Liebe ist immer stärker - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Liebe ist immer stärker E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Es ist kein leichter Weg, den Renate Sternhalter als junge Witwe mit ihren vier Kindern zu gehen hat. Durch Kriegseinwirkung verliert sie auch noch die gesamte Habe und findet schließlich bei einer alten Tante Unterkunft. Aber diese macht der vaterlosen Familie das Leben zusätzlich schwer durch ihr egoistisches Wesen. Allein der Glaube an Gottes unwandelbare Liebe hält Renate Sternhalter. Er hilft ihr, sich und ihre Kinder dem zu überlassen, der durchs finstre Tal hindurchführt. Dieses Wissen gibt ihr auch Kraft, die erwachsen gewordenen Kinder nicht aufzugeben, als ihre Entwicklung in eine Richtung geht, die sie betrübt und die sie nicht verstehen kann. Wie so anders verläuft der Weg jener Frau, in deren Elternhaus Renate Sternhalter mit ihren damals noch kleinen Kindern unvergessliche Ferienwochen erlebt hat! Theresia Morlock hat als älteste von vier Geschwistern schon früh Pflichten übernehmen müssen. Als dann der Vater verunglückt, bleibt ihr keine andere Wahl, als der strengen, kränklichen Mutter zur Seite zu stehen und auf den Mann zu verzichten, dem ihr Herz gehört. Innerlich vereinsamt und durch demütigende Ärgernisse um ihren jüngsten Bruder verbittert, erwartet sie nichts mehr vom Leben. Auch von Gott hat sie sich losgesagt, der sie aber nicht aufgibt und Theresia Morlock noch ein spätes Glück finden lässt. Zwei Menschenschicksale erleben wir mit, ineinander auf seltsame Weise verwoben. Die bekannte und beliebte Schriftstellerin hat auch in dieser Erzählung das Leben mit seinen Freuden, Enttäuschungen und Hoffnungen so echt und zeitnah geschildert, dass sich darin jung und alt irgendwo selbst wiederfinden. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Liebe ist immer stärker

Band 29

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-150-3

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Liebe ist immer stärker

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Liebe ist immer stärker

»Hallo, ist jemand da?«

Renate Sternhalter öffnete zögernd die Haustür und warf einen Blick in den kleinen Vorraum. Tatsächlich, es war alles noch genauso wie vor vierundzwanzig Jahren. Nichts schien sich geändert zu haben. Aber ob Theresia Morlock noch immer hier wohnte? Sicher war sie längst verheiratet und Mutter einiger Kinder, vielleicht sogar schon Großmutter. Sie war genau zehn Jahre jünger als sie selbst. Also musste sie ihren 56. Geburtstag hinter sich haben. Vielleicht führte eine der jüngeren Schwestern den Haushalt weiter.

Ob die Mutter noch lebte? Der Vater war ja schon seit Jahren tot. Nun, sie würde gewiss vieles von dem erfahren, was sich in den dazwischenliegenden Jahren ereignet hatte.

Frau Sternhalter trat noch einige Schritte weiter ins Haus hinein und warf einen Blick in den Gang, der zur Treppe führte, die im Halbdunkel lag, obwohl heute ein sonniger Tag war. Noch einmal versuchte sie sich durch Rufen bemerkbar zu machen. Jetzt war eine Stimme aus dem oberen Stockwerk zu hören.

»Einen Augenblick bitte. Ich komme sofort!« Dann vernahm man eilige Schritte, und wenige Augenblicke später stand Theresia Morlock vor der vermeintlich Fremden.

Freudig stellte Frau Sternhalter fest: Das war ein ihr wohlbekanntes, wenn natürlich auch älter gewordenes Gesicht. Also lebte Theresia doch noch im elterlichen Haus.

Diese aber stieß einen Ruf der Überraschung und Freude aus: »Ist es die Möglichkeit? Frau Sternhalter? Ja, sie ist's!« Beide Hände streckte Theresia ihr entgegen.

»Und Sie haben mich gleich erkannt, nach vierundzwanzig Jahren?« Fest drückte sie die Hände der Jüngeren. »Sie sind inzwischen sicher längst verheiratet und haben Familie?« Im gleichen Augenblick bereute Renate, diese Frage gestellt zu haben, denn ihrem aufmerksamen Auge entging nicht der Ausdruck des Kummers, der wie ein flüchtiger Schatten das Gesicht der Angesprochenen überflog.

Theresia schüttelte den Kopf, ohne auf die Frage näher einzugehen. Dann öffnete sie die Tür zu der kleinen Wohnstube, die neben der etwas geräumigeren Küche im Erdgeschoß lag. »Bitte, kommen Sie herein, Frau Sternhalter. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie gekommen sind. Natürlich habe ich Sie sofort erkannt! Setzen Sie sich doch. Was machen die Kinder? Liebe Zeit, die sind ja inzwischen auch alle erwachsen.«

Renate nahm auf der mit geblümtem Stoff überzogenen Eckbank Platz. »Nur für einen Augenblick«, sagte sie und blickte sich in dem ihr vertrauten Raum um. Auch hier war alles unverändert.

»Die Frage nach meinen Kindern beantworte ich Ihnen das nächste Mal. Heute kann ich höchstens eine halbe Stunde bei Ihnen bleiben. Ich habe vor einer Woche eine Werbung in meinem Briefkasten gefunden. Ein Reisebüro aus Stuttgart führt Tagesfahrten durch. Als ich ›Tannheim in Tirol‹ las, standen Sie plötzlich vor meinem Auge, Fräulein Morlock.«

»Bitte, sagen Sie doch wie früher einfach nur Theresia«, bat diese.

»Ich entschloss mich, mitzufahren«, berichtete Frau Sternhalter weiter. »Mich lockten weniger die Angebote, der günstige Fahrpreis, in dem Mittagessen und Nachmittagskaffee eingeschlossen sind, ebenso wenig die Besichtigung einer Käserei und ein Reisegeschenk von einem halben Pfund Allgäuer Käse. Das alles besaß keine Anziehungskraft für mich. Doch die Tatsache, dass als Reiseziel das Tannheimer Tal genannt war, ließ mich keinen Augenblick zögern. Ich muss Fräulein Theresia sehen, sagte ich mir. Der Gedanke, Sie könnten vielleicht nicht mehr in Ihrem Haus wohnen, beunruhigte mich nur für einen Augenblick. Kurz entschlossen füllte ich den Anmeldeschein aus, und nun bin ich hier. Während die anderen Fahrgäste sich nun vor der Rückfahrt für eine starke Stunde in einer Gaststätte zum Kaffee trinken aufhalten, machte ich mich auf den Weg zu Ihnen. In etwa zwanzig Minuten war ich hier oben. Genau diese Zeit muss ich für den Rückweg rechnen. Nun sagen Sie mir aber, wie es Ihnen geht.«

Wieder nahm Frau Sternhalter den Schatten auf dem Gesicht der ihr gegenübersitzenden Frau wahr.

