Der Donnerfelsen: Die Flucht - Petra Schwarzkopf - E-Book

Der Donnerfelsen: Die Flucht E-Book

Petra Schwarzkopf

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Beschreibung

Johanna und ihre Mutter wollen nur für eine Weile Urlaub am Donnerfelsen machen. Doch sie hätten den Zeitpunkt nicht schlechter wählen können! Jans Welt ist nicht mehr dieselbe: Nicht nur die Menschen haben sich verändert, sondern auch die Natur spielt verrückt. Obwohl längst nicht alle einer Meinung sind, müssen sie zusammenarbeiten. Julia und Johanna bleibt kaum Zeit, um nach einem Weg zurück ins Rheinland zu suchen. In erster Linie sind sie damit beschäftigt zu überleben. Gelingt ihnen die Flucht ins Landesinnere, und wer begleitet sie? Im dritten und letzten Band der Donnerfelsen-Trilogie geht es um eine Entscheidung, die nicht nur Johanna und Jan für sich allein treffen müssen. Auch die Erwachsenen sind gefragt. Wissen sie, worauf es wirklich ankommt, oder streiten sie über Kleinigkeiten? Was zählt noch, wenn deine Welt untergeht?

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Petra Schwarzkopf

Der Donnerfelsen: Die Flucht

Band 3

Best.-Nr. 275517 (E-Book)

ISBN 978-3-98963-517-3 (E-Book)

1. Auflage (E-Book)

© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg

[email protected]

Alle Bibelverse wurden zitiert nach:

Lutherbibel, revidierter Text 1984

© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Schlachter-Übersetzung – Version 2000

© 2000 Genfer Bibelgesellschaft

Schlachter-Übersetzung – Version 1951, gedruckt 1990

© 2000 Genfer Bibelgesellschaft

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Umschlagmotive:

Landschaftsfoto: © Frank Schwarzkopf, Holzschild: © Freepik.com/brgfx

Schuhe: @ Canva/olhasaiuk

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: [email protected]

Inhalt

Prolog: Alles hat seine bestimmte Stunde

1Ziehet nicht am gleichen Joch

2Wer sich in Gefahr begibt …

3… der kommt darin um

4Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit

5Gehet hin in alle Welt

6Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen

7Eines erbitte ich von dem Herrn

8Gib mir, mein Sohn, dein Herz

9Siehe, wie fein und lieblich ist’s

10Jauchzet dem Herrn, ihr Gerechten!

11Rette deine Seele!

12Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir

13Und in dein Buch waren geschrieben alle Tage

14Er weidet mich auf grünen Auen

15So würdest du ihn bitten, und er gäbe dir

16Ich will dem Herrn singen mein Leben lang

17Und die Vögel des Himmels kamen und fraßen es auf

18Wenn jemand nicht arbeiten will

19Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen

20Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben

21Mächtiger als die Meereswogen ist der HERR

22Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen

23Meine Hilfe kommt von dem Herrn

24Ich bin die Tür

25Denn leben wir, so leben wir dem Herrn

26Wie ein Hirsch lechzt nach Wasserbächen

27Meine Seele dürstet nach Gott

28Und wenn ich auch wanderte durchs Tal

29Denn der Feind verfolgt meine Seele

30Wenn euch nun der Sohn frei machen wird

31Und mein Geist ist verzagt in mir

32Du bereitest vor mir einen Tisch

33Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst!

34Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu

35Die Sonne soll verwandelt werden in Finsternis

36Und ein Rauch stieg empor aus dem Schlund

37Und die Stadt bedarf nicht der Sonne

Epilog: Und wen da dürstet, der komme

Landkarte

Prolog„Alles hat seine bestimmte Stunde, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit.“

Prediger, Kapitel 3, Vers 1

Ich sage es euch am besten gleich, damit ihr am Ende des Buches nicht so traurig seid: Alles hat seine Zeit, und für alles im Leben, das man zum ersten Mal tut, gibt es auch ein letztes Mal. Manchmal ist das erste Mal zugleich schon das letzte Mal. Das kann entweder sehr schade oder auch sehr gut sein. Zum Beispiel, wenn man die Weisheitszähne herausoperiert bekommt. Da ist es gut, wenn man es mit einem Mal für alle Zeiten hinter sich hat, das kann ich euch versichern! Doch egal, ob schade oder gut, jedenfalls hat es keinen Zweck, so zu tun, als gäbe es kein Ende. Es ist besser, ihr stellt euch jetzt schon darauf ein, dass ihr in naher Zukunft von Johanna und Jan Abschied nehmen müsst. Dann seid ihr nicht so überrascht, wenn es so weit ist, sondern könnt euch gelassen darauf vorbereiten. Also, dies ist der letzte Band vom Donnerfelsen! Die Geschichte ist dann auserzählt, und es gibt nichts mehr, das ich hinzufügen könnte. Deshalb endet alles auf der letzten Seite. Teilt euch das Buch gut ein und fliegt nicht nur mit euren Augen über die Seiten. Das mache ich leider oft. Tatsächlich bin ich eine schreckliche Schnell-Leserin. Vielleicht schreibe ich deshalb so gerne. Dann gehe ich quasi zu Fuß durch die Geschichten, anstatt mit einem Düsenjet darüber zu donnern. Sagt also nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! Lest langsam und gründlich, ihr seid jetzt alt genug. Übrigens … das Buch vom Donnerfelsen gibt es immer noch. Davon müsst ihr euch nicht verabschieden. Eure eigene Geschichte mit ihm kann jederzeit beginnen. Vielleicht steckt ihr schon mittendrin – wer weiß? Dann öffnet es euch auf seine ganz eigene Art das Tor in eine andere Welt. Aber ihr müsst sie finden wollen, diese Welt. Was nichts anderes bedeutet, als dass ihr suchen müsst und zwar von ganzem Herzen. Wenn dieser Wunsch da ist, wenn er aufrichtig und echt ist, werdet ihr die Tür zum Land des Felsens finden. Es kann durchaus sein, dass es euch eines Tages wie Schuppen von den Augen fällt und ihr euch fragt, warum um alles in der Welt ihr den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen habt!? So klar liegt diese Tür dann vor euch, und ihr braucht nur einen Schritt hindurchzugehen. Dieser aber muss getan werden, sonst bleibt ihr draußen. So ist das.

Johanna jedenfalls hat diesen Schritt gewagt, kurz nachdem Jan zum Donnerfelsen zurückgekehrt ist, und sie hat ihn bis heute nicht bereut. Laura und Simon sind immer noch an ihrer Seite, und Johanna ist im Moment so ruhig und zuversichtlich, dass sie sich über sich selbst wundern muss. Ihre Mutter Julia dagegen benimmt sich in letzter Zeit seltsam. Und das hat ganz offensichtlich ebenfalls mit diesem Simon und seinem Buch zu tun …

1

„Ziehet nicht am gleichen Joch … “

2. Korintherbrief, Kapitel 6, Vers 14

Johanna wusste sofort, dass etwas mit ihrer Mutter nicht in Ordnung war. Die Stimme, die von oben kam, hatte die Temperatur eines Eiszapfens, und selbst hier unten im Flur, ein Stockwerk entfernt, ließ sie Johanna frösteln. Vorsichtig stellte die Vierzehnjährige ihre Schultasche auf der untersten Treppenstufe ab. Dann hängte sie langsam ihre Jacke an den Garderobenhaken und suchte nach ihren Hausschuhen.

„Johanna?“, kam es schneidend scharf von oben. „Beeil dich ein bisschen, ich muss gleich los!“

Wow, nicht einmal bitte hatte ihre Mutter gesagt.

„Ja, Mama, ich komme“, rief sie zurück, lief schnell die Treppe hinauf und betrat die Küche, in der schon der Tisch gedeckt war. Ihre Mutter hantierte am Herd und drehte sich nicht wie sonst zu ihr um.

„Setz dich schon mal und gieß dir Saft ein“, murmelte sie stattdessen nur.

