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Unversehens findet Jan sich im Rheinland wieder. Auch in der Welt zwischen Bonn und Koblenz gibt es Menschen, vor denen man sich besser in Acht nimmt. Es könnte sein, dass der Antiquitätenhändler Pietro Barilotto dazugehört. Während Johanna und Jan das herausfinden, müssen sie nicht nur Johannas Mutter davon überzeugen, dass es den Donnerfelsen wirklich gibt, sondern auch noch einem Bücherdieb hinterherjagen. Dabei wollte Jan Johanna eigentlich nur erzählen, wen er in seiner Heimat kennengelernt hat. Im zweiten Band der Donnerfelsen-Trilogie stoßen moderne Menschen auf eine uralte Botschaft, die in Vergessenheit geraten und in den Bereich der Fabeln verbannt worden ist. Kann Wahrheit altern und zur Lüge werden? Und was wäre, wenn es bei dieser Wahrheit nicht um eine Sache, sondern um eine Person ginge? Würdest du dieser Person vertrauen?
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Petra Schwarzkopf
Der Donnerfelsen: Jans Buch
Band 2
Best.-Nr. 275516 (E-Book)
ISBN 978-3-98963-516-6 (E-Book)
1. Auflage (CV) (E-Book)
© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg
Alle Bibelverse wurden zitiert nach:
Luther 1912
Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss genehmigten Text (1912) © der digitalen Ausgabe1999, 2018 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart
Luther 1545
Biblia Germanica, Die Bibel in der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Ausgabe letzter Hand, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.
Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Umschlagmotive: Deutsches Eck: © Pixabay.com/mobasoft24,
Pistole: © Canva Pro/Vectortradition, Buch: © Canva Pro/MickeyLIT
Holzschild: © Freepik.com/brgfx
Bibelbilder im Innenteil: © Frank Schwarzkopf
Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: [email protected]
Vorwort, das vielleicht doch jemand liest
1. Ü wie Überraschung
2. Onkel Simon
3. Willkommen
4. Das seltsame Buch
5. Immer diese Fremdwörter
6. Ä wie Ärger mit Mama
7. C wie Chinaböller
8. Der dreiste Dieb
9. Bücher, Bibliotheken und Bitcoins
10. Antico Barilotto
11. Ö wie Öresund
12. X wie das x-te Mal
13. Wunder der Technik
14. Q wie quälende Langeweile
15. Y wie Yacht
16. Die Übergabe
17. Die Reise zwischen den Welten
18. Ein Schuss in der Nacht
19. Eine zweite Chance
20. Currywurst mit Pommes
21. Um Mitternacht
22. Einen Monat später
So, ihr wollt also gerne hören, wie es mit Jan und Johanna weiterging? Damit hatte ich fast gerechnet. Dann muss ich mich wohl beeilen und die Geschichte der beiden so schnell wie möglich weitererzählen. Hier sitze ich also im Herbst in meinem Hotelzimmer in Bayern an einem wunderschönen See mit Blick auf die Zugspitze. Fast so wie Erich Kästner, als er „Das fliegende Klassenzimmer“ schrieb. Nur, dass es damals Sommer war und er draußen sitzen konnte. Dafür ist es heute zu kalt. Das Kälbchen Eduard lässt sich auch nicht blicken, und meine Hände halten keinen grünen Bleistift, sondern tippen auf einer Computertastatur herum. Die kann nicht so schnell herunterfallen und verloren gehen wie ein Stift. Wie bitte? Ihr wisst nicht, wovon ich rede, weil ihr „Das fliegende Klassenzimmer“ nicht kennt? Ach, du meine Güte! Und konntet ihr auch mit dem „35. Mai“ nichts anfangen? Dann aber schnell los in die nächste Bücherei und erst weiterblättern, wenn ihr diese wunderbaren Kinderbücher durchgelesen habt! Ich warte so lange.
