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Mitten in der Nacht wird Ronny Zeuge einer Geldautomatensprengung in Brehl. Obwohl ihn das Fluchtauto fast überfährt, kann er das Kennzeichen nicht erkennen. Auch Onkel Anton gerät während der Arbeit in Gefahr. Als sich schließlich ein Fremder in den alten Bus flüchtet, den die Detektei Anton als Zentrale nutzt, hat Ronny eine schwere Entscheidung zu fällen. Und dann ist da noch der Zoff zwischen Viola, Nora und Nick …
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Petra Schwarzkopf
Detektei Anton – Explosionsgefahr!
Band 6
Best.-Nr. 275512 (E-Book)
ISBN 978-3-98963-512-8 (E-Book)
Alle Bibelverse wurden zitiert nach:
Schlachter-Übersetzung – Version 2000
© 2000 Genfer Bibelgesellschaft
1. Auflage (E-Book)
© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg
Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Bildquellen: © Freepik.com/AiArtgenerater (Covermotiv)
© freepik.com (Holzschild, Bilderrahmen, Kalender),
freepik/macrovector (Fingerabdruck, Kopf, Tasche),
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freepik/rocketpixel (Linien), freepik/kstudio (Schleife)
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1. Nachts in Brehl
2. Kein Fall für Anton!
3. Drama auf dem Schulhof
4. Boys’ and Girls’ Day
5. Nachforschungen in Leverkusen
6. Unter Druck
7. Sprengung in Burgenach
8. Feindesliebe
9. Rache ist süß
10. In Gefahr
11. Du hast die Haare schön
12. Seid vollkommen
13. Der seltsame Fremde
14. Wo steckt Ronny?
15. Eine schwere Entscheidung
16. Rettungsaktion
17. Einen Schritt weiter
18. Gelüftete Geheimnisse
… ist der Onkel von Silas und Rahel und speziell begabt. Er hat ein partiell fotografisches Gedächtnis, kennt sich mit Pflanzen und Pilzen aus und ist brutal ehrlich. Außerdem besitzt Anton einen Schwerbehindertenausweis, aber eigentlich ist er nur schwer in Ordnung.
Alter:
Das kommt darauf an: 40 Jahre von außen, 8 Jahre von innen
Haarfarbe:
dunkelbraun
Beruf:
Gärtnergehilfe bei den Caritas-Werkstätten
Hobbys:
Borussia Dortmund, Holz hacken, sägen und verkaufen und sein Mini-Auto, den Ellenator, fahren
Beste Freunde:
Hund Caruso und ein paar Kumpels aus der Werkstatt
… ist die kleine Schwester von Silas und hat einen feinen Sinn für Details. Obwohl sie ihre Umwelt besonders aufmerksam wahrnimmt, bekommt sie vom Unterricht in der Schule manchmal nichts mit. Sie fürchtet sich vor Langeweile und möchte niemals so verrückt werden wie die anderen Mitglieder ihrer Familie.
Alter:
14 Jahre
Haarfarbe:
braun
Berufswunsch:
Polizistin
Hobbys:
Schwimmen, Nervenkitzel
Beste Freundin:
Sophia Mombauer
… ist der große Bruder von Rahel und nur etwas zu klein für sein Gewicht. Er hat Angst, dass er für immer ein paar Zentimeter kleiner bleibt als seine Schwester. Seine Haarfarbe nennt er erdbeerblond, und er trägt seine Sommersprossen mit Stolz.
Alter:
14 Jahre
Haarfarbe:
blond mit rötlichem Schimmer
Berufswunsch:
Dolmetscher oder Krankenpfleger, Rahel behauptet: Pastor oder Lehrer
Hobbys:
Fremdsprachen, Erste Hilfe, Fast Food und möglichst wenig Sport, außerdem Klarinette spielen
Bester Freund:
Ronny Till
… ist der Freund und Klassenkamerad von Silas. Er lebt allein mit seiner Mutter, trägt seine Haare lang und hat eine feste Zahnspange. Ronny ernährt sich gerne von Fast Food und liebt T-Shirts mit coolen Sprüchen. Er versucht ständig, Geld zu verdienen, vielleicht, weil er nicht gerade viel davon hat.
Alter:
15 Jahre
Haarfarbe:
schwarz
Berufswunsch:
reicher Informatiker
Hobbys:
Computer und Sport
Bester Freund:
Silas Schmickler
… ist die beste Freundin von Rahel Schmickler, aber im Gegensatz zu ihr schafft sie es, auch im größten Dreck immer sauber zu bleiben. Sophia nennt ihre Mutter Maman, denn sie stammt aus Burundi, und da spricht man Französisch.
