Heilige Schranken - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Heilige Schranken E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Etwas Außergewöhnliches ist es nicht, dass die 30-jährige Martina Hillstern auf der Reise einen Mann kennenlernt; außergewöhnlich wäre es auch nicht, wenn sie ihn zu besitzen begehrte, nachdem in ihr eine große Liebe für ihn aufgebrochen ist. Aber Martina will nicht schuldig werden, weder vor Gott noch vor der Frau Albrecht Schüttings, des Leiters der Schule in Hochstadt. So wird sie in einen Kampf gezogen, der schwer ist und fast über ihre Kraft geht. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Heilige Schranken

Band 4

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-125-1

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Heilige Schranken

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Heilige Schranken

Martina Hillstern bemühte sich, den Sturm in ihrem Innern niederzuzwingen. Es ging doch nicht an, dass sie den Mitreisenden ein Schauspiel gab und mit ihren dreißig Jahren hier wie ein kleines Mädchen weinte. Hatte sie nicht gemeint, endgültig mit dem in ihr nagenden Schmerz fertig geworden zu sein und überzeugt zu dem neuen Weg ja gesagt zu haben? Aber so schwer hatte' sie sich das Lösen von dem Vergangenen doch nicht vorgesteilt.

Sie wandte sich vom Fenster, an dem sie nun eine ganze Weile gestanden hatte, ohne von den vorbeiflutenden, wechselnden Bildern etwas aufgenommen zu haben, und setzte sich auf ihren Platz, wo sie sofort den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss. Es war eine Geste der Abwehr. Sie wollte nicht sehen, wer mit ihr im Zuge saß, sie wollte mit niemand in ein Gespräch kommen; überhaupt befand sie sich in einem ganz eigenartigen Zustand. Es überkam sie das Gefühl, als sei sie willensmäßig ganz unbeteiligt an dem, was sie erlebte. Es geschah etwas mit ihr, ohne dass sie sich dagegen zu wehren vermochte.

»Du kannst mich doch nicht mit den Kindern im Stich lassen«, hatte ihr Bruder, der in der Kreisstadt Pfarrer war, ihr geschrieben, nachdem seine Frau ihn vor wenigen Wochen verlassen hatte. Ihr Tod schien ihm den Boden unter den Füßen weggerissen zu haben. Gewiss, es war für ihn nicht einfach, ohne Hilfe mit den vier Kindern dazustehen, aber schließlich hätte sich mit der Zeit schon eine ordentliche Haushälterin gefunden. In der Verwandtschaft seiner Frau gab es doch auch einige unverheiratete Frauen. Warum wandte er sich nicht an diese? Aber er hatte einfach erklärt, nach all dem Vorausgegangenen keinen fremden Menschen um sich ertragen zu können, und es als selbstverständlich hingenommen, dass Martina alle Brücken hinter sich abbrach und seinen Haushalt und die Erziehung seiner Kinder übernahm. Bedachte er wohl nicht, was es für sie bedeutete, zurückzulassen, was sie glaubte als Lebenswerk vor sich zu sehen, und sich von solcher Weite in die Enge umzustellen?

Als ihre Freundin bei Kriegsende Martina zu sich gerufen und gefragt hatte, ob sie bereit sei, mit ihr eine Heimat für Flüchtlingskinder zu eröffnen und ihre Zeit, Kraft und Begabung diesen zu schenken, da hatte sie sich keinen Augenblick besinnen müssen. Ihr ganzes Herz hatte dieser Arbeit entgegengeschlagen, und alles bisher Erlebte und Erlittene, natürlich auch ihre Ausbildung als Kindergärtnerin und später als Jugendleiterin, schien ihr eine einzige Vorbereitung für das, was ihrer wartete, gewesen zu sein. Sie hatten mit großen Schwierigkeiten das Werk begonnen, aber spürbarer Segen lag auf der Arbeit. Vielen heimatlosen Kindern hatten sie während der Jahre seit Bestehen des Heimes versucht, das Elternhaus zu ersetzen. Die Mädchen und Jungen hatten während des Krieges und in der darauffolgenden Zeit vielfach Entsetzliches erlebt. Manche von ihnen schienen überhaupt keine Kinder mehr zu sein und hatten das Lachen und Fröhlichsein verlernt. Der Sturm des Krieges schien alle blühenden Bäume ihrer Kindheit geknickt zu haben. Welche Aufgaben erwuchsen da den beiden Frauen und ihren Mitarbeiterinnen! Alle ihre Kräfte und Fähigkeiten hatte Martina in selbstloser Hingabe dieser Arbeit an den heimatlosen Kindern gewidmet und war darin froh und befriedigt gewesen. Es schien ihr selbstverständlich, dass dieses der Platz sei, an dem sie bleiben und ihr Lebenswerk vollbringen würde. Nichts schien ihr so wichtig, als diese aus dem Heimatboden entwurzelten, vom Kriegstreiben umhergeworfenen Kinder zu brauchbaren, frohen und wieder Gott und ihrer Umgebung vertrauenden Menschen zu erziehen. Mitten hinein in dies Wirken war nun die Nachricht vom Tode der Schwägerin und der Ruf des Bruders gekommen.

Ihr erster Gedanke war ein fast empörtes Nein gewesen. Wie kam er, Joachim, dazu, einfach über sie zu verfügen? Hatte sie eigentlich kein Recht auf eigene Lebensführung? Wenn sie verheiratet gewesen wäre, hätte er sie doch auch nicht einfach aus ihrem Pflichtenkreis herausreißen können.

Noch gänzlich unschlüssig war sie dann zur Beerdigung der Pfarrfrau in die Kreisstadt gefahren und hatte dort den völlig gebrochenen Bruder vorgefunden und seine vier Kinder, die hilflos und benommen die endlosen Beileidsbezeugungen über sich ergehen ließen. Martin, der siebzehnjährige Älteste, hatte sie flehentlich angeblickt, während er Ulrike, das kleine fünfjährige Schwesterchen an der Hand hielt: »Du kommst doch hoffentlich bald, Tante Martina!« Und Wilfried hatte in spürbarem Trotz hervorgestoßen: »Wenn du nicht kommst, werden wir alle zu irgendeinem Verwandten gesteckt, jeder an einen anderen Platz, und dann verkommen wir. Ich sage dir, du musst einfach kommen!« Friedhelm hatte überhaupt nichts gesprochen, war ihr aber nicht von der Seite gewichen. Seitdem vermochte sie diese angstvollen, bittenden Kinderaugen nicht zu vergessen. Alle vier Kinder hatten sie nach der Beerdigung an die Bahn begleitet. Wilfried hatte dem fahrenden Zug nachgeschrien: »Du musst wiederkommen, hörst du? Mit dem Vater ist ja doch nichts anzufangen!« Und dann hatte sie es ganz deutlich gewusst: Dein Platz ist an der Seite des verwitweten Bruders. Du darfst es nicht zulassen, dass seine Familie auseinandergerissen wird. – Wie oft hatte sie in der Vergangenheit gesagt: Das bestgeführte Kinderheim ist nicht imstande, Familienleben zu ersetzen. Sollte sie schuld sein, wenn hier ein solches zerstört wurde? Und standen ihr die Kinder des eigenen Bruders nicht näher als die fremden?