Johanna gehorchte wortlos. Aus Angst vor der Antwort wagte sie es nicht, Fragen zu stellen. Bestimmt war etwas Schlimmes passiert! Mit Oma und Opa oder mit Mama selbst? War sie vielleicht krank? Johannas Magen war weniger rücksichtsvoll und meldete sich ungefragt zu Wort: Er knurrte vor Hunger. Das Knurren war ziemlich laut. Endlich drehte sich die Frau am Herd um, und Johanna erschrak. Mama hatte rote und geschwollene Augen! Ihr sonst so nettes Gesicht war bleich, die Lippen hatte sie entschlossen aufeinandergepresst. Jetzt verzog sich der Mund zu einem angestrengten Lächeln. Doch Johanna kannte ihre Mutter zu gut, um darauf hereinzufallen.

„Mama, ist etwas passiert?“, platzte sie heraus.

„Nein, warum?“, fragte Julia und klatschte ihrer Tochter den Kartoffelbrei auf den Teller. Etwas von der heißen Masse spritzte auf den Tisch und auf Johannas T-Shirt. „Tschuldigung“, nuschelte die Köchin mit den roten Augen und griff nach der Pfanne mit den Bratwürsten. Johanna hob eine Augenbraue, als ihre Mutter keinerlei Anstalten machte, die Breispritzer vom Tisch zu entfernen. Stumm nahm sie selbst das feuchte Spültuch in die Hand und beseitigte die Kartoffelspuren. Auch als Julia die heiße Pfanne auf den Untersetzer knallte, sagte sie nichts, sondern zog nur hörbar die Luft ein. Dann wühlte ihre Mutter in der Küchenschublade.

„Wo steckt denn diese dämliche Würstchenzange?“, schimpfte sie vor sich hin.

Endlich begriff Johanna: Natürlich, das war die Erklärung! Erleichtert atmete sie aus. Mama ist nur wütend, dachte sie.

„Ha, hab ich dich“, triumphierte Julia und riss die ungehorsame Zange an sich. Sie stieß die Schublade zu, dass es rumste. Allerdings ist sie sehr wütend. Ein zerquetschtes Würstchen landete unsanft auf Johannas Teller. Außerordentlich wütend.

„So“, stieß die Köchin hervor und zerrte ihren Stuhl vom Tisch, um auch Platz zu nehmen. Das Quietschen der Stuhlbeine, die über den Küchenboden schrappten, schien ihr zu gefallen, dabei achtete sie sonst immer darauf, dass man den Stuhl anhob. Ratlos sah Johanna ihre Mutter an. Zwei kampflustige Augen funkelten zurück. Oh Mann, so wütend hatte sie Mama noch nie erlebt!

„Hab ich etwas falsch gemacht?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein, du nicht. Iss!“, befahl ihre Mutter.

Johanna senkte den Blick und versuchte, ihre wirbelnden Gedanken zu einer Art Dankgebet zusammenzukehren. Dann hob sie mechanisch ihre Gabel und stocherte im Gemüse herum. Was war nur los? Auf wen war Mama denn so wütend? Ihr Gehirn kreiste mit so viel Energie um diese Frage, dass für die Geschmacksnerven keine Impulse mehr übrig blieben. Johanna kaute zwar, schmeckte aber nicht, was sie aß. Sie hätte auch an einem Stück Gummi lutschen können. Nach einigen stummen Minuten, die sich in die Länge zogen wie die Wurstpelle, an der Johanna herumsäbelte, stöhnte ihre Mutter auf. Langsam und plötzlich behutsam legte Julia Messer und Gabel auf den Tellerrand. Dann berührte sie vorsichtig die Hand ihrer Tochter.

„Hey, es tut mir leid, Süße!“

Johannas Schultern sanken herab. Sie entspannte sich etwas und saugte langsam den Kartoffelbrei von ihrer Gabel.

„Was ist denn los, Mama?“, fragte sie leise.

„Ach, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist.“

Seufzend griff Julia wieder nach ihrem Besteck. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schob sich eine aufgespießte Wurstscheibe in den Mund. Heftiger als nötig kaute sie darauf herum. Wie sollte sie das ihrer vierzehnjährigen Tochter auch erklären? Dass sie sich mehr erhofft hatte? Dass sie gedacht hatte, sie und Simon Isken, ihr netter und hilfsbereiter Nachbar, könnten mehr als nur Freunde werden? Dass sie in Simons Gegenwart endlich wieder glücklich war? Nein, das konnte sie Johanna nicht erzählen. Wie sollte sie ihr erklären, wie verletzt sie war, dass er sie auf einmal zurückgewiesen hatte? Dass sie es nicht fassen konnte, dass er sie mit einer Kuh verglich! Das ging zu weit. Das war nichts für Kinderohren. Das mussten die Erwachsenen unter sich klären.

„Wer hat dich mit einer Kuh verglichen?“, fragte Johanna.

Julia starrte ihre Tochter erschrocken an. Hatte sie etwa laut gesprochen?

„Äh, niemand, ich habe nur laut gedacht“, behauptete sie.

„Klar.“ Johanna hatte nicht vor, sich mit der Antwort zufriedenzugeben. „Du kannst mir ruhig sagen, worum es geht. Ich bin kein Baby mehr.“

Julia riss die Augen auf und sah ihre Tochter an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Du meine Güte, das Kind ist schneller in die Höhe geschossen als der märchenhafte Stängel der Zauberbohne, dachte sie.

„Nein, mein Schatz. Das bist du wirklich nicht mehr“, gab sie zu.

Schon seit ihrer Geburt war Johanna leidenschaftlich neugierig. Wenn Simon plötzlich wegblieb, würde sie nach ihm fragen. Also konnte sie genauso gut gleich mit der Neuigkeit herausrücken. Aber ihre Tochter würde nur eine gekürzte Version der Ereignisse zu hören bekommen, eine kindgerechte. Entschuldigung – eine teenagergerechte.

„Also gut, ich glaube, ich bin wütend auf Simon“, erklärte Julia.

Johanna schmunzelte.

„Mama, du bist nicht wütend, du magst ihn nur!“

Wann war ihr Baby erwachsen geworden? Julia merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde.

„Ist das so offensichtlich?“, fragte sie.

„Ja, das sieht ein Blinder – wie Opa immer sagt!“

„Ach, du meine Güte!“ Julia versteckte ihr rotes Gesicht hinter den Händen. Dann spreizte sie zwei Finger und blinzelte hindurch. „Wie peinlich“, stöhnte sie.

„Quatsch! Das muss dir doch nicht peinlich sein. Ich mag ihn auch“, gab Johanna leise zu, „sehr sogar.“

„Das ist ja das Schlimme.“

Frau Müller nahm die Hände vom Gesicht. „Er sagt, ich soll mir keine Hoffnung machen. Es hätte … es täte ihm leid, dass … äh, dass er nicht b… besser aufgepasst hätte, aber … es hä… hätte keinen Sinn … mit … mit uns“, stotterte sie und sah ihre Tochter nicken. „Sag bloß, du verstehst das?“

„Ja, ich glaube schon“, sagte Johanna nachdenklich.

„Auch, warum er mich nicht mehr mag?“

Johanna lachte.

„Quatsch“, sagte sie noch einmal. „Natürlich mag er dich auch.“

Julia war sprachlos. Wie konnte sich das Kind da so sicher sein?

„Aber was meintest du mit der Kuh?“, hakte ihre Tochter noch einmal nach.

„Na ja, das hat er nicht direkt gesagt“, gab Julia zögernd zu und kratzte sich verlegen am Kopf. „Aber er hat gemeint, da ich seinen Glauben nicht teile, wäre eine … ähm … eine Beziehung mit mir so etwas wie ein ungleiches Joch.“ Julia seufzte leise. Johanna runzelte die Stirn.

„Was ist denn ein Joch?“

„Ein Joch ist ein Holzstück, das zwei Tiere – meistens Rinder – verbindet, die gemeinsam einen Pflug aus Holz oder Eisen ziehen. Früher, als es noch keine Traktoren gab, hat man auf diese Weise Furchen in die Erde gezogen, in die dann die Kartoffeln oder Körner kamen. Heute ist das in ärmeren Ländern noch so“, erklärte Julia, als hätte sie es eben erst im Lexikon nachgelesen.

Bei der Vorstellung, Simon und ihre Mutter würden aneinandergekettet über einen Acker laufen und einen Eisenpflug hinter sich herziehen, prustete Johanna auf einmal laut los. Julia sah ihrer Tochter an, was sie dachte, und schmunzelte zum ersten Mal an diesem Tag. Entschlossen schob sie sich erst eine Portion Kartoffelbrei und dann eine Scheibe Bratwurst in den Mund.