Alter:
14 Jahre
Haarfarbe:
so dunkelbraun, dass man es für schwarz halten könnte, wenn man kein Friseur ist
Berufswunsch:
keine Ahnung, aber auf keinen Fall Chemikerin!
Hobbys:
Zeit mit den anderen Detektiven verbringen, Ballett, afrikanisch kochen und bunte Kleider nähen
Beste Freundin:
Rahel Schmickler
… ist Onkel Antons Riesenschnauzer und kann wunderschön jaulen, wenn er jemanden singen hört. Leider klingt er nicht ganz so gut wie sein Namensvetter, der italienische Tenor Enrico Caruso (der ziemlich genau vor 100 Jahren starb).
Alter:
4 Jahre
Fellfarbe:
schwarz
Beruf:
Schutz- und Führhund, Suchtmittelspürhund
Hobbys:
nach Fressbarem suchen, im Wald herumstromern und Fangen spielen
Beste Freunde:
Onkel Anton und Opa Peter
Lieblingsfeinde:
Katzen, egal, welche
„Willst du wirklich noch mit dem Rad nach Hause, Ronny?“
Sophia Mombauer stand im Flur der Familie Schmickler und guckte den langhaarigen, hoch aufgeschossenen Jungen neben sich fragend an. Dann riskierte sie einen Blick durch die offene Haustür. Viel war draußen nicht zu sehen. Abgesehen von dem gelblichen Licht einer Außenlampe war es stockfinster. Die Bäume des angrenzenden Waldes knarzten leise. Der herbstliche Wind trieb die letzten Blätter über den Hof zwischen Opa Schmicklers altem Elternhaus und dem Neubau, in dem Rahel und Silas Schmickler mit ihren Eltern wohnten. Das Gebäude war nicht ganz so neu, wie der Name es behauptete. Es stammte aus den 70er-Jahren und war bis vor Kurzem mit vereinten Kräften aller Schmicklers renoviert worden.
„Warum nicht?“
Ronny Till, Silas’ bester Freund, setzte sich den Helm auf den Pferdeschwanz.
„Weil du genau wie ich hier übernachten könntest“, schlug sie vor. Die herzliche Einladung von Hannah und Paul Schmickler, die allen Geburtstagsgästen galt, schien ihr Grund genug. Trotzdem schob sie noch eine weitere Begründung hinterher: „Und weil es ziemlich spät und kalt ist.“
„Nee, lass mal“, wehrte Ronny ab und ließ seine Brackets blitzen. „Bin schließlich schon groß.“
„Im Gegensatz zu mir?“
Sophia tat empört. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte ihre dunkelbraunen Locken. Sie war das kleinste Mitglied der Detektei Anton, wenn auch nicht das jüngste.
„So war das nicht gemeint“, sagte Ronny grinsend. „Ich meinte: Ich bin alt genug.“
Silas hatte Opas altes Polizeirad aus dem Schuppen geholt und stand jetzt damit vor der Haustür. Im trüben Licht der Lampe wirkte sein sonst erdbeerblondes Haar fast blass. Die Sommersprossen sah man kaum noch.
„Fahr trotzdem vorsichtig“, bat er.
„Mach ich doch immer“, behauptete Ronny und trat auf den Hof.
„Klar“, sagte Silas und lachte. „Deswegen ist dein eigenes Rad ja auch Schrott, und du fährst seit einer Woche diesen schicken Schmickler-Drahtesel.“
Ronny griff nach dem alten Polizeirad.
„Reines Pech bei einer Wilderer-Verfolgungsjagd, mehr nicht“, behauptete er. „Außerdem habe ich bald ein neues.“
Der große Junge warf sich seinen Rucksack auf den Rücken.
„Von wegen Pech. Ich war dabei, falls du das vergessen hast. Und ich bin dem Baum rechtzeitig ausgewichen“, zog Silas ihn auf.
„Schon gut, du Sportskanone. Was machst du eigentlich mit deinem Anteil von der Belohnung? Noch mehr Bücher oder Noten kaufen?“
Ronny guckte provozierend auf Silas’ kleines Bäuchlein. Der lachte gutmütig. Selbst Sophia musste lächeln. Sport zählte nicht gerade zu Silas’ größten Talenten. Doch er nahm sich so, wie er war, und konnte über sich selbst lachen. Deshalb war er Ronny auch nicht böse. Heute, an seinem fünfzehnten Geburtstag, hatte er außerdem noch bessere Laune als sonst. Das lag nicht nur an den drei Stück Frankfurter Kranz, die seinen Blutzuckerspiegel in angenehme Höhen getrieben hatten.
