... und dennoch erfülltes Leben - Elisabeth Dreisbach - E-Book

... und dennoch erfülltes Leben E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Dieses Werk, obwohl in sich abgeschlossen, ist die Fortsetzung des Frauenbuches Des Erbguts Hüterin. Dort zeigte uns die Verfasserin, wie Siegberte Streitmann, die kluge und tatkräftige Tochter eines alten Bauerngeschlechtes, zu der Erkenntnis kommt, dass Fleiß und Schaffenskraft nicht genügen, den geerbten väterlichen Hof zu verwalten, und wie sie zu der tiefen Herzensfrömmigkeit und Gottverbundenheit ihrer Ahnen zurückfindet. So sehen wir in diesem zweiten Band in großen, wechselnden Bildern, wie Siegberte nicht nur das väterliche Erbe in Treue verwaltet und mehrt und in ihrer Familie mütterliche Wärme ausstrahlt, sondern an der Seite ihres Gatten, eines Arztes, vielen Leidenden zu körperlicher und seelischer Gesundung verhilft. Siegberte ist das edle Vorbild jeder Frau, die etwas weiß von den tausend Möglichkeiten, das menschliche Leid mitleidend zu begreifen und zu lindern. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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… und dennoch erfülltes Leben

Fortsetzung von „Des Erbguts Hüterin“Band 11

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-132-9

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

 

Widmung Dem Andenken Sternas gewidmet

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

… und dennoch erfülltes Leben

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… und dennoch erfülltes Leben

Nun waren schon einige Jahre verflossen, seitdem das kleine Schild am Eingangstor des Eichenhofes befestigt wurde. Es trug die Aufschrift: Dr. Heiner Sorger, praktischer Arzt. – Äußerlich hatte sich kaum etwas verändert. In gewohnter Weise ging der Betrieb auf dem großen Hof weiter, den in fleißigem, fröhlichem Schaffen die junge Bäuerin Siegberte Streitmannn, jetzt Frau Doktor Sorger, vorbildlich leitete. Man hatte noch einige Hilfskräfte einstellen müssen, weil die Arbeit anders nicht mehr zu bewältigen war. Siegberte hatte ja durch ihre Verheiratung zu den alten Pflichten noch mancherlei neue übernommen, die zumeist mit der im Eichenhof eingerichteten Praxis ihres Mannes zusammenhingen. Dieser hielt täglich seine Sprechstunden, die so stark besucht waren, dass das Wartezimmer oft nicht ausreichte, um die Patienten, die nicht nur aus dem Dorf selbst, sondern oft von weit entfernten Ortschaften kamen, aufzunehmen. Sie mussten dann im Hof auf den beiden grüngestrichenen Bänken oder bei Regenwetter unter dem breit vorspringenden Dach der Scheune warten, bis sie an die Reihe kamen.

Schnell hatte es sich herumgesprochen, wie gewissenhaft, tüchtig, aber auch menschenfreundlich dieser Doktor Sorger war. Man brachte ihm schon aus dem Grund warmherziges Interesse entgegen, weil er der Mann von Streitmanns Siegberte war, die unter ihnen allen als echtes Dorfkind aufgewachsen war. – Dass sie es trotz aller Schwierigkeiten durchgesetzt hatte, Ärztin zu werden, und dass sie sich entschloss, nach dem tragischen Tod des einzigen Bruders und Hof erben unter Verzicht auf eine aussichtsreiche Stellung zurückzukehren und mit ihnen den Acker zu bebauen, auch dass sie trotz der vielen mühevollen Aufgaben, die solch ein Hof mit sich bringt, es fertigbrachte, den alten, amtsmüden Dorfarzt zu unterstützen und hilfebringend an die Krankenbetten der Dorfbewohner zu treten, – das hatte man ihr hoch angerechnet, und man wunderte sich nicht, dass ein Mann wie Doktor Sorger um sie geworben hatte. Der alte Doktor Nölle hatte zwar an seinem jungen Kollegen und Nachfolger viel zu nörgeln. „Viel zu gut, viel zu nachsichtig ist er! Aber er wird sich mit der Zeit schon umstellen. Grobe Leut' woll'n grobe Art.“

Vorerst empfand Dr. Sorger aber noch nicht, dass ein Umstellen seinerseits notwendig wäre, sondern freute sich des ihm entgegengebrachten Vertrauens seiner Landbevölkerung, versuchte aus Schwierigkeiten, die natürlich nicht ausblieben, zu lernen und das Beste zu machen und war vor allem glücklich, in Siegberte, seiner jungen Frau, nicht nur einen tapferen, fröhlichen Lebenskameraden, sondern auch eine verständige Kollegin gefunden zu haben.

Sonst war auf dem Eichenhof alles beim alten geblieben. Die Felder wurden bestellt, der Viehbestand um einige Stück vermehrt und sorgsam betreut, und das Anwesen, das Siegberte damals aus den Händen des sterbenden Bruders übernommen und dessen Hüterin zu sein sie versprochen hatte, in gewissenhafter Treue verwaltet. Sie fühlte sich dabei ständig Gott und ihren Vorfahren gegenüber verantwortlich.

Vor der Einfahrt zu dem sorgsam gepflegten Anwesen standen wie Wächter die alten Eichbäume, die auf so manches Geschlecht des Eichenhofes geblickt hatten. Jauchzende Kinder hatten unter diesen Bäumen getollt; stille Schläfer wurden in ihrem letzten, engen Bette an ihnen vorüber auf den Gottesacker getragen; hochgeladene Brautwagen waren durch das blumengeschmückte Portal gefahren. Mit ihnen hatten junge, hoffnungsvolle Bäuerinnen Einzug in den Eichenhof gehalten. Einmal geschah es auch, dass ein Mensch mit haßentstelltem Gesicht, Flüche und Verwünschungen ausstoßend, wie ein Verfolgter aus dem Haus floh und an den alten Eichen vorbeihastete, um sich dann nie wieder blicken zu lassen. Das war der einstige Hofverwalter Holzbann gewesen. – Ja, die knorrigen Wächter des Eichenhofes hatten mancherlei erlebt. – Sie schwiegen aber zu allem, schüttelten höchstens verwundert ihre alten Häupter und warteten geduldig und ohne Hast der Dinge, die da kommen sollten. –

Was wohl die verstorbene Eichenhofbäuerin, Siegbertes Mutter, zu all den Neuerungen auf dem Hof gesagt hätte! Tatsächlich sahen diese Bäume jetzt so vieles Ungewohnte gegenüber früheren Zeiten. Da kamen die Leidenden zu Fuß oder mit dem Wagen und warteten darauf, bei dem freundlichen Arzt vorgelassen zu werden. Und wie viele waren es, die mit Kummer und Sorge beladen gekommen waren, um dann leuchtenden Auges den Eichenhof zu verlassen.

