Gott ließ mich nie allein - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Gott ließ mich nie allein E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Eine der bekanntesten christlichen Erzählerinnen des letzten Jahrhunderts starb am 14. Juni 1996 im Alter von 92 Jahren. Elisabeth Dreisbach konnte täglich von ihrem Glück reden, und sie verstand es, auch andere glücklich zu machen. Das war das Geheimnis ihres Lebens. Aus ihrer tiefen Gottesbeziehung hat sie Glauben und Ermutigung geschöpft und konnte deshalb sagen: »Gott ließ mich nie allein.« Dies ihren Leserinnen und Lesern zu vermitteln, ist die Aufgabe des vorliegenden Bandes. Wie reich ein Leben sein kann, das im Dienst Gottes steht, wird uns in ihrer Biografie eindrücklich vor Augen geführt: die fröhliche Kindheit, geborgen in der Liebe der Eltern, in der lustige Streiche und heitere Erlebnisse nicht fehlten; ihre Jugendzeit, überschattet von langer Krankheit; später der Dienst in der Heilsarmee; bald wird sie »Mutter« vieler heimatloser Kinder, die sie aufnimmt und versorgt – das »Berghaus St. Michael«, ein weithin bekannt gewordenes Kinder- und Erholungsheim, ist eine Frucht dieser Arbeit. Neben aller Aufbauarbeit hatte sie nie ihr schriftstellerisches Engagement aus den Augen verloren. Als Mensch, der Überraschungen liebte und immer den Mut zum Wagnis hatte, heiratete sie mit fast 70 Jahren und führte eine glückliche Ehe bis zu ihrem Tode. Elisabeth Sauter-Dreisbach vermochte täglich von ihrem Glück zu reden, und sie verstand es, auch andere glücklich zu machen. Das war das Geheimnis ihres Lebens. Aus ihrer tiefen Gottesbeziehung hat sie Glauben und Ermutigung geschöpft und konnte deshalb sagen: Gott ließ mich nie allein. Dies ihren Leserinnen und Lesern zu vermitteln, ist die Aufgabe der vorliegenden Autobiographie.

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Gott ließ mich nie allein

Autobiografie

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-121-3

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Vorwort

Zum Geleit

Gott ließ mich nie allein

Elisabeth Sauter – Dreisbach (20.4.1904-14.6.1996) in memoriam

Unsere Empfehlungen

Vorwort

Elisabeth Dreisbach starb am 14 Juni 1996 im Alter von 92 Jahren.

Elisabeth Dreisbach wollte in ihren Büchern unterhaltsam von Gott reden, sie wollte die »Frohe Botschaft« weitertragen, das Evangelium in anderer Form vermitteln. Das macht ihre Bücher bei ihren Leserinnen und Lesern seit Jahrzehnten so überaus beliebt.

Wie reich ein Leben sein kann, das im Dienst Gottes steht, wird uns in ihrer Biographie eindrücklich vor Augen geführt:

die fröhliche Kindheit, geborgen in der Liebe der Eltern, in der lustige Streiche und heitere Erlebnisse nicht fehlten;

ihre Jugendzeit, überschattet von langer Krankheit; später der Dienst in der Heilsarmee; bald wird sie »Mutter« vieler heimatloser Kinder, die sie aufnimmt und versorgt – das »Berghaus St. Michael«, ein weithin bekannt gewordenes Kinder- und Erholungsheim, ist eine Frucht dieser Arbeit.

Neben aller Aufbauarbeit hatte sie nie ihr schriftstellerisches Engagement aus den Augen verloren.

Als Mensch, der Überraschungen liebte und immer den Mut zum Wagnis hatte, heiratete sie mit fast 70 Jahren und führte eine glückliche Ehe bis zu ihrem Tode.

Elisabeth Sauter-Dreisbach vermochte täglich von ihrem Glück zu reden, und sie verstand es, auch andere glücklich zu machen. Das war das Geheimnis ihres Lebens. Aus ihrer tiefen Gottesbeziehung hat sie Glauben und Ermutigung geschöpft und konnte deshalb sagen: Gott ließ mich nie allein. Dies ihren Leserinnen und Lesern zu vermitteln, ist die Aufgabe der vorliegenden Autobiographie.

Zum Geleit

Auf meinen vielen Vortragsreisen wurde ich immer wieder gebeten, aus meinem Leben zu erzählen. Wenn ich es tat, und es geschah im Laufe der letzten Jahre oft, dann nicht deshalb, weil ich mir einbildete, so Außergewöhnliches erlebt zu haben, dass andere ein besonderes Interesse daran gewinnen könnten; sondern weil ich je länger desto mehr erkenne, wie wunderbar die Führungen Gottes in meinem Leben waren und noch sind, und weil ich meine, diese Erfahrungen könnten dem einen oder anderen eine Hilfe sein.

Damit niemand denkt, ich wolle dabei in erster Linie von mir und meinem Tun reden, fasse ich das Thema dieser Abende in die Worte: »Führungen Gottes in meinem Leben.« Ich meine, damit käme von vorneherein klar zum Ausdruck, dass es um Gottes und nicht um meine Sache geht – obgleich es mir natürlich nicht erspart blieb, persönliche Entscheidungen zu treffen. Ob sie immer richtig waren? Es wäre vermessen, wollte ich dieses unbedingt in jedem Fall mit einem Ja beantworten. Eins aber ist sicher: Ich weiß von Ruf und Führung.

Wer sensationelle Geschehnisse zu lesen hofft, legt am besten gleich das Buch wieder aus der Hand. Es ist alles sehr schlicht, was ich niederschreibe – aber im Wissen um die oft überwältigenden Führungen Gottes wird das Schlichte groß und lässt in uns ein anbetendes Staunen und Wundern zurück.

Eine Zeitspanne von beinahe sechzig Jahren wird das Buch umfassen. Ist das eine lange Wegstrecke? – »Als flögen wir davon« heißt es im 90. Psalm. Je älter ich werde, desto mehr frage ich mich: Wo ist die Zeit geblieben? – In der Tat: Wie im Flug ging sie dahin! Wesentlich bleibt, dass dieser Flug ein Ziel – nein, das von Gott gesetzte Ziel hat. Wohl uns, wenn wir darauf zustreben!

So will ich nun erzählen, und ich freue mich, noch einmal die Wege meiner Kinder- und Jungmädchenzeit zu durchwandern, die gesammelten Erfahrungen, seien sie froher oder betrüblicher Art, rückblickend aufs Neue vor mir erstehen zu lassen, all die vielen Orte, in die mich meine Arbeit führte, noch einmal aufzusuchen, allerlei Menschen, die mir an den Weg gestellt wurden, wieder zu begegnen – und am Ende wird es mir klar sein, noch mehr als jetzt, da ich dies Buch beginne, dass alles, Freude und Leid, Erfolg und Misserfolg, Verzicht und Erfüllung, meiner inneren Reife zu dienen hatte und ich nur zu danken habe.

Elisabeth Dreisbach

Gott ließ mich nie allein

Es ist nicht unwesentlich, in welches Erdreich ein Baum seine Wurzeln senkt und aus welchem Boden man seine Kräfte zieht. So muss ich zuerst von meinen Eltern berichten. Sie waren beide bewusste Christen – fröhliche Christen, die nicht nur das Evangelium verkündeten, sondern es auch auslebten. Es fiel uns Kindern nicht schwer, an ihr Christentum zu glauben. Nie wäre uns ein Zweifel daran gekommen. Ich liebte und bewunderte meine Eltern – aber dass sie äußerlich so ganz anders waren als alle anderen Menschen, das hat mir in meinen Kinderjahren manche Not bereitet. Ich war ein mitteilsames Kind, und es gab nichts, was ich meinen Eltern nicht anvertraut hätte. Aber darüber konnte ich in all den Jahren meiner Kindheit nicht zu ihnen sprechen. Vielleicht hatte ich das Gefühl, ihnen damit Schmerz zuzufügen, und das wollte ich auf keinen Fall.

Dass mein Vater ein Reichsgottesarbeiter war, störte mich nicht. Dafür hatten uns unsere Eltern diesen Dienst zu sehr als Würde und Vorrecht hingestellt. Wäre er doch Pfarrer oder Prediger gewesen oder Missionar – aber Heilsarmeeoffizier? Dass er und meine Mutter diese Uniform trugen, nach der sich alle Leute umschauten! Dass ich es mit anhören musste, wenn Kinder ihnen nachschrien: »Heilsarmee hat Läus und Flöh!« Ob meine Eltern nicht ahnten, wie furchtbar mir das war? Erst viele Jahre später habe ich begriffen, dass sie dieses Kleid als ein Zeugnis und Bekenntnis trugen. Als Schulmädchen habe ich jedoch manches Mal einen Umweg gemacht, um ihnen auf dem Heimweg nicht begegnen zu müssen. Aber einmal – ich werde noch heute schamrot, wenn ich mich daran erinnere – geschah es doch, dass mein Vater, natürlich in Uniform, in die gleiche Straßenbahn einstieg, die mich von der Schule nach Hause brachte. Er strahlte über sein ganzes Gesicht, als er mich sah. Ich aber stand in großer Verlegenheit auf und ging auf die hintere Plattform. Meine Schulkameradin fragte mich: »Ist das nicht dein Vater?« – Und ich brachte es fertig zu sagen: »Nein!«

Ich war damals etwa elf Jahre alt. Noch jetzt weiß ich, wie ich plötzlich in meinem Inneren zu hören vermeinte: »Du bist wie Petrus, der den Heiland verleugnete!« Kein Mensch ahnte, wie unsagbar unglücklich ich war. Noch am gleichen Abend bekannte ich es meinem Vater. Schluchzend warf ich mich an seine Brust. »Papa – ich habe etwas Furchtbares getan!« Und dann erzählte ich ihm die schreckliche Geschichte. Nie werde ich vergessen, mit welch unendlich traurigem Blick er mich ansah. Dann aber hat er mir verziehen, und es war alles wieder gut.