Ah, da seid ihr schon wieder und nun voll im Bilde, hoffe ich. Nicht meine Mutter, sondern mein Mann ist schuld, dass ich hier in Garmisch-Partenkirchen sitze. Er ist nämlich auf einer Dienstreise, und ich bin ihm hinterhergefahren, weil wir anschließend ein paar Tage Urlaub machen wollen. Ihr wisst hoffentlich, dass die Zugspitze der höchste Berg Deutschlands ist? Sehr gut. Das erwähne ich nur, falls man das heute in der Schule nicht mehr lernt. Eigentlich wollte ich hier in Bayern ein Buch über Martin Luther schreiben, einen Mann, der vor mehr als fünfhundert Jahren in Deutschland geboren wurde und der heute auf der ganzen Welt bekannt ist. Aber ihr seid bestimmt so neugierig, dass ihr nicht warten wollt, bis ich das erledigt habe, oder? Das dachte ich mir. Muss ich also zwei Bücher gleichzeitig schreiben? Nein, natürlich nicht, es gibt eine bessere Idee! Denn ein bisschen Luther steckt in jeder Geschichte, die in Deutschland spielt. Ohne ihn gäbe es diese Sprache, in der ich gerade schreibe, nämlich gar nicht. Und auch am Donnerfelsen ist doch dieses geheimnisvolle Buch aufgetaucht, oder? Also, während ich erzähle, werde ich überlegen, was der Herr Luther damit zu tun haben könnte, dass Johanna an ihrem letzten Schultag vor den großen Ferien fröhlich nach Hause kam, obwohl sie früher in der Schule nicht so viel zu lachen gehabt hatte …
Freitagmittag, letzter Schultag
„Puh!“ Erleichtert schmiss Johanna ihren Rucksack in den Flur. Draußen brannte die Sonne schon fast senkrecht vom Himmel. Es war so heiß, wie es sich für Ende Juli gehörte. Sommerferien! Sorgfältig zog sie den Schlüssel aus dem Schloss. Das Mädchen lächelte und merkte es nicht. An diesem besonderen Tag vor zwei Jahren, als sie Jan kennenlernte, hatte sie genau das vergessen: den Haustürschlüssel abzuziehen. Deshalb erinnerte sie dieser Handgriff jedes Mal an ihr gemeinsames Abenteuer am Donnerfelsen. Sie schloss die Haustür und seufzte, weil Mama ihr nicht wirklich glaubte, dass sie vier Monate unter Piraten verbracht hatte. Wie sollte sie auch? Für Mama waren in dieser Zeit nur einhundertzwanzig Minuten vergangen, und sie war der festen Überzeugung, Johanna hätte alles nur geträumt. Schade. Dabei war es die Wahrheit.
„Mama?“, rief sie. „Ich bin da!“
„Ja, ich habe es gehört“, antwortete eine freundliche Stimme aus dem Arbeitszimmer. „Komme sofort, nur noch eine Naht schließen.“
Schon surrte die Nähmaschine weiter. Neugierig schielte das braunhaarige Mädchen um die Ecke.
„Was wird das denn, wenn’s fertig ist?“, fragte sie.
„Bleibst du wohl draußen! Privatgeheimnis!“, schimpfte ihre Mutter in gespieltem Ernst.
„Ich sehe doch nichts.“
Johanna hatte sich die Hände auf die Augen gelegt und lachte. Die kleine blonde Frau stand auf und streckte sich.
„Für heute reicht es. Finito! Ab mit dir in die Küche, und dann will ich dein Zeugnis sehen!“
Julia Müller schubste ihre Tochter sanft in den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Leichtfüßig lief Johanna die Treppe hinauf.
„Was gibt es denn?“
Noch bevor ihre Mutter antworten konnte, hatte das Mädchen die Fritteuse und die leise vor sich hin blubbernde Currysoße entdeckt.
„Oh – Pommes mit Currywurst: lecker!“, freute sie sich und fiel ihrer Mutter um den Hals. „Beste Mama der Welt!“
Julia erwiderte die Umarmung und küsste Johanna auf das Haar.
„Liebe geht durch den Magen, hm? Warte, bis du den Berg Salat siehst, den es dazu gibt“, meinte sie und zwinkerte ihrer Tochter zu.
Während das Fett heiß wurde, las Frau Müller Johannas Jahreszeugnis. Sie hatte gerade erst angefangen, da blieben ihre Augen auch schon bei den Noten für Deutsch und Englisch hängen.
„Hey! Du hast in beiden Fächern doch die Drei bekommen!“
Auf einmal sprang sie auf und tanzte mit dem Zeugnis um den Tisch herum.