„Na ja, und deschwegen kam isch auf die Kuh“, schloss sie schmatzend.

Johanna reagierte nicht. Sie hatte ihr Handy aus der Hosentasche gezogen, tippte und sah konzentriert auf das Display. Julia verzog den Mund, während sie einige Erbsen auf ihrer Gabel in Richtung Mund balancierte.

„Johanna? Was haben wir abgemacht?“, rügte sie, bekam jedoch keine Antwort. „Johanna?! Die Handynutzung während der Mahlzeiten ist nicht nur unhöflich, sondern auch ungesund“, mahnte sie mit ihrer Krankenschwesterstimme.

Die Gabel wackelte. Einige Erbsen verloren das Gleichgewicht und kullerten über den Tisch. Johanna guckte gehorsam hoch, aber sie konnte das Handy auch unter der Tischplatte blitzschnell bedienen, was ihre Mutter sehr wohl wusste. Julia versuchte, die Erbsen wieder einzufangen. Dann sah sie zu Johanna, die auf das Handy auf ihrem Schoß starrte, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen wie zwei Gewitterwolken. Doch ihre Tochter kam einer weiteren Ermahnung zuvor.

„Mama, ich glaube, ich weiß, was Simon meint. Tiere, die in einem Joch gehen, ziehen über eine einzige Deichsel dasselbe Gewicht oder einen Wagen hinter sich her.“

„Hast du das jetzt eben so schnell nachgelesen?“, meinte Julia wider Willen beeindruckt.

„Nicht alles gelesen, aber es gibt auch Bilder“, antwortete Johanna grinsend. „Da sieht man es sofort. Also, wenn zwei Tiere so eine Last ziehen, dann ist es wichtig, dass beide dasselbe Ziel haben und dasselbe Tempo, sonst funktioniert es nicht“, folgerte sie. „Sonst kommen sie entweder nicht vom Fleck oder laufen kreuz und quer. Ist doch logisch!“

Ihre Mutter guckte nachdenklich. Sie atmete tief ein und aus und nahm einen Schluck Wasser.

„Ja, du hast wahrscheinlich recht“, sagte sie. „Früher oder später führt es zu Ärger, wenn jeder in eine andere Richtung will. Irgendwie habe ich das ohnehin geahnt.“ Sie kniff den Mund zusammen und schwieg. Doch dann haute sie plötzlich mit der Hand auf den Tisch und schlug eine übersehene Erbse zu Brei. Johanna zuckte erschrocken zusammen. „Das entschuldigt aber nicht, dass er das nicht gleich gesagt hat! Das hätte er wirklich eher wissen können, wenn er seine heilige Bibel so gut kennt“, schimpfte sie schon wieder wütend. Johanna guckte betroffen. „Entschuldige“, sagte ihre Mutter diesmal sofort. „Du kannst nichts dafür, und es ist auch nicht dein Problem. Tut mir leid.“

Sie leckte sorgfältig die Erbsenreste von ihrer Hand, als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt. Dann widmete sich Julia konzentriert dem Essen und wechselte ohne Vorwarnung das Thema.

„Wie war es in der Schule?“

Johanna antwortete nicht sofort. Glaubte Mama wirklich, dass das nur ihr Problem war?!

2

„Wer sich in Gefahr begibt …“

Johanna schloss ihr Matheheft und strich sich durch die noch feuchten Haare. Dann stand sie vom Schreibtisch auf, streckte die Arme in die Höhe und dehnte ihre Schultermuskeln. Das Schwimmtraining freitagabends war immer anstrengend, und eben hatte sie die letzten Hausaufgaben erledigt. Jetzt lag das Wochenende frei vor ihr. Schade, dass Laura mit ihrer Familie zu einer Hochzeit gefahren ist, dachte sie und blickte auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Ihre Mutter musste bald nach Hause kommen. Auf dem gedeckten Tisch in der Küche wartete eine kleine Thermoskanne mit frischem Ingwertee nebst zwei Käsebroten auf sie.

Johanna setzte sich auf ihr Bett, über das eine Patchworkdecke ausgebreitet war. Langsam fuhren ihre Finger über die gesteppten Quadrate und Muster des Quilts. Er war wunderschön und Mamas Geschenk zu ihrem dreizehnten Geburtstag gewesen. Mehrere Wochen hatte sie heimlich daran genäht, um ihre Tochter damit zu überraschen. Als sie gerade dabei gewesen waren, ihn auszupacken, waren Simon und Laura zum Gratulieren vorbeigekommen und hatten das Kunstwerk bestaunt. Zumindest Herr Isken würde bei ihrem nächsten Geburtstag wohl fehlen.

Johanna seufzte. Dann stand sie auf und ging zum Balkon. Durch das offene Wohnzimmerfenster blickte sie auf ihre Linde. Der Mond war gerade aufgegangen und leuchtete hell. Es war schon wieder Mai, zum zweiten Mal seit Jans Besuch in ihrer Welt, und der Baum war wie immer mit Blüten übersät. Der leichte Wind wehte den Duft zu Johanna hinüber. Er kroch in ihre Nase wie das süße, klebrige Parfüm einer alten Dame. Die ganze Luft schien schwanger damit zu sein, wie vor zwei Jahren. Damals, direkt nach Jans Rückkehr zum Donnerfelsen, hatte sie begonnen, Simon und Laura in deren Kirchengemeinde zu begleiten. Kurz darauf hatte sie selbst angefangen, an Gott zu glauben. An diesen Gott aus Jans Geschichte mit dem verlorenen Sohn. An Gott, den liebenden Vater, der immer zur Vergebung bereit ist, wenn man zu ihm umkehrt.

Seltsamerweise waren Mama und sie daraufhin andauernd aneinandergeraten – manchmal reichte schon eine Kleinigkeit –, und eines Tages im letzten Mai hatte Julia sie erwischt, wie sie unter der Linde stand, eine der tausend parfümierten Blüten in der Hand. Johanna wurde rot bei der Erinnerung. Es hatte richtig Streit gegeben, mit Geschrei und Tränen. Leider hatte es mit der Reise in die andere Welt nicht geklappt. Leider? Mama hat Angst gehabt, mich zu verlieren. Dabei habe ich mir doch nur gewünscht, Jan wiederzutreffen. Wie schön wäre es gewesen, ihm erzählen zu können, dass ich nun weiß, was er meinte, dachte sie. Simon hatte zwischen den beiden Streithennen vermittelt. Mama und sie lebten bis heute gut mit den ausgehandelten Absprachen. Schon waren Johannas Gedanken einmal im Kreis herum und wieder bei Herrn Isken angelangt, da hörte sie den Schlüssel im Schloss. Kurz darauf sah Johanna ihrer Mutter zufrieden zu, wie sie in das Butterbrot biss.

„Mhm. Lecker“, schwärmte Julia und kaute genüsslich.

Sie sah müde, aber friedlich aus und erzählte sogar lustige Geschichten von der Arbeit und den Patienten. Doch irgendwie hatte Johanna das Gefühl, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Mamas Augen wanderten immer wieder hinaus in den Garten, der im Mondlicht lag. Der Abendnebel hatte die Linde mit einem milchigen Zuckerguss überzogen. Der Duft war verweht.

„Wochenende“, hörte sie ihre Mutter schließlich sagen. „Ein ganzes freies Wochenende! Was fangen wir bloß damit an, nachdem wir morgen ausgeschlafen haben?“

„Ja, was nur? Es gibt nichts mehr zu renovieren, und bei Oma und Opa waren wir erst grade“, antwortete Johanna lachend, doch ihre Mutter lachte nicht mit.

Frau Müller starrte auf die in Mondlicht getauchte Linde, als hätte der Baum sie hypnotisiert. Johanna setzte sich aufrecht hin.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“, fragte sie ihre Mutter.

„Und wenn doch?“, fragte Julia zurück.

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte ihrer Tochter genau in die Augen. Wie blau sie sind! Genau wie die ihres Vaters, dachte sie.

„Du willst abhauen.“ Johanna klang überrascht und empört. „Ich fasse es nicht, meine Mutter will flüchten!“

„Na und? Vielleicht brauche ich eine Auszeit.“

War da ein kleines Lächeln auf Mamas Lippen?