Der Vater Siegbertes, ja, der hätte Verständnis für all das Neue gehabt. Nicht umsonst hatte er oft das Wort ausgesprochen: Heb auf, was Gott vor deine Türe legt. Und Siegberte war ganz die Tochter dieses Vaters und darum passte sie so gut zu dem jungen Doktor, der ein recht weites Herz voll Nächstenliebe besaß, wenn er auch nach Doktor Nölles Meinung nicht energisch genug war. Aber das Poltern hätte er müssen wirklich erst von seinem Vorgänger lernen; das lag seiner Art nicht.

*

Im großen, holzgetäfelten Wohnzimmer des Eichenhofes saß Siegberte und nähte an einem Kinderhemdchen für das Kleine, das sie in einigen Monaten erwartete. Nach einem unruhvollen Tag war es auf dem Hofe endlich still geworden. Die junge Frau gab sich, befreit aufatmend, der wohltuenden Stille hin. Nur aus der Küche drangen noch gedämpfte Laute an ihr Ohr: das Klappern von Geschirr, das nach der Abendmahlzeit abgewaschen und fortgeräumt wurde, auch das Lachen der Mägde, – sonst war kaum ein Laut vernehmbar. Das gleichmäßige Ticken der Wanduhr wirkte einschläfernd. Siegberte ließ die Hände in den Schoß sinken. Sie war so müde. Wenn sie nicht auf Heiner gewartet hätte, wäre sie am liebsten zu Bett gegangen. Er würde ihr das gewiss nicht verargen. Im Gegenteil, immer wieder redete er ihr zu, sich zu schonen, nicht zu viel Rücksicht auf ihn zu nehmen. Aber es war für sie selbstverständlich, auf ihn zu warten. Selbst wenn er, was oft geschah, mitten in der Nacht zu einem Kranken gerufen wurde, lag sie meistens wach, bis er wieder zurückkehrte oder schrak bei seinem Kommen aus leichtem Schlummer auf. Deswegen hatte er sie zwar schon oft getadelt: „Das kann sich die Frau eines Arztes nicht leisten. Damit schadest du dir und mir. Du brauchst deine Gesundheit, und ich brauche dich für die Aufgaben, die uns noch bevorstehen.“

Es war erst neun Uhr, also noch früh am Abend. Heiner würde gewiss bald kommen. Das Aufleuchten seiner Augen verriet Siegberte jedes Mal, wie es ihn dennoch freute, wenn sie noch auf war und ihn erwartete. Sie hob lauschend den Kopf. Wie der Junge hustete! Nun lag er schon wieder mit einer heftigen Erkältung zu Bett. Sie erhob sich, um nach ihm zu sehen. Neben ihrem eigenen Schlafzimmer schlief Rudolf. Leise öffnete sie die Tür. Aus dem Bett an der Wand richtete sich eine schmale Knabengestalt auf.

„Du schläfst noch nicht?“ fragte die junge Frau.

Vorwurfsvoll sah der Junge sie an.

„Mir ist schrecklich heiß und ich habe Durst. Du lässt mich einfach hier liegen, wo du doch weißt, dass ich krank bin.“

„Ich habe dich nicht rufen hören. Quält dich der Husten wieder so?“ erwiderte Siegberte ruhig.

„Du weißt, dass du an deiner Erkältung selbst schuld bist.

Nun wirst du dich in Geduld üben müssen, bis du wieder gesund bist. Komm, lass mich deinen Puls fühlen.“

Der Junge maulte: „Nun machst du mir wieder Vorwürfe.“

„Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber du musst es lernen, die Wahrheit zu ertragen. Ich habe dich gewarnt, bei diesem kühlen Wetter schwimmen zu gehen. Denke doch, es ist Anfang Mai! Nun musst du die Folgen tragen. Du weißt, dass deine Gesundheit nicht so fest ist, wie die der Dorfjungen. – Ja, du hast erhöhte Temperatur. Onkel wird nicht erfreut sein. Ich werde dir einen Wickel machen, damit du zum Schwitzen kommst. Dann wird's morgen schon wieder besser sein und in ein paar Tagen darfst du aufstehen.“

„Ich mag keinen Wickel.“

„Es kommt nicht darauf an, was du magst, sondern was notwendig ist. Und nun komm, leg dich unter die Decke. Ich hole rasch heißes Wasser.“

Als Siegberte den Jungen in nasse Tücher gehüllt, gut zugedeckt und ihm schweißtreibenden Tee eingeflößt hatte, läutete das Telefon. Siegberte meldete sich.

„Sind Sie's, Frau Doktor? Kann Ihr Mann wohl gleich zu uns kommen?“

„Wer ist denn dort?“

„Mettens Wilhelm. Unsere Mutter will uns nicht gefallen. Das Herz tut nicht mehr mit. Der Herr Doktor sagte vorgestern, wir sollten ihn nur gleich rufen, wenn der Anfall sich wiederhole.“

„Mein Mann ist nicht da. Ich will sehen, ob ich ihn erreichen kann. Er kommt dann, so schnell es möglich ist.“

„Oder Siegberte – Verzeihung – Frau Doktor – wenn vielleicht Sie …“

„Ja, einer von uns beiden kommt.“

Eine Viertelstunde später schritt Siegberte unter dem

Sternenhimmel dem Dorf zu. Ihr Mann war am Bette der Wöchnerin, zu der man ihn schon heute Mittag gerufen hatte, unabkömmlich. „Es kann unter Umständen noch lange dauern“, hatte er am Telefon gesagt. „Warte auf keinen Fall heute Nacht auf mich. Es ist mir aber recht, wenn du gleich zu Mettens Mutter gehen kannst. – Ist es dir nicht zu viel? – Du gehst also? Schön – aber nachher gleich zu Bett, hörst du?“

Natürlich war sie gegangen. Es bedurfte ja keines Überlegens. Dafür war sie Arztfrau und selbst Ärztin. Wenn ein Menschenleben in Gefahr war, stand man zu Diensten.