Theresia zögerte einen Augenblick, dann antwortete sie: »Um ausführlich zu berichten, reicht auch mir die kurze Zeit nicht aus. Aber soll ich Ihnen nicht schnell eine Erfrischung bringen? Sie kommen wegen mir um Ihre Kaffeepause.«

Frau Sternhalter schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht! Mir ist es jetzt wichtiger, mit Ihnen zusammen zu sein. Sie haben immer noch Feriengäste?«

»Ja, wie lange noch, das weiß ich nicht.«

»Wollen Sie nicht mehr vermieten?«

»Ich will schon. Wovon sollte ich sonst leben? Aber mir fehlt das Geld, das Haus instandsetzen zu lassen. Es ist dringend notwendig. Die Holzverkleidung draußen habe ich schon im vergangenen Jahr selbst gestrichen. Dabei bin ich von der Leiter gestürzt und musste warten, bis jemand vorbeikam, der mir beim Auf stehen half. Glücklicherweise war nichts gebrochen. Aber die Verzerrungen am Fuß waren sehr schmerzhaft, und es dauerte einige Zeit, bis ich die Arbeit beenden konnte.«

»Haben Sie vielleicht Mitte August ein Einzelzimmer frei? Ich würde gern für drei Wochen zu Ihnen kommen.«

Ein Aufleuchten erhellte Theresias Gesicht. »Oh, Frau Sternhalter, wie mich das freut! Ja, ich habe Platz für Sie. Aber« – sie zögerte, weiterzusprechen, fuhr dann jedoch fort: »Es ist so, wie Sie vorher sagten: Nichts hat sich verändert. Es ist alles genauso einfach wie vor Jahren. Die einzige Neuerung ist eine Ölheizung. Doch heute bedauere ich es beinahe; denn wer weiß, wie es in diesen unsicheren Zeiten mit dem öl werden wird. Vielleicht hätte ich weiter mit Holz heizen und dafür die Zimmer umbauen oder moderner einrichten lassen sollen. Wenn Sie Komfortzimmer erwarten, wie man sie jetzt in vielen Häusern, auch hier, anbietet, dann müsste ich Ihnen abraten, zu mir zu kommen.«

»So etwas suche ich nicht. Ich freue mich auf die Gemütlichkeit bei Ihnen, Fräulein Theresia, und ich werde mich hier, dessen bin ich sicher, genauso wohlfühlen wie vor Jahren.«

Noch dieses und jenes sprachen die beiden Frauen miteinander. Als ihr Besuch sich verabschieden wollte, bot Theresia ein Stück Wegbegleitung an. Die Freude über dieses unverhoffte Wiedersehen klang aus ihrer Stimme. »Wissen Sie, Frau Sternhalter, Sie kamen gerade zur rechten Zeit. Kurz vorher war ein junges Ehepaar bei mir, um die Zimmer zu besichtigen. Die Lage hätte ihnen gut gefallen – so weit ab vom Straßenverkehr, vor allem die Aussicht auf die Berge und über das Tal – aber das Haus war ihm nicht modern genug. Die zwei wünschten Zimmer mit eigener Toilette und Bad, auch einen Balkon vermissten sie. Ich hörte die junge Frau sagen, bevor sie in das Auto stieg: ›Eine direkte Zumutung in unserer Zeit.‹ Ihr Mann antwortete:

›Schade, das alte Haus hätte mir gut gefallen, und ich hätte herrliche Motive zum Malen gehabt.‹ Ich weiß es ja selbst: Mein Haus genügt nicht mehr den heutigen Ansprüchen. Wie lange werde ich noch mit Feriengästen rechnen können?«

»Fräulein Theresia«, entgegnete Frau Sternhalter, »es gibt auch jetzt noch Menschen, die einem einfachen Haus in schöner Gegend den Vorzug geben, zumal sie dann doch billiger wohnen als in den teureren Hotels oder Pensionen.«

»Gewiss, ich habe glücklicherweise noch eine Anzahl Stammgäste, die immer wiederkommen. Aber die Preise steigen dauernd, und ich wage kaum, meine einfachen Zimmer teurer zu vermieten aus Angst, es käme bald keiner mehr.«

Frau Sternhalter freute sich auf die Rückfahrt im Autobus durch das schöne Allgäu mit seinen Tälern und Höhen, den weiten Wiesenflächen, auf denen Kühe grasten, und den prächtigen Höfen, die aus dem satten Grün, das sie umgab, herauszuwachsen schienen. Jedes Mal hatte diese Landschaft sie beglückt, wenn sie in den Ferien mit ihren Kindern ins Tannheimer Tal gefahren war – drei Jahre hintereinander. Als sie heute nach so langer Zeit wieder Theresia begegnet war, hatte sie kaum glauben können, dass seitdem so viele Jahre vergangen waren – so deutlich spürbar war der Kontakt, der sofort wieder zwischen ihnen bestand. Sie freute sich über den spontanen Entschluss, im August einige Wochen an dem vertrauten und ihr so lieb gewordenen Ort verbringen zu können.

Frau Sternhalter konnte sich nun doch nicht dem Genuss des Schauens uneingeschränkt hingeben. Zu stark nahm sie die Erinnerung gefangen, und sie war froh, dass die übrigen Fahrgäste, von den Erlebnissen des Tages ermüdet, nicht mehr so lebhaft aufeinander einredeten wie während der Hinfahrt. So konnte sie ihren Gedankengängen folgen.