„Juchhuh! Johanna hat die Drei! Johanna hat die Drei! Zweimal die Drei!“
Dann hörte sie auf mit ihrer Tanzeinlage und wischte sich eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel. Sie zog ihre Tochter an sich und zerquetschte sie fast zwischen ihren kräftigen Armen.
„Ich bin so stolz auf dich.“
Ihr wisst doch noch, warum sie sich so freute, oder? Zu meiner Schulzeit sagten die Lehrer manchmal: „Die Drei ist die Eins des kleinen Mannes.“ Ich weiß bis heute gar nicht so genau, was das bedeuten soll. Ist das eine Entschuldigung für jemanden, der nur keine Lust zum Lernen hat und deshalb mit der Drei zufrieden ist? Oder soll es die trösten, die sich furchtbar anstrengen müssen und trotzdem nicht über eine Drei hinauskommen, einfach weil ihnen das Fach sehr schwerfällt? Wenn Letzteres der Fall ist, dann trifft es genau auf Johanna zu. Sie war ganz und gar nicht faul und hatte auch Einser und Zweier auf dem Zeugnis. In Sport war sie immer noch die Beste. Aber sie hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche, aber nein, was rede ich … Hier ist das richtige Wort ein Fremdwort: Sie hat Legasthenie. Mit so einem Handicap ist es gar nicht selbstverständlich, dass man in zwei Sprachen ein Befriedigend bekommt. Johanna musste und muss sich immer noch sehr anstrengen, um mit den anderen mithalten zu können. Aber sie hat zum Glück Lehrer, die auf ihre Schwäche Rücksicht nehmen. Leider ist das auch in Deutschland längst nicht immer der Fall. Da darf also ruhig tüchtig gefeiert werden, und das taten die beiden Müller-Frauen mit einer Riesenportion Pommes und Currywurst und etwas Salat. Zur Krönung des Tages aßen sie noch ein selbst gequetschtes Spaghetti-Eis auf dem Balkon.
„Ach, war das gut!“
Johanna lehnte sich zurück und leckte genüsslich den letzten Tropfen Erdbeersoße vom Löffel. Ihr Blick fiel auf die alte Linde am Ende des Gartens, und sie überlegte. Sollte sie noch einmal versuchen, Mama davon zu überzeugen, dass sie es dem Jungen vom Donnerfelsen verdankte, dass sie so viel besser im Lesen geworden war? Wie schön wäre es, wenn sie ihrer Mutter diese andere Welt zeigen und Mama Jan kennenlernen könnte. Aber das war unmöglich! Außerdem würde sie es wahrscheinlich selbst dann nicht glauben. In diesem Punkt war sie so stur wie ein Esel.
„Oh, nein, nicht schon wieder. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, woran du gerade denkst“, sagte Julia und kratzte das schon leere Eisschälchen noch einmal aus.
Sie klang enttäuscht. Oder war sie nur besorgt? Johanna fasste sich an die Nase und schüttelte den Kopf, als könnte sie die Erinnerung herausschütteln. Es war sinnlos, sie brauchte es gar nicht zu versuchen.
„Johanna, hör bitte auf damit!“
Das klang eindeutig besorgt. Ihre Mutter schob das Schälchen von sich. Johanna nickte ihr beruhigend zu und versuchte zu grinsen.
„Lass uns lieber überlegen, was wir in den Sommerferien machen wollen“, schlug Julia vor.
Das war ein ziemlich plumper Versuch, das Thema zu wechseln. Sie hatten schon oft genug darüber gesprochen, was in den Ferien zu erledigen war, aber ihrer Mutter zuliebe ging Johanna darauf ein.