„Ein Urlaub am Donnerfelsen? Super! Da bin ich auf jeden Fall dabei“, sagte Johanna.

Ja, Mama lächelte. Aber in ihren Augen las Johanna keine Vorfreude auf Erholung, sondern Neugier und Abenteuerlust. Von wegen Urlaub!

„Sonst würde ich es auch nicht versuchen“, gestand ihre Mutter, und ihr Blick wurde weich. „Ich könnte dich nicht allein lassen. Auch wenn die Zeit dort schneller vergeht und ich vielleicht nicht lange weg wäre.“

„Was ist, wenn es nicht mehr klappt?“, überlegte Johanna.

„So wie letztes Jahr? Vielleicht war es einfach nicht der richtige Zeitpunkt oder nicht die richtige Blüte“, wischte Julia den Einwand vom Tisch. „Zum Glück!“

„Sag bloß, du überlegst das schon länger?“, hakte Johanna nach, um das letzte Frühjahr schnell wieder zu vergessen. „Warum … jetzt auf einmal?“

„Ich gebe zu, dass mich die Vorstellung schon länger reizt.“

Johanna lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„So abenteuerlustig kenne ich dich gar nicht.“

Julia wurde ernst.

„Nein, meistens wollen Mütter vor allem ihre Kinder beschützen. Da mag man keine Abenteuer. Aber jetzt …“

„Bin ich etwa kein Kind mehr?“, fragte Johanna.

„Das waren deine Worte gestern, oder?“

„Ich habe nur gesagt, dass ich kein Baby mehr bin“, widersprach Johanna entrüstet.

Langsam machte ihr Mamas Blick Angst. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Frau Müller lächelte beruhigend.

„Mein Kind bleibst du natürlich immer. Aber ich habe über deine Worte gestern nachgedacht. Es stimmt schon. Du wirst erwachsen, übernimmst immer mehr Verantwortung, und da ändert sich manches – auch für mich.“

Das Gespräch gefiel Johanna plötzlich gar nicht mehr. Verantwortung? Das klang ihr nun doch zu erwachsen.

„Meiner fast erwachsenen Tochter darf ich verraten, dass ich auch manchmal kindische und verrückte Ideen habe.“ Frau Müller hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, als verrate sie ein echtes Geheimnis. „Aber wenn ich eine solche Idee umsetze, dann möchte ich so gut wie möglich auf mein Abenteuer vorbereitet sein. Das hier muss mit …“

Entschlossen hob sie ihren Rucksack, den sie immer mit zur Arbeit nahm, vom Boden hoch. Sie öffnete ihn und nahm ein Heft und einen Kugelschreiber heraus. Dann schlug sie das Heft auf und begann vorzulesen:

„Vitamine, Medikamente inklusive Antibiotika, gut sortierte Erste-Hilfe-Tasche mit Verbandszeug, Einwegskalpellen, Nadel, Faden und Desinfektionsmittel. Kompass, Höhenmesser und Taschenlampe, Taschenmesser oder besser Multitool sowie ein Rettungsarmband mit Pfeife. Tagebuch, Bleistift und Anspitzer. Fehlt nur noch ein Buch mit Tipps zum Überleben in der Wildnis.“

Johanna schluckte und blickte auf die sorgfältig geschriebene Liste.

„Ich möchte diese Welt kennenlernen, ohne uns unnötig in Gefahr zu bringen“, erklärte Julia und blätterte eine Seite um. „Rucksäcke, Trekkingschuhe, wasserfeste Jacken, Trinkflaschen, Badeanzug, Sonnenkappen und Sonnenmilch sowie Schrittzähler und frische Unterwäsche“, fuhr sie fort.

Frische Unterwäsche? Das war wieder typisch Mama. Gott sei Dank! Frau Müller blätterte eine weitere Seite um. Es folgten Listen mit Dingen, die zu Hause und im Garten noch erledigt werden mussten, ehe sie das Haus verlassen konnte. Nur den letzten Eintrag las sie nicht vor. Abschiedsbriefe verfassen stand dort.

Am nächsten Morgen weckte die Sonne Johanna. Diese blinzelte und versuchte, die Augen zu öffnen. Aus der Küche kam leises Geschirrklappern, Mama werkelte schon. Da schepperte es! Ein Topf war auf die Fliesen geknallt. Mama schimpfte. Schlagartig war Johanna wach, und ebenso plötzlich fiel ihr Mamas Sinneswandel wieder ein. Unfassbar! Erst hatte ihre Mutter nicht einmal an den Donnerfelsen geglaubt, dann wollte sie ihre Tochter auf keinen Fall noch einmal dorthin lassen, und jetzt? Jetzt musste sie plötzlich selbst dort hin. Verstehe einer die Erwachsenen … Johanna schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett.

Als sie zum Frühstück erschien, fiel ihr Blick zuerst auf die Küchenbank. Fast alles, was Julia gestern Abend vorgelesen hatte, war dort schon säuberlich aufgestapelt. Zwei Wanderrucksäcke standen nebeneinander auf dem Boden. Mama hatte sie mit ihren Goretex-Jacken zugedeckt.

„Guten Morgen“, grüßte Julia gut gelaunt.

Der verbeulte Topf stand auf der Arbeitsplatte und schien nichts an ihrer guten Laune ändern zu können. Johanna setzte sich auf einen Küchenstuhl und griff nach dem Müsli.

„Morgen, Mama. Du scheinst es ja eilig zu haben.“

Sie warf einen Blick auf das Reisegepäck. Nach einem gemütlichen Samstagsfrühstück sah das nicht aus.

„Wenn schon, denn schon.“

Julia war die Ruhe selbst. Zufrieden blätterte sie in einem Buch.

„Hast du gar nicht geschlafen?“, fragte Johanna und schielte auf den Buchrücken. Überleben auch ohne Arzt, las sie leicht entsetzt, sagte aber nichts, sondern rührte fleißig in ihrem Müsli.

„Doch, aber erst nach Mitternacht, ich war einfach noch zu wach.“

Johanna schob sich einen Löffel Milch mit Körnern in den Mund. Als sie den Blick hob, entdeckte sie zwei Briefumschläge auf dem Tisch. Einer war an Oma und Opa adressiert, der andere trug Simons Namen. Das Müsli quetschte sich die Speiseröhre hinunter. Sie spülte mit Orangensaft nach.

„Die sind nur für den Notfall“, erklärte Julia ungefragt. „Wenn du es dir anders überlegt hast, brauchst du es nur zu sagen. Dann bleiben wir hier.“

Johanna schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, auf keinen Fall, ich bin dabei“, versicherte sie und tauchte den Löffel zum zweiten Mal in ihr Müsli. „Nur, was du so einpackst, ist gruselig. Glaubst du nicht, dass das etwas übertrieben ist? Wir gehen doch nicht nach Afrika. Ich habe nichts davon dabeigehabt.“

Entschlossen schluckte sie und schob direkt noch zwei Löffel hinterher.

„Oh, Afrika ist nicht so unbekannt wie dein Donnerfelsen“, stellte Mama ruhig fest. „Und du hattest auch nicht geplant, die Welten zu wechseln. Für dich kam alles überraschend. Wenn man die Chance hat, sich auf eine Veränderung vorzubereiten, wäre es dumm, sie nicht zu nutzen.“

Johanna nickte mechanisch. Noch nie war ihr Müsli so trocken gewesen. Sie schüttete Milch nach, aß und aß und schmeckte nichts.

„Wer weiß, was uns erwartet?“, redete Mama weiter. „Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Da kann viel passieren. Schaffst du es, bis viertel vor eins fertig zu packen?“

„Ja, klar“, sagte Johanna und schob das Müslischälchen von sich.

Irgendwie war es doch leer geworden. Zufrieden mit der Antwort griff Julia nach der Gießkanne, und begann, alle Blumen zu gießen. Danach fing sie an, die Küche in Ordnung zu bringen.

Johanna ging in ihr Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Ratlos stand sie einen Moment davor. Die Auswahl war einfach zu groß! Aber sie musste sich beeilen. Also entschied sie sich für eine robuste Jeans. Eine kurze Hose wanderte ebenfalls in den Rucksack. Dazu steckte sie zwei Tops, zwei T-Shirts und einen warmen Fleece-Pullover. Grinsend griff sie nach ihrer Unterwäsche und den Socken. Julia wirbelte derweil durch das Haus und holte zum Schluss die Trekkingschuhe aus dem Keller. Johanna probierte sie an. Sie passten noch. Ungeduldig sah Frau Müller auf die Uhr.