Zurückgekehrt ins Kinderheim war die Not aufs neue in ihr aufgebrochen. »Du willst mich verlassen?« hatte die Freundin gefragt. »Weißt du nicht, dass ich mit dir gerechnet habe? Wer soll das Werk weiterführen, wenn ich einmal nicht mehr kann? Du weißt, meine Gesundheit ist nicht die beste.« Und wenn die Kinderschar Martina umdrängte, wenn sie in der Dämmerstunde eine Geschichte erzählte und alle an ihren Lippen hingen, wenn sie mit ihnen wanderte oder sie unterrichtete, wenn sie am Abend noch einmal durch die Schlafräume von Bett zu Bett ging und sich über die blonden und dunklen Köpfe beugte, wenn sie einem schwierigen Jungen oder einem ängstlichen Mädchen gut zuredete, dann fiel es plötzlich über sie her wie ein heftiger Schmerz: Das alles sollst du jetzt aufgeben?

Und dann kam das Telegramm: Ulrike schwer erkrankt, komme sofort! Da gab es kein langes Besinnen. Alles eigene Wünschen musste schweigen, der Bruder brauchte sie. Sie musste ihm die Hände frei machen für seine Gemeinde.

Eilig hatte sie die Koffer gepackt. Und nun war sie auf dem Weg nach Hochstadt, in das mutterlose Pfarrhaus. Noch einmal erlebte sie den Abschied von den Kindern des Heimes. Zwanzig, dreißig blumengefüllte Hände hatten sich ihr entgegengestreckt. »Tante Martina, hier! Du musst alle mitnehmen. Und komm bald wieder! Und schreib bald!« Eine Zehnjährige hatte plötzlich zu schluchzen begonnen: »Warum gehst du eigentlich fort? Bleib doch bei uns!« Martina hatte sich zu dem weinenden Kind gebeugt: »Ich habe es euch doch erklärt, die vier Kinder, deren Mutter gestorben ist, brauchen mich dringend.« Da hatte die Kleine sie fast leidenschaftlich umklammert: »Ich habe doch auch keine Mutter!« Und mehr als die Hälfte der Kinder hatten mit eingestimmt: »Ich auch nicht, ich auch nicht! Bleib doch bei uns!« Der Kreis der Kinder hatte sich immer enger um sie geschlossen. Einige weinten.

Und nun saß Martina im Zug. Ihr Schoß konnte kaum die vielen Schlüsselblumen, Anemonen und Veilchensträußchen fassen, die ihr die Kinder gereicht hatten. Jetzt beugte sie sich über die duftende Gabe, die letzten Grüße ihrer Kinder, und konnte es nicht verhüten, dass Tränen in die Blumengesichter tropften.

Als Martina in Verlegenheit den Blick hob, blickte sie in die mitfühlend auf sie gerichteten Augen einer weißhaarigen Dame, die ihr gegenübersaß. Obgleich Martina keinerlei Annäherung wünschte, kam sie vom ersten Augenblick an nicht los von diesem Gesicht, in dem der Pflug des Lebens tiefe Furchen gegraben hatte, aber aus dem in einer Weise, wie es ihr nie begegnet war, Güte strömte. Ohne ein Wort zu sagen, verbreitete diese Frau eine Atmosphäre der Ruhe und Harmonie. Martina, noch aufgewühlt von dem zuletzt Erlebten, vermochte sich diesem nicht zu entziehen.

Die alte Dame sprach sie an: »Ein solcher Abschied ist immer schwer«, sagte sie, und es war, als wisse sie alles, was in Martina vor sich ging. Sie fragte nichts und ebenso wenig schien sie Antwort zu erwarten. Martina erwiderte auch kein Wort. Aber immer wieder musste sie dieses stille, friedvolle Gesicht anblicken.

So fuhren sie wohl eine Stunde. Dann musste Martina umsteigen. Unsicher, wie sie alle Blumensträuße unterbringen könnte, blickte sie auf die Frühlingspracht in ihrem Schoß. Da sagte der Mann, der seinen Platz neben der alten Dame hatte, zu dieser: »Mutter, hast du nicht in deinem Koffer eine große Papiertasche? Vielleicht kannst du sie entbehren und sie dem Fräulein für die Blumen geben.«

»Aber gerne«, erwiderte die Dame. »Wenn du nur den Koffer öffnen möchtest; sie liegt gleich obenauf.« Erst jetzt wandte Martina sich dem Mitreisenden zu, der bis dahin in ein Buch vertieft gewesen war. Ihr Blick hatte ihn bisher nur flüchtig gestreift. Jetzt sah sie, dass er seiner Mutter sehr ähnlich war. Die Augen strömten die gleiche Wärme aus wie die ihren. Er war sorgfältig gekleidet, mochte etwa vierzig Jahre alt sein und – Martina hätte nicht Frau sein müssen, um dies gleich wahrzunehmen – trug keinen Ehering. Ein angenehmer sympathischer Mensch, dachte sie. Dann aber legte sie jeden Gedanken an ihn beiseite, nahm dankend die feste Papiertasche entgegen und begann sorgfältig und behutsam die Blumen einzulegen. Als sie der alten Dame sich verabschiedend zunickte, reichte diese ihr die Hand und sagte: »Gott behüte Sie und schenke Ihnen auch am neuen Platz so viel Liebe und Dank, wie Sie sichtlieh am vorhergehenden genießen durften.«

Martina errötete. Hatte die Abschiedsszene vorhin auf dem Bahnhof so viel verraten? »Ich danke Ihnen«, erwiderte sie und fügte, als sei sie nun doch eine Erklärung schuldig, hinzu: »Wenn ich nicht wüsste, dass ich an dem neuen Platz dringend benötigt werde, ich hätte mich nicht entschließen können, den alten, an dem mein ganzes Herz hing, zu verlassen. Ich übernehme den Haushalt meines Bruders, der Pfarrer ist, und die Erziehung seiner vier Kinder, deren Mutter vor wenigen Wochen starb.«

»Ach dann reisen Sie vielleicht auch nach Hochstadt, wie wir? Wir hörten von dem Trauerfall im Pfarrhaus. Mein Sohn wird dort als Schulleiter tätig sein. Ich fahre gerade mit ihm, um ihm beim Einrichten der Wohnung zu helfen.«

Der Sohn verbeugte sich leicht und nannte seinen Namen »Albrecht Schütting.« Nun stellte auch Martina sich vor.

»Wie nett, dass wir uns hier im Zug treffen und kennenlernen«, fuhr die alte Dame in ungezwungener Natürlichkeit fort. »Wir alle betreten Neuland und stehen somit vor einer neuen Epoche unseres Lebens. Denken Sie, es ist meinem Sohn geglückt, auch für mich eine nette kleine Wohnung in Hochstadt zu bekommen; wenn wir mit seiner eigenen fertig sind, hilft er mir beim Einzug in die meine.«

»Ist eine solche Umstellung in Ihrem Alter nicht recht schwer?« fragte Martina.