Der Dienst für Gott galt meinen Eltern als Höchstes, und mehr als vierzig Jahre erfüllten sie Seite an Seite den Auftrag, den sie als Berufung ihres Lebens erkannt hatten. Ob mein Vater getreu dem Grundsatz der Organisation, der er angehörte, den Schlimmsten und Verkommensten nachging, ob er als Leiter der Kadettenschule Unterricht gab, ob er in Hamburg zur Cholerazeit tatkräftig Zugriff oder Gefangene in den Gefängnissen besuchte, ob er mit einer kleinen Schar Heilsarmeeleute in die Wirtschaften der Hamburger Unterwelt ging, um durch evangelistische Lieder und das gedruckte Wort Menschen vom Abgrund zurückzurufen, oder ob er als Divisionsleiter vor Hunderten von Menschen sprach – immer war es ihm darum zu tun, der Frohen Botschaft Raum zu schaffen.

Meine Mutter stand ihm dabei tatkräftig zur Seite. Sie war eine geistvolle Frau, die über eine außerordentliche Redegabe verfügte, viel las und sich für alle Lebensgebiete interessierte. Sie hat viele Lieder gedichtet und manchen Artikel geschrieben. Die Schilderungsgabe habe ich sicherlich von ihr geerbt, während ich vom Vater vielleicht ein Stück seines Organisationstalents mitbekommen habe.

Obgleich unsere Eltern viel auf Reisen waren und wir durch die Versetzungen meines Vaters oft den Wohnort und damit auch die Schule wechseln mussten, hatten meine Geschwister und ich doch eine frohe und sonnige Kindheit. Die Eltern nahmen sich neben ihren vielerlei Aufgaben Zeit für uns. In den Ferien fuhren sie mit uns aufs Land zu den Verwandten. Wenn auch manches Verbot über unserer Jugend stand – wir durften zum Beispiel nie auf einen Rummelplatz oder an einem Volksfest und seinen Belustigungen, wie Karussellfahrten und dergleichen, teilnehmen –, so wurde uns durch unsere Eltern andererseits viel Schönes geboten.

Nicht nur äußerlich waren die Eltern sehr verschieden, sondern auch in Wesen und Temperament. Der Vater war ein Riese von Gestalt, die Mutter so klein und zierlich, dass sie unter seinem ausgestreckten Arm stehen konnte. Der Ehering meiner Mutter hatte in dem meines Vaters Platz. Als er einmal von einer Reise zurückkam und erklärte, dass er sich unterwegs bei einem uns bekannten Schuhfabrikanten ein Paar Schuhe gekauft habe, waren wir Kinder fast ein wenig entrüstet, dass er unserer Mutter keine mitgebracht hatte. Als wir aber seinen Koffer auspackten, stimmten wir ein fröhliches Geschrei an: In seinen neuen Schuhen fand sich ein Paar für unsere Mutter. Er trug Schuhgröße 48 – sie 37. Erst mit den Jahren erkannte ich, welch »große« Frau meine Mutter trotzdem war.

Nicht immer waren die Eltern gleicher Meinung. Wo wäre auch das der Fall? Es soll mir niemand sagen, dass man solches irgendwo fände – auch nicht in bewusst christlichen Familien. Es wäre ja auch langweilig. Mir scheint es darauf anzukommen, dass man die Meinung des anderen zumindest respektiert, wenn man auch glaubt, sie nicht bejahen zu können. Es muss nicht unbedingt ein ausgewachsener Streit daraus werden. Jedenfalls habe ich nie erlebt, dass meine Eltern eine Meinungsverschiedenheit mit in den anderen Tag nahmen. Ich sehe meinen großen, gütigen Vater vor mir, wie er seine Hand meiner Mutter entgegenstreckte: »Komm, Mama, lass uns gut miteinander sein.« Und immer legte sie ihre Rechte in die seine, und alles war in Ordnung.

Ich kann mich auch nicht erinnern, von meinen Eltern je eine Unwahrheit gehört zu haben. Wie wahr ist es, was jene beiden kleinen Mädchen sagten, die mit klappernden Schultaschen auf dem Rücken von der Schule heimwärts zogen, keine älter als sieben Jahre. Ich hörte ungewollt ihr Gespräch mit an.

»Eine rechte Mutter lügt nicht«, sagte die eine, und die andere antwortete: »Und wenn sie lügt, dann ist es keine rechte Mutter.« – Welch kindliche Logik! Wir Kinder wurden nicht gestraft, wenn wir aus Unvorsicht eine Vase oder gar eine Fensterscheibe zerbrachen, aber einer Unwahrheit folgte ernste Strafe.

Mein Vater hatte die schöne Gewohnheit, Nichtanwesende zu verteidigen. Wenn wir manches Mal über irgendjemand »herzogen«, sah er uns ernst an und fragte: »Würdet ihr den Mut haben, in Gegenwart derer, über die ihr jetzt redet, dasselbe zu sagen?« Eines Tages bastelte er ein »Sünderglöckchen«. Das war ein kleines Kapellendach aus Baumrinde. Darunter hing eine Glocke und unter ihr ein Spruch:

Willkommen sei uns jedermann, der über andere schweigen kann.

Wer Böses über andere spricht, entgeht dem Sünderglöckchen nicht.

Wenn dann andere kritisiert wurden, dann stand mein Vater wortlos auf und läutete das Sünderglöckchen. Das war sehr beschämend und ließ uns rasch verstummen.

Auf meinen Reisen gewann ich im Lauf der Jahre inzwischen immer mehr den Eindruck, dass in manchem Haus – auch in christlichen Familien da und dort – ein solches Glöckchen angebracht wäre. Einige Male hat man auch an mich geschrieben und mich um den Vers vom Sünderglöckchen gebeten, den ich etwa in einem Vortrag zitiert hatte.

Ich war das einzige Mädchen unter drei Brüdern, nachdem meine kleine Schwester Debora früh gestorben war. Meine allererste Lebenserinnerung ist ihre Beerdigung. Ich saß in einem weißen Mäntelchen auf dem Schoß meiner Mutter in einer Droschke. Meine Mutter weinte. Ich begriff nicht warum. Vorne in der Droschke stand hinter einer Glasscheibe ein weißer Kasten. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass es ein Kindersarg war. Auf dem Friedhof – daran erinnere ich mich nicht mehr – soll ich mich sehr schlecht benommen haben. Ich wollte unbedingt auf den Arm meines Vaters gehoben werden, der dies aber ablehnen musste, weil er die Beerdigung seiner kleinen Tochter selbst leitete. Dem Vernehmen nach bin ich in jener Zeit überhaupt des Öfteren »unmanierlich« gewesen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich bei einem großen Gemeindeausflug, an dem ein paar hundert Menschen teilnahmen und den mein Vater ebenfalls leitete, aus diesem Grund unter Einsatz von zehn Pfennig »etwas hinten drauf« bekommen hätte. Es ging so zu: Wir fuhren mit dem Schiff von Hamburg an irgendeinen Ausflugsort. Auf dem Dampfer fand mein Vater keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Das kränkte mich. Ich war nicht gewohnt, von ihm derartig übersehen zu werden, und quengelte unaufhörlich. Als alles liebevolle Zureden, Ermahnen und auch jede Strafandrohung ohne Erfolg blieben, nahm mich meine energische Mutter kurz entschlossen bei der Hand und suchte mit mir den Ort auf, dessen Türe sich nur nach Einwurf eines Zehnpfennigstückes öffnete. Dort brachten mich einige gehörige Klapse offenbar zur Vernunft.

Auf die Frage, was ich einmal werden wolle, antwortete ich stets, ohne mich lange besinnen zu müssen: »Mutter will ich werden und viele Kinder haben!« Später, als ich die Zusammenhänge begriff, stand es bei mir außer Frage, dass ich einmal heiraten würde, weil ich nicht ohne Kinder sein wollte. Immer war ich umringt von einer Schar Mädchen und Buben. In jeden Kinderwagen musste ich die Nase stecken, und es ist einige Male geschehen, dass ich völlig verwahrloste Kinder einfach mit nach Hause nahm, ihnen ein Bad richtete und sie von Kopf bis Fuß mit meinen eigenen Sachen frisch einkleidete. Nie hinderte mich meine Mutter an solchem Tun. Eine Zeitlang wünschte ich mir zum Geburtstag Kinderwäsche und Kleidchen, um mein »Sozialwerk« betreiben zu können.