Immer, wenn sie etwas erlebte, was sie stark bewegte, musste sie an ihren Mann denken, mit dem sie in glücklicher Ehe leider nur kurze Zeit verbunden gewesen war. Wie gerne hätte sie alle Freuden ihres Leben mit ihm geteilt, auch die heutige schöne Fahrt. Sie waren Schulkameraden gewesen. Schon mit achtzehn Jahren hatte sie gewusst, dass sie nie einen anderen Mann als Ralf Sternhalter heiraten würde. Gleich nach Kriegsausbruch war ihre Ehe geschlossen worden. Ralf musste Soldat werden und kam an die Front. Im kommenden Jahr war Siegfried, ihr Ältester, geboren worden. Ihre beiden Töchter, die Zwillinge, Dorothee und Gabriele, sowie der Jüngste, Ralf Peter, waren ebenfalls Kriegskinder. Nur während der kurzen Urlaubszeiten hatten sie das Glück der Zweisamkeit erlebt, und doch waren es so unbeschreiblich schöne, harmonische Tage, dass sich Renate Sternhalter ganz entschieden dagegen gewehrt hätte, würde jemand behauptet haben, eine so kurze Zeit genüge nicht, um von einer wirklich glücklichen Ehe sprechen zu können. Und dann kam jener schwere Tag. Wie viele andere hatte auch sie, Renate, gedacht, der unheilvolle Krieg würde in Kürze ein Ende nehmen. War nicht schon genug Schreckliches geschehen? Wie viele Städte lagen zerstört durch Bombenangriffe in Schutt und Asche. Auch sie hatte immer wieder mit ihren kleinen Kindern, das Neugeborene im Arm, in den Luftschutzkeller flüchten müssen. Wie weh hatte es ihrem Herzen getan, wenn sie die fest Schlafenden nachts aus ihren Betten reißen und in Sicherheit bringen musste. War es wirklich Sicherheit gewesen? Tausende von Menschen, alte Leute, Mütter mit ihren Kindern, Jugendliche und Männer kamen bei den Fliegerangriffen ums Leben.

Auch an jenen unvergesslichen Tag hatte Renate Sternhalter soeben gedacht, während sie im Autobus nach Stuttgart fuhr, an dem sie die Todesnachricht ihres Mannes erhielt.

»Auf dem Felde der Ehre für Volk und Vaterland gefallen«, hatte man ihr kurz mitgeteilt. Wie Hohn war es ihr vorgekommen. Dazu erwartete man von ihr, dass sie darauf noch stolz war, dieses Opfer für das Vaterland gebracht zu haben. Der Überbringer der furchtbaren Nachricht hatte ihr mit ähnlichen Worten den unheilvollen Brief überreicht. Stumm hatte sie ihn aus seinen Händen in Empfang genommen. Nein, das war ihr kein Trost gewesen, als er sie einen Blick in seine Aktentasche werfen ließ und dabei sagte: »Seh'n Sie hier, so vielen Frauen habe ich eine solche Nachricht zu bringen.« Es waren einige Dutzend derartige Briefe gewesen. Sie hatte es gerade noch vermocht, die Tür hinter dem Unglücksboten zu schließen, dann war sie zusammengebrochen.

Obgleich Renate Sternhalter es in den Monaten der Abwesenheit ihres Mannes befürchtet hatte, war es ihr jetzt, als es Wirklichkeit geworden war, als müsse ihr das Herz brechen. Ralf, ihr über alles geliebter Mann, lebte nicht mehr! Kaum fünf Jahre glücklicher Ehe lagen hinter ihnen. Wie sollte sie das Leben ohne ihren guten, immer ritterlichen und um sie und die Kinder besorgten Gefährten ertragen? Nein, es tröstete sie nicht, dass es Tausenden von Frauen ebenso erging. Gewiss, jede dieser Kriegerwitwen war zutiefst zu bedauern, auch die vielen Kinder, die auf diese Weise den Vater verloren. Aber in ihrer Verzweiflung kam es ihr vor, als sei allein ihre eigene Ehe glücklich und ohne Trübung verlaufen. In ihr bäumte sich etwas vorher nie Gekanntes auf: Wie kann Gott mir dies antun? Wie kann er solchen Jammer zulassen?

Und dann erschrak sie vor ihren eigenen Gedanken. War Hadern mit Gott nicht Sünde? Wie kam sie dazu, die geballte Faust gegen ihn, anstatt die gefalteten Hände zu ihm zu erheben? Und was würde Ralf, ihr Mann, dazu sagen? Hatten sie sich nicht vorgenommen, sich immer an Gott zu halten? Gemeinsam gehörten sie vor ihrer Ehe einem Jugendkreis an, in dem ihnen der Wert und die Wichtigkeit einer bewussten Nachfolge Christi nahegelegt wurde. Neben ihrer Liebe war der Glaube das stärkste Band gewesen, das ihre Herzen miteinander verbunden hatte! »Gott muss in unserm Leben immer den ersten Platz einnehmen«, hatte Ralf gesagt. Sie meinte ihn noch zu hören. Und als er sich am Ende des letzten Urlaubs, der besonders schön gewesen war, von ihr verabschiedete – nie war ihr das Loslassenmüssen so schwer gefallen, wie damals, als sie spürte, dass sie ihren Mann zum letzten Mal sah – hatte er sie noch einmal fest in die Arme genommen und mit einer fast überirdischen Zuversicht gesagt: »Liebste, Gott wird dich und die Kinder nie verlassen, komme, was mag! Halte fest an dieser Gewissheit.« Nein, Ralf würde ihre Verzweiflung nie gutheißen. Und doch hatte sie sich damals aufgelehnt: Ich habe ja noch gar nicht wirklich gelebt! Die wenigen glücklichen Tage, in denen er auf Urlaub war, konnten doch nur ein Vorgeschmack dessen sein, was unsere Ehe wirklich hätte werden können. Als ihr Mann sie das letzte Mal verließ, um wieder an die Front zurückzukehren, hatte sie noch nicht gewusst, dass ihr viertes Kind bereits unter ihrem Herzen lag. Aber das eine war ihr klar geworden – an jenem Tag, als sie die unfassliche Nachricht erhielt, dass ihr Mann nie mehr zurückkehren würde –, sie musste schon ihm zuliebe tapfer sein und durchhalten. Ihre Kinder, auch das noch nicht Geborene, waren seine Kinder, das Pfand seiner Liebe. In seinem Sinne musste sie für sie leben, sie recht erziehen und ihnen ein Vorbild sein. Wie oft hatte sie in den späteren Jahren bei mancherlei Anlässen zu den Kindern gesagt: »Ich glaube, Vati würde jetzt so und nicht anders handeln. Vati würde jetzt das sagen oder so entscheiden.«