„Kann gut sein“, antwortete er gähnend. „Also, bis morgen, und bring bloß Opas Rad heil zurück.“
„Keine Sorge, das sieht so aus, als hätte es bereits den Zweiten Weltkrieg überlebt. Einen Baum hält das locker aus.“
„Wahrscheinlich“, sagte Rahel ernst, die neben Sophia in den Flur getreten war. „Ist ein altes Polizeirad. Oma hat es mal für Opa auf dem Trödel erworben.“
Frau Schmickler senior war vor einem guten Jahr verstorben, und Ronny wusste, dass die Geschwister ihre Oma vermissten. Er setzte sich auf den Sattel.
„Ich bin vorsichtig“, versprach er seinen Freunden und rollte vom Hof.
Auf der Hauptstraße trat der Junge kräftig in die Pedale. Das alte Polizeirad wog zwar ein paar Kilo und war schwer in Gang zu bringen, doch wenn es einmal in Fahrt war, rollte man bequem. Ronny atmete auf. Es war fast Mitternacht. Um diese Uhrzeit war in Brehl längst niemand mehr auf der Straße. Alle 1026 Einwohner hatten sich in ihre Häuser verkrochen, und bis auf Sophia und die sechs Schmicklers lagen wahrscheinlich alle schon im Bett. Und selbst die waren um diese Zeit nur ausnahmsweise wach, weil sie gefeiert hatten.
Ronnys Gedanken verweilten weiter bei der sechsköpfigen Familie. Eigentlich waren es sieben Schmicklers. Aber Tabea, die schon erwachsene Schwester von Silas und Rahel, studierte in den USA. Während die Geschwister sich für die Nacht fertig machten, würde Silas’ Mutter sicher die Küche aufräumen. Ihr Mann Paul nahm bestimmt noch einmal kurz am Schreibtisch Platz, um irgendeinen wichtigen Gedanken aufzuschreiben, den außer ihm niemand verstand. Und Opa Peter Schmickler, genannt Pit, drehte zusammen mit seinem jüngeren Sohn Anton und Caruso eine letzte Gassi-Runde. Der Riesenschnauzer, der den Namen eines berühmten Tenors trug, war Antons Ein und Alles.
Ronny war dankbar, dass der Hund den Giftanschlag vor zwei Wochen so gut überstanden hatte. Es wäre ein schwerer Schlag für Anton gewesen, wenn er nach dem Tod seiner Mutter auch noch Caruso verloren hätte. Denn der erwachsene Mann war in seinem Inneren für immer ein Kind, auch wenn sein Körper schon 40 Jahre alt war. Manche Dinge empfand er eben auch wie ein Sechsjähriger, auch wenn er 34 Jahre mehr Lebenserfahrung hatte. Ronny hatte den geistig behinderten Mann mit seinen besonderen Fähigkeiten und seinem trockenen Humor ebenso in sein Herz geschlossen wie seinen Freund Silas. Er war ein echter Kumpel: immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Das hatte er mit seinem Neffen gemeinsam. Wie Silas dachte auch Onkel Anton von allen Menschen immer nur das Beste.
„Nur, wer hinter Carusos Vergiftung steckt, das haben wir noch nicht herausfinden können“, murmelte Ronny vor sich hin. „Der Wilderer, den wir vor Kurzem gefasst haben, ist, was das betrifft, unschuldig. So viel steht fest.“
Still beleuchtete die Lampe den Asphalt vor ihm, während Ronny gemütlich darüber hinwegrollte. Trotz der Dunkelheit war der Junge hellwach. Er genoss die frische Luft, die ihm um die Ohren wehte. Der Fahrtwind machte einen klaren Kopf, und nach der beruhigenden Heimfahrt würde er zufrieden in sein Bett plumpsen. Am Ende der Straße sah Ronny schon die T-Kreuzung vor sich, an der die Hauptstraße nach links ins Dorf führte und nach rechts in die Bahnhofstraße mündete.
Wie der Name nahelegt, führte diese zum Bahnhof von Brehl. Okay, die Bezeichnung „Bahnhof“ war ein wenig übertrieben. Eigentlich hatte Brehl nur eine Haltestelle, aber da es direkt daneben auch einen Bahnübergang und ein kleines Bahnwärterhäuschen gab, sprachen alle nur vom Bahnhof. Er lag auf der rechten Straßenseite, und bis vor Kurzem hatte man in dem winzigen Fahrgastraum noch Fahrkarten bei einem echten Menschen kaufen können. Jetzt war der Schalter geschlossen, und draußen hatte die Bahn zwei Automaten aufgestellt. Doch bevor man den Bahnhof erreichte, standen auf der linken Straßenseite erst noch zwei Häuser: Die winzige Filiale der Kreissparkasse kam direkt nach der Kurve, gefolgt von der Brunnenapotheke und dem Reformhaus. Letzteres lag dem Bahnhof fast genau gegenüber.