Ich sehe mich jetzt noch als Schulmädchen des Sonntags einen Leiterwagen ziehen, in dem ich vier, fünf kleinere Kinder sitzen hatte, die ich zur Sonntagsschule mitnahm. Links und rechts neben dem Wagen trippelten auch noch einige. Ich sammelte diese Kleinen aus der Nachbarschaft und leitete die Gruppe der Vorschulpflichtigen im Kindergottesdienst bereits, als ich selbst noch zur Schule ging. Gehorchten sie nicht, so konnte ich mitten auf der Straße mit meinem Gefährt stehenbleiben, eins oder das andere aus dem Wagen heben, es durchhauen, dann mit Nachdruck wieder in den Wagen hineinsetzen – und weiter ging's.

Mutter, nichts anderes, wollte ich einmal werden.

Einmal hatten mich meine Eltern mitgenommen zu einem Missionsgottesdienst, in dem auch über die Not der vielfach unerwünschten kleinen Mädchen in Indien gesprochen wurde. Ich war damals etwa neun Jahre alt. Heiß stieg der Wunsch in mir auf, diesen Kindern zu helfen. Das musste sich doch mit meinem Muttergedanken verbinden lassen. Zu Hause angekommen, sagte ich: »Mama, jetzt weiß ich ganz genau, was ich werden möchte.«

»Nun?« fragt sie.

»Missionarin, damit ich den armen Kindern helfen kann.«

Die Antwort der Mutter war sehr ernüchternd, aber so unzweideutig, dass ich sie bis zum heutigen Tage nicht vergessen habe.

»Ich bin ganz damit einverstanden, dass du Missionarin wirst«, erwiderte sie, »aber es scheint mir vor allem wichtig, dass du erst einmal dein augenblickliches Missionsfeld kennenlernst.« Und sie drückte mir ein Staubtuch in die Hand.

Schon damals las ich leidenschaftlich gerne. Musste ich der Mutter bei irgendeiner Arbeit zur Hand gehen – und es war selbstverständlich, dass sowohl meine Brüder als auch ich von klein auf zur Mithilfe im Haushalt herangezogen wurden –, so trug ich gewiss unter der Schürze versteckt ein Buch mit mir herum. Sollte ich im Wohnzimmer staubwischen, so kam ich gewöhnlich nur bis zum Bücherschrank. Dort griff ich mir irgendetwas, von dem ich glaubte, es zu verstehen. Dann saß ich in meine Lektüre vertieft und vergaß die Umwelt samt meinem Auftrag völlig.

Ja, meine Mutter wusste es schon, warum sie von mir forderte: »Lerne erst einmal dein augenblickliches Missionsgebiet richtig kennen.« Wie oft hat sie gesagt: »Jede Arbeit, die wir tun, muss ein Gottesdienst sein. Nur dann macht sie uns froh.«

Eigentlich wollte ich immer gerne ein gutes Kind sein, und es bereitete mir manche Not, dass es mir so schlecht gelang, meine Vorsätze zur Tat werden zu lassen. Vor allem das Streiten mit meinen Brüdern! Jeder von uns wollte bestimmen! Der eine, weil er der Älteste, der andere, weil er der Jüngste, ich, weil ich das einzige Mädchen, und der vierte, weil er weder das eine noch das andere war. Wie die Kampfhähne gingen wir oft aufeinander los – aber wenn wir von fremden Kindern angegriffen wurden, hielten wir wie die Kletten zusammen. Hundertmal hatte ich mir vorgenommen, mich nicht mehr zu zanken, aber höchstens zwei Tage gelang es mir. Dann ging mein Temperament wieder mit mir durch.

Schlimm war das auch bei dem abendlichen Erzählen. Wir lagen alle vier im Kinderschlafzimmer. Einer meiner Brüder war ein ausgezeichneter Erzähler von selbsterfundenen, oft schauerlich-schönen Geschichten. Aber ob es sich um Räuber, Prinzen, Raub- oder Kreuzritter handelte – immer waren die Männer im Vergleich zu den in den Geschichten vorkommenden Frauen oder Mädchen in der Überzahl. Das kränkte mich ungemein. War es nicht schlimm genug, dass es bei uns tatsächlich so stand? Eine gegen drei! Ich war überzeugt, dass mein Bruder solch ungerechte Anordnungen in seinen Erzählungen nur traf, um mich zu reizen. Mein heftiger Protest führte höchstens dazu, dass mir ein Kopfkissen ins Gesicht flog. »Wenn du nicht sofort still bist, erzähle ich so leise, dass du überhaupt nichts verstehst!« Und wirklich, die spannende Geschichte wurde in lächerlichem Flüsterton fortgesetzt.

Das aber war mehr, als ich ertragen konnte. Das bedeutete ebenso viel wie ausgestoßen sein aus der Gemeinschaft. Nach wenigen Sätzen bettelte ich: »Nimm meinetwegen so viele Männer, wie du willst, aber erzähle so, dass ich es auch verstehen kann.«

Obgleich wir bis dahin nie ein Schauspiel und auch noch keinen Film gesehen hatten, war unsere liebste Beschäftigung »Theaterspielen«. Da saß ich etwa oben auf dem Fußteil meines Bettes im weißen, selbst entworfenen Gewand – einem Leintuch –, den langen blonden Zopf aufgelöst, so dass mir die Haare über den Rücken fielen (mein großer Kummer war, dass ich keine Locken hatte und es mir nicht erlaubt wurde, solche zu drehen), kämmte mich mit einem Metallkamm (sie kämmt es mit goldenem Kamme und singt ein Lied dabei) und stellte so die Lorelei dar. Einer meiner Brüder begleitete mein Singen auf dem Klavier, der andere saß zu meinen Füßen in einem Waschzuber und ruderte im Takt mit einem großen Kochlöffel. Jeder wusste, dass er der schmachtende Jüngling war, der im Rhein um die bezaubernde Jungfrau, die Lorelei, herumschwänzelte. Der dritte Bruder hatte genug damit zu tun, sämtliche Blumentöpfe und Blattpflanzen von Fensterbänken und Balkon herbeizutragen, die dem Bild nicht nur den malerischen Rahmen zu geben hatten, sondern auch das Schlinggewächs darstellen mussten, das, am Fuße des Felsens sich ausbreitend, den wehmütig schluchzenden und liebeskranke Seufzer ausstoßenden Jüngling heimtückisch in die Tiefe zog. Publikum: Mutter und Haustochter, eventuell auch die zu Besuch weilende Großmutter. Eintritt: 10 Pfennig.

Ja, die Oma! Sie hat mir damals frühen Untergang prophezeit. Es war um jene Zeit Sitte, dass kleine Mädchen täglich eine Anzahl Reihen zu stricken hatten. Immer, wenn sich meine Großmutter zu Besuch anmeldete, fing ich ein neues Strickzeug an. Aber die kluge Oma hatte, obgleich sie eine Brille auf der Nase trug, scharfe Augen. »Es ist etwas Eigenartiges um dein Strickzeug«, sagte sie. »Es wächst überhaupt nicht.« Dann stellte sie mir verschiedene meiner Kusinen als Vorbild hin. »Du müsstest einmal sehen, wie schön die stricken, nähen und sticken können. Wenn du so weitermachst, wird nie etwas aus dir. Das sehe ich kommen!«

Ich war mir der Tatsache durchaus bewusst, dass ich einige außerordentlich tüchtige Basen hatte. Keine von ihnen aber besaß wie ich drei Brüder. Ich konnte diese doch unmöglich in die Straßenkämpfe gegen die Jungen benachbarter Viertel ziehen lassen, ohne dabei zu sein. Und weil damals noch keine Flintenweiber zugelassen waren, meldete ich mich beim »Roten Kreuz« – wobei ich Direktion, Oberin und Hilfsschwester zugleich war. Ein steifer Kragen meines Vaters, auf den meine Brüder ein fesches rotes Kreuz malten, wurde mir kunstgerecht auf den blonden Kopf platziert, und nun ging es in die Schlacht. Ich durfte dabei sein. Mein bereits recht ergrautes, ehemals weißes Strickzeug lag in irgendeiner Schublade. Musste sich da die Prophezeiung meiner Großmutter nicht erfüllen? Das konnte ja niemals gutgehen! Ich wundere mich, dass ich heute Freude an schönen Handarbeiten habe. Damals jedenfalls vermochte ich keine Geduld dafür aufzubringen. Im Handarbeitsunterricht war ich eine glatte Null. Ich erinnere mich, dass wir in der Schule einmal von Hand ein schrecklich langes Hemd – es reichte mir bis an die Knöchel – aus grobem Leinen nähen mussten. Dabei glich meine Seitennaht – Trüllnaht hieß sie – einem schwarzen Regenwurm. Wie das kam, ist mir heute noch unerklärlich. Da war es doch schöner, Rotkreuzschwester im Schlachtgetümmel zu sein!