„Ich freue mich auf mein neues Zimmer. Oder willst du plötzlich nicht mehr renovieren?“
„Was? Natürlich. Versprochen ist versprochen. Ich bin ganz wild darauf, dir zu zeigen, wie gut ich streichen und tapezieren kann. Außerdem macht es mir Spaß.“ Julia streckte sich. „Und wenn alles fertig ist, belohnen wir uns mit einer Fahrt zu Oma und Opa nach Thüringen.“
Bei dem Wort „belohnen“ stand Julia auf, um sich einen Kaffee zu kochen. Den musste sie unbedingt direkt nach dem Mittagessen haben. Johanna beobachtete, wie sie durch die offene Balkontür ins Haus verschwand. Dann wagte sie einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Linde und seufzte vor sich hin. Plötzlich guckte ein blonder Kopf zwischen den Blättern hervor! Nur ganz kurz war er zu sehen. Vor Schreck blickte Johanna durch die Glasscheibe zu ihrer Mutter, aber die hatte ihr den Rücken zugewandt und hantierte an der Kaffeemaschine herum. Johanna blinzelte und sah noch einmal auf den mächtigen Baum. Nichts! Sie hatte sich bestimmt getäuscht. Oder? Doch, da! Wieder blitzten blonde, kurze Haare zwischen den Blättern hindurch, genau da, wo der Ast, auf dem sie selbst so gerne saß, vom Stamm abzweigte. Wer in aller Welt war das, und warum saß er da?
„Hilfst du mir, die Küche sauber zu machen?“
Die Bitte ihrer Mutter riss Johanna aus ihren Gedanken. Ihr Kopf fuhr herum. Sie sah Julia an, die abwartend in der Tür stand.
„Ich hätte gerne alles fertig, bevor ich nachher in die Klinik fahre. Frau Gölles ist da, wenn irgendetwas ist.“
„Ja, geht klar“, sagte ihre Tochter und nickte. Sie stand auf und zwang sich, nicht noch einmal zu dem Baum zu gucken. Mama würde sich nur wieder aufregen, wenn sie dauernd da hinsah. Also räumte Johanna ihren Teller in die Spülmaschine und wischte sorgfältig den Tisch ab. Sie würde gleich nachsehen, und wenn dieser Eindringling dann immer noch da war, konnte er was erleben.
„Ach, Mama! Jetzt hätte ich es beinahe vergessen: Laura wollte heute kommen, ist das in Ordnung?“
„Kein Problem.“
Frau Müller nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse neben der Spüle ab. Sie füllte den Rest der Currysoße in eine Plastikdose und nahm einen zweiten Schluck von ihrem flüssigen Nachtisch. Dann spülte sie die sperrigen Teile, die zu groß für die Spülmaschine waren. Johanna griff nach einem Geschirrtuch und trocknete ab. Aber sie war heute gar nicht bei der Sache. Sie wollte unbedingt wissen, wer da auf ihrem Lieblingsplatz saß! Hoffentlich war die Hausarbeit bald erledigt. Nachdenklich polierte sie den Soßentopf, obwohl er längst glänzte. Wer war da nur im Garten!?
„So, es reicht“, meinte Johannas Mutter lachend. „Sonst reibst du noch ein Loch in den Topf!“
Sie nahm Johanna das Trockentuch aus der Hand und wischte die Spüle damit trocken.
„Nun lauf schon endlich. Ich sehe doch, dass du in den Garten willst.“
„Danke, Mama!“
Erleichtert stellte das Mädchen den Kochtopf in den Schrank und lief die Treppe hinunter. Über die Terrasse verließ sie das Haus und trat auf den Rasen. Langsam und leise näherte sie sich der Linde, um den Eindringling nicht durch Geräusche zu warnen. Eine Frechheit, einfach so ein fremdes Grundstück zu betreten und sich häuslich niederzulassen. Und dann auch noch auf meinem Baum. Auf meinem Lieblingsplatz! Sie musste einfach nachsehen, wer das wagte! Vielleicht der freche Kevin aus ihrer Klasse? Der war zwar blond, aber eigentlich viel zu dick, um so hoch zu klettern. Im Sportunterricht kam er nicht mal auf einen kleinen Kasten. Na, warte! Gleich habe ich dich!, dachte Johanna. Ein letzter Schritt, und schon stand sie unter dem Blätterdach und konnte auf die Gestalt im Baum sehen. Nein! Johanna blieb regungslos stehen, als hätte sie der Anblick des ungebetenen Gastes gelähmt. Das konnte doch nicht wahr sein! Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Der blonde, große Junge, der da auf dem Ast saß, war so in das dicke Buch auf seinem Schoß vertieft, dass er das Mädchen gar nicht kommen gehört hatte. Erst als Johanna schon so nah war, dass sie an den Baumstamm greifen und ihm von unten ins Gesicht sehen konnte, blickte er von den Seiten auf und starrte sie entgeistert an.