»Es ist mir nicht leicht, das Grab meines Mannes zurückzulassen«, erwiderte Frau Schütting, »aber wir haben größere Aufgaben an den Lebenden zu erfüllen, als an den Dahingegangenen. Ich freue mich, will's Gott, noch einige Jahre in der Nähe meines einzigen Sohnes verleben zu dürfen.«

Inzwischen war man an der Umsteigestation angekommen. Albrecht Schütting trug außer dem Koffer seiner Mutter auch den Martinas. Es war nun selbstverständlich, dass man auch im Schnellzug die Weiterfahrt gemeinsam fortsetzte, denn das gleiche Ziel schlug bereits Brücken von einem zum anderen. Frau Schütting verstand durch einige Fragen Martina zum Erzählen zu bringen, und diese empfand es befreiend, von ihrer Arbeit unter den heimatlosen Kindern berichten zu können.

Albrecht Schütting sprach nicht viel, aber das Buch in seiner Hand blieb ungeöffnet. Voller Interesse hörte er zu. Einige wenige eingestreute Fragen und Äußerungen schienen Martina ein Beweis dafür zu sein, dass er pädagogisch interessiert und bewandert war. Gewiss war er ein tüchtiger Lehrer.

Auf dem Bahnhof in Hochstadt verabschiedete man sich. Frau Schütting sprach den Wunsch aus, dass dieser ersten Begegnung weitere folgen möchten. Das Heranstürmen der Pfarrerskinder machte allem weiteren ein rasches Ende.

»Endlich bist du da!« riefen die Jungen, und Ulrike schmiegte sich an die Tante. »Bleibst du jetzt immer bei uns?« Verwundert und zugleich erfreut beugte sie sich zu dem Kind hernieder. »Du bist schon wieder gesund, Ulrike? Ich denke, du seist schwer krank?«

Die Kleine schüttelte den Kopf. »Nein, ich war nicht krank.«

»Natürlich hast du Husten gehabt«, fuhr Wilfried auf. »Es hätte ja gut eine Lungenentzündung werden können.«

»Hast du etwa das Telegramm geschickt?« fragte ihn die Tante. Er nickte. »Auf diese Weise habe ich dich wenigstens hergekriegt.« Martina sah ihn ernst an. »Nimmst du es immer so genau mit der Wahrheit, Wilfried?«

Martin wollte den Bruder verteidigen. »Er macht manchmal solche Späße.« Sie aber schüttelte den Kopf. »Wo es um die Wahrheit geht, hört der Spaß auf. Aber nun kommt, wir wollen nach Hause gehen. Es ist recht, dass ihr den Handwagen mitgebracht habt.«

»Deine großen Koffer sind auch schon gekommen«, berichtete Friedhelm und spannte sich mit dem ältesten Bruder vor den Wagen. Martin hatte fürsorglich die kleine Schwester neben den Koffer gesetzt. »Siehst du, Uli, du hast noch Platz genug.« Es schien ein inniges Verhältnis zwischen den beiden zu bestehen.

Wilfried, den die Rüge der Tante in keiner Weise bedrückte, ging neben dieser her. »Was schleppst du denn für eine Menge Blumen mit dir herum? Das sind ja nur Wiesenblumen. Die findest du hier in rauen Mengen.«

»Einmal sind die ersten Blümchen im Frühjahr immer eine besondere Freude, und dann sind diese für mich geradezu Kostbarkeiten, denn es sind die Abschiedsgrüße meiner Kinder aus unserem Kinderheim.«

»Hm – deiner Kinder?« Wilfried blieb mitten auf der Straße stehen. »Sag mal, Tante Martina, welches sind nun

eigentlich deine Kinder, die oder wir?« Da musste sie trotz allem lachen. Mit der freien Hand fuhr sie ihm über sein widerborstiges Haar. »Ihr natürlich, Wilfried. In erster Linie ihr. Sonst wäre ich ja nicht zu euch gekommen. Aber das müsst ihr mir schon gestatten, dass ich in Liebe auch noch an die Kinder denke, die ich zurückgelassen habe.« Auch die anderen beiden Jungen hörten gespannt zu, und Martina fuhr fort: »Seht, auch ihnen musste ich die Mutter ersetzen.«

»Aber nun bist du bei uns«, sagte Friedhelm und blickte, glücklich darüber, zu ihr empor. »Und niemand kann zwei Herren dienen«, fügte Wilfried hinzu.

Wieder zog der Anflug eines Lächelns über Martinas Gesicht. »Wie alt bist du jetzt, Wilfried?«

»Ich werde sechzehn.«

»Was willst du eigentlich einmal werden.«

»Keine Ahnung. Bis jetzt habe ich zu nichts Lust.«

»Sollst du nicht, ebenso wie Martin, das Abitur machen?«

»Gott schütze mich! Lieber Steine klopfen.«

Inzwischen war man im Pfarrhaus angelangt. Es war ein altes Gebäude, streng und nüchtern, im Lauf der Jahre gedunkelt. Aber es stand in einem großen Garten. Er war die Freude der Pfarrfrau gewesen. Auch Martina freute sich auf ihn. Dankbar empfand sie es in diesem Augenblick, dass es ihr geschenkt war, immer zuerst nach dem Schönen am Wege auszuschauen und einen Blick auch für die kleinen Freuden zu bewahren.

Zwei blonde Mädelchen, eines davon mit einer unglaublichen Triefnase, standen am Gartenzaun und schrien mit vereinten Kräften: »Frau Farrer, Frau Farrer!« Martina lächelte ihnen freundlich zu: »Guten Tag, Kinder!« Martin jedoch fuhr sie heftig, wie es sonst gar nicht seine Art war, an: »Hört mit eurem dummen Geplärr auf!« Und Wilfried fügte unsanft hinzu: »Putzt lieber eure Rotznasen.«

Martina erkannte bereits wieder die Notwendigkeit, erzieherisch einzugreifen; sie sah aber jetzt bewusst davon ab. Die Kinder mussten sich erst einmal an sie gewöhnen. So sagte sie nur: »Lasst sie doch. Mit der Zeit werden sie schon merken, dass ich nicht die Pfarrfrau bin.« Sie wusste, wie sehr Martin, ihr Patenjunge, an seiner Mutter gehangen hatte und begriff, dass er es nicht ertrug, wenn man sie mit ihr verwechselte. Jetzt entdeckte sie ein Schild an der Türe. »Herzlich willkommen!« Sauber und mit einem gewissen Schwung waren die Buchstaben geschrieben und der Blumenkranz ringsherum bewies ein beachtliches Maltalent.

