Beine sind gelähmt. Er muss gefüttert, gewaschen und in jeder Beziehung von andern versorgt werden. Du kannst doch noch Arme und Hände bewegen. Und gerade deine Hände sind so geschickt. Was hast du immer für hübsche Handarbeiten gemacht! Wie viele Menschen hast du schon mit deinen Scherenschnitten erfreut! Ich bin fest überzeugt, dass du in dieser Welt noch Aufgaben zu erfüllen hast, sonst wärst du nicht mehr da. Der Sturz damals hätte ohne weiteres dein Tod sein können.«

Thomas schwieg. Juliane schien etwas ruhiger zu werden. Ihr Bruder entnahm der schlanken Kristallvase, die neben dem Bett auf dem Nachttisch stand, eine eben erblühte, dunkelrote Rose und hielt sie mit ausgestreckter Hand in die Sonne. »Schau, wie sie leuchtet in der goldenen Bahn! Denke, wie entsetzlich es wäre, wenn du dieses und vieles andere nicht sehen könntest, wenn du blind wärest. Von deinem Fenster kannst du hinübersehen in die Augenklinik. Dort liegt eine ganze Anzahl Blinder, die gern mit dir tauschen würden, wenn sie könnten.«

Plötzlich hob Juliane ihre Arme und zog den Kopf ihres Bruders zu sich herab. Mit noch immer tränenüberströmtem Gesicht flüsterte sie ihm zu: »Aber nie werde ich ein Kind haben können. Und ich wollte doch so gerne Mutter werden.«

Erschrocken über sich selbst, wagte sie eine Weile nicht, ihr Gesicht, das sie in Thomas’ Arm gedrückt hatte, zu erheben. Ungewollt waren ihr diese Worte entschlüpft, mit denen sie ihm Einblick in ihr innerstes Wesen gewährte.

Thomas strich zärtlich über ihr volles Haar. »Juliane, du brauchst dich deiner Worte nicht zu schämen. Ich verstehe dich gut. Aber auch dein Leben wird nicht ohne Inhalt sein. Weißt du, was ich mir ausgedacht habe? – Wenn ich mit dem Studium fertig bin, meine Vikarszeit hinter mir liegt und ich eine Pfarrstelle habe, dann nehme ich dich zu mir in mein Pfarrhaus und du nimmst teil an all meinem Erleben.«