„Jo… Johanna!“, stotterte er. „Wie kommst du denn hierher?“
Das Mädchen starrte stumm zurück.
„Dasselbe wollte ich dich gerade fragen“, sagte sie, als sie die Sprache wiedergefunden hatte. „Denn ich wohne hier.“
Immer noch Freitagmittag
Aus dem kleinen Fachwerkhaus drang die Musik bis auf die Straße, obwohl alle windschiefen Fenster geschlossen waren. Vielleicht war es den Tönen in dem „Ein-Zimmer-Haus“ zu eng. So hieß die Nr. 1 der Hauptstraße überall im Dorf. Natürlich hatte sie nicht wirklich nur ein Zimmer. Das sah zwar von vorne so aus, denn die Front des Häuschens war tatsächlich nur ein Zimmer breit. Aber nach hinten in die Tiefe gab es noch mehr Räume.
„Prima, Laura!“
Der letzte Ton war verklungen. Ein großer blonder Mann saß auf der Klavierbank. Als er aufstand, musste er aufpassen, dass er sich an der Dachschräge nicht den Kopf stieß.
„Das war sehr viel besser als vor vier Wochen. Erstaunlich, dass du das überhaupt schon kannst!“
„Ach, Onkel Simon! Das sagst du jedes Mal. So erstaunlich ist das gar nicht. Ich spiele seit vier Jahren Geige!“
Simon Isken zwinkerte seiner Nichte zu und schloss den Klavierdeckel.
„Ja, du hast recht. Ich freue mich einfach, dass wir jetzt öfter im Gottesdienst zusammen spielen können. Das ist für mich etwas ganz Besonderes.“
Sein Blick blieb nur kurz an dem Foto hängen, das auf dem Klavier stand. Es zeigte einen jungen Mann, der kein einziges Haar auf dem Kopf und auch keine Augenbrauen hatte. Er sah Simon sehr ähnlich. Das Mädchen legte seine Geige vorsichtig zurück in den Geigenkasten.
„Mir macht es auch Spaß, aber vielleicht bin ich ja auch nur froh, dass ich Jason und Jonas los bin, wenn wir üben.“
Simon lachte und stand auf. Er stellte die Liederbücher zurück in das Regal über dem Computertisch.
„He, das meine ich ernst! Ist echt nicht immer lustig mit den beiden kleinen Drachen zu Hause. Wart’s nur ab! Nächste Woche besuchen dich die beiden. Dann weißt du, wovon ich rede“, kündigte Laura drohend an.
Ihr Onkel hob besänftigend die Hände.
„Schon in Ordnung. Du übst also lieber in Ruhe und lässt deine arme Mutter allein in den Klauen dieser Zwillingsmonster zurück. Dagegen ist nichts einzuwenden. Glaube mir, ich weiß, wie das mit Geschwistern ist.“
Theatralisch legte er sich eine Hand auf die Brust.
„Ja, aber du warst der Jüngere“, protestierte Laura empört.
„Genau, und die Großen haben mir immer die Bratkartoffeln weggegessen. Ein schweres Schicksal.“ Simon machte traurige Hundeaugen. „Aber es hatte auch sein Gutes. Nun bin ich der weltbeste Bratkartoffelkoch“, behauptete er.
„Gibt es etwa Bratkartoffeln?“
Laura leckte sich die Lippen. Sie staunte, wie fröhlich ihr Onkel wieder sein konnte. Trotz allem. Und sie freute sich so für ihn, dass sie die Arme um ihn schlingen musste. Nur flüchtig sah sie auf das Foto auf dem Klavier und schloss schnell die Augen. Gott sei Dank sah Onkel Simon nun wieder viel gesünder aus, und er fühlte sich auch so an, sehr stark und kräftig.
„Hoppla, ich hoffe, das gilt nicht nur den Bratkartoffeln.“ Ihr Onkel erwiderte die Umarmung, bis Laura den Griff lockerte.
„Nein, ich hab auch dich lieb, nicht nur deine Bratkartoffeln“, sagte sie und löste sich von ihrem Onkel. „Aber ich sterbe vor Hunger!“
Das Mädchen lief die Holztreppe hinunter, die vom Wohnzimmer unter dem Dach direkt in die Küche führte. Auch hier lagen die Fenster zur Straße hin. Laura ging weiter in den hinteren Anbau, um sich im modern eingerichteten Bad die Hände zu waschen. Ihr Onkel war ihr langsam gefolgt.