»Wer hat das gemacht?« fragte sie. »Das ist ja wunderschön!«

»Der Friedhelm, der Friedhelm!« posaunte Ulrike voller Stolz. »Der ist ein Künstler.«

»Damit du siehst, wie sehr wir uns alle auf dein Kommen gefreut haben«, sagte Martin, der in seiner feinfühligen Art wohl befürchtete, die Tante vorhin verletzt zu haben. Wenn sie auch nie im Leben die Mutter ersetzen konnte, sie sollte aber doch wissen, wie sie von allen sehnlichst erwartet worden war.

»Der Vater ist in der Filiale«, erklärte jetzt Friedhelm. »Er kommt erst zum Nachtessen zurück. Du sollst inzwischen mit uns Kaffee trinken. Einen Kuchen hat unsere Putzfrau gebacken.«

»Einen Willkommkuchen mit Rosinen drin«, echote Ulrike.

»Gut, dann wollen wir zusammen Willkomm feiern!« Martina gab sich einen Ruck. Sie durfte den Schmerz nicht wieder aufkommen lassen. Vier Paar Kinderaugen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet. Der Kinder Vertrauen durfte nicht getäuscht werden. Sie selbst mit ihrem Heimweh und allem, was sie bewegte, musste jetzt zurückstehen. Sie wurde gebraucht.

Müde von all den neuen Eindrücken legte sich Martina an diesem ersten Abend nieder. Aber zur Ruhe kam sie doch nicht. Alles, was der Tag gebracht hatte, zog noch einmal an ihr vorüber und wollte geordnet, kristallisiert werden. Um diese Zeit hatte sie sonst in dem gemütlichen Wohnzimmer der Heimleiterin, ihrer Freundin, gesessen. Sie hatten gemeinsam ebenfalls noch einmal Rückschau gehalten, und den Tag, der vergangen war, miteinander durchgesprochen. Welch ein großes beglückendes Verstehen war zwischen beiden. Wie wertvoll und befruchtend war der Gedankenaustausch immer gewesen. Wie reich hatten sie sich gefühlt in der gemeinsamen Arbeit an ihren Schützlingen. Und das alles war nun aus, vorbei.

Aus der Dunkelheit des Zimmers glaubte sie plötzlich die Augen der Kinder ihres Bruders auf sich gerichtet zu sehen, bittend, fordernd! Ja, Wilfried hatte recht, sie daran zu erinnern: Niemand kann zwei Herren dienen. Und es war wohl gut, dass sie es sich immer wieder sagte: Sie war hier, um zu dienen.

Beim Kaffeetrinken waren die Kinder richtig fröhlich, ja beinahe ausgelassen gewesen, mit Ausnahme von Martin, der schon immer still und besinnlich war und der unter dem Tod der Mutter wohl auch am meisten litt. Alle aber schienen es wohltuend zu empfinden, dass eine frauliche, mütterliche Hand die Führung des Haushaltes und ihre Betreuung wieder übernahm. Die vergangenen Wochen seit Mutters Tod hatten ihnen mancherlei Entbehrungen auf erlegt.

Zum Abendessen, das Martina aus angetroffenen Vorräten sorgfältig bereitet hatte, war auch Joachim, der Bruder, erschienen. Weitaus herzlicher, als sie es erwartet hatte, war sie von ihm begrüßt worden. »Ich danke dir, dass du gekommen bist. Glaube mir, ich weiß, dass es dir nicht leichtgefallen ist, deinen Platz in Fichtenrot aufzugeben. Für Fräulein Taumold war es Gewiss sehr schmerzlich, dich ziehen zu lassen, aber es gibt genug Kindergärtnerinnen oder Jugendleiterinnen, die deinen Platz dort ausfüllen können; aber ich habe nur eine Schwester, die ich bitten kann, an meinen Kindern Mutterstelle zu vertreten und sich meiner fürsorglich anzunehmen. Ich hoffe, dass du dich mit der Zeit in meinem Hause wohlfühlen mögest.«

Martina war durchschaut worden. Herzlich hatte sie jedoch des Bruders Händedruck erwidert. »Ich werde mein Bestes tun, Joachim. Hab Geduld mit mir. Noch bin ich nicht ganz gelöst von Fichtenrot. Ich habe es als meine Heimat betrachtet und war glücklich in dem Gedanken, nie mehr von dort fort zu müssen.«

Der Pfarrer hatte sie dann gebeten, Ulrike mit in ihr Zimmer zu nehmen. »Sie ist noch so klein«, hatte er gesagt, »sie bedarf der Bemutterung noch am meisten. Es scheint mir zwar oft, als ob Martin die Mutter mehr wie die andern vermisst. Aber Wilfried, der mir am meisten Sorge macht – er hat nichts wie Dummheiten im Kopf –, hätte sie wohl am nötigsten gebraucht; und Friedhelm, der sich vielfach so wenig auf dem Boden der Wirklichkeit befindet …« Plötzlich hatte er seine Schwester mit einem Ausdruck erbarmungswürdiger Hilflosigkeit angesehen: »Ach, Martina, wer von uns brauchte sie nicht dringend, ganz dringend, unsere gute, einzige, unvergessliche Mutter.« Und dann war er eilig aus dem Zimmer gegangen. Sie hatte wohl gesehen, dass seine Augen voller Tränen standen.

Als Wilfried nach dem Abendessen mit dem Schwesterchen noch im Treppenhaus herumtobte, hatte Martin ihn zurechtgewiesen. »Sei doch nicht so rücksichtslos. Du weißt doch, Vater.« Und als er der Tante fragenden Blick bemerkte, vertraute er ihr an: »Um diese Zeit dürfen wir ihn nicht stören. Da sitzt er ganz allein in seinem Studierzimmer vor Mutters großem Bild und zündet dazu nur eine hohe Kerze an. Manches Mal hat er dann schon ganz vergessen, dass die Kinder noch nicht zu Bett waren. Ich habe dann schließlich Ulrike gewaschen, sie ausgezogen und zu Bett gebracht. Friedhelm gehorcht mir meistens auch, aber Wilfried lässt sich nichts von mir sagen. Schon aus diesem Grunde bin ich froh, dass du gekommen bist. Ich glaube, du wirst mit ihm fertig werden.«

»Traust du es mir zu?« hatte Martina gefragt und ihren stillen und feinen Patensohn in diesem Augenblick noch fester in ihr Herz geschlossen. Wie tapfer hatte er versucht, in den Wochen ohne Mutter die Familie in Ordnung zu halten.