„Es wird Zeit“, sagte sie. „Ich möchte unserem Nachbarn jetzt nicht über den Weg laufen.“

Um eins wollte Simon vorbeikommen und den Haustürschlüssel zurückbringen, den sie ihm überlassen hatte. Mit Genugtuung dachte Julia daran, dass Herr Isken noch ein letztes Mal ins Haus hineinkonnte. Der Brief auf dem Küchentisch würde ihm hoffentlich direkt ins Auge springen, und er wüsste Bescheid, aber dann wäre es zu spät. Sie wären schon fort. Bei dem Gedanken lächelte sie.

„Ich bin fertig mit Packen“, verkündete Johanna.

Sie steckte ihre volle Trinkflasche in die rechte Außentasche und hob den Rucksack prüfend an. Wider Erwarten war er gar nicht so schwer, und es hatte tatsächlich noch alles hineingepasst, was Julia ihr zugeteilt hatte. Mit klopfendem Herzen sah sie zu ihrer Mutter. Die erwiderte ihren Blick. Schon wieder hatte sie diese abenteuerlustigen Augen, die Johanna so neu waren. Jung sahen sie aus, nicht mehr alt vor Sorge, wie so oft. Wurden Erwachsene etwa wieder zu Kindern, wenn ihre Kinder erwachsen wurden?

„Bist du ganz sicher?“, fragte Mama vorsichtshalber noch einmal.

„Jepp“, meinte Johanna, nickte und verschob den Gedanken ans Erwachsenwerden auf später.

„Dann nichts wie weg hier!“

Frau Müller ging hinunter in den Flur. Ihre Tochter folgte ihr. Die Terrassentür war sorgsam verriegelt. Schließlich wollten sie keine Einbrecher einladen. Johanna ging vor und öffnete die Haustür. Frau Müller schloss hinter sich ab. Schweigend schlenderten sie gemeinsam zur Linde, blieben kurz vor dem Stamm stehen und legten gleichzeitig den Kopf in den Nacken, um in die Zweige sehen zu können. Ihre Hände fanden sich blind. Ein Windstoß und ein paar Blüten regneten auf Mutter und Tochter herab. Immer noch sah keine die andere an. Beide hatten die Augen geschlossen und atmeten den Duft der vielen tausend Lindenblüten ein. Sein Parfüm schlüpfte durch die Nasenlöcher, verteilte sich in der Lunge und betörte ihre Sinne. Plötzlich rochen sie die Süße nicht nur, sondern schmeckten sie wie Zucker auf der Zunge.

Simon Isken kam zehn Minuten zu früh über die Straße. Auf dem Bürgersteig angelangt verzögerte er den Schritt und starrte auf den geliehenen Haustürschlüssel in seiner Hand. Dann hob er den Kopf und ging entschlossen auf den Zaun zu. Der Zollbeamte wunderte sich nur kurz, als er die beiden Müller-Frauen mit Rucksäcken beladen unter dem mächtigen Lindenbaum stehen sah. Schon im nächsten Augenblick war ihm klar, was geschehen würde. Er wusste es, noch bevor sie verschwanden, und die Erkenntnis versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube.

„Julia!“, rief er empört und gleich darauf ängstlich: „Johanna!“

Dann sprang er hastig über den niedrigen Zaun. Er hatte nur ganz kurz nach unten geguckt, um die Höhe richtig einzuschätzen, aber als er seinen Blick wieder hob, war der Garten schon leer. Er stoppte und stolperte. Sie hatten es tatsächlich getan! Das darf doch nicht wahr sein, stöhnte er innerlich und hob hilflos die Arme, diese Verrückte! Entgeistert starrte er auf den dicken Stamm. Ein paar Minuten blieb er kopfschüttelnd stehen und hoffte wider besseres Wissen, dass die beiden wieder auftauchten. Dann ließ er die Hände sinken, wischte sich über die Augen und ging mit schleppenden Schritten zur Haustür. Doch als er den Schlüssel gerade in den Briefkasten werfen wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne und entschied sich, noch einmal in das Haus zu gehen.

„Vielleicht gibt es eine Erklärung“, murmelte er und steckte den Schlüssel in das Schloss.

Er ließ sich ganz leicht drehen. Simon gab der Tür einen leichten Schubs, und sie schwang auf. Langsam betrat der Zollbeamte das Haus der Müller-Frauen. Es war so still wie auf dem Friedhof. Grabesstille. Ihm wurde kalt.

„Unsinn“, ermahnte er sich selbst, durchschritt entschlossen den Flur und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Auf den ersten Blick wirkte alles wie immer. Doch der zweite ließ das Haus etwas zu ordentlich und aufgeräumt erscheinen, so als wären Mutter und Tochter in Urlaub gefahren und hätten absichtlich jedes Lebenszeichen verwischt. Das sah Julia ähnlich! Simon ging ins Wohnzimmer. Es dauerte nicht lange, da hatten die geübten Augen des Ermittlungsbeamten zwei Handys und die Nachricht auf dem Tisch entdeckt. Er griff nach dem Brief, der seinen Namen trug. Seine Hände zitterten, als er ihn öffnete. Simon setzte sich, faltete den Bogen auseinander und zwang sich, langsam zu lesen, obwohl seine Augen bei der Suche nach einer Erklärung über die Worte fliegen wollten. Als er sie gefunden hatte, wich alle Farbe aus seinem Gesicht, und er starrte eine Weile auf die Zeile. Als er schließlich am Ende des Briefes angekommen war, faltete Simon stumm die Hände und ließ sich auf die Knie gleiten.

„Oh Gott“, stöhnte er mit geschlossenen Augen. „Das habe ich doch nicht gewollt!“

3

„… der kommt darin um.“

Sirach 3, Vers 271

Wie aus weiter Ferne hörte Johanna ihren Namen. War das Simons Stimme? Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, und sie fasste die Hand ihrer Mutter fester. Was tue ich hier? Der Boden unter ihren Füßen bebte und schwankte wie das Deck der Seekatze auf den Wellen. Simons Stimme schwieg. Oder ging sie nur in dem tosenden Lärm unter, der sie auf einmal umgab? Dieser Krach war so gnadenlos wie ein Diktator. Er ließ nichts anderes gelten als sein eigenes Wort. Es donnerte, hallte und schepperte so laut und nah, dass es wehtat. Am liebsten hätte sich Johanna die Ohren zugehalten, aber Mamas Hand hatte sich in der ihren verkrallt und wollte sie nicht loslassen. Kaltes Wasser peitschte in Johannas ungeschütztes Gesicht. Sie schrie, aber der Schrei wurde vom wütenden Sturm fortgerissen. Im Nu war sie bis auf die Haut durchnässt. Wie dumm, dass sie die Goretex-Jacke nicht angezogen, sondern in den Rucksack gestopft hatte. Johanna begann, vor Kälte zu zittern. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber ohne den Schutz ihrer Hände war das unmöglich.

„Mama! Lass meine Hand los!“, brüllte sie gegen den brausenden Wind. „Lass … meine … Hand … los!!“

Es dauerte, bis Julia reagierte. Dann fühlte Johanna, dass ihre Rechte freigegeben wurde. Sie hob sie an die Stirn und blinzelte in ein gigantisches Gewitter. Dicke grauschwarze Wolken hatten sich zusammengeballt zu einer düsteren Decke, die sich anschickte, alles zu ersticken oder zu ertränken, was sich unter ihr befand. Dunkelheit und Kälte griffen nach den Müller-Frauen, umklammerten sie und pressten ihnen die Lunge zusammen, so als seien sie zu tief unter Wasser getaucht. Johanna rang nach Luft. Sie hätte nicht sagen können, ob es Tag oder Nacht war, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Instinktiv duckte sie sich und zog ihre Mutter mit hinunter in die Hocke, als riesige Blitze den Himmel zerrissen. Ihre Ausläufer zuckten in alle Richtungen, wanden sich wie feurige Schlangen und leuchteten alles taghell aus. Beide Frauen rissen die Augen weit auf. Sie waren tatsächlich am Donnerfelsen!