Heute, nach zwei hinter uns liegenden grauenvollen Kriegen, bin ich entsetzt, wenn Kinder Krieg spielen, und nie würde ich einem Jungen ein Gewehr oder einen Spielrevolver kaufen. Damals, zur Zeit Kaiser Wilhelms II., wurden wir zum schrankenlosen Patriotismus erzogen. Wir trugen zu Kaisers Geburtstag schwarzweißrote Haarschleifen in den Zöpfen. An diesem Tag, dem 27. Januar, hatte man schulfrei, nachdem alle Klassen in der Aula zu einer Feierstunde zusammengekommen waren. Bei einer solchen Gelegenheit – ich war etwa neun Jahre alt – habe ich mein erstes selbstgemachtes Gedicht vortragen dürfen. Ich weiß nur noch, dass es begann: »Die Fahnen heraus!« Ach, wieviel Gedichte und Lieder hatten in den folgenden Jahren ähnliche Anfänge. Aber all diese Fahnen wehen nicht mehr …

»Die Kinder müssen den Kaiser sehen!« sagte mein Vater eines Tages, als es hieß, er käme nach Süddeutschland. Wir lebten damals in Stuttgart. Der Bezirk, den mein Vater zu leiten hatte, erstreckte sich bis nach Straßburg und Colmar. Der Kaiser und die Kaiserin wurden in Straßburg erwartet. Aus diesem Grund durften wir dieses Mal die Eltern dorthin begleiten. Eine unübersehbare Menschenmenge stand vor dem Rathaus. Kein Gedanke daran, dass wir die Kaiserlichen Hoheiten hätten sehen können. Kurz entschlossen kaufte mein Vater eine Trittleiter. Ich durfte ganz oben hinauf. Jedes von uns vier – alle in Matrosenkleidern steckend, die blaue Mütze mit dem flatternden Band auf dem Kopf – hielt ein schwarz weißrotes Fähnchen in der Hand. Weil meine Mutter ebenfalls zu klein war, um über die anderen Menschen hinwegzusehen, überredete sie mein Vater, gleichfalls einige Tritt hoch auf die Leiter zu steigen.

Nach einer mir endlos scheinenden Zeit des Wartens hieß es: »Sie kommen!« In einer prächtigen Kutsche, gezogen von wundervollen Pferden, saß das kaiserliche Ehepaar. Zuerst herrschte ehrfurchtsvolles Schweigen auf dem großen Platz bei der tausendköpfigen Menschenmenge. Auf einmal begann ein begeistertes kleines Mädchen, das auf der Spitze der Trittleiter, von seinem Vater gehalten, stand, sein Fähnchen zu schwingen. Es schrie mit heller Kinderstimme: »Eins – zwei – drei – hurra!« – Alles stimmte mit ein, und wie ein Orkan brauste es über den Platz: »Hurra! Hurra! Hurra!«

Vorbei! – Aus! – Überholt, überrollt von der Woge der Zeit!

Es mag etwa im gleichen Jahr gewesen sein. Ich sagte schon, dass wir damals in Stuttgart wohnten, nicht weit von den Anlagen, in denen der württembergische König, begleitet von seinen zwei weißen Spitzern, vielfach seine Spaziergänge machte, ganz ohne Leibwache und großes Polizeiaufgebot. Ja, das war damals noch möglich. »Das ist der König!« flüsterte meine Mutter uns zu, und es verstand sich von selbst, dass wir tief dienerten und ich den allerschönsten Knicks machte.

Einmal begegnete uns ein älterer Herr, der große Ähnlichkeit mit dem König hatte. Als ich sah, dass einige Kinder zu ihm sprangen, um ihn zu begrüßen, riss ich mich von der Hand meiner Mutter los, eilte auf ihn zu und reichte ihm ebenfalls die Hand. Dann entdeckte ich, dass es nicht der König war. Aber er gefiel mir gleichwohl sehr gut, und ich beschloss, dass dieser alte Herr mein Freund werden sollte. Schon lange hatte ich mir einen solchen gewünscht. Meine Brüder, die damals schon zur Schule gingen, berichteten freudig, dass sie dort Freunde gefunden hätten. Gewohnt, möglichst dasselbe zu haben wie sie, wünschte ich mir nun auch einen.

»Kleine Mädchen haben Freundinnen«, versuchte mich meine Mutter zu belehren. Das machte aber keinen Eindruck auf mich. Ich wollte einen Freund. Nun lief er mir ja direkt – oder vielmehr ich lief ihm in die Arme. Auf unseren täglichen Spaziergängen durch den Schlossgarten trafen wir ihn fortan fast jeden Morgen. Ich weiß nicht, was mir am meisten imponierte: sein schöner, weißer Backenbart oder der schwarze Spazierstock mit dem silbernen Griff. Jedenfalls sprang ich ihm schon nach wenigen Begegnungen jedes Mal mit ausgebreiteten Armen entgegen und rief zur Belustigung anderer Spaziergänger mit lauter Stimme: »Mein Freund! Mein Freund!« – Diese Freundschaft hat mehr als zwanzig Jahre bestanden. Damals war ich knapp fünf Jahre alt. Als der alte Herr mich einige Tage nicht sah, suchte er unsere Wohnung in der Neckarstraße auf, um sich zu erkundigen, ob seine kleine Freundin etwa krank sei. Ich hatte ihn gleich zu Anfang mit meinen Personalien bekannt gemacht. In der Tat lag ich mit Masern in meinem Kinderbettchen. Luise, die langjährige, treue Stütze meiner Mutter, aus Großheppach stammend, öffnete meine Zimmertüre: »Elisabethle, du bekommsch Besuch.« Und herein führte sie meinen guten Freund Johannes Roeder. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ganz für mich allein Besuch und dazu noch Herrenbesuch bekam. Am nächsten Tag brachte mein Freund sogar Blumen und Schokolade!

Bald darauf wurde mein Vater nach Berlin versetzt. Dort begann ich zur Schule zu gehen. Der erste Brief, den ich in meinem Leben schrieb, war an meinen Freund in Stuttgart gerichtet. Prompt antwortete er mir. Und dann verging kein Weihnachtsfest, kein Geburtstag, ohne dass nicht ein Gruß und ein kleines Geschenk von ihm zu mir und von mir zu ihm gegangen wäre. Wir wechselten Briefe, ich sandte ihm meine ersten Gedichte, zeichnete ihm Bilder und schickte ihm Photographien, damit er auch sicher wisse, wie ich inzwischen aussähe. Seine Briefe waren voll väterlicher Fürsorge und liebevoller Ermahnungen. Sie begannen stets mit den Worten: »Mein liebes Elisabethle!« oder »Meine liebe kleine Freundin!« Der Schluss lautete: »Dein Dir wohlgesinnter alter Freund …« Er war ein frommer Mann. Jahrzehntelang hatte er am königlichen Hof eine Stellung innegehabt. Der Briefwechsel mit ihm bedeutete mir je länger desto mehr Freude und Bereicherung. Aus allem, was er schrieb, konnte man seine tiefe Ehrfurcht vor Gott erkennen.

Ich war bereits zwanzig Jahre alt, als wir uns nach fünfzehn Jahren wiedersahen. Meine Mutter und ich unterbrachen, von der Schweiz kommend, die Reise, um meinen Freund in Stuttgart zu besuchen. Als wir uns seiner Wohnung näherten, sahen wir einen gebeugten alten Herrn, mit einem schwarzen Samtkäppchen auf dem schneeweißen Haar, mühsam auf den Stock mit dem silbernen Griff gestützt, über die Straße kommen. Kein Zweifel, er war es. Ich ging ihm einige Schritte entgegen, war aber so aufgeregt, dass mir die Knie zitterten.

»Sind Sie Herr Roeder?« fragte ich ihn. Er hob den Kopf und bejahte es. Ich überragte ihn längenmäßig um ein gutes Stück. Erkennen und doch wieder Zweifel sprachen aus seinen Augen. Er blieb stehen: »Ja – bisch du – sind Sie – bisch du etwa's Elisabethle?«

Ich nickte, weil Tränen der Rührung mich hinderten, ihm zu antworten. Da weinte auch er. »Dass du zu mir kommsch! – Dass du mi net vergesse hosch!« Dann saßen meine Mutter und ich in seiner Wohnung. Meine Kinderphotographie, die ich scheußlich fand, hing an der Wand, und all meine Briefe und Zeichnungen hatte er fein säuberlich aufgehoben. Dieses Treffen nach so viel Jahren und diese schöne Freundschaft war schon etwas Besonderes, und selbst meine spottlustigen Brüder freuten sich mit mir, als ich ihnen davon erzählte. Immer hatten sie mich geneckt: »Glaube nur nicht, dass du jemals einen Mann bekommst! Der müsste ja eine Leiter anstellen, wenn er dir einen Kuss geben wollte. Meinst du, es wolle einer eine Frau, die aus der Dachrinne trinken kann?«

Es stimmt schon: ich war sehr groß, meist die Größte der jeweiligen Schulklasse, aber sie übertrieben wieder einmal stark. Gewöhnlich folgte dann der tröstliche Nachsatz: »Aber du hast ja deinen alten Freund in Stuttgart. Das genügt!« Als mein Vater später ein zweites Mal nach Stuttgart versetzt wurde, war es mein jüngster Bruder, der den damals 85jähri- gen Herrn Roeder und mich zusammen fotografierte. Noch heute besitze ich ein kleines Testament, das mein alter Freund mir schenkte. Er hatte es, wie er mir sagte, im Siebzigerkrieg immer in seiner Brusttasche bei sich getragen und viel Trost und Hilfe daraus geschöpft. – Als er fühlte, dass es mit ihm zum Sterben ging, band er all meine Briefe und Gedichte, die er von mir hatte, zusammen und sandte sie an unsere frühere Hausgehilfin nach Großheppach, dass sie mir diese nach seinem Tode zustelle. »Es soll nicht in fremde Hände kommen!« schrieb er ihr.