„Franz soll dich begleiten“, hatte ihr Mann ihr vorhin noch zugerufen. „Du sollst so spät nicht alleine fortgehen.“

„Ich fürchte mich nicht“, hatte sie erwidert. „Und den Weg finde ich in dunkelster Nacht.“

Nun leuchteten über ihr die Sterne. Sie schritt energisch aus. Wie gut, dass sie ihrem Mann diesen Gang abnehmen konnte. Er käme sonst in dieser Nacht überhaupt zu keiner Ruhe. Es gelang Siegberte nicht, einen leisen Seufzer zu unterdrücken. Vergeblich hatte sie wieder einmal den Teetisch gedeckt und sich auf eine traute Feierabendstunde gefreut. Alles würde unberührt bleiben. Wenn Heiner endlich nach Hause käme, würde er so müde sein, dass er höchstens eilig einige Bissen zu sich nehmen und sich dann erschöpft zur Ruhe begeben würde. – Wie wenig Zeit hatten sie überhaupt für gemeinsame Besinnlichkeit! Und doch wäre sie so nötig bei den vielerlei Aufgaben, die jeden ihrer Tage füllten. Aber sie wollte nicht klagen. War es nicht unbeschreibliches Glück, dass ihre Wege zueinander gefunden hatten, dass sie sich gehörten, dass sie gleiche Interessen hatten und dasselbe Ziel verfolgten? – Ein heißes Dankgefühl durchflutete Siegbertes Herz. Nein, es sollte ihr nie zur Last werden, ihres Mannes Gehilfin zu sein, wenn die Anforderungen auch manchmal ihre Kräfte fast überstiegen. Ihr Leben an Heiners Seite war ja so reich, so ausgefüllt. Und wenn in einem Vierteljahr erst ihr Kind da sein würde! – In unaussprechlicher Freude faltete sie die Hände.

Eine Sternschnuppe zeichnete eine goldene Spur in den nächtlichen Himmel. „Gottesgabe“ flüsterte Siegberte und gedachte liebend des kommenden Kindes.

Dann stand Siegberte vor dem Bett der nach Atem ringenden alten Frau, deren Augen weit aufgerissen angstvoll auf sie gerichtet waren. „Nur Mut, Frau Mettens, es geht vorüber. Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie wieder ruhiger sind.“ Die Spritze verfehlte ihre Wirkung nicht. Wie ein bangendes Kind hielt die alte Frau Siegbertes Hand umklammert. Nach einer Stunde schlief sie ein. Die Ärztin gab noch weitere Anweisungen. Dann verließ sie das Haus. Die Begleitung des Sohnes der Kranken lehnte sie ab. Um die Straßenecke fegte ein Auto. Im letzten Augenblick konnte Siegberte zurück weichen. Der Wagen hielt mit plötzlichem Ruck. Doktor Sorger entstieg ihm.

„Aber Heiner!“ tadelte Siegberte und lächelte ihn dennoch glücklich an. Er schloss sie in seine Arme.

„Ich hoffte dich noch hier zu treffen. Ich war in Sorge um dich.“ Er küsste sie. „Bist du sehr müde?“

„Wahrscheinlich nicht müder als du.“

Und dann saß er am Steuer und sie neben ihm. Sie schwiegen beide und wussten doch genau, was ihre Herzen sich zu sagen hatten. Heiner fuhr das Auto in die Garage. Als Siegberte ihm über den Hof leuchtete, sagte sie: „Rudolf hat Fieber. Vielleicht schaust du nach ihm, während ich den Tee aufbrühe.“

„Dem Bengel gehört eine Tracht Prügel“, erwiderte Heiner. Aber er ging doch zu ihm hinauf, wo Minchen, das Mädchen, ihn gerade aus dem Wickel geschält hatte.

„Wie geht es dem Jungen?“ fragte Siegberte, als Heiner zurückkehrte.

„Es ist nichts von Bedeutung, aber einen elenden Dickkopf hat er“, antwortete der Doktor. „Doch komm, Siegberte, jetzt wollen wir noch ein Viertelstündchen uns gehören. – Wie schön hast du wieder den Tisch gedeckt! Hast du Zeit gefunden, die Schlüsselblumen zu pflücken? Und wie appetitlich sehen die belegten Brote aus.“ Er legte den Arm um sie.

„Siegberte, Liebling! Und bald sind wir zu dritt! Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue. Als die arme Weberin heute Abend endlich ihren Buben zur Welt gebracht hatte, da hätte ich am liebsten wie ein Lausejunge einen Luftsprung gemacht. Einmal weil es nun doch wider alles Erwarten gut gegangen war, und dann weil wir beide, du und ich, bald auch ein so kleines Menschlein besitzen werden. Unser Kind, Siegberte, unser Kind!“

Er hielt plötzlich inne. „Was ist dir, Liebste? Du weinst?“ Siegberte barg das Haupt an seiner Brust und wischte so die Tränen ab, die ganz gegen ihren Willen über ihre Wangen liefen. Heiner nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Seine Stimme war voll verhaltener Zärtlichkeit. „Siegberte, was ist?“

Sie aber lächelte bereits wieder: „Es ist schon vorbei; ich bin glücklich, dass wir beisammen sind.“

Heiner sah sie besorgt an. „Es war gewiss heute zu viel für dich, wie so oft. Komm, lass uns rasch etwas essen und dann zur Ruhe gehen. Mitternacht ist vorüber.“

*

Siegberte vermochte nicht am Leid eines Menschen vorüberzugehen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, Hilfe zu bringen. Aber sie konnte auch energisch sein gegenüber solchen, die durch eigene Schuld und Leichtsinn in Not geraten waren. Für sie war die Türe des Eichenhofes verschlossen, während wirklich Hilfsbedürftige nie vergebens anklopften.

„Das Wissen um des Nächsten Leid verpflichtet“, so hatte schon ihr Vater gesagt, und Siegberte hatte dieselbe Einstellung. Hiergegen stand der Mutter herbe Art. „Wir sind doch kein Obdachlosenasyl“, hatte diese ausgerufen, wenn die Tochter elternlose Kinder und Hilfesuchende ins Haus brachte. Ihr Widerstand wurde jedoch jedes Mal gebrochen, wenn sie in Siegbertes Augen schaute, aus denen ihr Mann sie anzublicken schien. Nun lag die Mutter seit einem Jahr auf dem Gottesacker, und auf dem Eichenhof wurde im Sinne ihres Mannes geschaltet und gewaltet.