Aber es war nicht der Donnerfelsen, den Johanna kannte. Die Landschaft, in der sie ängstlich hockten, glich eher der Kulisse eines Katastrophenfilms. Ein dramatisches Schauspiel in 3-D: entwurzelte, brennende Bäume, umherfliegende Äste und Sträucher, Krater im Boden, umherwirbelnde Erdklumpen und in der Ferne eine entfesselt wütende, tobende und brüllende See. Leider fühlte sich der Film sehr real an. Er zerrte an Kleidern und Haaren, goss ihnen eimerweise Wasser über den Kopf und schwemmte auch den letzten Rest des Lindenparfüms fort. Die Müller-Frauen mussten mitspielen, auch wenn sie sich nicht für eine Rolle in diesem Drama beworben hatten.

Die Sonne versuchte kurz, durch die Wolken zu dringen, doch sie ließ den Regenvorhang nur wie eine weiße Wasserwand erscheinen, die an ihren Rändern in einen geisterhaften Nebel verschwamm. Und schon ging der Scheinwerfer am Himmel wieder aus. Der grausame Filmausschnitt verschwand. Jemand hatte den Stecker gezogen, die Leinwand wurde schwarz. Johanna und Julia warfen sich zu Boden und bedeckten ihre Köpfe mit den Armen. Als der Boden unter ihnen erneut im Donner erzitterte, rutschten sie im Schlamm eng aneinander. Johanna schmeckte Erde im Mund, Sand rieb ihr auf der Zunge und knirschte zwischen den Zähnen. Was ist hier los? Was in aller Welt ist hier los?! Sie begann laut zu beten, ohne es zu wissen. Was hatten sie getan?!

Wieder ein Blitz, gefolgt von einem dunklen, lauten Knall, der die Ohren klingeln und den Schädel vibrieren ließ. Dann knirschte es direkt hinter Johanna. Das Geräusch drang ihr durch Mark und Bein. Es klang, als würde einem Riesen ein Zahn gezogen. Zu dem Knirschen gesellte sich ein Knistern und Prasseln, rötliches Licht drang durch ihre geschlossenen Lider. Johanna hob den schweren Kopf und zwang sich, die Augen zu öffnen … Da sah sie hinter sich die Linde. Ihre Linde – sie brannte! Entsetzt starrte Johanna auf das Feuer, das in dem strömenden Regen so fehl am Platz wirkte wie ein Eiswürfel in der Wüste. Und auch wenn sich seine Wärme alle Mühe gab, ihre Haut zu streicheln, spürte sie nichts davon. Von Angst und Kälte betäubt beobachtete sie das anscheinend wasserfeste Feuer, das sich direkt hinter ihnen rasend schnell durch das wehrlose Holz fraß. Der Baum stöhnte und ächzte, als hätte er Schmerzen. Dann schwankte er wie von Geisterhand bewegt. Da begriff Johanna.

„Mama!“, schrie sie und rüttelte ihre Mutter.

Julia guckte hoch und sprang sofort auf. Panisch riss sie Johanna am Rucksack in die Höhe und zerrte sie hinter sich her zur Seite. Nur weg von dem stürzenden Baum, der sie erschlagen würde, wenn sie nicht schnell genug die Flucht ergriffen. Keuchend und stolpernd brachten sich die beiden in Sicherheit. Eine Sekunde später fiel die Linde krachend zu Boden und warf im Todeskampf mit Schlamm um sich. Nur ihr brennender Stumpf blieb senkrecht stehen wie eine Fackel mit Wurzeln.

„Das war knapp“, stöhnte Julia und wollte sich die feuchte Erde aus dem Gesicht wischen. Doch ihre Hände waren noch schmutziger, und so machte sie alles nur schlimmer. Johannas Mutter starrte auf ihre Finger und lachte unsinnig.

„Seid ihr verrückt geworden? Was macht ihr hier?“, hörten sie eine empörte Stimme ganz in der Nähe.

Hinter dem lodernden Baumstumpf kam ein junger Mann hervor. Dann sprang er über einen tiefen Spalt im Boden zu ihnen herüber, und sie erkannten Jan.

„Müsst ihr ausgerechnet heute ankommen?“ Schimpfend zog er Johanna und Julia zu einer flachen Mulde im vom Unwetter gefolterten Boden. „Das ist kein guter Tag“, stieß Jan hervor und drückte Johanna unwirsch nach unten.

Julia hockte sich neben die beiden. Stumm und vor Kälte zitternd warteten sie zu dritt das Ende des Wütens ab. Langsam wurde es leiser, der Regen ließ nach. Dann verschwand der Spuk wie ein Geist in der Flasche und ließ die Erde in gespenstischer Ruhe zurück. Die Sintflut war vorbei, und das Feuer knisterte nicht mehr. Es war zu lautlosen Rauchfahnen erloschen. Der Qualm ließ die drei Zeugen des Weltuntergangs husten.

„Was war das denn?“

Erschöpft richtete sich Johanna auf. Unter der Schlammmaske war sie blass; die Kälte saß ihr in den Knochen. Jan half ihr und Julia auf die Füße. Ein lautloser, aber kräftiger Wind erhob sich in großer Höhe und wischte den Himmel sauber. Im Nu glänzte er wie eine blank geputzte Fensterscheibe und ließ die Sonne ihre Kraft ungehindert entfalten. Es wurde unangenehm heiß.

„Das? Keine Ahnung, aber es kommt in letzter Zeit öfter vor“, antwortete Jan. „Seit einigen Wochen spielt das Wetter verrückt. Eiseskälte, Hitze, Erdbeben und Gewitter wechseln sich ab. In den letzten Tagen gab es mehrere solcher Stürme, vor allem hier oben im Wäldchen. Flüsse versiegen, und eine tiefer gelegene, plötzlich versalzene Trinkwasserquelle macht uns große Sorgen. Auch das Meer ist unberechenbar geworden.“

Betroffen blickte er auf den toten Baum und seinen schmutzigen Grabschmuck aus verwelkten, schlammigen Blüten.

„Ihr müsst sofort zurück“, befahl Jan. „Vielleicht funktioniert es noch!“

Johannas logischer Verstand stimmte ihm ohne Zögern zu.

„Jan hat recht, Mama. Wir müssen es versuchen, jetzt gleich“, wandte sie sich an ihre Mutter.

Die nickte, blickte aber mit gerunzelter Stirn auf die Baumleiche. Johanna machte einen Schritt auf Jan zu. Ihr Lächeln konnte er vor lauter Schmutz nicht sehen. Doch er verstand die leise und feste Stimme genau.

„Jan, ich weiß endlich, was du mir damals sagen wolltest“, erklärte sie vorsichtig lächelnd. „Gott ist jetzt auch mein Vater.“

Johanna hatte erwartet, dass Jan diese Nachricht freuen würde, doch sein Gesicht zeigte keine Reaktion. Das wunderte Johanna, doch sie hatte keine Zeit nachzufragen, was das zu bedeuten hatte. Stattdessen musste sie sich so schnell wie möglich verabschieden. „Auf Wiedersehen“, sagte sie hastig, fiel Jan um den Hals und drückte ihn.

Jan schloss vorsichtig seine Arme um sie, hielt aber Abstand, als wollte er sich nicht schmutzig machen.

„Auf Wiedersehen“, wiederholte er mit belegter Stimme.

Verwirrt sah Johanna ihn an und griff nach der Hand ihrer Mutter. Die zog sie näher an den umgestürzten Baum. Gemeinsam sagten sie laut und deutlich ihren Wunsch:

„Wir möchten zurück nach Hause.“

Dann schlossen sie die Augen. Hinter den Augenlidern blieb es hell. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Das war alles. Johanna schlug die Augen auf, sah ihre Mutter an und wiederholte die Worte im Singular.

„Ich möchte zurück nach Hause.“ Nichts geschah. „Ins Rheinland, nach Remsig“, schob sie nach.

Immer noch nichts. Sie standen am selben Ort wie zuvor.

„Das habe ich mir gedacht.“ Julia gelang es, sachlich zu bleiben. „Wir sitzen hier fest.“

„Ihr sitzt hier fest“, bestätigte Jan tonlos.