„Cool, dass du zurück in unsere Nähe gezogen bist. In das Ein-Zimmer-Haus, genau gegenüber von Johanna, meiner besten Freundin“, rief sie über ihre Schulter. „Diese Sommerferien müssen einfach super werden!“
„Ich freue mich auch auf meinen Urlaub.“ Ihr Onkel trat neben sie. „Die letzten Wochen waren anstrengend. Dieser Lehrgang über den verbotenen Handel mit Kunstschätzen hatte es in sich.“
Laura drückte ihm das Stück Seife in die Hand.
„Ich dachte, Geschichte wäre dein Hobby?“
„Ja, schon, aber es gab so viele neue Informationen, dass sogar mir schwindelig wurde. Und wir mussten stundenlang in die Computer oder auf die Wand starren, um zu lernen, woran man geschützte Originale erkennt, die nicht nach Deutschland gebracht werden dürfen. Man kriegt Kreise vor den Augen, das kannst du mir glauben.“
Simon schielte in den Spiegel. Laura lachte.
„Du hängst doch sonst auch stundenlang vor dem Computer“, neckte sie ihn.
„So? Wirklich?“
Er spritzte ein paar Wassertropfen in ihre Richtung.
„He! Ich dachte, das wäre deine Arbeit beim Zoll?“
Laura wich geschickt aus und trocknete sich die Hände ab.
„Ja, du hast recht“, gab ihr Onkel zu, „aber jetzt ist Urlaub, und da bleibt die Kiste aus. Ich freue mich, mit dir ein bisschen die Natur zu genießen. Was hältst du von einem Ausflug zum höchsten Kaltwasser-Geysir der Welt mit Schifffahrt auf dem Rhein inklusive? Oder warst du schon mal da?“
„In Andernach? Nein. Das klingt cool! Da wollte ich schon immer mal hin. Mama und Papa hatten noch nie richtig Zeit dafür“, bedauerte sie und überließ ihrem Onkel das Handtuch.
„Dann ist das abgemacht. Wann hast du Zeit?“
Simon ging in die Küche. Er band sich eine rotweiß karierte Schürze um und begann, die Kartoffeln zu schälen. Laura nahm sich ebenfalls einen Schäler aus der Schublade.
„Das weiß ich noch nicht. Heute Nachmittag gehe ich erst mal rüber zu Johanna. Wir planen unsere Ferien, was wir so unternehmen und so. Ich glaube, sie muss ihr Zimmer renovieren, und außerdem besucht sie noch ihre Oma. Ich sage dir dann Bescheid.“
Ihr Onkel nickte und legte eine fertig geschälte Kartoffel in die Spüle.
„Wie ist es sonst so? Zum Beispiel in der Schule?“, fragte er.
„Och, geht so. Ich bin froh, dass Johanna in meiner Klasse ist. Ein paar von den Jungs sind echt Vollpfosten.“
„Voll… – was?“
„Na, nervig! Dieser Kevin zum Beispiel, der kann einen wahnsinnig machen. Er ist älter als wir, weil er sitzen geblieben ist, und hält sich für fast erwachsen.“ Laura verdrehte die Augen. „Dabei heckt er dauernd etwas aus und ärgert uns, statt zu lernen.“
Sie schälte jetzt mit Nachdruck, so als würde sie Kevin persönlich die Haut vom Leib ziehen. Die Kartoffel hatte längst keine Schale mehr.
„Achtung! Lass noch etwas für uns übrig“, warnte Simon grinsend und nahm ihr die winzige Knolle behutsam aus der Hand. „Ist Kevin das Lehrerkind?“
„Nur der Papa ist Lehrer. Die Mama ist Köchin.“
„Ach, der Kleine, etwas Dickere?“
„Ja, genau. Er hat noch zwei im Schlepptau, die genauso nervig sind. Peter Balikotto oder so und Lukas Köhler.“
„Peter Barilotto?“
Simon hob eine Augenbraue. Das tat er immer, wenn er überrascht war.
„Ja!? Aber woher kennst du den denn?“
Laura war so verblüfft, dass sie kurz aufhörte zu schälen.