Mein guter, alter Freund! Irgendwie fehlte mir etwas, als kein Brief mehr von ihm kam. Die Verbindung mit ihm gehört zu meinen schönsten Erinnerungen.

Aber nun muss ich wieder zurückkehren in meine Kinderzeit. – Sorglose, fröhliche Jahre in der Obhut meiner Eltern reihten sich aneinander, in denen ich unbeschwert zwischen meinen drei unternehmungslustigen Brüdern heran wuchs. Eine Zeitlang wohnten wir in Düsseldorf-Rath, gegenüber dem großen Rathener Wald. Wie war meine Mutter glücklich, dass die Dienstwohnung diesmal außerhalb des Lärms und der Unruhe der Großstadt lag! Dabei war Düsseldorf damals im Vergleich zu heute beinahe eine gemütliche Kleinstadt. Immer hat meine Mutter darunter gelitten, dass sie, die auf dem Lande aufgewachsen war, mit ihrer Familie in Großstädten wie Hamburg, Berlin, Stuttgart, Leipzig leben musste. Daher war es ihr wichtig, die großen Ferien mit uns möglichst bei unseren Verwandten auf dem Dorf zuzubringen. Jetzt, wo wir außerhalb Düsseldorfs wohnten, schickte sie uns in jeder freien Stunde in den Wald. Nachdem ich jedoch eines Tages, als ich mit meinem jüngsten Bruder allein durch denselben streifte, beinahe einem Unhold in die Hände gefallen wäre und nur wie durch ein Wunder vor Schlimmstem bewahrt wurde, durfte ich nie mehr ohne den Schutz meiner älteren Brüder gehen. Jenes Erlebnis hat mir einen nachhaltigen Schock versetzt. Zum ersten Mal war mir ein gemeiner Mensch begegnet.

Unsere Mutter liebte den Wald. Sie kannte viele Kräuter, Blumen und Pilze mit Namen. Noch mit mehr als 80 Jahren sagte sie: »Ich bin ein Waldkind.« Sie verstand, uns die Augen für die Schönheiten der Natur zu öffnen. Ob wir in späteren Jahren die Ferien am Meer, in den Schneebergen, in ihrer rheinischen Heimat oder sonst wo zubrachten: immer steckte sie uns an mit ihrer Freude an all dem, was aus Gottes Schöpferhand so wundervoll hervorgegangen ist. Der nächtliche Sternenhimmel beglückte sie ebenso wie eine Löwenzahnblüte oder ein Frauenmäntelikraut, ein Gebirgsbach genauso wie die majestätisch in den Himmel ragenden Berge des Berner Oberlands mit ihrem ewigen Schnee. So saß sie oft mit uns im Düsseldorfer Wald und bastelte uns das schönste Spielzeug aus Kastanien und Eicheln.

Ich denke an einen Herbstnachmittag. Das Laub raschelte unter unseren Füßen. Der herbe Duft des auf den nahen Feldern verbrannten Kartoffelkrautes erfüllte die Luft. Einzelne Vogelstimmen waren noch vernehmbar. Meine Mutter setzte sich mit einer Handarbeit an einen sonnigen Platz. Wir Kinder trugen einen großen Laubberg zusammen unter einem Baum am Waldrand. Nun kletterten meine Brüder auf einen der vorstehenden Äste und sprangen mit Jubelgeschrei mitten hinein in den raschelnden Laubberg. Ha! – das konnte ich gewiss genauso gut wie sie. Meine Mutter warnte. Aber meine Brüder leisteten mir Hilfestellung. Tatsächlich, da stand ich auch schon auf dem Ast und stürzte mich begeistert in die Tiefe, die gewiss nicht beträchtlich war, mir jedoch damals erstaunlich vorkam. Ein–, zweimal ging es auch gut. Aber beim dritten Versuch blieb ich mit meinem braunen, glücklicherweise haltbaren Lüster-Samtrock am oberen Ast hängen. Da zappelte ich nun, und ich kann nicht behaupten, dass mir besonders behaglich zumute gewesen wäre. Unter mir aber brachen meine drei Brüder in ein Indianergeheul aus, wie es der stille Wald vorher kaum erlebt hatte. Selbst meine Mutter konnte ein Lächeln bei meinem Anblick nicht unterdrücken. Mir aber wurde angst und bange. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder riss mein schöner Rock und ich landete mit dem Gesicht mitten in dem schon ziemlich auseinandergewirbelten Laub; oder aber – und das war bei der Stabilität der Stoffe, die meine Mutter gewöhnlich einkaufte, durchaus denkbar – ich musste da oben hängenbleiben, bis ich – vielleicht sogar durch die Feuerwehr! – befreit wurde. Wie entsetzlich, sich das vorzustellen! Morgen stand es dann gewiss in der Zeitung.

Da kam, gemächlich am Waldrand entlangspazierend, ein Herr auf uns zu. »Dein Lehrer! – Dein Lehrer!« riefen meine Brüder halblaut, aber in unverkennbarer Schadenfreude.

»Erde, tu dich auf!« Etwas Schlimmeres hätte mir nicht passieren können. Was sollte ich nur tun? – »Mama – Mama – hilf mir doch!« rief ich beinahe weinend, obgleich ich mir nicht vorstellen konnte, was sie zu meiner Rettung hätte unternehmen können. In diesem Augenblick riss mein Rock und ich sauste vor meinem verdutzten Lehrer in die Tiefe und versank im Laubhaufen, aus dem ich aber in erstaunlicher Geschwindigkeit wieder auftauchte, um mit meinem zerrissenen Rock hinter einem dicken Baumstamm zu verschwinden. – Mein Lehrer aber unterhielt sich noch eine Weile wohlwollend mit meiner Mutter, die klein und zierlich vor ihm stand.

In jener Zeit, es war kurz vor dem ersten Weltkrieg, reisten meine Eltern für vier Wochen nach London zu einem internationalen Heilsarmeekongress, an dem Tausende Heilsarmeeleute aus aller Welt teilnahmen. Meine Großmutter hatte es übernommen, während dieser Zeit uns Kinder zu betreuen. Das war bestimmt kein leichtes Amt. – In unserer Nachbarschaft wurden Schaubuden, Karussells, Schiffschaukeln und anderes aufgebaut. Für uns Geschwister stand dort unsichtbar und doch nicht zu übersehen eine Tafel »Zutritt verboten!«. Mit sehnsüchtigen Augen standen wir mit den anderen Jungen und Mädchen aus unserer Nachbarschaft und schauten dem Erstehen dieser Märchenstadt zu. Ja, die anderen, die hatten es gut. Für die war keine Verbotstafel angebracht. Die durften den Degenschlucker und die dickste Frau der Welt und das Schwein mit den zwei Köpfen in den Schaubuden ansehen. Aber wir? Wir durften nicht einmal Karussell fahren. Schon in Hamburg hatte meine Mutter uns gesagt: »Dort wohnt der Teufel«, wenn von St. Pauli, dem weltbekannten Vergnügungsviertel, Musik und Gekreische zu uns herüberdrang, und sie mochte nicht unrecht haben, wenn sie an das dortige Nachtleben dachte. »Nie sollt ihr etwas mit all dem zu tun haben«, sagte sie, mit der Hand nach St. Pauli hinüberdeutend. Wie gerne wollte sie uns vor allem Übel bewahren!

Aber jetzt waren beide Eltern fort – weit fort, in London. Und die Drehorgelmusik, nach deren Takt sich die kleinen Pferdchen des Karussells hin- und herwiegten, lockte. Wir aber durften nicht! – Nie hätte unsere Großmutter uns einen Pfennig Geld dafür gegeben. Und fünf Pfennig kostete es, einige Male im Kreis herumzufahren. Konnte das wirklich eine so schwere Sünde sein?

»Ich hab' eine Idee!« sagte einer meiner älteren Brüder. »Wir malen Indianerköpfe und verkaufen sie in der Schule.« Sie waren unumstritten die besten Zeichner in ihren Klassen. – Gesagt, getan. – Die Indianerköpfe fanden reißend Absatz. Mit dem so verdienten Geld zogen wir am nächsten Nachmittag auf den Rummelplatz und bestiegen jeder ein Karussellpferd. Irgendwie enttäuscht, zumindest aber sehr ernüchtert, kehrten wir nach einer Stunde wieder heim. Wir hatten es uns ganz anders vorgestellt. Dazu hatten wir alle ein schlechtes Gewissen. Hatten wir nicht den Eltern versprochen, in ihrer Abwesenheit gehorsam zu sein? – Die Freude bei ihrer Rückkehr von London war jedoch so groß, dass auch nicht der kleinste Schatten zwischen uns erträglich war. Noch hatten sie die Reisekleider nicht ausgezogen, als wir ihnen bereits ein Bekenntnis ablegten.

»Wir haben etwas getan, was wir nicht durften.«

»So? – Was denn?« Ernst waren die Augen der Mutter auf uns gerichtet, während in denen des Vaters ein winziges Lächeln aufblitzte, als er die kleine Büßergruppe vor sich sah.