„Na prima“, meinte Julia, und es klang, als verspottete sie sich selbst. „Das ist doch genau das, was ich wollte: deine Welt kennenlernen, Jan. Erwartet also nicht von mir, dass ich mich beschwere.“

Johannas Mutter massierte sich entschlossen die schlammigen Arme. Die getrocknete Dreckkruste platzte auf und bröckelte ab, wie bei Max und Moritz, nachdem man sie in Teig gebacken hatte. Frau Müller klopfte ihre Kleidung aus. Die Jugendlichen taten es ihr nach.

„Die Sonne ist wirklich heiß. Ich bin fast trocken“, sagte Johanna und sah sich gründlicher um.

Die Linde war nicht der einzige Baum, den das Gewitter gefällt hatte.

„Wir müssen in den Schatten. Setz deine Kappe auf“, wies Julia ihre Tochter an und kramte in ihrem Rucksack. „Einfache, logische und pragmatische Handlungen helfen, nicht in Panik zu geraten. Jedenfalls klappt das bei der Arbeit“, murmelte sie.

„Dann gehen wir am besten runter ins Dorf“, schlug Jan vor und setzte sich in Bewegung.

Johanna wandte sich noch einmal zu der Linde um.

„Der Baum ist tot. Wir müssen uns für den Rückweg wohl eine andere Linde suchen, oder?“

„Klingt vernünftig. Andere, noch lebende Linde suchen, eine einfache, logische Handlung“, sagte Julia.

Jan guckte skeptisch. Dann suchte er nach dem Pfad, der zum Donnerfelsen führte. Vor lauter Verwüstung war er kaum zu erkennen. Doch der fast erwachsene Junge war mit der Gegend vertraut und fand, was er suchte. Johanna reichte ihm ihre Wasserflasche. Dankbar nahm er einen großen Schluck. Das Mädchen trank ebenfalls, bevor die Flasche wieder im Rucksack verschwand. Dann folgten die Müller-Frauen ihrem Anführer. Sie kletterten vorsichtig über Baumstämme, umgingen Felsspalten und schwitzten stark in der glühenden Hitze. Irgendwann wurde der Boden sandig, und die Dünen kamen in Sicht. Johanna erkannte die Landschaft allmählich wieder, denn hier war die Zerstörung nicht so sichtbar wie oben im Wäldchen. Ein leicht salziger Wind wehte ihnen entgegen, bemüht, die geröteten Gesichter zu kühlen. Doch er hätte sich die Mühe sparen können. Auf diesem Stück des Weges verschmolzen die heißen Sonnenstrahlen mit der Hitze, die vom Sandboden aufstieg, zu einer Glut, in der man Spiegeleier hätte braten können. Die drei Menschen wanderten durch einen riesigen Backofen. Wenn sie nicht bei lebendigem Leib gegart werden wollten, durften sie nicht lange stehen bleiben. So gingen sie langsam, aber ohne Pause weiter. Nach zehn endlosen Minuten konnten sie schließlich in die Bucht hineinsehen, und nun hielt Johanna doch an.

„Das ist das Dorf am Donnerfelsen?“, rief sie überrascht. „Wahnsinn! Das ist ja zu einer Stadt geworden.“

Die vielen Häuser waren nicht nur größer und höher als in ihrer Erinnerung, sondern auch weiter in die Dünen hineingebaut. Das Mädchen ließ den Blick kurz schweifen. Auch oben auf dem Felsen mit den geheimen Gärten schmiegten sich neue Gebäude aneinander. Sie waren dicht an den Abgrund gebaut. „Na, so etwas“, sagte sie verwundert. Doch Jan drängte weiter.

„Komm! Das kannst du dir auch von unten noch angucken.“

Johanna setzte sich wieder in Bewegung, und bald darauf erkannte sie ein paar Details der Häuser. Sie trugen Schilder. Jan bemerkte ihren erstaunten Blick.

„Jetzt können die meisten von uns lesen. Wir haben eine Schule und Lehrer, die anderen das Lesen und so beibringen“, erklärte er mürrisch, obwohl er sich doch eigentlich für die Kinder hier hätte freuen müssen.

„Das nenne ich raschen Fortschritt“, lobte Julia.

Doch Jan, der heute offenbar so störrisch wie ein Esel sein wollte, schwieg wieder und lief weiter.

Erst als sie den rettenden Schatten der ersten Häuser erreicht hatten, hielten sie noch einmal an, um zu trinken. Johanna sah sich um. Hier war sie mit Sicherheit noch nie gewesen. Das musste so eine Art Neubauviertel sein. Auch der Weg, den Jan jetzt einschlug, war ihr unbekannt. Er führte direkt auf ein Gebäude zu, das wie eine einfache Kirche aussah. Wie verzaubert blieb Johanna in ihrem Schatten stehen. Das große Haus war wunderschön und machte einen so sauberen Eindruck, als hätte der Sturm es gewaschen. Die Holzwände waren hell getüncht, und ein strahlend weißer Zaun umgab das Grundstück. Was für ein Kontrast zu dem verwüsteten Wald oben, nur ein paar Minuten entfernt. Am Eingang des Hauses wuchsen ordentlich geschnittene schneeweiße Rosen. Kein einziges Blütenblatt lag auf dem Boden. Entweder hatte es hier unten nicht gewittert, oder fleißige Hände hatten bereits alle Spuren der Naturgewalt beseitigt.

„Altfelsler“, las das Mädchen laut vor.

Der Name stand in goldgelben, gestochen scharfen Buchstaben über der Tür des Gebäudes. Verwundert wandte sie sich zu Jan um. Was ist das?, fragten ihre Augen, doch Jan antwortete nicht. Er stapfte vorwärts, als hätte er die unausgesprochene Frage nicht gesehen, und Johanna richtete den Blick wieder nach vorn. So bemerkte sie das grau gekleidete Mädchen mit dem Kopftuch nicht. Es hielt einen Eimer Farbe in der Hand und strich den Zaun hinter dem Gebäude, obwohl er bereits perfekt gestrichen war. Jan hatte das graue Wesen gesehen und wusste sogar, wie es hieß. Ihr Name lautete Dora, und sie war Melfs und Olgas Tochter. Trotzdem eilte er grußlos an ihr vorüber.

Das nächste Haus in der Straße sah aus wie die Villa Kunterbunt von Pipi Langstrumpf. „Neufelsler“ stand über dem Eingang. Jeder Buchstabe hatte seine eigene Farbe, und die Schrift war lustig geschwungen. Durch die verschlossene Tür kam eindeutig ein Geruch nach Zigaretten- oder Zigarrenrauch. Mit schnellen Schritten hastete Jan auch daran vorbei. Johanna rannte hinter ihm her und holte ihn in Höhe eines weiteren, sehr protzig wirkenden Baus ein, aus dem laute Musik klang. Es war das höchste Gebäude hier, hatte mehrere Stockwerke und trug die Aufschrift „WUNDERFELSLER“. Diesmal waren die Buchstaben riesig groß und schienen zu tanzen. Das Mädchen fasste Jan am Ärmel.

„Was ist denn los? Was ist das hier für eine Straße?“, fragte sie nun laut und deutlich.

„Da kommst du bestimmt von selber drauf.“

Der Junge riss sich los und stapfte vorwärts. Missmutig zeigte er auf ein weiteres Gebäude. Es sah aus wie ein ganz normales Wohnhaus, hatte aber bunte Fensterscheiben, und auf die naturbelassene Holzfront war ein Felsen gemalt. Über ihm stand das Wort „Donnerfelsler“ in derselben Schrift wie in Jans alter Lutherbibel.

„Hier gehen wir sonntags hin. Emily, Hein, Mama und ich.“

Mit diesen Worten ließ der große Junge Johanna erneut stehen und lief zügig auf das Ende der Straße zu. Dort stand das einzige Steinhaus in dieser Häuserreihe. Es war aus Natursteinen errichtet und von Obstbäumen und Gemüsebeeten umgeben. Das Mädchen ging nun langsamer, damit Julia sie einholen konnte. Dieses letzte Haus war noch schöner als das erste, weiß getünchte Holzhaus. Es wirkte wie eine sichere Burg.

„Dieses Haus gefällt mir am besten!“, rief sie Jan nach.