Heute arbeitete Siegberte im Gemüsegarten neben dem Haus. Eine der Mägde half ihr beim Bohnenstecken. Es war ein maienschöner Tag. Über den in voller Blüte stehenden Obstbäumen wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Fleißige Bienen waren am Werk. Es versprach ein gutes Obstjahr zu werden. Siegberte schritt zum hinteren Teil des Gartens und sah nach dem Strauchobst.

„Die Johannisbeeren haben prächtig angesetzt“, rief sie dem Mädchen zu. „Selbst die alten Sträucher tragen wieder.“ Als sie sich aus ihrer gebückten Stellung auf richtete, trug der leichte Maiwind ihr eine Welle süßen Fliederduftes entgegen.

„Ach du kommst, Alwine!“ rief sie und streckte ihre Hand dem eben herzugetretenen Mädchen entgegen. „Und welch herrlichen Fliederstrauß du hast! Es wollte mich schon wundem, dass der Duft von unserer Fliederhecke dort drüben bis hierher dringen sollte.“

„Der ist für Sie, Frau Doktor“, sagte das Mädchen und hob den Strauß mit den dunkelroten Fliederdolden über den Gartenzaun. „Ich weiß, Sie lieben Blumen sehr.“

„Ich danke dir herzlich“, erwiderte Siegberte und betrachtete wohlgefällig das junge Mädchen. Wie sauber und ordentlich sah sie aus! Sie hatte die dunklen Zöpfe zu einem Kranz um den Kopf gelegt. Und wie nett stand ihr das schlichte Waschkleid! Alwine war in den zwei Jahren ihres Hierseins noch gewachsen und hatte sich sehr zu ihrem Vorteil entwickelt. Unwillkürlich dachte Siegberte zurück an den Tag, da ein verzweifeltes Menschenkind mit einem dreijährigen Bübchen an der Hand und einem Bündel Kleider unter dem Arm völlig erschöpft vor dem Eichenhof stand. Eine rohe Hand hatte in den Lebensfrühling dieses Mädchens gegriffen und die schönsten Blüten geknickt. Ein verantwortungsloser Mensch betrog sie um Liebe und Ehre und war auf und davon gegangen, nachdem er sie ins Elend gestürzt hatte. Trotzdem hatte das arme Ding noch lange an ihn geglaubt oder wenigstens gehofft, dass er sein Wort einlösen, sie zu seiner rechtmäßigen Frau machen und dem Kinde seinen Namen geben werde. Als der Junge drei Jahre alt war, hatte die junge Mutter Ostpreußen verlassen und sich auf den Weg gemacht und die Spuren des Treulosen schließlich gefunden. Nicht gewillt, sich an das Mädchen, das er unglücklich gemacht hatte, zu binden und seiner Verpflichtung gegen sie nachzukommen, hatte er das ostpreußische Gut, auf dem er Verwalter war, verlassen. Alwine aber war auf dem gleichen Gut als Dienstmädchen angestellt gewesen.

Nach dem Tode Martin Streitmanns, Siegbertes Bruder, hatte sich dieser Holzbann – so war sein Name – um die Verwalterstelle auf dem Eichenhof beworben und dieselbe auch erhalten. Siegberte hatte diesen Entschluss damals allerdings sehr bald bereut. Nicht nur, dass dieser Mensch brutal und eingebildet war, er wusste sich auch bei der damals noch lebenden Eichenhofbäuerin einzuschmeicheln, so dass diese die Tochter schließlich zu überreden versuchte, dem Drängen des Verwalters nachzugeben und dessen Frau zu werden. Das waren qualvolle Monate für Siegberte gewesen, die den Charakterlosen gar schnell durchschaut hatte. Niemals hätte sie dem unfasslichen Wunsch der Mutter Folge geleistet. Ihre ablehnende Haltung führte zu heftigen Auftritten und ernster Disharmonie zwischen Mutter und Tochter, worunter Siegberte unsagbar litt. Wenn sie nur an jene Nachtstunde dachte, wo Holzbann ihr in vollkommen betrunkenem Zustand einen Heiratsantrag machte, als sie von einem späten Krankenbesuch kam. Sie konnte sich des Zudringlichen nur dadurch entledigen, dass sie ihn, der auf schwankenden Füßen stand, in eine Schneewehe stieß. –

Es war wohl eine Fügung gewesen, dass das Mädchen aus Ostpreußen den Weg zum Eichenhof gefunden hatte und dass durch sie das wahre Wesen des unaufrichtigen Verwalters offenbar wurde. Das arme Ding musste noch seine brutalen Schmähungen über sich ergehen lassen, ehe er fluchtartig den Hof verließ. Da endlich hatte auch die Bäuerin erkannt, in welche Not die Tochter geraten wäre, wenn eine so unselige Verbindung zustande gekommen wäre.

Sie ließ nach dieser bitteren Erfahrung Siegberte gewähren, als diese sich des armen Mädchens annahm, das nach diesen neuen Enttäuschungen buchstäblich zusammenbrach. Alwine war Waise und hatte niemand, zu dem sie mit ihrem Kinde flüchten konnte. Siegberte aber wusste: hier waren Aufgaben zu erfüllen, dem verzweifelten Mädchen musste geholfen werden, sollte es nicht gänzlich Schiffbruch leiden. Hatte einer dieses junge Leben beinahe zerstört, so musste ein anderer da sein, der half, aus den Trümmern ein neues aufzubauen. Sie behielt beide, das Mädchen und ihr Kind, auf dem Hof, ließ Alwine erst einmal zur Ruhe kommen und ermutigte sie dann zur Mitarbeit, dass sie in täglicher Pflichterfüllung Vergessen und sich selbst wieder finden möchte. Bald zeigte es sich, dass das Mädchen gut veranlagt, geschickt und fleißig war. Siegberte versuchte nun Fäden zu knüpfen zwischen Alwine und dem Steinhaldenhof, wo die Mutter Emil Holzbanns und als jetziger Besitzer der älteste Bruder mit seiner Frau und seinen beiden, damals noch unverheirateten Schwestern lebte. Nicht gleich waren diese gewillt, dem fremden Mädchen, von dem man ja nicht wissen konnte, wer und was sie war, Heimat zu bieten. Aber ihr Kind, der kleine Emil, gewann bald die Herzen der Zögernden. Alwine wurde mit dem Kleinen auf dem Steinhaldenhof aufgenommen und hatte in der zweijährigen Zeit ihres Dortseins mit den Besitzern mancherlei erlebt. So hatten die beiden Töchter des Hofes sich verheiratet und den Hof verlassen. Die Frau des Besitzers war ganz plötzlich gestorben. Da war ihre Mitarbeit sehr vonnöten, zumal die alte Mutter schon recht hinfällig war.