Und nun lag sie hier in ihrem Zimmer. Ein Glück, es befand sich auf der Sonnenseite des Hauses. Drüben an der Wand stand das Kinderbettchen. Ulrikes gleichmäßige Atemzüge wirkten beruhigend auf sie. Wie vertrauend hatte die Kleine beim Zubettbringen die Ärmchen um ihren Hals gelegt und gesagt: »Betest du heute mit mir, Tante Martina? Früher hat es Mutti getan, aber die ist jetzt im Himmel. Und manchmal ist Vater auch an mein Bett gekommen zum Beten und Gutenachtsagen; aber Martin ist jeden Abend gekommen und hat mir von Mutti erzählt und mit mir gebetet. Und oft hat er mich auf den Arm genommen und wir haben miteinander zu den Sternen hinaufgeschaut. Wir haben die Mutti nie gesehen, Tante Martina. Aber die Mutti, kann sie uns sehen?«

»Ich weiß es nicht, mein Kind«, hatte sie geantwortet, »aber ich glaube sicher, dass sie im Himmel ist und in Liebe an euch Kinder denkt und nichts so sehnlich wünscht, als dass ihr alle auch einmal in den Himmel kommt.« Und Ulrike hatte in herzerfrischender Selbstverständlichkeit zugestimmt: »Au ja, da gehn wir hin. Kommste auch mit, Tante Martina?«

Nun schlief das Kind schon längst, aber sie lag noch immer wach, obgleich die Kirchenuhr schon die ersten Morgenstunden verkündete. Auf dem Tisch und drüben auf dem niederen Schränkchen standen in Schalen und Vasen all die Himmelschlüssel, Anemonen und Veilchen, die letzten Grüße ihrer Kinder aus Fichtenrot. Ihr süßer Duft erfüllte das Zimmer und war wie ein Streicheln von kleinen Händen.

Martina durchlebte noch einmal den verflossenen Tag. Auch das gütige Gesicht der mitreisenden alten Dame sah sie wieder vor sich. Wie eindrucksvoll kann doch eine erste Begegnung sein, dachte sie und freute sich irgendwie im Gedanken daran, dass diese Frau mit ihrem Sohn am gleichen Ort wohnte. Vielleicht traf man sich doch gelegentlich einmal. Zwischen Mutter und Sohn schien ein inniges Verhältnis zu bestehen. Ruhige Ausgeglichenheit strömten beide aus. An Stelle der starken Mütterlichkeit der Frau traten bei dem Sohn spürbar Gemüt und Herzensgüte hervor, die seiner Männlichkeit jedoch in keiner Weise Abbruch taten. Martina konnte ihn sich gut vorstellen als Lehrer und Schulleiter. – Von ihm eilten die Gedanken wieder zu den ihr nun anvertrauten Kindern. Wie musste gerade Martin unter der Trennung von seiner Mutter leiden. Von klein auf hat zwischen ihm und dieser eine selten starke Bindung bestanden. Der Junge glich völlig seiner Mutter. Martina sorgte sich, ob es ihr gelingen würde, ihm auch nur in wenigem das zu werden, was er seiner Art entsprechend benötigte.

Ulrike wurde unruhig, warf sich im Bettchen herum und rief im Traume ängstlich nach der Mutter. Martina, noch immer hellwach, erhob sich, beruhigte das Kind und stand dann eine Weile vor dem offenen Fenster, durch das der kräftige Geruch der noch unbebauten Gartenerde ins Zimmer drang. Ach lieber Gott, dachte sie, lass es mir gelingen, den Garten recht zu bebauen, in den du mich gestellt hast. Vor der Erziehung der Kinder hatte sie keine Angst. Sie war auf pädagogischem Gebiet durch jahrelange Praxis bewandert; aber hier ging es in erster Linie um die Lücke, die durch das Sterben der Mutter in das Familienleben gerissen worden war. Auf allen Gebieten würde sie nur Ersatz sein können, oft nur kärglicher Ersatz. Genügte ihr das? Verlangte ihre tatkräftige Natur, ihre ausgeprägte Art mit den vielseitigen Begabungen nicht die Bestätigung eines erfüllten Lebens? Würde ihr diese hier zuteil werden, hier, wo sie trotz aller Liebe, die man ihr entgegenbrachte, und aller Erwartung, die man an sie stellte, eben doch nur Ersatz sein würde?

Könnte es nicht sein, dass Joachim nach Jahren – natürlich dachte er heute noch nicht im entferntesten daran –, wieder eine Frau fände, die seinem Wesen entspräche, die ihm Gattin, Lebenskameradin werden und Mariannes Platz ausfüllen würde? Es wäre doch nur natürlich. Joachim war fünfundvierzig Jahre alt. Und was würde dann aus ihr? Der Ersatz erübrigte sich dann. Sie konnte zurücktreten. Und die Kinder? Nur noch wenige Jahre, und Martin würde die Universität besuchen. Er hatte sich entschlossen, wie sein Vater Theologie zu studieren. Auch die anderen Kinder würden schnell heranwachsen; Gewiss, die kleine Ulrike benötigte sie schon noch eine Zeitlang. Aber was bedeuteten schon zehn, fünfzehn Jahre? Dann waren sie alle flügge, andere Menschen traten in ihren Lebenskreis, gewannen stärkeren Einfluss auf sie. Und sie? Blieb ihr das Los beschieden, als die alte, müde gearbeitete Tante noch irgendwo geduldet zu sein?

Martina schloss fröstelnd das Fenster und legte sich wieder hin, ohne jedoch in erquickendem Schlaf Ruhe vor den aufsteigenden und sie bedrückenden Gedanken zu finden. War es nicht überhaupt unrecht von ihr, den ersten Tag am neuen Platz in dieser Weise zu beschließen? Aber die Gedanken ließen sich nicht bannen. Ja, wenn sie in Fichtenrot hätte bleiben können. Da war ihr Tag so ausgefüllt gewesen, dass ihr solche Erwägungen gar nicht gekommen waren. Gewiss, sie war Frau, gesund, ansehnlich, in jeder Lebensauffassung natürlich. Es wäre seltsam gewesen, hätte sie sich nicht mit dem Gedanken befasst, zu heiraten. Einige Male war ihr dazu Gelegenheit geboten worden, aber sie war wählerisch. Sollte sie um eines Mannes willen ihren so befriedigenden Beruf, ihre Stellung, ihre Selbständigkeit aufgeben, so musste dieser einer sein, dem sie von ganzem Herzen und all ihrem Sein ein freudiges Ja entgegenbringen konnte. Nun war sie bereits dreißig Jahre alt und sie wusste, nach all dem, was sie erlebt hatte, würde sie jetzt erst recht hohe Ansprüche an den stellen, dem sie sich einmal für ein ganzes Leben anvertrauen wollte. Sie trachtete nicht nach Ansehen und Besitz, aber es müsste ein Mann sein, an dem sie in jeder Weise emporblicken könnte, er müsste ihr geistig mindestens ebenbürtig, noch lieber überlegen sein, vor allem aber würde sie keinem Mann die Hand reichen, der nicht ein bewusster Christ war.