„Ach ja?!“, schrie der zurück. „Das glaube ich kaum. Die, die sich da drin treffen, glauben nämlich nur noch an sich selbst. Gott ist für sie tot.“

Johannas Augenbrauen rutschten in die Höhe. Durcheinander, aber immer noch neugierig, las sie die in den Stein gravierten, kunstvoll mit roter Farbe ausgemalten Großbuchstaben langsam und laut vor: „FREIFELSLER.“ Ihre Mutter trat kopfschüttelnd neben sie.

„Das ist eine Straße voller Kirchen“, stellte Julia fest. „Wofür brauchen sie in einem einzigen Dorf bloß so viele davon?“

1Vielleicht wundert ihr euch über die seltsame Kapitelüberschrift. Das Buch „Sirach“ ist sehr wahrscheinlich in eurer Bibel nicht enthalten. Es gehört zu den sogenannten Apokryphen. Dieses fremde Wort kommt aus dem Griechischen und heißt auf Deutsch so viel wie „dunkel“. Apokryphen nennt man die alten Bücher, die sich auf die Bibel beziehen und auch so ähnlich formuliert sind. Sie entstanden erst einige oder mehrere Jahrhunderte nach Christus und gehören nicht zu Gottes Wort. Trotzdem sind manche davon interessant zu lesen.

4

„Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit.“

Prediger, Kapitel 3, Vers 7b

„Johanna!“ Der rothaarige, einäugige Mann rief überrascht ihren Namen, als sie hinter Jan über die Schwelle des kleinen Häuschens trat. „Was bist du groß geworden!“

Das war einer der Lieblingssprüche der Erwachsenen in Johannas Welt. Offenbar war er auch am Donnerfelsen gebräuchlich. Heins Sommersprossen hüpften vor Wiedersehensfreude.

„Ah!“, quietschte ein etwa zehnjähriges blondgelocktes Mädchen. Es war Emily, und sie ließ vor lauter Überraschung den Besen los, den sie gerade benutzt hatte.

„Hein, ich bin zurück“, verkündete Johanna, obwohl das jeder hier sehen konnte. Dann warf sie sich in Heins ausgebreitete Arme. Er fing sie auf, wirbelte sie herum und drückte sie fest.

„Was du nicht sagst!“, rief der ehemalige Smutje der Seekatze.

Er schob Johanna von sich, und sofort hing Emily an ihrem Hals. Lachend und weinend zugleich hielten sich die Mädchen in den Armen.

„Und wen hast du uns mitgebracht? Wenn das nicht deine Mutter ist, dann fresse ich … einen Besen.“ Mit diesen Worten hob Hein denselben vom Boden auf.

Julia hatte die Tür hinter sich geschlossen und beobachtete die Begrüßungsszene verlegen. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Einrichtung, die genauso aussah, wie Johanna und Jan sie beschrieben hatten. Nur eine Holzbank ohne Rückenlehne stand neu mit am Tisch. Vielleicht hatte Hein sie geschreinert. Dafür fehlten zwei der vier Stühle.

„Du meine Güte, Ihre Tochter ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten“, behauptete Hein und stellte den Besen in die Ecke.

„Danke. Aber einfach Julia und ‚du‘ genügt“, bat Frau Müller. „Wir wollen nicht alles noch schwieriger machen, als es ist.“ Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und schüttelte sie. „Hein, wie ich hörte.“

„Und ich bin Anna.“

Eine kleine, schlanke Frau kam durch die Hintertür ins Haus. Sie hatte draußen Wäsche aufgehängt und die Besucher gehört. Heute war ihr glattes blondes Haar zum Dutt aufgesteckt, und sie trug einen schon etwas älteren Säugling auf dem Arm. Julia erwiderte auch ihren festen und kräftigen Händedruck.

„Oh, Anna, ihr habt ein Baby!“, rief Johanna begeistert und begrüßte Heins Frau mit einem Kuss auf die Wange. „Wie süß!“

Anna drückte Johanna mit einem Arm und zog sie an sich.

„Willst du Sönken mal halten?“, fragte sie. Dann übergab sie dem Mädchen ihren Sohn, ohne eine Antwort abzuwarten, streifte sich dicke Handschuhe über und wandte sich dem Ofen zu. „Ihr kommt gerade rechtzeitig. Es gibt Honigkuchen.“

Erst jetzt, als Anna die Ofenklappe öffnete, bemerkte Johanna den Duft. Gierig sog sie ihn durch die Nasenlöcher ein, als könnte allein das würzige Aroma satt machen. Das ganze Zimmer duftete nach Honig, Zimt und Nelken, Anis und Kardamom wie auf einem gut bestückten Weihnachtsmarkt. Stumm holte Jan ein paar Teller und Tassen aus dem Regal. Emily setzte Wasser für den Tee auf. Sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Das heißt, auf ihrem Gesicht befand sich ein sehr nettes und breites Dauerlächeln.

„Gibt es bei euch etwas zu feiern?“, fragte Johanna und setzte sich mit Sönken an den Tisch.

Der kleine Junge sah interessiert auf ihre Haare und griff in eine ihrer langen braunen Strähnen. Niemand antwortete. Johanna lächelte das Baby noch ein bisschen an. Dann hob sie den Blick und sah Jans Stiefvater neugierig ins Gesicht. Hein räusperte sich.

„Zu feiern? Äh, nein, Johanna. Nicht wirklich, aber das ist eine längere Geschichte“, begann er ernst.

„Das macht nichts“, antwortete das Mädchen und befreite ihr Haar aus der Babyfaust. „Ich glaube, wir haben genug Zeit. Die Zauberlinde oben im Wäldchen ist vom Blitz getroffen worden und hat Feuer gefangen. Sie ist umgestürzt und fast vollständig verbrannt.“

Johanna verschwieg, dass der Baum sie fast erschlagen hätte. Jans Schwester war auch so schon weiß genug um die Nase. Das Baby fing an zu weinen, weil es keine Haare mehr zu fassen bekam. Emily nahm Johanna ihren kleinen Bruder ab und wiegte ihn auf ihren Armen. Es war schwer zu sagen, ob sie ihn beruhigte oder er sie. Schließlich hörte Sönken auf zu weinen und streckte seine kleinen Finger nach ihren blonden Locken aus.

„Ist das wahr?“, wandte sich Emily an Johanna.

„Warum sollte sie lügen?“ Jan klang genervt und sah seine Schwester an, als hätte sie gefragt, ob Wasser nass sei. Anna zog missbilligend die Augenbrauen hoch. „Was?“, fragte Jan und kniff die Augen zusammen. „Natürlich ist es wahr. Der Rückweg ist versperrt.“

„Zumindest dieser“, bestätigte Johanna.

„Ich bin schuld“, seufzte Julia und setzte sich auf die Bank ohne Lehne. „Ich wollte den Donnerfelsen kennenlernen.“

„Wir konnten beide nicht wissen, dass so etwas passieren würde, Mama“, sagte Johanna und quetschte sich neben sie.

Diese schlechte Nachricht mussten Hein und Anna erst einmal verdauen, und so war es eine ganze Weile still in dem kleinen Häuschen. Als ungebetener Gast saß die Ratlosigkeit mit am Tisch und machte sich ziemlich breit. Irgendwann kletterte Jan auf den Dachboden und holte noch einen Stuhl herunter, auf dem er selbst Platz nahm. Als die Butter auf dem Tisch stand und der Tee in der Kanne zog, setzte sich auch Anna endlich hin. Sie neigte den Kopf, und ihr Mann sprach ein kurzes Gebet. Die Mahlzeit begann schweigend.

Dann, nachdem der erste Hunger gestillt war, begannen doch plötzlich alle zu reden. Erst langsam und leise, dann immer lauter und schneller. Es wurde ein langes Gespräch, denn die Menschen am Tisch hatten eine Menge zu besprechen. Ihr wisst bestimmt selbst, wie das ist, wenn man seine beste Freundin nach den Sommerferien zum ersten Mal wiedertrifft. Was haben Mädchen oder auch Jungs da alles zu bereden! So viel, dass die Pausen am ersten und zweiten Schultag meistens gar nicht ausreichen, oder? Und nun stellt euch vor, ihr hättet eure Freunde nicht nur sechs Wochen, sondern vier ganze Jahre nicht gesehen und keine sozialen Medien, kein Telefon, nicht einmal die Post zur Verfügung gehabt.