In schwärmerischer Liebe hing Alwine an Frau Doktor Sorger, die ihr über die schwere Anfangszeit hinweggeholfen und sich ihrer stets gütig angenommen hatte. Manchen freien Sonntagnachmittag hatte sie mit ihrem Kind schon auf dem Eichenhof zugebracht und immer wieder ihr Herz vor Siegberte ausschütten können, die ihr mehr Verständnis entgegenbrachte als etwa die alte Frau Holzbann. Diese zwar zeigte sich Alwine gegenüber nicht unfreundlich, aber durch die mannigfachen Enttäuschungen ihres Lebens war sie herb und verschlossen geworden.

Siegberte freute sich an Alwine und forderte sie auch jetzt, da sie mit dem großen Fliederstrauß zu ihr gekommen war, freundlich auf, näherzutreten.

„Du kommst gewiss nicht nur, um mir die Blumen zu bringen“, sagte sie. „Du hast bestimmt etwas auf dem Herzen, ich sehe es dir an.“

Alwine schlug errötend die Augen nieder. Ja, sie würde die Frau Doktor gerne um einen Rat fragen. Ob sie wohl auf den Abend für ein Stündchen kommen dürfe. Sie sei auf dem Weg ins Dorf, wo sie eine Besorgung zu machen habe, und jetzt eben vorbeigekommen, um zu fragen, ob die Frau Doktor ein wenig Zeit für sie habe.

Siegberte dachte einen Augenblick lang daran, dass ihr Mann ihr heute Mittag beim Abschied zugerufen hatte: „Und heute Abend hoffe ich daheim bleiben zu können; dann wollen wir wieder einmal gemütlich beisammen sitzen.“ Schon wollte sie Alwine auf einen anderen Tag bestellen, aber als sie in die bittend auf sie gerichteten Augen des Mädchens blickte, vermochte sie nicht, ihm eine abschlägige Antwort zu geben, zumal Alwine sich der vielen Arbeit wegen nicht oft frei machen konnte. Und sicher war es etwas Dringliches, was sie bewegte. Heiner würde es gewiss verstehen. So reichte sie dem Mädchen die Hand und sagte herzlich: „Komm nur heute Abend, Alwine! Ich werde mir Zeit nehmen für dich.“

„Ich will Sie gewiss auch nicht zu lange aufhalten“, erwiderte das Mädchen.

Mit dem ruhigen Abend wurde es dann ohnehin nichts. Doktor Sorger wurde in ein Nachbardorf zu einem Schwer- kranken gerufen. So hatte seine Frau Zeit für das Mädchen aus Ostpreußen. –

Alwine saß auf der gemütlichen Eckbank des Wohnzimmers. Sie blickte verlegen auf ihre im Schoß gefalteten Hände und suchte offenbar nach Worten, ihr Anliegen vorzubringen. Siegberte ließ ihr Zeit. Je älter sie wurde, desto mehr empfand sie, dass man, um einem anderen helfen zu können, sich Zeit für ihn nehmen und warten können müsse, bis er imstande sei zu reden. Ruhig strickte sie an dem wollenen Kinderjäckchen. Es ging ihr durch den Sinn, mit welch anderen Empfindungen Alwine wohl damals der Geburt ihres Kindes entgegengesehen haben musste als sie, die während all dieser Zeit von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl durchdrungen war. – Ob ihre Gedanken auf das Mädchen übergesprungen waren? – Es sagte: „Sie wissen, wie sehr ich darunter gelitten habe, dass Emil ohne Vater auf wachsen soll. – Jetzt gäbe es einen Ausweg …“ Sie stockte.

Siegberte warf ihr einen ermutigenden Blick zu und sagte: „Sprich nur weiter, Alwine.“

„Der Steinhaldenbauer hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will.“

„Wirklich? – Das freut mich für dich, Alwine. Das ist ein Zeichen von Vertrauen. Und was hast du geantwortet?“

Alwine zögerte. Es war ihr anzumerken, wie schwer es ihr wurde, das auszusprechen, was sie empfand. – Schließlich antwortete sie: „Ich habe den Bauer gebeten, mir ein paar Tage Zeit zu geben, damit ich mir klarwerden könne, was das Richtige sei. – Seh'n Sie, Frau Doktor, damals in Ostpreußen bei – bei seinem Bruder, da habe ich zu wenig überlegt; so kam ich ins Unglück mit dem Kind. Jetzt ist mir Angst, etwas zu tim, was ich später vielleicht bereuen müsste.“

Siegberte fasste die Hand des Mädchens. „Es ist schon recht, Alwine, wenn du dir alles gut überlegst; aber du darfst in diesem Falle auch ruhig dein Herz fragen. Was sagt es dazu?“

Alwine errötete. „Ach, Frau Doktor, ich weiß nicht, ob ich mich in meinem Herzen richtig auskenne. Als ich damals Emil kennenlernte, glaubte ich ganz gewiss, dass ich ohne ihn nicht sein könne – ich – ich meinte, ihn richtig gern zu haben. Später aber, als er mich mit dem Kind im Elend zurückließ und mich so schnöde betrog, hätte ich ihn hassen können und hab's wohl auch getan. Jedenfalls verachtet habe ich ihn aus tiefstem Herzen. – Und wenn ich nun daran denke, die Frau seines Bruders werden zu sollen … Ich habe mich immer nur als Magd in seinem Hause betrachtet und großen Respekt vor ihm gehabt. Nach dem Tode seiner Frau dachte ich wohl dann und wann, dass wieder eine Bäuerin auf den Hof kommen werde, zumal kein Erbe da ist, und der Steinhaldenbauer noch keine vierzig zählt – aber dass er an mich denken könne, das ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich weiß nun nicht, ob ich es wagen darf, ihm ,ja‘ zu sagen, so wie ich zu ihm stehe, obgleich es natürlich verlockend ist, auf einem solchen Hof Bäuerin zu sein.“