»Du stellst hohe Ansprüche«, hatte ihr die Freundin gesagt, wenn sie über dieses Thema gesprochen hatten, »aber du hast recht. Frauen, die so selbständig sind wie du, dazu tüchtig und begabt, bleiben besser ledig, wenn sie nicht den richtigen Ehepartner finden. Wir haben ja auch Aufgaben, die unser ganzes Dasein erfüllen.« – Aber hier? Hier wurde sie jetzt wohl dringend gebraucht, und sie zweifelte keinen Augenblick an der Ehrlichkeit ihres Bruders, der sagte: »Ich wüsste keinen Menschen, den ich in meinem Hause und bei meinen Kindern haben möchte, außer dir.« Wie aber würde es in etlichen Jahren sein? Die unverheiratete Schwester und Tante war und blieb eben nur Ersatz; Gewiss, es konnte ein lieber und sehr geschätzter Ersatz sein. Manche Häuser und Familien waren geradezu undenkbar ohne solche hilfsbereite Tanten, und es war selbstverständlich, dass man ihnen einen warmen Platz im Hause zubilligte und sie versorgte, auch dann, wenn ihre Kräfte nachließen und sie nicht mehr arbeiten konnten. Aber wenn Martina sich vorstellte, dass es ihr einmal so ergehen würde, nein, das war nicht auszudenken. Was war natürlicher, als dass in diesem Augenblick die Sehnsucht nach einem Menschen, zu dem sie ganz und gar gehörte, mit Macht über sie kam. Es musste doch auch für sie das Du ihres Lebens vorhanden sein. Und befand sie sich nicht gerade jetzt in dem Alter, wo man diese Fragen aus einer gewissen Lebensreife her betrachtete und nicht im Überschwang jugendlicher Gefühle Torheiten beging! Die Sehnsucht, einem wertvollen, tüchtigen Manne Gehilfin, Lebenskameradin, Gattin, Mutter seiner Kinder werden zu dürfen, erfüllte sie. Und plötzlich meinte sie, die Augen des Reisegefährten auf sich gerichtet zu sehen, hörte ihn seinen Namen nennen: Albrecht Schütting, und empfand aufs neue wohltuend die von ihm ausströmende Ruhe, das Gleichmaß seines Wesens. Ja, so etwa stellte sie sich den Mann vor, der …

Über sich selbst verärgert richtete sich Martina in ihrem Bett auf und schaltete die Nachttischlampe an. In welch unmögliche Gedankengänge verirrte sie sich? Sie war doch kein Backfisch, der sich in eine Reisebekanntschaft verliebte. Was wusste sie von dem Mann, mit dem sie nur wenige Stunden in der Bahn gesessen und der sich kaum an dem Gespräch beteiligt hatte? Es war höchste Zeit, dass sie sich in ihr neues Amt stürzte. Sie war hier, um ihrem Bruder und seinen Kindern zu helfen, zu dienen, jawohl, zu dienen. Und außerdem glaubte sie fest daran, dass nichts von ungefähr kam; als Christ wusste man von Führungen und göttlichen Bestimmungen. Auch ihr Leben war vorgezeichnet.

Martina begann in einem Buch zu lesen, das sie sich auf den Nachttisch gelegt hatte. Sie liebte es, besonders wertvolle Lektüre immer griffbereit zu haben. Es war Gewiss besser, sich jetzt in dieselbe zu vertiefen, als länger solchen zu nichts führenden Gedanken nachzusinnen. Die Umstellung hatte sie ganz aus dem Geleise gebracht. Es war notwendig, dass sie sich wieder auf sich selbst besann. – Schließlich schlief Martina doch ein, einem neuen Weg, neuen, vielfältigen Aufgaben entgegen.

*

Obgleich die ordnende Mutterhand nun schon etliche Wochen gefehlt hatte und die Schwägerin auch während ihrer Krankheitszeit nicht mehr so allem nachkommen konnte wie in gesunden Tagen, merkte Martina doch auf allen Gebieten, dass der Haushalt in geordneten Bahnen gelaufen war. Alles war sorgsam und liebevoll gepflegt worden, die Wäsche in Ordnung, die Nebenräume aufgeräumt und gut zu übersehen. Vor allem aber spürte man noch den Kindern an, dass sie zur Ordnung erzogen waren und sich in derselben wohlfühlten.

Nur Wilfried machte darin eine Ausnahme. Der war überhaupt anders als die Geschwister. Wo er nur diese leichtlebige, ja beinahe oberflächliche Art her hatte? Immer wieder bemerkte Martina, dass er es nicht genau nahm mit der Wahrheit. Stellte sie ihn dann ernst zur Rede, so tat er völlig unschuldig. »Nimmst du das bisschen Flunkern so wichtig, Tante Martina? Dann kann ich es auch lassen.«

»Ich fürchte, du kannst es eben nicht lassen«, erwiderte sie, »du bist mehr daran gebunden, als du es selbst ahnst.« Dann lachte er ihr ins Gesicht. »Tantchen, bist du eigentlich immer so schrecklich ernst? Ich hatte dich in Erinnerung, als habest du Sinn für Humor.«

»Aber Wilfried! Verwechsle doch nicht absichtlich die Begriffe. Hier geht es doch nicht um einen Spaß. Ich mache mir Sorgen um dich. Sei einmal ganz ehrlich. Hast du mit deinen Mogeleien nicht auch deiner Mutti manchen Kummer gemacht?«

Nun errötete der Junge. »Bitte, Tante Martina, sag Vater nichts davon. Er ist so furchtbar streng. Mutti war immer so gütig.«

»Ich habe es bisher dem Vater nicht gesagt, dass ich dich doch schon einige Male bei einer Unwahrheit ertappt habe. Aber bitte gib mir in Zukunft nicht Veranlassung, mit ihm darüber zu reden. Ein Vater muss wissen, wie es um sein Kind steht.«

Friedhelm machte ihr wenig Mühe. Ihn musste sie zwar immer wieder ermahnen, eifriger an seinen Schulaufgaben zu arbeiten. Am liebsten saß er den ganzen Tag vor seinem Malkasten. All seine Gedanken musste er in Bilder umformen. Zu Geburtstagen und anderen Festlichkeiten war er nie in Verlegenheit, was er schenken könne, und seine Bildchen sprachen von Gemüt und feinem seelischen Empfinden. An jedem Sonntag lag auf Tante Martinas und des Vaters Platz eine »Sonntagsfreude«. Das hatte die Mutter eingeführt. »Man muss an jedem Tag seinen liebsten Menschen, und natürlich auch nach Möglichkeit den anderen, eine Freude machen«, hatte sie gesagt, »aber des Sonntags in besonderer Weise. Der Sonntag muss wie ein helles Licht in der Reihenfolge der Tage leuchten und Kraft für die neue Woche schenken.« So malte Friedhelm seine Sonntagsfreuden. Das eine Mal lag neben Martinas Teller ein sauber geschriebener Spruch mit feinen Verzierungen der Buchstaben; das andere Mal fand sie ein reizendes Bildchen mit zarten, natürlich wirkenden Frühlingsblumen in ihrem Zimmer an der Wand hängen. Ähnlich erging es auch dem Vater. Fragte er aber Friedhelm nach seinen Rechnungen, dann wurde dieser beängstigend unsicher. Es stand bei ihm fest, dass er einmal Maler werden würde; was brauchte er da rechnen zu können?