In einer der schrecklichen Bombennächte hatte auch ihr Haus einen Volltreffer bekommen. Ausgerechnet in dieser Nacht war sie mit den Kindern in einen naheliegenden Luftschutzbunker geflüchtet, als hätte sie eine Vorahnung gehabt. Ihre Wohnung und alles, was sie an Möbeln, Kleidern und sonstigen Gebrauchsgegenständen besaß, war vernichtet worden. Was sollte nun werden? Für die nächsten Tage war sie mit anderen in einem Schulgebäude untergebracht, wo sie auf Strohschütten schliefen und vom Roten Kreuz mit Essen und den notwendigen Kleidungsstücken versorgt wurden. Dann hatte sie einen Brief von einer alten, bald achtzigjährigen Tante erhalten. Mit ihrer immer noch gut leserlichen, energischen Handschrift bot sie ihr, der Großnichte, und ihren Kindern an, zu ihr zu ziehen: »Ich habe davon gehört, dass Ihr total ausgebombt seid und kann mir vorstellen, dass Du nicht weißt, wie es mit Euch weitergehen soll. Mein Haus ist zwar nicht groß – Du weißt es –, wir müssen eben zusammenrücken. Aber besser als zwischen den Trümmern der Stadt lebt es sich hier draußen allemal. Dann ist ja auch noch der Garten da und direkt gegenüber der Wald, wo sich die Kinder tummeln können. Jetzt sind sie zwar klein, so dass Du sie nicht ohne Aufsicht lassen kannst. Aber das ändert sich ja schnell. Als Gegenleistung wirst Du mir den Haushalt führen, den Garten versorgen und mich betreuen, wenn ich nicht mehr kann.« So etwa hatte damals die Großtante geschrieben. So dankbar sie für das Angebot war, so erschrocken war sie über den Befehlston in dem Brief. Keine Frage: Bist du bereit, Haushalt und Garten zu übernehmen, und wenn ich mich nicht mehr selbst versorgen kann, mich zu pflegen? Nein, es war ein Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Doch was hätte sie damals anderes tun können? Sie war ja glücklich, ein solches Angebot zu bekommen. Wo sonst hätte sie mit ihren vier kleinen Kindern hinsollen? Darum sagte sie zu und meinte, wieder die Stimme ihres Mannes zu hören: »Gott wird dich und die Kinder nie verlassen, komme, was mag!« Natürlich konnte sich auch in diesen Vorort Stuttgarts eine Fliegerbombe verirren, wenn auch der kleine Ort kein kriegswichtiges Ziel war. Sie hoffte sehr auf ruhigere Nächte, besonders für ihre Kinder, denen sie es so sehr wünschte, nachts wieder einmal durchschlafen zu können. Schließlich würde dieser unselige Krieg auch einmal ein Ende nehmen, so dass sich die Verhältnisse wieder normalisierten.

Sie waren also in das Häuschen der alten Tante gezogen. Der Einzug verlief ohne Probleme oder größere Mühen, denn sie besaßen ja nur, was sie auf dem Leibe hatten. Alles andere war zerstört worden oder in Flammen auf gegangen.

»Du kannst dir von meinen Kleidern und der Leibwäsche nehmen«, sagte die Tante kurz und bündig. »Da in der Kammer findest du alles in einem Schrank.«

»Dein Angebot ist sehr lieb«, hatte Renate damals erwidert, »ich fürchte nur, dass mir deine Sachen kaum passen. Mit der Unterwäsche mag es noch gehen. Aber du bist doch viel größer als ich und – und«

»Was und?« hatte die alte Dame gereizt gefragt. »Stell dich doch nicht so ungeschickt an! Du benötigst ein Kleid für den Alltag und eins für den Sonntag. Das genügt! Du nähst einfach einen breiten Saum ein und schlägst die Ärmel ebenfalls um. Dass du mir nichts abschneidest! Wenn du mal wieder in der Lage bist, dir ein passendes Kleid zu kaufen, gibst du mir die geliehenen zurück. Die kann ich noch lange tragen.«

Frau Sternhalter erinnerte sich noch genau daran, was sie damals gedacht hatte: Wie lange gedenkt sie denn noch zu leben? Gleichzeitig hatte sie sich selbst Vorwürfe gemacht. Musste sie nicht heilfroh sein, mit ihren Kindern überhaupt ein Obdach gefunden zu haben? Und so nähte sie unmöglich breite Säume in die beiden Kleider, die noch aus einer Zeit stammten, in der die Frauen ihre Röcke bis fast auf den Boden herab trugen und damit die Straße fegten.

Die Kinder hatten in der ersten Zeit wie verscheuchte Vögelchen im Haus der Tante herumgesessen. Solchen Ton waren sie nicht gewöhnt gewesen! Hatte die alte Dame denn nie mit Kindern zu tun gehabt, dass sie gleich loszeterte, wenn eines weinte oder das Jüngste gar schrie, oder wenn sie sich, was natürlich auch vorkam, stritten? Als Unverheiratete hatte die Tante nie ein Kind gehabt und war im Laufe der Zeit egoistisch und misstrauisch geworden.

Renate Sternhalter erkannte sehr bald, dass es nicht Erbarmen oder gar Liebe gewesen war, das die Tante bewogen hatte, sie mit den Kindern aufzunehmen, sondern selbstsüchtige Berechnung. Auf diese Weise bekam sie eine Arbeitskraft ins Haus, die sie nicht bezahlen musste, weil sie ja schließlich zu einem solchen Opfer bereit war. Oder war es etwa kein Opfer, eine Frau mit vier Kindern aufzunehmen? Glücklicherweise lebten in der Nachbarschaft nette Leute, die mit der jungen Witwe und ihren Kindern tiefes Mitleid empfanden. Sie kannten die alte Frau, die zu niemandem Kontakt hatte. Es dauerte nicht lange, da brachten sie Renate Kleidungs- und Wäschestücke, die ihren eigenen Kindern zu klein geworden waren. Überfluss besaß damals keiner. Renate nahm die Sachen dankbar an und wies das nette Kleid ebenfalls nicht zurück, das ihr eine freundliche Frau ihrer Größe aus dem eigenen Bestand schenkte.