„Ich verstehe dich gut“, erwiderte Siegberte. „Aber glaube mir, aus gegenseitiger Achtung kann Liebe erwachsen. Ohne Achtung kann Liebe ja schwerlich bestehen. Sieh, nachdem du Emil nicht mehr achten konntest, vermochte sich die vermeintliche Liebe sogar in Hass zu verwandeln. Übrigens zerren die Menschen das große Wort ,Liebe‘ vielfach mit ihren unreinen Händen in den Schmutz niedrigster Gedanken und Gelüste. Sie verwechseln Liebe mit Triebhaftigkeit und Sinnenlust. Wahre Liebe adelt die Menschen, und die idealste Ehe ist da, wo zwei Menschen sich bis in die tiefsten Geheimnisse ihres gemeinsamen Lebens hinein gegenseitige Achtung bewahren. Wo einer den andern verachten muss, zerbricht eines Tages auch die stärkste Liebe. Ich bezweifle es, Alwine, dass dich und Holzbann damals wahre Liebe verband. Du warst ein junges, unwissendes Mädchen, fast noch ein Kind, und dadurch, dass du eitern- und heimatlos warst, besonders liebebedürftig. Du glaubtest natürlich den Versprechungen dieses Treulosen; er aber nutzte deine Unwissenheit aus. Und wenn es heute nur Hochachtung wäre, die du für den Steinhaldenbauer empfindest, so böte diese eine weit sicherere Grundlage für eine gemeinsame Zukunft, als jäh aufflackernde Leidenschaft, die oft so rasch in nichts zusammenfällt. Weil du gar nicht mit der Möglichkeit rechnetest, Steinhaldenbäuerin zu werden, hast du wohl weiteren Empfindungen in deinem Innern keinen Raum gegeben. Aber gib nur Acht, du gewinnst den Wilhelm Holzbann noch von Herzen lieb.“

Ein Aufleuchten in Alwines Augen dankte Siegberte diese Worte. Sie antwortete: „Es ehrt mich, dass der Steinhaldenbauer mich zur Frau begehrt, obgleich er weiß, was zwischen seinem Bruder und mir vorgefallen ist.“

„Er hat dich zur Genüge beobachtet und will vielleicht auch gutmachen, was Emil an dir verschuldet hat.“

„Aus Mitleid wollte ich allerdings nicht geheiratet sein – aber …“

„Aber?“ –

„Er sagt, ich sei ihm liebgeworden, dass er sich keine andere als seine Frau denken möchte.“

„Na also. Ich glaube, dass du nicht länger im Unklaren zu sein brauchst über das, was du ihm antworten sollst.“

„Wenn nun aber Emil eines Tages zurückkehrte?“

„Er hat jedes Recht an dich verloren durch sein ehrloses Handeln.“

„Ich denke längst nicht mehr daran, ihn je zu heiraten; dazu hat er mich viel zu tief verwundet. Aber der Kleine ist doch sein Kind.“

„Er hat bisher nichts unternommen, seine Vaterpflichten zu erfüllen; somit hat er auch keine Rechte zu beanspruchen. – Oder solltest du ihn gar fürchten? Nirgends wärest du wohl in sichererer Hut, als bei seinem Bruder, dem Steinhaldenbauer, der ein Mann von Charakter ist.“

Alwine sann eine Weile vor sich hin. Dann sagte sie: „Es müsste schön sein, eine bleibende Heimat zu haben, und der Steinhaldenbauer würde meinem Kind gewiss ein guter Vater sein.“

„Und seiner kleinen Frau ein liebevoller Gatte“, fügte Siegberte hinzu und legte den Arm um die Schultern des verwaisten Mädchens. Da zog Alwine die Hand der mütterlichen Frau an ihre Lippen und küsste sie dankbar.

Doktor Sorger kam früher zurück, als seine Frau ihn erwartet hatte. „Wie freue ich mich!“ sagte Siegberte. „So bleiben uns doch noch ein paar stille Abendstunden, wenn du nicht wieder abgerufen wirst. Während du dich wäschst, kocht das Teewasser. Wir können gleich essen.“ Sie sah ihn mit glücklichem Lächeln an. „Ich habe dir etwas Schönes zu erzählen.“

Wenig später saßen sie im gemütlichen Winkel des Wohnzimmers. Wie traulich plauderte es sich beim gedämpften Licht der Stehlampe. Siegberte berichtete von der Unterredung mit Alwine. „Ich kann dir nicht sagen, wie es mich freut, dass das Mädchen nun endlich eine Heimat findet. Immer war ihr Ergehen mir ein Anliegen.“

„Musst du dir eigentlich immer zu den eigenen auch noch die Sorgen anderer aufladen?“ fragte Heiner und wusste doch, noch ehe er ihre Antwort abwartete, dass sie nie anders handeln würde, weil das Sorgen um andere ein Teil ihres Wesens und ihr geradezu Lebensbedürfnis war.

„Unsere eigenen Sorgen“, – nahm sie sinnend seinen Gedankengang auf. Dann sah sie ihn lächelnd an. „Ich habe doch nur noch die Hälfte wie früher.“

„Die Hälfte?“ – Er verstand nicht gleich.

„Ja, weil ich die andere Hälfte auf deine Schultern gelegt habe.“

Da schloss er sie in seine Arme. „Demnach hast du also noch Platz genug für die Bürden anderer. Wenn dabei nur auch deine Kraft ausreicht. Ich fürchte immer, dass du dir zu viel zumutest. Aber ich glaube, du kannst nicht leben, ohne dich um die Not anderer zu kümmern.“

Siegbertes Blick verlor sich in die Weite, dann sagte sie leise: „Mein Vater pflegte zu sagen: ,Der Weg zu Gott führt über den Nächsten.‘“

„Wenn du mit all deinen Sorgenkindern so Gutes und Erfreuliches erlebst, wie mit dem Mädchen aus Ostpreußen, soll es mich nur freuen. Ich fürchte, Rudolf wird dir mehr Kummer bereiten.“

„Du hast eine Abneigung gegen den Jungen. Das tut mir manchmal fast weh, denn er soll doch bei uns Heimat finden.“