Nach dem Bahnübergang und der Ampel würde Ronny richtig Gas geben. Denn von dort verlief ein gut ausgebauter Radweg parallel zur Bundesstraße B266 Richtung Burgenach-Stadt, wo er allein mit seiner Mutter in einer 56 Quadratmeter großen Dachwohnung hauste. Frau Till würde wie immer noch wach sein und auf ihn warten, auch wenn sie am nächsten Tag früh raus musste.
Plötzlich hörte Ronny ein lautes Schrillen, das nach der Schulklingel der Grundschule klang. Die lag zwar nicht weit entfernt, doch mitten in der Nacht würde die wohl kaum läuten. Dann drang ein hässliches Knacken und Knirschen in sein Ohr. Es klang, als würde etwas zerbrechen. Erschrocken hörte er auf zu strampeln. Seltsam! Vom Fahrrad kamen die Geräusche nicht. Sie wurden lauter, obwohl er langsamer rollte. Dann hörten sie plötzlich auf. Nur das Klingeln blieb, und er schien direkt darauf zuzufahren. Die Neugier packte Ronny. Er strampelte schneller und bog beschwingt um die Kurve.
Auf der Bahnhofstraße vor dem Reformhaus parkte ein dunkler Wagen. Oder hielt er nur? Tatsächlich! Der Motor war an, und es saß auch jemand am Steuer. Und das Klingeln? Ronny war jetzt auf gleicher Höhe mit dem zweistöckigen Gebäude, in dem sich die Sparkasse befand.
Plötzlich zerschlug ein lauter Knall die Stille der Nacht in tausend Teile. Es schepperte, Glas splitterte. Der Schreck durchfuhr Ronnys Körper, und ihm wurde kalt bis in die Fingerspitzen. Ungewollt rissen seine erschrockenen Arme den Lenker nach rechts. Da er immer noch zügig unterwegs war, rutschte das Rad zur Seite, stolperte über den Bordstein, kippte und riss seinen Fahrer mit sich zu Boden. Hart schlug Ronny mit Kopf und Rücken auf die Straße. Zum Glück trug er den Helm. Etwas regnete auf ihn herab, so groß und schwer wie Hagelkörner. Etwas, das weh tat auf der Haut. Instinktiv riss der Junge die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen. Als es aufgehört hatte zu regnen, blieb Ronny noch einen Moment benommen liegen. Es roch nach Feuerwerk. Mühsam versuchte er, seine Gedanken zu sortieren, und hob vorsichtig den Kopf. Eine kleine, dunkle Staubwolke zog aus der Sparkasse, verflüchtigte sich aber schnell. Schon über der Treppe, die auf den Bürgersteig hinabführte, verlor sie sich in der Nacht. Doch in dem Dunkel, aus dem sie gekommen war, schien plötzlich Licht. Es geisterte umher, flirrend wie ein oder zwei Glühwürmchen. Mal taumelte es in die Höhe, dann fiel es wieder zu Boden. Der Bankomat! Im Vorraum der Filiale steht doch der Geldautomat!, dachte Ronny blinzelnd.
Dann legte er den Kopf wieder ab und bewegte seine Arme und Beine. Glück gehabt: Sie schienen in Ordnung zu sein! Langsam schob er das Rad von seinem Bein und setzte sich auf. Im Schein der Straßenlaterne sah er, dass seine Kleidung mit Glasstückchen übersät war. Zum Glück hatten sie keine scharfen Kanten, sondern abgerundete Ecken und alle eine ähnliche Größe. Sicherheitsglas! Es hatte ihn nicht verletzt. Das laute Klingeln war noch da, aber es klang anders als noch vor ein paar Sekunden: Als hätte ihm jemand Stöpsel in die Ohren gesteckt. Oder hallte es nur noch in seinem Kopf nach?