»Wir sind Karussell gefahren.«

»Für selbstverdientes Geld.«

»Aber wir tun es nicht wieder.«

»Es war auch gar nicht besonders schön.«

»Und wir haben dann auch die bösen, gottlosen Menschen bestraft.«

»Was habt ihr getan?«

»Ja, bestraft haben wir sie. Am letzten Sonntag.«

»Den Klosettdeckel haben wir zugenagelt.«

»Was habt ihr?«

Unsere Mutter musste sich setzen, und in den Augen unseres Vaters erlosch das kleine Lächeln.

»Wie war das? Erzählt!«

»Ja – ihr wisst doch, dass drüben in der Gartenwirtschaft immer am Sonntagnachmittag Tanz ist. Und dann betrinken sie sich und singen dumme Lieder. Da haben wir uns besonnen, wie wir sie alle strafen könnten, damit sie einen Denkzettel bekommen, den sie nicht so schnell vergessen. Und dann haben wir einen Hammer und ganz große Nägel genommen. Die beiden Großen haben die Nägel in den runden Klosettdeckel geschlagen, und zwar immer, wenn die Straßenbahn draußen vorbeifuhr, dann hörte man nämlich das Hämmern nicht. Und wir beiden anderen haben draußen Schmiere gestanden. Aber es hat die ganze Zeit keiner aufs Klo müssen, bis der Deckel festgenagelt war. Und dann haben wir uns versteckt und aufgepasst, was die bösen Leute für Gesichter machen, wenn sie wieder rauskommen. Ein paar haben schrecklich gelacht, aber einige sind auch wütend geworden. Dann sind wir abgehauen.«

»Aber es war ein guter Denkzettel!«

Entsetzt schauten die Eltern sich an. Sollten sie uns jetzt gleich eine Strafe zudiktieren? – Nein, das war nicht gut möglich. Aber eine ernste Ansprache folgte, oftmals unterbrochen von unserer sichtlich erschöpften Großmutter, die behauptete, solch unmögliche Kinder noch nie erlebt zu haben.

Dabei dachte sie an einige Episoden, die sie in den vergangenen Wochen mit uns durchgestanden hatte; etwa daran, dass wir an einem Sonntag erst um Mitternacht heimkamen und sie Todesängste ausstand, weil sie befürchtete, wir seien im Waldsee ertrunken, wo wir am Sonntag zuvor Boot gefahren waren. Da sie, durch Gicht gelähmt, an zwei Stöcken gehen musste, konnte sie uns auf unseren Streifzügen nicht begleiten. Zu Hause festbinden konnte man uns lebhafte Gesellschaft aber auch nicht. Ohne ein eigentliches Ziel zu haben, waren wir mittags nach dem Essen losgezogen. Kaum eine Viertelstunde später hatten wir bereits einen Plan ausgeheckt. Wir wollten unsere Verwandten in Duisburg besuchen.

»Wie die sich freuen werden!«

»Das gibt eine großartige Überraschung!«

Es waren immerhin 25 Kilometer. Ein Glück, dass die Großmutter uns einige Butterbrote mitgegeben hatte. Blasen an den Füßen hatten zumindest wir beiden Jüngsten, als wir abends um 8.00 Uhr vor der Wohnungstüre unserer Tante standen. Eine Überraschung wurde es zweifellos.

»Ja, wo kommt denn ihr so unerwartet her? – Und wo sind eure Eltern? – Und die Oma weiß nichts davon? – Die ängstigt sich ja zu Tode! – Wo ist der Fahrplan? – Ihr müsst natürlich mit dem nächsten Zug zurück. – Fahrgeld habt ihr auch keins? – Ihr versteht einen in der Tat zu überraschen. Das muss man schon sagen.«

»Und Hunger haben wir auch!«

»Bis der nächste Zug fährt, haben wir uns noch nicht satt gegessen.«

»Und ich kann auch nicht so schnell schon wieder zum Bahnhof laufen«, protestierte mein jüngster Bruder. »Seht mal, was für große Blasen ich an der Ferse habe!« Tatsächlich, seine Füße sahen schlimm aus. Unsere Verwandten hatten ein Einsehen. Die Tante eilte in die Küche, um eine große Pfanne voll Bratkartoffeln zu machen.

»Ihr seid schon eine tolle Bande!« sagte der Onkel und begann für uns den Tisch zu decken. – Und dann war es wirklich so, dass wir den nächsten Zug nicht schafften. Der übernächste fuhr so, dass wir erst um Mitternacht heimkamen. Heute würde man telefonieren. Damals war das eine viel umständlichere Sache, zudem hatte niemand von den drei Mietsparteien unseres Hauses ein Telefon. Der Gedanke, die nicht weit entfernte Gartenwirtschaft anzurufen und den Besitzer zu bitten, unsere in Todesängsten schwebende Großmutter zu benachrichtigen, kam niemand von uns. Vielleicht war der zugenagelte Klosettdeckel auch ein Hinderungsgrund …

Wir vier waren jedenfalls in übermütigster Stimmung, als wir durch die nächtlich stillen Straßen unseres Vororts um Mitternacht heimwärts marschierten, einer hinter dem anderen im Gänsemarsch und laut singend. Noch heute wundere ich mich, dass uns keine Polizeistreife als nächtliche Ruhestörer abführte. Und noch heute tut mir unsere Großmutter leid, die wir in solche Angst gestürzt hatten. Als wir sturmklingelnd vor unserer Haustüre standen, schrak die Ärmste, die zusammengekauert in einem Sessel, halb krank vor Sorgen um uns saß, zusammen. Jetzt bringen sie alle vier tot! dachte sie, wie sie uns nachher erzählte. Sie konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass wir alle ertrunken waren. Mit zitternden Knien trat sie auf den Balkon und war starr vor Verwunderung, dass wir alle wohlbehalten, aufgedreht und voller Übermut vor dem Haus standen. »Oma, wir sind wieder da!«

Sie warf uns den Hausschlüssel nicht gerade sanft herunter. Schon an diesem »schwungvollen« Tun erkannten wir unzweideutig, wie die Aktien standen. Ziemlich kleinlaut schlichen wir die Treppe hinauf. Da stand sie, wie der Erzengel mit dem Schwert, und streckte gebieterisch die Hand aus: »Marsch, ins Bett!«

»Oma, wir sollen dich grüßen von -«

»Ich will nichts wissen!«

»Wir waren bei Onkel Heinrich und Tante -«

»Kein weiteres Wort!«

Das war unmissverständlich. – Ein Blick durch die offene Tür ließ uns erkennen, dass sie den Abendbrottisch für uns gedeckt hatte. Aber zu einem nächtlichen Gelage hätte sie jetzt unter keinen Umständen mehr ihre Zustimmung gegeben. Mochten wir hungrig zu Bett gehen!

Wenig später saßen wir beratend im Kinderzimmer auf unseren Betten. Keine Spur der Sättigung war noch von den Duisburger Bratkartoffeln her zu merken. Allerhand, uns das Nötigste vorzuenthalten! Plötzlich kam meinem zweiten Bruder ein Einfall. »Ich hab's! Lasst mich nur machen!« Mutig stand er wenige Augenblicke später vor dem Zimmer der Großmutter: »Oma, ich habe den Wecker vergessen. Darf ich ihn mir schnell holen? Damit wir morgen früh nicht verschlafen – wo wir heute doch so spät ins Bett kommen!«

»Meinetwegen! Aber mach schnell!«

Und wie schnell er machte! Und was er außer dem Wecker noch alles mitbrachte! Dann saßen wir vier in seltener Einigkeit noch eine ganze Weile beieinander und ließen uns die belegten Brote schmecken!

Kein Wunder, dass die Großmutter über uns klagte, als die Eltern von London zurückkehrten. Für eine kurze Weile waren wir wirklich geknickt. Was wir als herrliche Überraschung für unsere Verwandten ausgedacht hatten, das wurde nun wieder als böswilliges Tun hingestellt. Nein, es war wirklich nicht leicht, immer gut zu sein! Unsere Eltern waren bestimmt nicht kleinlich. Aber sie erwarteten von uns unbedingten Gehorsam. Nach und nach lernten wir verstehen, dass man auch dann ungehorsam sein kann, wenn man nicht unbedingt vorher ein Verbot oder Gebot bekommen hat. »Ihr müsst es lernen, auf die Stimme eures Gewissens zu hören, ohne dass euch ein Erwachsener immer ermahnt!«

Es war im ersten Weltkrieg. Nachdem mein Vater kaum mehr mit seiner Einberufung zum Kriegsdienst gerechnet hatte, erfolgte diese doch noch. Er musste als Landsturmmann einrücken. Gut erinnere ich mich noch daran, wie er sagte: »Wenn Gott es doch verhüten wollte, dass ich einen Menschen töten muss!« Noch jetzt bin ich um seinetwillen dankbar, dass sein Gebet Erhörung fand. Er hatte als Wachhabender in verschiedenen Gefangenenlagern seinen Dienst zu verrichten. Auch musste er Lichtbilderabende und andere Vorträge in Soldatenheimen halten. Einige Male besuchten wir ihn, als er in den Gefangenenlagern Dienst hatte. Da konnten wir uns davon überzeugen, wie die Gefangenen, ob es Russen, Engländer oder Franzosen waren, an ihm hingen. – »Du gutt Mann!« sagten sie immer wieder. In Verkaufsbuden wurden damals kleine Gefangene aus Pappmache oder übermaltem Gips angeboten, die Kinder und sogar Erwachsene sich dann an die Kleidung steckten oder mit Gummibändern an ihrer Brust zappeln ließen. Welche Roheit! Nie hätte mein Vater erlaubt, dass wir uns solch einen Gefangenen-Hampelmann kauften. »Sie sind Menschen, genau wie wir, sie haben eine Mutter, viele auch Frau und Kinder zu Hause, nach denen sie sich sehnen«, sagte er.