Einige Zeit wagte sie nicht, es zu tragen, aus Angst, wie die Tante darauf reagieren könnte, die mit der ganzen Nachbarschaft in Feindschaft lebte.

Eines Tages aber hatte diese es doch entdeckt. »Wie kommst du zu diesem Kleid?« fragte sie misstrauisch. »Demnach hast du doch noch einiges von deinen Sachen retten können. Das ist ja allerhand, mich so zu belügen.«

»Ich habe dich nicht belogen, Tante«, hatte sie zitternd vor Empörung über eine solche Verdächtigung geantwortet. »Frau Brunner, die Frau deines Hausarztes, hat es mir geschenkt.«

»Hast dich wohl beklagt, dass ich dir zumute, von mir Kleider zu tragen?«

»Das ist nicht wahr! Du weißt, Tante, wie dankbar ich dir bin, dass du mich mit den Kindern aufgenommen hast. Frau Brunner hat mich auf der Straße angesprochen und mich gefragt, ob es mir sehr unangenehm wäre, wenn sie mir ein Kleid von sich anbieten würde. Ihr Haus sei bisher vor Fliegerangriffen verschont geblieben, sie hätte also keine Verluste gehabt wie ich. Gerne würde sie mir ein wenig helfen. In dieser schweren Zeit müssten doch alle zusammenstehen.«

Frau Sternhalter wusste heute noch, nach all den dazwischenliegenden Jahren, dass sie damals nicht hatte weiterreden können, weil Tränen ihre Stimme erstickten. Da es sich um die Frau ihres Arztes handelte, war die Tante nicht weiter auf das Kleid eingegangen. Aber tagelang hatte sie kaum mit ihr gesprochen und war mit einem beleidigten Gesicht herumgelaufen. Mehrfach hatte Renate mit anhören müssen, wie sie vor sich hinbrummelte: »In der Nachbarschaft herumlaufen und sich bemitleiden lassen.«

Als wenn Renate Sternhalter Zeit gehabt hätte, in der Nachbarschaft herumzulaufen und mit den Leuten zu sprechen. Wie gerne hätte sie wenigstens dann und wann mit einem vernünftigen Menschen einen Gedankenaustausch gehabt. Aber der Haushalt, die Pflege der Kinder, der Garten und nicht zuletzt die Betreuung der alten Tante, die Tag für Tag ungezählte Wünsche äußerte, ließen sie nicht zu sich selbst kommen. Todmüde sank sie am Abend in ihr Bett. Manchmal war auch eins ihrer Kinder krank. Das bedeutete dann oftmals für sie des Nachts aufzustehen und das weinende Kind zu versorgen und zu beruhigen; denn wehe, wenn die Tante in ihrem Schlaf gestört wurde! Sie behauptete zwar fast an jedem Morgen, sie habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, schlief in der Regel aber sehr tief und fest.

Es hatte natürlich nicht lange gedauert, bis die Kinder merkten, dass die Tante ganz anders war als die Mutti, die sich trotz aller Arbeit bemühte, mit ihnen geduldig und gelassen umzugehen.

»Die Tante schimpft immer, ob wir laut oder leise sind«, beklagte sich eines Tages Siegfried. Er hatte gerade begonnen, in den Kindergarten zu gehen. Einesteils war die Mutter darüber froh, weil dann nur noch drei zu Hause blieben, über die sich die Tante ärgern konnte – und das tat sie in der Tat immer. Andererseits fehlte ihr der Älteste, denn er war ihr schon manchmal eine Hilfe, wenn er sich mit den beiden Zwillingsschwestern beschäftigte oder Ralf-Peter, den Jüngsten, im Wagen herumfuhr.

Ein Lächeln glitt über Frau Sternhalters Gesicht, als auf dieser Fahrt vom Tannheimer Tal durch das liebliche Allgäu all diese Bilder aus vergangenen Jahren so plastisch vor ihr inneres Auge traten, als sei dies alles erst gestern geschehen. Damals aber war ihr das Lachen oft vergangen. Einmal, an einem Nachmittag, hatte sie Siegfried gebeten, mit den Schwestern ein Bilderbuch anzusehen, während sie im Garten arbeitete. Plötzlich war sie durch lautes Schreien und heftiges Schimpfen der Großtante aufgeschreckt worden. Was war denn nun schon wieder los?

»Eine Unverschämtheit sondergleichen ist das!« Die Tante schien sehr erregt zu sein. Sie, Renate, war nicht gleich ins Haus zurückgegangen. Solche Auftritte gehörten längst zur Tagesordnung. Sie hoffte, dass sich der Sturm legte, bevor sie eingreifen musste. Aber es wurde immer schlimmer. Nun schien auch Siegfried die Tante anzuschreien. Das durfte natürlich nicht sein. So legte sie die Hacke aus der Hand und eilte ins Haus.

»Kinder, was ist denn los?« fragte sie, als sie das Zimmer betreten hatte.

»Eine freche Bande ist das!« ereiferte sich die alte Frau, die mit erhobener Hand dastand, als wollte sie die Kinder schlagen.

»Sieh doch, Mutti«, erklärte nun Siegfried und musste sich Mühe geben, die Lautstärke der Tante zu übertönen. Mit dem offenen Bilderbuch in der Hand kam er zu Renate und deutete mit dem Finger auf ein Bild aus dem Märchen von Hänsel und Gretel. »Hier die Hexe, die sieht doch genauso aus wie die Tante. Im Kindergarten haben wir heute Morgen die Geschichte gehört.«

Da erhob die alte Frau erneut ihre Stimme. »Ich bin dazugekommen, als er zu seinen Schwestern sagte, ich sei eine alte Hexe.«

»Aber Siegfried«, hatte die Mutter erschrocken gewehrt, »das darfst du nicht sagen. Das stimmt doch gar nicht.«

»Doch stimmt es!« hatte der Junge beharrlich behauptet. »Schau sie dir nur mal an, hier im Bilderbuch. Die Tante sieht ganz genauso aus. Und dann wollte sie uns schlagen.«

In einer Beweglichkeit, wie man sie der alten Frau nicht zutraute, hatte diese sich auf den Jungen gestürzt, ihn heftig am Arm gepackt, geschüttelt und geschrien: »Du unverschämter Bengel! Ich will dich lehren, mich eine Hexe zu nennen. Das sollst du mir büßen!«