„Ihn nicht, nur den Vater. Er hat doch den Antiquitätenhandel in Remsig. Ein ganz schön großer, gut sortierter Laden in der Innenstadt hinter der Realschule. Antico Barilotto?!“
„Ja, genau der“, bestätigte seine Nichte. „So heißt der Laden!“
Sie wusch alle geschälten Kartoffeln ab und begann, sie auf einem Holzbrettchen in kleine Würfel zu schneiden.
„Den Vater mag ich nicht. Er macht mir irgendwie Angst mit seinen rabenschwarzen Haaren. Außerdem guckt er so düster und hat einen komischen Schnurrbart mit steifen Enden. Zum Glück treffe ich den nicht oft.“
„Laura, du sollst doch Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen“, erinnerte Simon sie nur halb im Scherz.
„Ich weiß“, gab Laura zu. „Aber es ist eben nicht nur das Äußere …“
„Sondern?“
Nachdenklich schnitt Laura weiter Kartoffelwürfel. Schließlich griff sie nach dem Küchenhandtuch und trocknete sich die Hände ab.
„Er ist so komisch zu seinem Sohn. Wenn ich daran denke, tut mir Peter fast leid“, meinte sie achselzuckend.
Simon nickte stumm. Er holte die Pfannen heraus und stellte sie auf den Gasherd.
„Na ja, und Lukas ist unser Mathe-Ass, aber bei allem, was Kevin sich an Gemeinheiten ausdenkt, macht er ohne nachzudenken mit.“
„Na, gut, dass du Johanna hast. Ihr haltet immer zusammen?“
„Klar! Seit sie so gartenverrückt ist, helfe ich ihr sogar mit den Pflanzen und höre mir ihre Geschichten vom Donnerfelsen an.“
„Du mit deinem ‚braunen‘ Daumen?“, lachte Simon.
Laura warf das Handtuch nach ihm, doch ihr Onkel fing es auf.
„Na warte, vielleicht willst du nur mitkommen und Johannas Mama helfen? Es gibt bestimmt irgendetwas, wobei sie wieder einmal deine Hilfe bräuchte.“
„Nein, Frau Müller hat Spätdienst.“
Verlegen kratzte sich Simon am Kopf. Er versuchte, schnell vom Thema abzulenken.
„Frag doch Johanna, ob sie zum Abendbrot kommen will“, schlug er vor und widmete sich so konzentriert dem dampfenden Butterschmalz in der Pfanne, als brächte er es durch seine Blicke zum Schmelzen.
„Das tue ich. Und dann kann sie dir auch mal vom Donnerfelsen erzählen. Möchte wissen, was du davon hältst“, schloss Laura schmunzelnd.
Sie hatte genau gesehen, dass ihr Onkel rot geworden war. Und das lag nicht an der Hitze, die von den Bratkartoffeln aufstieg!
Freitag, früher Nachmittag
„Sag das bitte noch einmal.“
Der blonde Junge klappte das Buch auf seinem Schoß zu und starrte weiter in Johannas Gesicht. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Nicht, weil Johanna den Satz nicht wiederholen wollte, sondern weil sie ihren Augen nicht traute. Langsam formten ihre Lippen Wort für Wort, als hätte sie jemanden vor sich, der ihre Sprache nicht verstand.
„Ich – wohne – hier.“
Als Jan nicht reagierte, denn der Junge war niemand anderes als Jan aus dem Dorf am Donnerfelsen, fügte sie etwas lahm hinzu:
„Willkommen in meiner Welt!“
Noch immer rührte sich Jan nicht. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben, und Johanna fragte sich, ob sie genauso dumm aus der Wäsche guckte wie er. Ihr Kopf war gerade so leer wie ein ausgekippter Eimer. Sie konnte nichts denken und erst recht nichts sagen. So starrten sie sich gegenseitig an, als sähen sie ein seltenes Tier im Zoo.
Jan bewegte sich als Erster. Vorsichtig kletterte er von der Linde herab. Er musste wohl geübt darin sein, denn seine Hände und Füße fanden Halt, ohne dass er hinsehen musste, obwohl er das dicke Buch im Arm trug. Dann sprang er geschmeidig auf das Gras und drehte sich langsam um sich selbst, um seine Umgebung zu betrachten. Er trug ähnlich schlichte Kleidung wie vor zwei Jahren. Nur war diesmal seine Hose nicht zu kurz.