Ich litt unsagbar unter der Trennung von meinem Vater. Vielleicht verknüpfte uns ein besonders inniges Band. Es ist ja oft so zwischen Vätern und Töchtern. Als ich erwachsen war, stellte es sich heraus, dass ich ihm sehr wesensähnlich bin. – In jener Zeit vermochte ich kein Lied, kein Klavierspiel zu hören, ohne dass ich im Gedanken an meinen in der Ferne weilenden Vater mit den Tränen kämpfen musste.

Es wurde Ostern. Die rechte Festfreude wollte bei uns nicht aufkommen; der Vater fehlte. – In einem Schaufenster sah ich ein mit gelbem Samt überzogenes Küken aus Pappe, das rote Glasaugen hatte. Mir, der Elfjährigen, gefiel es ungemein. Ich hätte es zu gerne gehabt. Nie aber hätte meine Mutter, die strikt gegen unnötige Ausgaben war, mir erlaubt, derartiges zu kaufen. – Wenn ich es nun aber als Geschenk für meinen Vater erstand? Würde er sich nicht ebenfalls darüber erfreuen, schon weil es von mir kam? Und ich persönlich würde es wenigstens für eine kurze Zeit besitzen, würde mit dem Finger über diesen herrlichen gelben Samt fahren können. An jenem Tag besaß ich allerdings nur dreißig Pfennige, das Küken aber kostete fünfzig! Meine Mutter hatte mich beauftragt, verschiedene Einkäufe zu machen. Sie würde gewiss nicht merken, dass ich ein kleineres Brot heimbrachte. Dann konnte ich zu meinen dreißig Pfennigen die fehlenden zwanzig legen …

In einem seltsamen Gemisch von Glück und schlechtem Gewissen machte ich mich auf den Heimweg, unterwegs immer wieder das gelbe Küken ansehend und befühlend. War es nicht eine gute Tat, dem ferne weilenden Vater damit eine Freude zu machen? Das wog doch gewiss schwerer als das Unrecht, das ich getan, indem ich der Mutter die zwei Groschen genommen hatte. Später würde ich es ihr vielleicht auch bekennen! Aber je näher ich unserer Wohnung kam, desto ungemütlicher wurde mir ums Herz. Nein – ich musste dieses Osterküken so schnell wie möglich wieder aus dem Haus schaffen. Ganz rasch verpacken wollte ich es und dann damit auf die Post! – Doch wir Kinder waren so gar nicht gewöhnt, etwas zu verbergen. Kaum betrat ich die Wohnung mit meinem Einkaufskorb – ich muss ein sehr unglückliches, zumindest unsicheres Gesicht gemacht haben –, als meine Mutter mich fragte: »Nanu – was ist denn mit dir los? Ist etwas passiert?«

Ich vermochte nur den Kopf zu schütteln.

»Hast du Geld verloren?«

»Nein!« Ganz fremd klang meine Stimme.

»Aber es ist doch irgendetwas nicht in Ordnung!«

Mehr brauchte es nicht. Laut auf weinte ich. »Ich – ich hab' etwas getan, Mama – ich hab' etwas getan, was ich nicht durfte!«

»Komm, erzähle mir alles.«

Und ich beichtete, war aber doch sehr bemüht, hervorzuheben, dass es sich um eine gute Tat handele, weil ich ja dem Vater mit dem Geschenk eine Freude machen wollte. Meine Mutter blieb zwar ruhig, war aber doch, das merkte ich genau, sehr traurig über mich. »Es tut mir weh«, sagte sie, »dass du nicht so viel Vertrauen zu mir hast, mir zu sagen, du möchtest Papa eine Freude zu Ostern machen. Wir hätten miteinander beraten, was wir ihm schicken könnten. Du bist alt genug, um zu verstehen, dass er mit diesem Samtküken, so sehr es dir persönlich gefallen mag, nichts anfangen kann. Im Grunde genommen hast du es selbst gewollt und dich hinter dem Gedanken der guten Tat versteckt, um dein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Dass du dabei Geld, das dir nicht gehörte, veruntreut hast, ist sehr schlimm. Ich bin sehr traurig über dich. Du wirst nun sofort in das Geschäft gehen und das Küken mit der Begründung zurückbringen, dass du es nicht kaufen durftest.«

Was kam in diesem Augenblick über mich, dass ich mich wie eine Wildkatze benahm? »Das tu ich nicht – das tu ich nicht. Schlag mich tot – aber das tu ich nicht.«

Dieser Trotz musste natürlich gebrochen werden. Diesmal handelte es sich nicht nur um ein paar Klapse wie damals für zehn Pfennig auf dem Ausflugsdampfer. Diesmal wurde ich regelrecht durchgehauen.

»Bist du nun bereit, in das Geschäft zu gehen?«

Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Gesicht war tränen- überströmt. Aber ich warf den Kopf zurück. »Und wenn du mich totschlägst – ich gehe nicht!«

Es folgte eine zweite Tracht Prügel.

»Willst du jetzt gehen?«

Ich rang nach Luft. »Nein, ich gehe nicht!«

Da sah ich, dass auch über das Gesicht meiner Mutter Tränen rannen. Das war mehr, als ich ertragen konnte. Mit einem verzweifelten Aufschrei warf ich mich ihr in die Arme. »Mama – Mama – ich will es tun! Ich will gehn. – Verzeih mir!« Fest umschlungen hielt mich meine Mutter, die mich größenmäßig damals nur noch um weniges überragte. Dann aber kam das Unvergessliche. Sie nahm mich bei der Hand und zog mich neben sich auf die Knie nieder. Dann schloss sie die Augen, faltete ihre Hände und sagte: »Lieber Herr! Ich komme zu dir mit meiner Tochter, die mich so traurig gemacht hat! Gib doch, dass aus ihr keine Diebin wird und dass sie lernt, auf die Stimme ihres Gewissens zu achten, und immer den Mut aufbringt, ihr Unrecht zu gestehen und gutzumachen, wo sie gefehlt hat. Du liebst sie noch viel mehr als wir, die Eltern, es tun. Du bist ja auch für ihre Sünden gestorben. Und nun hilf ihr, dass sie niemals wieder etwas veruntreut. Amen.«

Es mag jemand denken: War es nötig, so eine Affäre aus einer Bagatelle zu machen? Wo es sich doch nur um zwanzig Pfennige handelte? – Heute bin ich meiner Mutter dankbar, dass sie es so ernst nahm. Ich kann mich nicht erinnern, jemals wieder etwas Ähnliches getan zu haben. Das Gebet meiner Mutter hat mich zutiefst beeindruckt. Nachdem ich mein verweintes Gesicht gewaschen und sie meine zerzausten Haare geordnet hatte, ging sie selbst mit mir bis vor das Geschäft. »Nun geh mutig hinein. Ich warte draußen auf dich.«

»Ich durfte es nicht kaufen«, sagte ich und rang mit den bereits wieder aufsteigenden Tränen. Dabei legte ich das Küken auf den Ladentisch. Ohne ein Wort griff der Besitzer in die Kasse und gab mir die fünfzig Pfennig zurück. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Draußen umarmte ich meine Mutter stürmisch: »Mama, ich bin so froh, und meine dreißig Pfennig schenke ich dir jetzt auch noch.« Damals habe ich, wie nie zuvor, empfunden, wie ein reines Gewissen glücklich macht.

Im Jahre 1916 folgte meine Mutter mit uns Kindern einem Ruf in die Schweiz. Sie wollte unter allen Umständen tätig sein, nicht nur als Frau und Mutter. Es verstand sich für sie von selbst, dass Familie und Haushalt nicht zu kurz kommen durften, aber sie wusste klar und unzweideutig von einem inneren Auftrag, den sie als junges Mädchen empfangen hatte, nämlich Dienst für Gott an den Menschen zu tun. Sie meinte auch, die Trennung von ihrem Mann besser ertragen zu können, wenn sie einen Platz ausfüllte in der Weise, wie sie ihn bisher zusammen eingenommen hatten. Der Leiter der Heilsarmee in der Schweiz, ein Holländer, berief sie nach Aarau, woselbst sie ein Korps (eine Missionsstation) zu übernehmen hatte. Es war dies nichts Kleines für die körperlich zarte Frau neben der Erziehung und Betreuung ihrer vier Kinder, von denen erst der Älteste damals begann, die Kinderschuhe abzustreifen. In jener Zeit fing ich an, in Bewunderung an meiner Mutter emporzusehen und zu begreifen, welch große Frau sie war. Um neben der vielen beruflichen Arbeit den Haushalt und die Kinder nicht zu kurz kommen zu lassen, stand sie jeden Montag früh um vier Uhr auf und wusch selbst unsere Wäsche!