Da war jedoch sie, die Mutter, dazwischengetreten und hatte mit flammender Stimme gesagt: »Tante, bitte, lass Siegfried los! Er wollte bestimmt nichts Unrechtes sagen oder tun.« Doch dann hatte sie selbst etwas Falsches getan. Sie sagte: »Nimm es dem Kind doch nicht übel, wenn es meint, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Frau im Bilderbuch und dir entdeckt zu haben.«

Da hatte die alte Frau geschrien: »Sprich es doch ruhig aus, und sage es vor deinen Kindern, dass auch du mich als alte Hexe ansiehst. Aber nun ist's Schluss, endgültig Schluss! Ich will euch nicht länger sehen. Macht, dass ihr 'rauskommt aus meinem Haus! Nicht einen Tag länger dulde ich euch bei mir. Das hat man nun davon, dass man euch aufgenommen hat, als ihr auf der Straße lagt. Aber diesmal lasse ich mich nicht mehr umstimmen.«

Ach, wie oft hatte die Tante sich bei ähnlichen Anlässen schon so geäußert! Aber immer war die Sache wieder eingerenkt worden, denn ihr, Frau Sternhalter, war letztlich klar, dass der alten Frau angst und bange geworden wäre, wenn sie wirklich das Haus verlassen würden. Wer hätte dann die ganze Arbeit tun und sie versorgen sollen? Aber so böse wie heute hatte sie die Tante noch nie gesehen. Es schien ihr wirklich ernst zu sein, sie wegzuschicken. Wahrscheinlich war sie, Frau Sternhalter, damals auch ziemlich am Ende ihrer Kräfte gewesen. Jedenfalls war sie plötzlich vor ihren Kindern in Tränen ausgebrochen und hatte schluchzend ausgerufen: »Aber wo soll ich denn mit meinen vier Kindern hin, wenn du uns jetzt fortschickst?«

»Das ist mir völlig gleichgültig!« hatte die Tante gezetert.

Siegfried aber, der damals knapp Sechsjährige, hatte plötzlich seine geballten Fäuste zu ihr erhoben und geschrien: »Und du bist doch eine Hexe, eine ganz, ganz böse – noch viel böser als die ihm Bilderbuch, wenn du meine Mutti zum Weinen bringst!«

Frau Sternhalter erinnerte sich noch, wie sie sich beherrscht und ihre Tränen getrocknet hatte. Mit energischem Griff hatte sie den Jungen am Arm genommen und vor die Tür gestellt. »Ich will jetzt kein weiteres Wort von dir hören, Siegfried!«

Er hatte es an jenem Abend keineswegs eingesehen, dass er sich der Tante gegenüber ungezogen benommen hatte. »Du musst doch selber zugeben, dass sie genauso aussieht wie die alte Hexe im Bilderbuch«, hatte er aufbegehrt. »Und dann war sie noch so gemein zu dir.«

»Ich weiß, mein Junge, dass du mich verteidigen wolltest«, versuchte sie ihn zu beruhigen, konnte ihn aber nur schwer überzeugen. Erst als sie ihm erklärte, wie schlimm es sein würde, wenn die Tante wirklich darauf besteht, dass sie ausziehen, begann er einsichtig zu werden.

»Nicht einmal mehr im Roten Kreuz könnten wir Unterkommen«, hatte sie ihm erklärt, denn die Plätze sind schon längst wieder an andere Flüchtlinge oder an Ausgebombte vergeben.

Außerdem habt ihr hier alle euer eigenes Bett, dort aber müssten wir auf einem Strohlager schlafen.«

Nein, dann wäre es schon besser, bei der Tante zu bleiben, wo man im Wald herumspringen kann, hatte er schließlich gemeint.

Am Abend jenes Tages – Renate wusste es noch genau – hatte sie, als die Kinder schliefen, das Haus leise verlassen. Es war ein milder Sommerabend gewesen. Nach dem Aufruhr in ihrem Innern, den der Auftritt mit der Tante verursacht hatte, wollte sie wenigstens noch für kurze Zeit ein Stück am Waldrand entlanggehen. Sie musste zur Ruhe kommen, musste Abstand gewinnen von dem Unerfreulichen, das diesem Tag wieder sein Gepräge gegeben hatte. Wie schon so oft war erneut das Heimweh nach ihrem Mann über sie hereingebrochen. Ach, warum hatte er sie so früh verlassen müssen! Was blieb ihr noch von ihrem Dasein? Nichts als Arbeit und Mühe, das Sorgen für die Kinder, der ewige Ärger mit der Tante! Sie hatte nichts mehr zu erwarten als Pflichterfüllung und Verzicht.

Plötzlich erschrak sie vor ihren eigenen Gedankengängen. Wie kam sie dazu, sich solchen Erwägungen hinzugeben und zu resignieren? War das nicht Lebensauftrag genug, für ihre vier Kinder – das Vermächtnis ihres geliebten Mannes – da zu sein? Sie schämte sich. Hatte Gott nicht offensichtlich eingegriffen, als sie in jener Nacht nach dem furchtbaren Fliegerangriff, der ihr alles genommen hatte, schlaflos neben ihren Kindern auf der Strohschütte lag und verzweifelt dachte: Wie soll es jetzt nur mit uns weitergehen? Was hatte ihr Mann einmal zu ihr gesagt, als er von der Front in Urlaub kam, nachdem die Zwillinge geboren waren und sie damals recht verzagt antraf: »Reni, glaube es doch: Wenn Gott dir zumutet, dass du Schweres durchmachst, dann greift Er auf irgendeine Weise ein. Entweder schenkt er dir die Kraft, das Schwere zu tragen, oder er nimmt dir die Last ab. Vielleicht schickt er dir aber auch einen Menschen, dem du dich anvertrauen kannst und der dir in deiner bedrückenden Lage hilft. Sei überzeugt, Gott lässt dich nicht allein!«