Ronny klopfte die Scherben von sich und versuchte zu begreifen, was geschehen war, oder besser gesagt, was hier gerade geschah. Die Glasschiebetüren der Bankfiliale waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Die Metallbeschläge dagegen ragten verbogen in die Gegend wie ein groteskes Kunstwerk. Das Glühwürmchenlicht dahinter stand plötzlich still, als würde es ihn ansehen, und in dem Dunkel wurde eine Gestalt sichtbar, die zu dem Licht gehörte. Nein, nicht eine, sondern zwei Gestalten. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet. Gesicht und Kopf bedeckte je eine dunkle Skimütze, und eine Lampe leuchtete an jeder Stirn. Ronny fiel es wie Schuppen von den Augen: Das Klingeln gehörte zur Alarmanlage! Natürlich, die Bank wurde gerade überfallen! Der laute Knall war eine Explosion gewesen, eine Sprengung.
Genau in dem Moment, als Ronny das begriffen hatte, liefen die Stirnlampenmänner los. Der erste hielt eine schwarze Sporttasche in der Hand, der andere einen Sack. Beides schien schwer zu sein. Über die Treppe erreichten die flüchtenden Bankräuber den Bürgersteig und rannten auf den dunklen Pkw zu, der immer noch mit laufendem Motor vor dem Reformhaus stand. Oben im Haus, in den beiden Mietwohnungen über den Sparkassenräumen, gingen die Lichter an. Es blitzte hinter der rechten Fensterscheibe. Versuchte jemand, die Täter oder das Auto zu fotografieren?
Ich muss die Polizei rufen!, dachte Ronny.
Vielleicht hatte das noch niemand von den Mietern über der Sparkasse getan. Von da oben hatten sie keine vollständige Sicht auf die Szenerie. Er dagegen konnte alles wie auf einer Bühne beobachten, und seit dem Läuten der Alarmanlage konnten kaum zwei Minuten vergangen sein. Ronny tastete nach seinem Handy. Gerade war es noch in der Jackentasche gewesen. Er kontrollierte die andere Tasche. Da war es. Ronny zog den Reißverschluss auf.
Die Männer in Schwarz hatten längst das Fluchtauto erreicht. Der erste riss die rechte Hintertür auf und schmiss die Sporttasche auf den Rücksitz. Dann setzte er sich dazu. Der andere war um das Auto herumgelaufen und hatte die linke Hintertür geöffnet. Noch bevor die letzte Tür zugezogen war, startete der Fluchtwagen mit quietschenden Reifen. Ronny beobachtete alles wie ein aufmerksamer Theaterbesucher. Doch das hier war echt, und die Gestalten in dem Auto waren keine harmlosen Schauspieler. Das Fahrzeug kam näher, und der Junge konnte es genauer erkennen: ein schwarzer Audi. Die große Limousine machte bestimmt locker zweihundertfünfzig Stundenkilometer und war im Nu von Null auf Hundert. Der Fahrer gab immer noch Gas.
„Nein!“, stöhnte Ronny plötzlich. „Der fährt ja direkt auf mich zu!“
Hastig rappelte er sich auf und schleifte das schwere Rad hinter sich her auf den Bürgersteig, als der Audi auch schon mit röhrendem Motor an ihm vorbeiraste. Der Wagen war so nah, dass er den Luftzug spüren konnte. Ronny schnappte nach Luft.
„Idiot!“, schrie er.
Dann fuhr er sich mit zitternden Fingern durch seine langen Haare und starrte dem Audi nach. Er wusste sofort, wo die Männer hinwollten. Die Autobahn war nicht weit. Schon das nächste Dorf hatte eine eigene Auffahrt.
„Geht es dir gut?“, fragte ihn ein Mann, der aus dem Haus gerannt kam, in dem sich die Apotheke befand. Mitten auf der Straße blieb er stehen.
„Ich glaub schon“, antwortete Ronny. Das Klingeln in seinen Ohren war fast weg. „Die hätten mich eiskalt über den Haufen gefahren, wenn ich nicht schnell genug von der Straße gekommen wäre.“
Zu spät fiel ihm das Nummernschild ein. Er kniff die Augen zusammen und konnte gerade noch ein Kennzeichen mit vier Buchstaben und vier Ziffern erahnen, bevor der Wagen nach rechts auf die Bundesstraße bog. Ronny tastete nach seinem Handy. Es war noch in der Jackentasche.
„Die Polizei ist unterwegs“, sagte der Mann.
„D… Das ist ein Polizeiauto“, sagte Onkel Anton und blieb stehen.
„Wirklich?“, fragte sein Vater. Er hielt ebenfalls an und lauschte. Tatsächlich! In der Ferne war ein Martinshorn zu hören. Es wurde lauter, das hieß, es kam näher. Ein zweites und dann ein drittes Signal gesellten sich dazu. „Du hast recht, deine Ohren sind besser als meine“, gab Opa Schmickler zu. „Dann war das gerade wohl kein Fehlalarm.“
„Das … Das is ein größerer Einsatz“, sagte Anton und klopfte Caruso das Fell. Das Stottern gehörte zu ihm wie sein fabelhaftes Bildgedächtnis und sein gutes Gehör. Es war so normal, dass es niemandem in der Schmickler Familie mehr auffiel. „D… Die kommen in unsere Richtung“, war er sich sicher.