„Nicht gegen Rudolf selbst, aber gegen das Heimtückische in seinem Wesen. Wenn du gesehen hättest, wie er gestern eines der jungen Kätzchen über den Gartenzaun geschleudert hat …“

„Pfui, wie gemein.“ Siegbertes Augen flammten. „Da hätte ihm wirklich eine Tracht Prügel gehört.“

„Du darfst überzeugt sein, dass ich sie ihm verabreicht habe. Und Rolands rasendes Bellen, sobald der Junge nur in der Feme auftaucht, hat ganz gewiss auch seinen Grund. Rudolf leugnet zwar, das Tier mit dem großen Stein beworfen zu haben, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es niemand anders war als er. Wenn dich deine Güte dem Bengel gegenüber nur nicht einmal teuer zu stehen kommt.“

Siegberte schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Und dennoch tut er mir leid. Denke doch, er ist ein ungewolltes Kind. Weißt du, Liebster – jetzt, wo wir unser Kleines erwarten, verstehe ich in noch weit größerem Maße als vorher, welch eine Tragik über einem solchen Kind liegt. Glaubst du nicht auch, dass diese Kinder es weit schwerer im Leben haben als andere?“

„Das mag sein, aber das darf kein Freibrief für Bosheiten sein. Wer weiß, welche Erbmasse in dem Jungen schlummert. Aber tue du, wie dir dein mütterliches Herz gebietet. Für unser Kind wird ja doch wohl noch genug Liebe übrigbleiben.“

„O Heiner!“ Sie lehnte sich an seine Schulter und schloss die Augen. „Wenn ein Kind schon vor seiner Geburt so geliebt wird, wie das unsrige … Und gerade darum tut Rudolf mir so unsagbar leid. Ich weiß, er ist oft fast unausstehlich. Er soll aber trotz allem spüren, dass jemand da ist, der ihn liebhat.“

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Franz Koppner, der Verwalter, trat ein. „Verzeihung, wenn ich ungeschickt komme.“ Sein Gesicht drückte ehrliches Bedauern über seine Störung aus. Er wusste, wie selten den Arztleuten solche Stunden traulichen Beisammenseins geschenkt waren. Aber er war lange genug im Hause, um zu wissen, dass Siegberte von allen Geschehnissen auf dem Hof unterrichtet sein wollte.

„Nun, Franz?“ fragte diese.

„Frau Doktor, die Blanka gefällt mir gar nicht. Es wäre auch Zeit, dass das Kalb käme. Es ist bald zu fürchten, dass wir das Tier abschlachten müssen.“

„Das wäre schlimm“, erwiderte Siegberte und stand sofort auf. „Weshalb habt ihr dem Tierarzt nicht telefoniert?“

„Das ist bereits geschehen.“

„Ich komme sofort. Will mich nur rasch umziehen.“

„Und ich?“ fragte Heiner. „Ja, ja, ich sehe schon. Ihr traut mir nichts zu. Aber warum soll ein Geburtshelfer nicht auch einer kalbenden Kuh zu Hilfe kommen. Franz, geh‘ voraus, in fünf Minuten sind wir im Stall.“

Während sich beide rasch umkleideten, sagte Siegberte: „O Heiner, das hast du dir auch nicht träumen lassen, dass du auf dem Eichenhof derartige Pflichten zu erfüllen hättest.“

„Aber warum nicht?“ entgegnete er. „Hast du nicht selber vorhin vom Halbieren der Sorgen und Lasten gesprochen? Und wenn du an so manchem Krankenbett stehst und m i r dann hilfst, dann betrachte ich es als ganz selbstverständlich, dass ich dir zur Seite stehe, wenngleich ich auch noch bitter wenig verstehe von Ackerbau und Viehzucht. Bin ich erst einige Jahre länger hier, so werde ich meine Kenntnisse um etliches vermehrt haben. Wir sind nun eben mal ein seltsames Arztehepaar. Aber ich denke, das Vertrauen unserer Bauern wird nicht geringer werden, wenn ich mich auch in ihren Stallungen etwas auskenne.“

Als der Tierarzt eine Stunde später erschien, waren gerade Zwillingskälber angekommen und Doktor Sorger bemühte sich mit dem Verwalter um die Mutterkuh. „Hier scheine ich überflüssig zu sein“, sagte der Tierarzt und schüttelte Heiner die Hand. „Ich gratuliere, Herr Kollege! – Wenn Sie morgen mal nach meiner kleinen Tochter sehen wollten – ich glaube, sie hat Windpocken.“ Doktor Sorger versprach zu kommen und bat den Tierarzt um Entschuldigung, wenn er ihm ins Handwerk gepfuscht haben sollte. Dieser aber wehrte lächelnd ab. „Als Bauernarzt müssen Sie alles können.“

*

Rudolf kam aus dem Kindergottesdienst nach Hause, den er regelmäßig, wenn auch widerwillig zu besuchen hatte. Tante Siegberte sagte: „Es ist bei uns immer so üblich gewesen, dass man am Sonntag zur Kirche geht, und es schadet dir gewiss nicht, wenn du dich dieser guten Sitte fügst.“

„Aber nützen tut es mir auch nichts“, meinte der Junge.

„Das vermagst du wohl kaum zu beurteilen“, erwiderte Siegberte ruhig. „Es ist traurig genug, dass du jahrelang ohne religiöse Erziehung gewesen bist, und ich hoffe sehr, dass du mit der Zeit den Wert des Religionsunterrichts schätzen lernst und Freude daran findest.“

Rudolfs Miene hellte sich auf, als er erfuhr, dass man am Nachmittag ins Landhaus Kabel, das den schönen Namen „Heimkehr“ trug, eingeladen war. Kabels waren gute Freunde von Sorgers. Rolf Kabel war Schriftsteller, und wohnte mit seiner jungen Frau und den beiden jetzt zweijährigen Zwillingen in einem idyllisch gelegenen Landhaus.