Ach Ralf, hatte sie an jenem Abend gedacht, als ihr das Herz wieder einmal so schwer war, dass sie glaubte, nicht mehr weiter zu können, du hattest gut reden. Du konntest ja auch nicht ahnen, was alles auf mich und deine Kinder zukommen würde … Ja, damals, als der Brief von der Tante eintraf, mit dem Angebot, zu ihr zu kommen, da meinte sie auch, Gott habe ihr Herz gelenkt, dass sie mir so schreiben musste. Wie ein Himmelsgeschenk war es mir vorgekommen, nicht mehr in der Stadt zwischen den Trümmern leben zu müssen. Ja, es stimmt, wir konnten es vor Freude nicht fassen, so nahe am Wald zu wohnen, einen Garten und einen Spielplatz zu haben. Wenn auch das Häuschen für uns alle reichlich klein ist, so dass wir uns einschränken müssen, war die veränderte Situation doch ein Grund zum Danken und zur täglichen Freude. Bis sich dann die Tante entpuppte und es keinen Tag mehr gab, an dem sie nicht schimpfte und zeterte, meine Arbeit kritisierte und mich vor den Kindern herabsetzte. Ach Ralf, du hast keine Ahnung, wie schwer es manchmal ist! Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte …

So hatte sie mit ihrem Mann gesprochen, als sei er noch am Leben. War er es nicht wirklich? Glaubte sie nicht fest daran, dass das Leben nach dem Tode weitergeht? Die Sehnsucht nach ihrem Mann war verständlich bei der wundervollen Harmonie, die ihre Herzen miteinander verbunden hat. Aber durfte sie so mit ihm reden? Hatte sie aus seinem Munde nicht auch das Wort der Bibel gehört: »Wirf dein Anliegen auf den Herrn, er wird dich versorgen.« Durfte sie Gott mit ihren kleinen menschlichen Nöten, die im Vergleich zum großen Weltgeschehen so unbedeutend waren, überhaupt belästigen?

Renate Sternhalter erinnerte sich, wie sie damals auf dem Weg am Waldrand plötzlich von Stimmen aus ihren Gedankengängen aufgeschreckt worden war. Ein Mann und eine Frau kamen ihr entgegen. Vor ihnen her sprang ein kleiner Hund, der, als er sie wahrnahm, zu bellen begann.

»Wirst du wohl still sein, du nächtlicher Ruhestörer!« hörte sie eine wohlklingende Stimme sagen. »Komm sofort hierher und belästige nicht friedliche Spaziergänger.«

Jetzt hatte Frau Sternhalter die Stimme erkannt. Es war Doktor Brunner, der nur wenige Häuser von ihnen entfernt seine Praxis ausübte und von dessen Frau sie das Kleid geschenkt bekommen hatte. Renate wollte zur Seite treten, um den beiden Leuten den schmalen Weg freizugeben. Da hatte auch das Ehepaar sie erkannt. Freundlich streckten beide ihr die Hand entgegen.

»Sie müssen mir bitte Ihren Namen nennen«, bat der Arzt. »Solange ich einen Namen nicht in meiner Kartei lese, kann ich ihn schlecht behalten. Meine Frau hat mir zwar von Ihnen erzählt, aber sie sprach nur von der jungen Frau bei der Patientin in Nr. sieben.«

»Es stimmt«, fügte Frau Brunner hinzu. »Ihren Namen habe auch ich bisher nicht gekannt.«

»Ich heiße Renate Sternhalter«, hatte sie geantwortet.

Darauf hatte der Arzt gemeint, dies sei ein besonders schöner Name. »Sterne in den Händen tragen, Licht verbreiten in dieser dunklen Zeit.«

»Das hört sich ja ganz poetisch an«, hatte Renate lächelnd geantwortet. »Aber oft gelingt es mir nicht einmal bei meinen Kindern, Licht zu verbreiten.«

Es sollte nicht trostlos oder resigniert klingen. Es war ganz einfach der Ausdruck dessen, was sie damals in jener Abendstunde empfand. Die Eheleute mussten davon wohl irgendwie etwas empfunden haben. Sie waren bei ihr stehengeblieben und hatten nach ihrem Ergehen und nach dem Wohlbefinden der alten Tante und ebenso nach ihren Kindern gefragt.

»Vier sind es, nicht wahr?« Frau Brunner hatte die Kinder schon im Garten herumspringen sehen. »Das Kleinste wird meistens von dem Ältesten im Sportwagen gefahren«, hatte sie weiter geplaudert. »Ich habe mich schon manchmal gefreut zu sehen, wie nett er mit dem Kleinen umgeht.«

»Nicht immer tut er es gern«, hatte Renate ehrlich geantwortet. »Manchmal möchte er lieber auch spielen, im Wald herumstromern und auf die Bäume klettern. Aber er muss mir öfter helfen und auf die Geschwister aufpassen. Ich habe für die Kinder wenig Zeit. Der Haushalt, die Wäsche, das Kochen, vor allem die Betreuung unserer Tante erfordert viel Zeit.«

»Und Kraft, nicht wahr?« hatte Frau Brunner wissend hinzu-

gefügt, »dazu Umsicht und viel Geduld!« Und als sie, Renate, darauf nicht antwortete, hatte der Arzt am Gesprächsfaden weitergesponnen: »Ja, ja, die Tante! Ich behandle sie nun schon viele Jahre und kenne sie daher gut. Sie hat sehr liebenswürdige Seiten. Aber sie kann auch ganz anders sein. Ich könnte mir denken, dass Sie es bei ihr nicht leicht haben!«

Dann hatte Frau Brunner sie gefragt, ob sie nicht Lust habe, für ein Weilchen mit ihnen nach Hause zu kommen. »Es ist ein so milder Abend. Wir setzen uns mit einem erfrischenden Getränk noch in die Jasminlaube.«

»Ja, kommen Sie mit uns! Das wird Ihnen guttun«, fügte der Arzt hinzu, der ihr Zögern merkte. Aber sie hatte sich dazu nicht entschließen können. »Ich glaube, ich sollte nach den Kindern sehen. Der Jüngste könnte aufwachen und schreien. Und dann gibt es mit der Tante Unannehmlichkeiten.« Sie hatten es verstanden. Ach, wie gerne hätte sie damals das Angebot dieses liebenswürdigen Ehepaares angenommen. Sie hungerte geradezu danach, einmal wieder Mensch unter Menschen zu sein. Als Frau Brunner sie dann für den kommenden Sonntag Nachmittag zum Kaffee einlud und ihr vorschlug, die Kinder mitzubringen, zögerte sie. »Ich weiß nicht, wie die Tante das auffasst.«

»Na hören Sie mal, Kindchen«, hatte Doktor Brunner, um etliche Jahre älter als sie selbst, geantwortet: »Nun lassen Sie sich nur nicht von der alten Dame so einschüchtern. Schließlich sind Sie ja nicht ihre Sklavin. Lassen Sie mich nur machen. In der nächsten Woche habe ich ohnehin meinen Routinebesuch bei ihr vorgesehen. Ich kann ihn ebenso gut vorverlegen und komme gleich morgen. Also, Frau Sternhalter, wir erwarten Sie mit Ihren Kindern am Sonntag Nachmittag.«

Wie gut konnte sich Renate an all das noch erinnern, was in jener Zeit geschehen war. Ihre Gedankengänge, die weite Strecken der Erinnerung zurückgelegt und sie völlig gefangengenommen hatten, nahmen nun aber ein Ende. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass der Reisebus in Stuttgart angelangt war! Nun hatte sie noch eine kurze Strecke mit der Straßenbahn zu fahren, und dann war sie nach einer Viertelstunde Fußweg zu Hause.