„Du hast schon wieder recht. Ich glaube, sie biegen gerade in die Bahnhofstraße ein“, sagte sein Vater.
„D… Da ist die Sparkasse.“
Jetzt riss Anton die Augen auf. Herr Schmickler stand immer noch auf der Stelle und lauschte angestrengt. Caruso bellte einmal kurz und zog an der Leine. Er wollte weiter. Opa Peter gab nach und tat ihm den Gefallen. Kurz darauf stieß die kleine Nebenstraße, der sie folgten, auf die Hauptstraße. Es war nicht weit von der Kurve, um die Ronny vor einigen Minuten gefahren war. Der Riesenschnauzer drängte vorwärts. Anton fing an zu laufen. Sofort fühlte Caruso sich ermuntert, auch einen kleinen Sprint einzulegen. Opa hatte fast Mühe, ihn zu halten.
„Warte, Anton! Ein alter Mann ist doch kein D-Zug“, schnaufte er. „Langsam, Caruso!“, befahl Opa.
Anders als sein Sohn gehorchte der gut ausgebildete Hund aufs Wort – wenn sein Herrchen ihm auch ansah, dass er am liebsten weitergestürmt wäre. Weiter vorne hielt jetzt auch Onkel Anton an. Er stand genau an der Kreuzung, sodass er in alle drei Richtungen sehen konnte. Aufgeregt winkte er seinem Vater.
„D… Da is Ronny“, rief er ihm zu und zeigte in Richtung Bahnhof.
Sofort beschleunigte Opa Peter seinen Schritt. Das letzte Stück joggte er sogar. Für Mitte sechzig war er noch gut in Form. Als Herr Schmickler zu Anton aufgeschlossen hatte, blieb er stehen und sah besorgt um die Ecke. Auf dem Autostellplatz, der zu der Kreissparkassenfiliale gehörte, stand der Freund seines Enkels und hielt sich an dem Polizeirad fest. Das blaue, blinkende Licht der Streifenwagen verlieh seinem Gesicht eine gespenstische Blässe. Zwei Polizeiautos standen mitten auf der Straße, ein Bulli sogar auf dem Bürgersteig. Der Apotheker, der über der Sparkasse wohnte, überquerte gerade die Straße und ließ sich auf der Bank am Bahnhofsvorplatz nieder. Dort saßen auch alle anderen Mieter. So wie der Eingang der Sparkasse aussah, würden sie sich zumindest für diese Nacht nach einer anderen Unterkunft umsehen müssen. Es war nicht auszuschließen, dass für das Haus Einsturzgefahr bestand.
„Ronny!“, rief Herr Schmickler und lief weiter zu dem Jugendlichen. Die stumpfen Scherben knirschten unter seinen festen Schuhen, als er ihn erreicht hatte. Er achtete nicht darauf. Ronny sah kaum auf.
„Es … Es tut mir so leid, Herr Schmickler“, entschuldigte er sich mit zitternder Stimme und blickte betroffen auf das Polizeirad. „Die … Die Lampe ist zerbrochen, und das Vorderrad hat eine böse Acht. Vielleicht … Vielleicht kann man es reparier…“
„Unsinn! Vergiss das dumme Rad“, fiel ihm Opa Peter energisch ins Wort. Spontan schloss er den Jugendlichen in die Arme. „Hauptsache, dir ist nichts passiert.“ Er ließ Ronny los, um ihn anzusehen. „Bist du verletzt?“
„Nein.“ Ronny klopfte auf seinen Helm, den er immer noch auf dem Kopf trug, und wagte ein Grinsen in Antons Richtung. „Ich kann fallen.“
„Gott sei Dank.“
Opa legte Ronny vorsichtig die Hand auf die Schulter. Dann sah er nachdenklich auf den zerstörten Eingangsbereich der Sparkasse. Die Scheinwerfer der Streifenwagen warfen ihr Licht auf ein Bühnenbild der Verwüstung: Auch der stählerne Türrahmen war verbogen und zum Teil zerfetzt worden. Die Wucht der Explosion hatte Metallteile und Glassplitter über die Treppe und den Bürgersteig verstreut, wie Streusel auf einem Kuchen; die Zwischenwand zum Schalterbereich und den kleinen Büros war eingedrückt. Das rot-weiße Plastikband, mit dem die Polizisten den Tatort bereits abgesperrt hatten, flatterte im Wind. Sogar der Fahrradständer draußen vor der Filiale war umgekippt. Ein Polizist kam herüber. Er stellte sich als Polizeihauptkommissar (PHK) Klatsch vor, von der Polizeiinspektion Remagen. Opa kannte ihn natürlich.
„Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben muss“, murmelte Herr Schmickler.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Ronny. „Wer überfällt denn heute noch eine Bank oder sprengt einen Geldautomaten? Es ist doch so viel einfacher mit … was weiß ich … Phishing-E-Mails oder so. Es gibt doch genug Leute, die so leichtgläubig sind, dass sie ihre Bankdaten ohne Weiteres herausgeben.“
„Da haben Sie völlig recht, junger Mann. Wer heute noch eine Bank überfällt, ist eigentlich ziemlich dumm. Er geht ein unnötiges Risiko ein“, sagte PHK Klatsch und begrüßte Opa.
„Hallo, Pit!“, grüßte er und benutzte dessen Spitznamen.
„Hallo, Gernot.“
„Ri… Risiklo“, meinte Onkel Anton kichernd. „Haste gehört, Papa? Risiklo.“
Der Polizist schmunzelte.
„Hallo, Anton!“, sagte er.
„T… Tag“, antwortete Anton.
„Wir würden gerne aufnehmen, was Sie beobachtet haben, Herr Till. Könnten Sie bitte mit zum Streifenwagen kommen?“, wandte sich der Polizist an Ronny.
Anton kicherte lauter.
„‚H… Herr Till‘ hat der gesagt, Papa, hasse gehört? R… Ronny heißt der doch“, erklärte er dem Polizisten.
Opa lächelte und sah prüfend in Ronnys blasses Gesicht.
„Ich denke, das können wir auch bei mir zu Hause im Wohnzimmer machen, Gernot. Wir wohnen nur fünfhundert Meter von hier, und es wäre mir lieb, wenn ihr den jungen Mann mit dem Streifenwagen dort absetzt. Immerhin ist er gestürzt.“
Der Polizist nickte.
„Kein Problem, Pit. Das Fahrrad bringen wir mit dem Bulli, wenn wir hier fertig sind.“
„Das ist doch nicht nötig“, wehrte Opa ab. „Ich schließe es ab und hole es morgen. In Brehl kommt eigentlich nichts weg. Hier wird nicht gestohlen.“
„Nee … Nur ne Bank ausgeraubt“, brachte es Onkel Anton auf den Punkt.
„Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Auf ihrem Weg zur Haustür fiel Sophias Blick automatisch auf den Vers aus dem Matthäusevangelium. Ihr Gesicht verdüsterte sich. Den Spruch hatte sie gefühlt schon tausendmal gelesen, seit Rahel und Silas in ihr neues Zuhause eingezogen waren. Niemand kam an ihm vorbei, wenn er das Haus verlassen oder betreten wollte. Genau wie in Opa Schmicklers Altbau hingen auch hier bei Hannah und Paul Schmickler ein paar schlaue Sprüche im Flur. Die meisten stammten aus der Bibel, wie der, über den sich Sophia gerade ärgerte und von dem sich ihre Augen trotzdem immer wieder magisch angezogen fühlten. Wer, bitte, ist denn schon vollkommen?, fragte sie sich wieder einmal. Vollkommen: Das hieß ja wohl ungefähr so viel wie ohne Fehler. Aber niemand war perfekt. Dazu gab es sogar das passende Sprichwort: Nobody is perfect. Jedenfalls kein Mensch. Wusste Gott das nicht besser als jeder andere? Warum verlangte er dann so etwas von denen, die sich Christen nannten? Und warum hängten Schmicklers das dann noch auf? Wollten sie sich selbst frusten?
„M… Mach mal auf!“, rief Onkel Anton von draußen.
Er klopfte an die Scheibe und klingelte zum zweiten Mal.
„Du meine Güte, was ist denn?“, fragte Sophia, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.
Sie war die Einzige, die noch angezogen und nicht im Bad gewesen war.
„P… P… Papa sagt, ihr sollt rüberkommen, wenn ihr wollt. Die Po… Polizei ist da. Die Bank wurde ausgeraubt.“
Sophia riss die Augen auf. Hannah Schmickler erschien hinter ihrem Gast. Sie hatte die Zahnbürste noch im Mund und Zahnpasta auf der Unterlippe.
„Wasch is los?“, nuschelte sie ihren Schwager an.
„D… Das is explodiert, und Ronny …“
„Was?! Was ist mit Ronny?“, rief Silas dazwischen.