Ulrike war noch ein unbeschriebenes Blatt. Von allen sehr geliebt und auch ein wenig verwöhnt, war sie lange eben die »Kleine« geblieben, die sich von den Brüdern bedienen ließ und sie auch dann und wann tyrannisierte. Martina erkannte, dass es an der Zeit war, sich des immer wieder zum Vorschein kommenden Eigenwillens des Kindes regulierend anzunehmen. Aber sonst war die Kleine anhänglich und gut zu leiten. Tagsüber war sie für etliche Stunden im Kindergarten und begrüßte bei ihrer Rückkehr jedes Mal sämtliche Familienmitglieder in so stürmischer Weise, als sei sie wer weiß wie lange von ihnen getrennt gewesen. An Martina hatte sie sich gleich innig angeschlossen und schien sie, vielleicht als einzige im Haus, völlig als Muttis Nachfolgerin zu betrachten.

Erfreulich war Martin. Ruhig und umsichtig trug er viel dazu bei, dass die Tante sich rasch in ihrem neuen Wirkungskreis einlebte. Es war ihm selbstverständlich, dass er, so viel dieses seine Zeit erlaubte, in Haus und Garten mit Hand anlegte und Martina half. Manch wertvolles Gespräch führten die beiden während der Arbeit, und Martina wunderte sich oft über die Reife des siebzehnjährigen Jungen.

»Was hat dich bewogen, dich für das theologische Studium zu entschließen?« fragte sie ihn an einem der ersten Tage ihres Dortseins. Martin besann sich eine Weile, dann antwortete er: »Zuerst war es, weil ich Vater bewunderte. Alles, was er tat, kam mir so großartig vor. Er imponierte mir einfach. Dann wollte ich es Mutti zuliebe tun. Sie sagte mehr als einmal, sie habe keinen größeren Wunsch, als dass einer ihrer Söhne einmal wie Vater Pfarrer würde, und der größte Festtag ihres Lebens würde der sein, an dem sie das erste Mal unter der Kanzel ihres Sohnes sitzen und seine Predigt hören dürfe. Jetzt aber weiß ich, dass auch dieser Beweggrund nicht der richtige ist. Je mehr ich darüber nachdenke, desto größer und ernster scheint mir der Beruf eines Pfarrers, und manchmal will es mir angst werden im Gedanken daran, ob ich ihn auch richtig erfasse. Mutter hat immer gesagt, man merke es einem Pfarrer genau an, ob er innerlich hinter dem steht, was er auf der Kanzel predigt und ob er selbst von der Wahrheit seiner Botschaft überzeugt sei. Aber, Tante Martina, wie kann man in meinem Alter, wo man sich für einen Beruf entscheiden soll, schon von Überzeugung reden? Ich beginne doch eigentlich erst bewusst zu leben.« Und aus dem tiefen Schmerz seines Herzens heraus rief er aus: »Oh, warum musste meine Mutter so früh sterben? Wie nötig hätte ich sie gerade jetzt gehabt. Weißt du, Tante Martina, Vater ist ein feiner Mensch, ich habe ihn sehr gern; aber mit ihm kann ich nicht so offen sprechen, wie ich es immer mit Mutti getan habe. Oh, sie fehlt mir doch sehr.«

Martina, ergriffen von dem Gefühlsausbruch des Jungen, erwiderte: »Ich weiß, Martin, vielleicht fehlt sie dir in besonderer Weise, denn du bist ihr sehr ähnlich.«

»Ist das wahr? Findest du das auch?« Ein Leuchten trat in Martins Augen. »Du kannst mir nichts Schöneres sagen. Ja, Mutti und ich verstanden uns ausgezeichnet.«

»Es ist mir klar, dass ich dir deine Mutter nie ersetzen kann«, fuhr Martina fort, »aber das brauche ich dir eigentlich erst gar nicht zu sagen, dass ich bereit bin alles zu tun, um euch Kindern zu helfen und euch zu brauchbaren, guten Menschen zu erziehen.«

»Du hast mich hoffentlich nicht falsch verstanden«, sagte Martin besorgt, er könnte die Tante verletzt haben.

»Nein, Gewiss nicht, ich verstehe gut, was du meinst. Und im Hinblick auf deinen Beruf möchte ich dir eines sagen: Vergiss nie, was du selbst nicht hast, kannst du anderen nicht geben. Wenn du Christus predigen willst, musst du ihn erst selbst besitzen. Aber es ist uns ja gesagt: Wer suchet, der wird finden, und den Aufrichtigen wird es Gott gelingen lassen. Jedenfalls gibt es keinen schöneren Beruf als den, Seelsorger zu sein.«

*

Martina war noch keine ganze Woche im Pfarrhaus, als Albrecht Schütting eines Tages kam, um mit ihrem Bruder zu sprechen. Herzlich, als seien sie alte Bekannte, begrüßte er sie. »Wie haben Sie sich am neuen Platz eingelebt? Ist das Heimweh nach Fichtenrot noch immer gleich stark?«

Martina führte ihn in das Studierzimmer und setzte sich, da der Pfarrer nicht zu Hause war, zu ihm. »Mein Bruder wurde zu einem Sterbenden gerufen«, sagte sie, »er ist aber schon längere Zeit weg, ich nehme an, dass er bald zurückkommt. Wie geht es Ihrer Frau Mutter? Und haben Sie sich selbst auch schon im neuen Wirkungskreis zurechtgefunden? Wie ist die Schule hier? Welche Klasse übernahmen Sie?«

»Sie fragen viel auf einmal«, lachte Albrecht, »aber ich will versuchen, der Reihe nach zu antworten. Meine Mutter fühlt sich sehr wohl in ihrem kleinen Heim. Sie wird sich Gewiss freuen, wenn Sie recht bald einen Besuch bei ihr machen. In der Schule bin ich natürlich noch nicht ganz heimisch. Die Lehrkräfte verhalten sich dem neuen Schulleiter gegenüber zuerst einmal abwartend. Aber es ist mir nicht Angst deswegen. Größere Sorge verursachen mir die Kinder. Sie machen einen erschreckend ungeordneten Eindruck. Ich habe die siebente und achte Klasse übernommen. Noch leiden wir sehr unter dem Lehrermangel. Es mag sein, dass es verkehrt ist, wenn ich Vergleiche anstelle mit meinen bisherigen Schülern. Nach meiner schweren Verwundung wurde ich aus dem Kriegsdienst entlassen und leitete etliche Jahre eine Dorfschule. Meine Schüler und ich waren sehr verwachsen miteinander. Manches schwere Kriegserleben brach über das Dorf herein. Aber gerade dieses gemeinsame Erleben schuf eine innige Verbundenheit. Die meisten der Väter waren draußen an der Front, eine ganze Anzahl gefallen. Die Kinder kamen in großem Vertrauen zu mir, als wäre ich ihr Vater. Auch die Frauen, ihre Mütter, brachten ihre Sorgen und erbaten sich Rat. Es war eine ernste, aber auch eine wertvolle Zeit. Ich erwarte nun keineswegs, dass die Kinder hier sich mir schon jetzt in derselben Weise nähern, aber es erschüttert mich zu sehen, wie verwildert die Jungen und Mädel hier sind. Sie werden ja wissen, dass der plötzliche Tod meines Vorgängers nach einer Aufregung erfolgte. Er war herzkrank.«