Irgendwie vermochte sie sich aber auch dort nicht von den Bildern zu lösen, die an diesem Tag so lebendig aus der Vergangenheit hochstiegen. Jahre waren seitdem vergangen. Wären Doktor Brunner und seine Frau nicht gewesen, sie hätte es vorgezogen, mit ihren Kindern in einer armseligen Wohnung zu leben, als sich immer wieder den Schikanen dieser herrschsüchtigen alten Frau auszusetzen. Doch war in jener Zeit nicht einmal eine kümmerliche Dachstock- oder Kellerwohnung zu bekommen – weder für Geld, noch für gute Worte. Und dann war ihr, Renate, die Verbindung mit Brunners, die ihr und ihren Kindern zu treuen Freunden geworden waren, viel zu wertvoll. Ihren wiederholten Rat, unter allen Umständen durchzuhalten und nicht in irgendeiner Kurzschlusspanik mit den Kindern auf und davon zu gehen, hatte sie beherzigt. Schon damals, nach jener abendlichen Begegnung am Waldrand, hatte sich Dr. Brunner vorgenommen, mit seiner alten Patientin, die der kleinen Familie das Leben so schwer machte, ein ernstes Wort zu sprechen. In der Tat war es nach seinem nächsten Besuch mit ihr etwas besser geworden. Nicht so weit, dass sie danach zugänglicher und liebenswürdiger gewesen wäre. Aber es war ihr wohl klar geworden, dass ihr langjähriger Hausarzt nicht auf sie angewiesen war, sondern sie auf ihn. Sie befürchtete, er würde eines Tages nicht mehr nach ihr sehen. Was sollte sie dann tun? So fügte sie sich, wenn auch widerwillig und vor sich herbrummend darein, dass Renate am Sonntag nach jener Begegnung mit dem Ehepaar Brunner ihre Kinder für den Besuch zurechtmachte und der Einladung folgte.

Frau Brunner hatte den Kaffeetisch im Garten liebevoll gedeckt. Ihre Haushaltshilfe hatte den Kuchen gebacken. Der Arzt aber und seine Frau widmeten sich ihren Gästen so liebevoll, dass Renate ganz beschämt war.

Siegfried flüsterte der Mutter zu: »Die sind ganz anders, viel, viel lieber als die Tante, die alte, böse Hexe!«

»Aber Siegfried, wie oft habe ich dir schon verboten, dies zu sagen«, erwiderte Frau Sternhalter ebenfalls in leisem Ton und sah ihren Ältesten strafend an.

»Hat er einen Wunsch?« fragte Frau Brunner, der das Flüstern nicht entgangen war. Renate, der es peinlich gewesen war, Siegfrieds Worte zu wiederholen, hatte nur den Kopf geschüttelt. Der Junge aber, der nicht einsah, warum diese netten Doktorsleute nicht erfahren sollten, dass ihre alte Tante eine böse Hexe war, scheute sich nicht, laut zu wiederholen, was er seiner Mutter zugeflüstert hatte, und er fügte noch hinzu: »Sie ist wirklich eine Hexe und sieht genauso aus wie die bei Hänsel und Gretel in meinem Märchenbuch.« Renate war äußerst verlegen geworden. Doktor Brunner amüsierte sich köstlich und musste einen zurechtweisenden Blick seiner Frau einstecken. Frau Brunner aber bemühte sich, dem Jungen zu erklären, dass die alte Tante eigentlich sehr zu bedauern war. Immer sei sie allein gewesen. Den ganzen Tag über habe kaum jemand ein Wort mit ihr gesprochen. Oftmals habe sie krank in ihrem Bett gelegen, und kein Mensch habe sich um sie gekümmert.

Siegfried hatte zwar den Worten von Frau Brunner zugehört, aber er sah vorerst noch nicht ein, dass er verpflichtet sei, sich der alten Tante gegenüber umzustellen. »Sie gibt uns ja auch keine guten Worte!« beharrte er auf seiner Meinung, mochte aber, nachdem die Mutter ihm einen ernsten, ja fast traurigen Blick zuwandte, doch empfinden, dass er irgendwie einlenken sollte. »Nun gut«, meinte er, »dann sage ich nicht mehr, dass sie eine Hexe ist. Aber darf ich Giftschlange sagen?«

Frau Sternhalter hatte erschrocken und wie ihre Gastgeber um Entschuldigung bittend ausgerufen: »Aber Siegfried, wie kommst du zu solchen Ausdrücken? So nennt man doch keinen Menschen!«

Doktor Brunner, dem dieses Gespräch höchst amüsant schien, hatte sich erhoben und war ins Haus gegangen, damit Siegfried nicht sehen konnte, wie er sein Lachen verkneifen musste.

Frau Brunner aber war freundlich auf Siegfrieds Gedankengänge eingegangen: »Nein, Giftschlange würde ich an deiner Stelle die alte Tante auch nicht nennen. Ich fürchte, sie würde dann noch viel weniger gute Worte für euch finden, und es würde für deine Mutti nur noch schwerer sein, es ihr recht zu machen.«

Nachdenklich blickte der Junge die Arztfrau an. »Meinen Sie?« fragte er schließlich. »Nein, das will ich nicht, dass es für Mutti noch schwerer wird.«

»Wie wäre es denn, wenn du versuchen würdest, der Tante jeden Tag eine kleine Freude zu machen?«

»Der?« hatte er gedehnt gefragt. »Nee, das ist unmöglich. Die kann sich nicht freuen.«

»Es käme vielleicht auf einen Versuch an«, war Frau Brunners Antwort gewesen.