Er kam die Treppe heruntergesprungen. Beinahe wäre er im Schlafanzug über den Hof gerannt, aber Paul Schmickler ergriff ihn am Ärmel.
„Einen Moment, mein Sohn. Zieh dir was über.“
„Nix, nur d… das Rad is Schrott“, berichtete Anton. „Papas Polizeirad.“
„Nicht schon wieder“, sagte Rahel. Sie trug bereits ihren Jogging-Anzug. Dank ihres guten Gehörs hatte sie den Streifenwagen als Einzige bemerkt, der eben auf den Hof gefahren war, und sich direkt wieder angezogen. Gleich darauf waren Opa, Anton und Caruso vom Gassi-Gehen zurückgekommen. Dann hatten Ronny und zwei Beamte den Streifenwagen verlassen, um in Opas Haus zu gehen. Im nächsten Moment hatte Anton an der Haustür geklingelt. Jetzt schlüpfte Rahel an ihrem Vater vorbei. „Komm, Anton, wir gehen schon mal rüber. Bringst du Papier und Stift mit, Silas? Danke.“
„Klar, Chef“, sagte Silas. „Sonst noch irgendwelche Wünsche an das Geburtstagskind?“
Rahel sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht.
„Dein Geburtstag ist vorbei“, sagte sie und trat auf den Hof.
Paul Schmickler ließ seinen Sohn los. Dann griff er nach seinem Mantel und zog ihn über den Schlafanzug.
„Die Nacht wird kürzer, als ich dachte“, sagte er zu seiner Frau.
Hannah Schmickler lächelte ihn an.
„Vielleicht kannst du im Büro einen Mittagsschlaf machen“, schlug sie vor.
„Du hast Vorstellungen“, murmelte Paul Schmickler mürrisch, und das Lächeln auf dem Gesicht seiner Frau verschwand.
Fünf Minuten später traf sich die ganze Familie mit Ronny und Sophia in Opas Wohnzimmer. Die Teenager hatten sich mit Anton auf das Sofa gequetscht, Mama und Papa Schmickler gemeinsam in einen der beiden Sessel. Opa saß auf dem anderen. Ronny und die zwei Polizeibeamten, die mit hereingekommen waren, hatten es nicht ganz so bequem. Sie saßen auf Holzstühlen am Esstisch, vor sich einen dampfenden Tee. Rahel roch Pfefferminze – neben Ingwer Mamas Allheilmittel. Polizeihauptkommissar Bertram von der Polizeiinspektion Brehlweiler war allen Anwesenden bekannt. Die Detektei hatte schon öfter mit ihm zu tun gehabt. Seinen uniformierten Anblick waren sie also gewöhnt. Seine junge blonde Kollegin von der Kriminalpolizei aus Koblenz war dagegen normal gekleidet. Neben ihrem Tee stand ein kleines schwarzes Kästchen, das Rahel sofort als Aufnahmegerät erkannte. Das Tonband war allerdings schon aus, denn Ronny hatte bereits alles gesagt, was er wusste. Jetzt wandte sich die fremde Beamtin noch einmal an den großen Jugendlichen.
„Wir wären dann so weit. Wenn dir noch etwas einfällt, Ronny, dann melde dich jederzeit.“
Sie reichte ihm eine kleine Karte über den Tisch.
„G… Grade hat der andere noch ‚Herr Till‘ zu Ronny gesagt“, flüsterte Anton in Sophias Ohr.
„Das mache ich, Frau Rinden. Vielen Dank.“
Ronny nickte. Er sah müde aus, aber nicht mehr so blass wie vorhin. Herr Bertram schob seinen Stuhl zurück, stand aber noch nicht auf, sondern griff nach seinem Tee.
„Kann ich noch etwas fragen?“, meinte Ronny.
„Sicher“, sagte die Kriminalbeamtin.
„Das ist ja nicht der erste Automat, der dieses Jahr hier im Landkreis gesprengt wurde.“
„Nein“, antwortete die Kommissarin knapp.
„Ich weiß, dass es schon eine ganze Serie von Anschlägen auf Geldinstitute gab“, fuhr Ronny fort. „Wenn ich mich richtig erinnere: Saffig, Mayen, Polch und …“
Ronny stockte.
„Niederzissen“, half Rahel ihm aus.
„Richtig“, sagte Herr Bertram und pustete auf seinen Tee.
„Ich sehe, da verfolgt jemand unsere Pressemitteilungen.“
Frau Rinden nickte anerkennend.
„Warum macht man so etwas? Lohnt sich das überhaupt noch?“, fragte Ronny.