»Das ist ja furchtbar«, erwiderte Martina. »Allerdings weiß ich auch von etlichen unserer Kinder im Kinderheim, bei denen die Folgen des Erlebten in krasser Weise zum Vorschein kamen. Aber ist es ein Wunder? Wir hatten Kinder, die Zeuge waren, als der Vater erschossen und die Mutter verschleppt wurde. Andere erlebten unvorstellbare Grausamkeiten. Im Grunde genommen sind sie doch zu bedauern, die Ärmsten, die keine wirklichen Kinder mehr sind, deren Jugend zerstört wurde durch diese entsetzlichen Erlebnisse. Es war eine schwere Aufgabe, diese Kinder wieder zurechtzubringen. Bei manchen ist es uns nie gelungen.«

»Sie haben recht«, sagte der Lehrer; »es ist ja fast nicht anders möglich, als dass sie entarten, nachdem sie in solche Abgründe von Not und Schuld geblickt haben. Allein wenn ich an die Ängste denke, die die Kinder bei den Bombenangriffen ausstehen mussten, oder wenn sie durch Tiefflieger gefährdet waren. Es kann nicht ausbleiben, dass sie da an Leib und Seele Schaden nehmen.«

»Und«, fügte Martina hinzu, »wenn wir uns dann noch vergegenwärtigen, wie eng zusammengepfercht sie in den Wohnungen leben, wie sie auch jetzt, nach dem Kriege, Zeuge bedenklichster Nachkriegserscheinungen sein müssen, dann brauchen wir uns eigentlich über nichts mehr zu wundern. In wie vielen Fällen finden die Ehegatten nicht mehr zusammen, nachdem der Mann aus dem Krieg oder aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist. Die Kinder, die immer die Bemitleidenswerten sind, erleben oft die erschütterndsten Ehezerwürfnisse ihrer Eltern. Was können wir da von den Kindern anderes erwarten, als das Spiegelbild eines solchen häuslichen Lebens! – Als meine Freundin und ich das Kinderheim gründeten und die armen Geschöpfe aus den Flüchtlingslagern, aus Bunkern und Transporten zu uns kamen, viele sogar direkt von der Landstraße, wo sie mit anderen Heimatlosen ziellos umherirrten, da dachten wir, es könne kein größeres Elend geben, als dieses. Aber später, als wir immer mehr Kinder aus Ehescheidungsverhältnissen bekamen, da sagten wir uns mehr als einmal: Diese Kinder sind beinahe noch schlimmer dran als die Flüchtlingskinder. Das Erleben der ersteren ist eine allerdings traurige Folge des Kriegsgeschehens, gegen das sich der einzelne jedoch nicht wehren kann. Die unbarmherzige Kriegswalze ist rücksichtslos über sie hinweggegangen. Aber die Kinder aus den zerrütteten Ehen sind aus dem Grund noch bedauernswerter, weil sie vielfach Opfer himmelschreiender Selbstsucht und Oberflächlichkeit sind. Die Eltern haben sich nichts mehr zu sagen und noch weniger zu bieten, sie laufen auseinander, ohne daran zu denken, was sie ihren Kindern, für die sie doch verantwortlich sind, damit antun. Mehr als einmal haben wir es erlebt, dass ein Mädchen oder ein Junge vor uns stand und weinend sagte: ›Ich weiß ja nicht, wem ich zugeschrieben werde, dem Vater oder der Mutter‹. Nie werde ich jene kleine Siebenjährige vergessen, die schon nach zweitägigem Aufenthalt in unserem Heim sagte: ›Hier will ich bleiben, hier ist kein Streit‹ – Doch ich höre meinen Bruder kommen.« Martina erhob sich. »Verzeihen Sie; aber wenn ich auf dieses Thema komme …

Auch Albrecht Schütting war aufgestanden. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es freut mich, zu sehen, wie völlig Sie im Dienst an den Kindern aufgegangen sind. Sie haben mir durch Ihr Erzählen geholfen, mit meinen neuen Schülern hier mehr Geduld zu haben. Wer weiß, welch schwere Erlebnisse auch hinter ihnen liegen und in welchen Verhältnissen sich viele von ihnen jetzt befinden. Sie müssen mir noch öfters von Ihren Erlebnissen im Kinderheim erzählen.« Er reichte ihr die Hand.

»Und Sie berichten mir doch bitte bei Gelegenheit, wie es Ihnen weiter in der Schule geht.«

»Das will ich gerne tun. Vielleicht können wir uns gegenseitig ein wenig mit unseren pädagogischen Erfahrungen helfen.«

Der Pfarrer kam und begrüßte Albrecht Schütting herzlich. Martina zog sich zurück.

An diesem Morgen fühlte sich Martina von einer großen Freude erfüllt. Als sie versuchte, sich darüber Rechenschaft zu geben, meinte sie zuerst, es sei der Gedankenaustausch über ihre Erfahrungen in der Arbeit an den Kindern gewesen. Sie war von jeher völlig in ihren erzieherischen Pflichten aufgegangen und hatte stets große Freude am Umgang mit Kindern gehabt, dass ihr stark empfindendes Herz davon immer völlig erfüllt wurde. Aber sie war ehrlich genug, sich zu sagen: Diesmal ist es nicht das, sondern der Einfluss, der von Albrecht Schütting ausgeht. Und weil sie es vor sich selbst nicht eingestehen wollte, dass es eben die Persönlichkeit dieses Mannes war, die so stark auf sie wirkte, sagte sie sich selbst zur Beruhigung: Er ist ganz wie seine Mutter. Genau so hat sie mich bei unserer Begegnung im Zug beeindruckt. Wie schön, dass diese beiden Menschen hier wohnen.

Als Albrecht Schütting das Pfarrhaus verlassen hatte, kam Joachim zu seiner Schwester in die Küche. Sie war damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten. Freudig erstaunt nahm er wahr, dass sie leise vor sich hin sang. Gott sei Dank, dachte er, sie scheint sich doch langsam in ihren Wirkungskreis einzuleben. Martina blickte erwartungsvoll von ihrer Arbeit auf und war kein bisschen erstaunt, als ihr Bruder sagte: »Unser neuer Organist scheint ein prächtiger Mensch zu sein. Ich habe mich ausgezeichnet mit ihm unterhalten. Es ist heute etwas Seltenes, wenn ein Lehrer eine so klare innere Einstellung hat und ein bewusster Christ ist. Ich glaube, unsere Schule erfährt durch ihn eine wesentliche Bereicherung.«

»Das freut mich, Joachim«, erwiderte Martina, »das freut mich für dich. Soviel ich weiß, hast du kaum persönliche Verbindungen hier am Ort. Ein Gedankenaustausch zwischen Männern ist dir doch Gewiss auch manchmal ein Bedürfnis.«