Mit Heiner Sorger verband ihn eine herzliche Freundschaft, Siegberte aber verehrte er geradezu. „Sie ist einmal der rettende Engel in unserem Hause gewesen“, hatte er zu dem Arzt gesagt, als dieser das erste Mal, noch als Siegbertes Verlobter, Haus „Heimkehr“ aufgesucht hatte. „Lassen Sie sich von ihr selbst erzählen. – Jedenfalls sind wir, meine Frau und ich, ihr zu großem Dank verpflichtet.“ Und die beiden Ehegatten, jeder eins der Kinder auf dem Arm, hatten einen Blick stillen Einvernehmens miteinander getauscht. Siegberte aber hatte sich errötend abgewandt. „Rolf, Sie übertreiben. Um Engelsdienste leisten zu können, müsste ich viel weniger erdgebunden sein.“ „Und doch gibt es Menschen, die trotz aller Erdgebundenheit als helfende Engel durch die Welt gehen“, hatte der Schriftsteller erwidert. Jedenfalls bestand ein sehr gutes Verhältnis zwischen dem Arztehepaar und den Bewohnern des Landhauses und es bedeutete für alle Beteiligten jedes Mal ein Fest, wenn sie sich abwechselnd besuchen konnten. Kabels bedauerten nur, dass Sorgers so wenig Zeit zum Besuchemachen hatten. „Ihr werdet noch vollständig von eurer Praxis und eurem Betrieb verschlungen“, murrte Rolf Kabel. Aber zu ändern war daran nichts.

„Ins Landhaus gehen wir?“ jubelte Rudolf. „Wer geht mit? Ich und du allein? – Herrlich!“

„Weshalb freut es dich, dass wir beide allein gehen?“ fragte Siegberte. „Magst du nicht, dass der Onkel auch mitgeht?“

„Doch – nein – das heißt – weißt du, Tante, lieber bin ich schon mit dir allein.“

„Aber warum, Rudi. Onkel Heiner meint es doch auch gut mit dir.“

„Er kann mich nicht leiden.“

„Wie kannst du das sagen?“

„Das spüre ich, und er hat mich auch schon ein paarmal geschlagen.“

„Nur wenn du es verdient hattest.“ Der Junge zuckte die Achseln und fuhr nicht ohne Bitterkeit fort: „Außer dir mag mich überhaupt niemand richtig.“

„Aber Rudolf!“ Siegberte legte den Arm um die Schultern des Jungen. „Deine Mutter hat dich doch auch lieb.“

„Pah – meine Mutter! – Etwa, weil sie mir ein- oder zweimal im Jahr allerlei Süßigkeiten oder andere nette Sachen bringt? Wie kann sie mich liebhaben, wo sie mich kaum kennt.“ Der Junge schlug mit der Hand durch die Luft, als wolle er eine lästige Fliege verjagen, und brummte: „Lassen wir das!“ Siegberte erschrak. War Rudolf wirklich erst zwölf Jahre alt? Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Siegberte spürte genau, dass ihrer beider Gedanken die gleichen waren. Wenn Rudolf jetzt auch eine gleichgültige Miene zur Schau trug und zu pfeifen anhob, so konnte er im Augenblick doch nicht von seiner Mutter loskommen. Er brach seine Melodie auch plötzlich ab, blieb vor Siegberte stehen und sagte, indem sich seine Augen dunkel färbten: „Ich weiß, dass ich ein ungewolltes Kind bin.“

Siegberte sah bekümmert auf den Jungen. „Du kannst doch nicht leugnen, dass es so ist“, fuhr Rudi unbeirrt fort. „Du kennst doch meine Mutter und weißt, dass sie nichts von mir wissen will. Und mein Vater – der kümmert sich überhaupt nicht um mich. – Das muss ein Schöner sein!“ – Er lachte bitter auf. „Als meine Mutter das letzte Mal bei mir war, habe ich sie gefragt, weshalb ich keinen Vater habe wie andere Kinder und wo mein Vater eigentlich sei. Da wurde sie verlegen, und anstatt mir zu antworten, versprach sie, mir eine Armbanduhr zu schicken. – Das hat sie ja dann auch getan. Ha – auf die Uhr könnt' ich verzichten; sie sollte mir lieber den Vater bringen.“

Der Junge brachte Siegberte in äußerste Not. Was sollte sie nur antworten? Empfand er nicht ganz richtig? – Sie waren langsam weitergegangen. Nach einer Weile warf Rudolf Siegberte einen scheuen Blick zu.

„Tante Siegberte, Franz Stucki sagt“ – er stockte und suchte sichtlich nach den rechten Worten – „und ich wusste es auch – du – du bekommst – –“ „ Sie half ihm. „Du darfst es ruhig aussprechen. Ja, es ist so, wir erwarten ein Kindlein, und Onkel Heiner und ich freuen uns unsagbar darauf.“ – „Siehst du – siehst du!“ entfuhr es fast leidenschaftlich dem Jungen. „So ist es bei euch, und so ist es bei allen rechten Eltern. Aber auf mich hat sich kein Mensch gefreut. Oder würdest du vielleicht dein Kind gleich, nachdem es auf die Welt kommt, zu fremden Leuten tim? – Sag, würdest du so etwas tun?“ Rudolf war wieder vor Siegberte getreten und forderte herrisch Antwort auf seine Frage. Statt zu antworten nahm die junge Frau ihn in ihre Arme und küsste ihn. Ihr Herz floss über vor Erbarmen und Mitleid mit dem armen Kind, das ihr Einblick in sein Inneres gewährt hatte. Sie glaubte Menschenkennerin zu sein, aber solchen Gefühlsausbruch hätte sie nicht erwartet und solche Überlegungen nicht hinter der sonstigen Oberflächlichkeit Rudolfs gesucht. Der Junge befreite sich erschrocken aus ihren Armen: „Tante Siegberte, du weinst ja! Aber doch nicht wegen mir?“ Und nun musste sie fast lächeln. Er legte nämlich seinen Arm um sie und sagte wie ein Alter: „Beruhige dich, es ist nun einmal nichts daran zu ändern; und weißt du, hier bei euch auf dem Eichenhof bin ich ja auch ganz zufrieden. Zum ersten Mal musste ich nicht das Gefühl haben, dass ich nur geduldet bin, wenn auch Onkel Heiner mich nicht so sehr mag. Du bist immer nett zu mir. Und außerdem kann ich reiten und überall herumstreifen und auf die Bäume klettern und Obst essen, soviel ich will – und du hast mir eines von den Lämmern geschenkt, dass ich es immer behalten darf.“ – Nun war er wieder ganz Kind und schien seinen Kummer bereits vergessen zu haben. Welch ein seltsamer Junge! – Wer kannte sich bei ihm aus! Jetzt pfiff er schon wieder, wenn auch in schauerlichen Tönen. Rudolf war nämlich vollkommen unmusikalisch.