Wie oft aber erlebten wir es, dass sie ihre Arbeit unterbrach, auch wenn diese noch so wichtig war, um sich einem Menschen zu widmen, der zu ihr gekommen war, um Rat und Hilfe zu erbitten. Einmal beobachteten wir Kinder am frühen Vormittag eines Ferientages einen Betrunkenen. Es hatte in der Nacht heftig geregnet. Der Mann bemühte sich vergeblich, einen steilen Hang an dem nicht weit von unserem Hause gelegenen Spielplatz zu erklimmen. Immer wieder glitt er aus und sah bald verheerend aus, von oben bis unten lehmbeschmiert. Zuerst reizte uns dieser Anblick derart, dass wir in übermütiges Lachen ausbrachen. Dann aber meinten wir die Stimme unserer Mutter zu hören: »Ein an den Trunk gebundener Mensch ist tief zu bedauern. Er ist von einer finsteren Macht besessen, er möchte vielleicht los, aber er kann nicht aus eigener Kraft. Und wenn ihr daran denkt, welches Elend er über seine Familie, über Frau und Kinder bringt, dann gibt es wirklich dabei nichts, was zum Lachen reizen könnte.«

Hier also war so ein bedauernswerter Mensch. »Man muss ihm helfen«, würde Mama bestimmt sagen. – Helfen! Aber wie? – Zuerst mussten wir ihm vielleicht beistehen, den glitschigen Hang hinaufzukommen. Also los! Wenig später hatte mein zweiter Bruder ihn links, ich ihn rechts am Arm gepackt, und während der Jüngste ihn von hinten schob, versuchten wir ihn hinaufzubugsieren. Zweimal glitten wir mitsamt unserem Schützling aus und lagen im Matsch. Dann aber hatten wir's geschafft. Er war so dankbar für unsere Hilfe, dass er zu weinen begann. Auch das noch! Nun musste ihm wirklich geholfen werden, denn gewiss reute ihn sein Leben. Aber diese Hilfe konnte nur von unserer Mutter kommen.

»Wollen Sie, dass wir Sie zu unserer Mutter bringen?« fragte ich den Mann. »Die wird sicher mit Ihnen beten. Sie ist zwar gerade in der Waschküche, aber sie nimmt sich bestimmt Zeit für Sie und wird Ihnen helfen.«

»Ja, o ja« schluchzte der Mann, »es muss mir einer helfen.« Was sich wohl die Leute auf der Straße gedacht haben, als wir mit dem Betrunkenen nach Hause schwankten und in unserer Waschküche verschwanden?

Meine Mutter war kein bisschen erstaunt. Es war nicht das erste und einzige Mal, dass man ihr Menschen in solch traurigem Zustand brachte. Sie trocknete einen nassen Stuhl ab, hieß den »Hilfsbedürftigen« sich darauf setzen und schickte uns hinaus. Bei diesem seelsorgerlichen Gespräch brauchte sie uns nicht als Zeugen. Ich weiß aber, dass sie den Mann am nächsten Tag in seiner Wohnung besucht hat, um sich um ihn und seine Familie zu kümmern.

In jener Zeit brachte sie auch einmal ein verkrüppeltes kleines Mädchen nach Hause, das sie in einer Kiste in menschenunwürdigem Zustand bei einer schwachsinnigen fünfundzwanzigjährigen Mutter und deren fünfundsiebzigjährigem Mann gefunden hatte. Das Kind war anderthalb Jahre alt, völlig vernachlässigt, konnte weder sitzen noch stehen und hatte noch nicht einmal gelächelt. Das Köpfchen war von einer dicken Schmutzrinde bedeckt, und der Körper roch nach Fäulnis. Kurz entschlossen brachte sie das arme Geschöpf heim und legte es mir in die Arme. »Hier hast du ein Schwesterchen.« Sie sorgte dafür, dass die Mutter des Kindes in eine Schwachsinnigenanstalt und der Vater in ein Altersheim kam. Das kleine Anneli behielten wir monatelang, bis sich auch für das Kind ein guter Platz fand.

Einige Gestalten aus jener Zeit in der Schweiz sind mir noch in Erinnerung. Da war einmal das kleine Fräulein Fisch, deren Wohnung gegenüber der Kaserne lag. Man sprach von ihr als von der »Soldatenmutter« in größter Hochachtung. Ich weiß nicht, hatte sie ihre Wohnung um der jungen Rekruten willen gegenüber der Kaserne gewählt, damit diese keinen weiten Weg zu ihr hätten, oder nahm sie sich dieser an, weil sie vom Fenster ihrer Wohnung des Öfteren am Abend beobachtet hatte, wie diese, wenn sie Ausgang hatten, von oberflächlichen jungen Mädchen in Empfang genommen wurden und ihre Schritte ins Kino oder an andere Orte, die ihr gefahrbringend schienen, lenkten.

»Ich muss immer an die Mütter dieser jungen Rekruten denken«, sagte sie einmal meiner Mutter. »Viele von ihnen kommen aus guten, geordneten Elternhäusern, wo sie umsorgt und bewahrt wurden. Für manche von ihnen ist es der erste Flug in die Welt. Wie wichtig ist es da, dass sie unter guten Einfluss kommen.« An einem Tag hatte sie einfach so ein paar junge Rekruten auf der Straße angesprochen: »Sie sind gewiss in Aarau fremd. Sehen Sie, ich wohne dort drüben, direkt gegenüber der Kaserne. Darf ich Sie nicht zu einem netten Abend bei Tee und Gebäck und einigen fröhlichen Gesellschaftsspielen einladen, vielleicht gleich bei Ihrem nächsten Ausgang?«

Höflichkeitshalber dankten die also Angesprochenen. Sie würden gerne kommen. Zwei machten hinter ihrem Rücken spöttische Bemerkungen: »So was Blödes! Mit einer alten Jungfer den Abend zu verbringen!« Drei andere folgten der Einladung. Das nächste Mal brachten sie weitere Rekruten mit. So wurde Fräulein Fisch die Soldatenmutter. Von da an gehörten einige Abende in jeder Woche den Rekruten. Sie, die nie ein eigenes Kind gehabt hatte, nahm sich mütterlich dieser jungen Männer an – im Laufe der Jahre waren es sicher einige Hundert – und befreite die Mütter dieser Soldaten in jener Zeit von mancher Sorge.

Wir kamen einige Male unverhofft zu Fräulein Fisch und fanden sie in ihrer hübschen Wohnung mit sechs oder gar mehr jungen Rekruten um den Tisch sitzen, entweder bei Tee und Gebäck oder in fröhlichem Eifer »Eile mit Weile«, das schweizerische »Mensch ärgere dich nicht«, spielend. Wir kamen aber auch dazu, wie alle über der aufgeschlagenen Bibel oder betend versammelt waren. Nie ließ die Soldatenmutter ihre Rekruten ziehen, ohne eine kurze Andacht mit ihnen gehalten zu haben. Sie ist mir unvergesslich. Sie strahlte so viel Güte aus, dass selbst die jungen Männer, die sich vielleicht zu Hause gescheut hätten, eine Einladung von einem alten Fräulein anzunehmen, dieser Atmosphäre nicht widerstehen konnten.

Eine andere Persönlichkeit war Eduard Erwin Mayer, Verlagsbuchhändler in Aarau. Er war einige Male im Saal der Heilsarmee gewesen, als meine Mutter gesprochen hatte. Obgleich er zur Landeskirche gehörte, kam er immer wieder, weil ihre Rede ihn fesselte. Eines Tages erschien er in unserer Privatwohnung und bat, meine Mutter sprechen zu dürfen. »Wie bringen Sie es nur fertig, die Missionsstation zu leiten, jede Woche in mindestens vier oder fünf Veranstaltungen zu sprechen, Hausbesuche bei Kranken und Armen zu machen, eine Assistentin anzuleiten und außerdem vier Kinder zu erziehen und einen Haushalt zu führen?« So fragte er und fuhr fort: »Es drängt mich, Ihnen ein wenig zu helfen. Wäre es Ihnen eine Erleichterung, wenn ich jeden Samstagnachmittag mit Ihren Kindern in die umliegenden Berge steigen und ihnen unsere schöne Umgebung zeigen würde? – Ich könnte mir denken, dass Sie gerade den Samstag zur Vorbereitung benötigen.«

Wie froh war meine Mutter! So lernten wir Kinder den Schweizer Jura kennen. Wenn es nicht für solche Expeditionen unmögliches Wetter war, zogen wir mit unserem neugewonnen Freund los, durch Wiesen und Wälder, auf die Höhen und ins Tal, singend und springend. Herr Mayer lehrte uns die Flora kennen, machte uns auf Insekten, Vögel und die verschiedensten Waldtiere aufmerksam und setzte damit fort, was unsere so naturliebende Mutter schon in frühester Kindheit in uns geweckt hatte. Und wie fröhlich und vergnügt war er mit uns! Eines Tages erlaubte ich mir, die damals Zwölfjährige, ihn zu fragen: »Herr Mayer, Sie sind doch schon ein so alter Mann« – er war damals gerade fünfzig Jahre alt geworden – »wie kommt es, dass Sie immer so vergnügt sind und so jung scheinen?«

»Soll ich es euch verraten?« fragte er geheimnisvoll. »Ich besitze nämlich ein Schönheitsmittel, das mich immer jung und froh hält.«

»Ja, ja!« riefen wir wie aus einem Munde. »Verraten Sie es uns.«