„Mann, bist du groß geworden!“
Johanna musste zu dem Jungen aufsehen, der da barfuß vor ihr stand. Na prima! Dieser dämliche Satz war das Erste, was ihr einfiel?!
„Wo ist das Meer?“
Jans Frage war auch nicht schlauer. Erst jetzt fiel Johanna auf, wie tief seine Stimme geworden war. Er klang nicht mehr wie ein Junge.
„Es gibt kein Meer. Du bist am Rhein“, stellte sie sachlich fest, „und von hier dauert es noch etwas, bis die Nordsee kommt, das hatte ich dir schon einmal erzählt“, erinnerte sie ihn vorsichtig.
„Ja! Ja, ich weiß. Es ist nur … ich weiß nicht, wie ich hier hingekommen bin. Da war weit und breit kein Gewitter. Der schönste Sommertag, den man sich nur vorstellen kann. Ich habe wie immer auf meinem Lieblingsast gesessen und gelesen.“ Jan berührte vorsichtig den Stamm. „Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel, es gab kaum Schatten. Also muss es gegen Mittag gewesen sein. Wie ist das nur passiert?“
Nachdenklich leckte er sich die Lippen. Er schmeckte etwas Süßes und bemerkte es kaum.
„Da oben im Baum ist auch mein Lieblingsplatz“, sagte Johanna und blickte verlegen hinauf in die Zweige. „Jedenfalls bist du jetzt da … und ich kann dir meine Welt zeigen.“
Auf ihrem Gesicht erschien ein vorsichtiges Lächeln, und als sie Jan den Kopf zuwandte, sah sie die Abenteuerlust in seinen Augen aufblitzen.
„Ja“, stimmte er zu. „Das könnte spannend werden.“
Johanna lachte.
„Nee, spannend wohl kaum. Meine Welt ist nicht halb so aufregend wie deine. Niemand in der Nachbarschaft ist Pirat, und es gibt immer genug zu essen, erinnerst du dich?“
„Und ob. Ich hielt es für zu schön, um wahr zu sein. Und nun ist es bei uns genauso! Stell dir vor, seit die Seeräuber zu Fischern und Bauern geworden sind, ist der Donnerfelsen ein richtiges Zuhause“, erzählte er begeistert. Dann schmunzelte er vielsagend. „Und nicht nur deshalb.“
„Ach, weshalb denn noch?“, hakte Johanna nach. „Heraus damit! Manchmal habe ich euch so vermisst und mich gefragt, wie es euch geht. Ich platze fast vor Neugier. Was machen Emily, Anna und Hein? Geht es ihnen gut? Steht euer Haus noch? Spuck es aus! Antworte endlich!“
„Dann musst du mal still sein“, meinte Jan lachend.
„Nun rede schon!“
„Also …“
Jan ärgerte Johanna mit einer kleinen Kunstpause. Das Mädchen boxte ihn leicht auf den Oberarm.
„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“
„Wir sind eine Familie geworden“, sagte Jan.
Johanna fiel kurz die Kinnlade herab.
„Nein! Sag bloß. Anna und Hein? Sie haben geheiratet?“
Jan nickte strahlend. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde zu einem breiten Grinsen, das von einem Ohr bis zum anderen reichte.
„Oh, ist das schön! Ich freue mich so für euch! Für dich und Emily, für Anna natürlich auch. Ehrlich gesagt, ich habe mir das fast gedacht“, sagte Johanna.
Dann haben Emily und Jan jetzt einen Vater. Diesen letzten Satz dachte sie nur. Sie mochte ihn nicht laut aussprechen und lächelte Jan nur an. Er lächelte zurück.
„Wir haben uns so oft gefragt, ob du wohl gut angekommen bist. Wie schön, dass du tatsächlich zurückgefunden hast“, sagte der Junge.
Nur kurz dachte er daran, dass ihm dasselbe hoffentlich auch gelingen würde. Dann sah er schon wieder auf das Haus der Müllers.
„Manchmal habe ich versucht, mir deine Welt vorzustellen. Ich war so neugierig und habe mir gewünscht, dich zu besuchen.“