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Die 13-jährige Rahel ist unfreiwillig in das verschlafene Eifeldorf Brehl gezogen. Doch ihre chronische Langeweile endet schlagartig, als Einbrecher und Drogenhändler im Ort auftauchen. Sie setzt alles daran, die Verbrechen aufzuklären, die auch vor ihrer Schule nicht Halt machen. Schon bald kann ihr großer Bruder Silas sie nicht mehr beschützen, denn auch er selbst gerät in höchste Gefahr! Gut, dass wenigstens der speziell begabte Onkel Anton und sein Hund Caruso den Durchblick behalten … Der spannende Auftakt zur neuen "Detektei Anton"-Reihe!
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Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Jörg, den weltbesten Borussen-Fan,und seine fantastische Mutter,die sich Gott sei Dank bester Gesundheit erfreut.Schön, dass es Euch gibt!
Petra Schwarzkopf
Detektei Anton – Ausgerechnet Bananen
Band 1
Best.-Nr. 275508 (E-Book)
ISBN 978-3-98963-508-1 (E-Book)
Es wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:
Schlachter-Übersetzung – Version 2000
© 2000 Genfer Bibelgesellschaft
1. Auflage (E-Book)
© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg
Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH
Bildquellen: © Saskia Klingelhöfer (Covermotiv), freepik.com (Holzschild Innenteil), freepik.com/macrovector (Fingerabdruck)
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1. Lang und weilig
2. Nachbarn
3. Schule
4. Bananen
5. Ronny
6. Caruso
7. Ruth
8. Schlaflos in Brehl
9. Kolumbien
10. Moritz
11. Borussia
12. Der Überfall
13. Der Kaiser
14. Tempus fugit
15. Schnee
16. Werner
17. Marco
18. Deus manet
19. Ausgerechnet Bananen!
20. Schulfrei
Nachwort
Ich heiße Rahel und bin 13 Jahre alt. Ja, ich weiß, dass der Anfang einer Story niemals so langweilig sein sollte, nicht einmal in einem Tagebuch. Aber das hier ist auch keine Story, sondern die Realität. In diesem Dorf, in das sie mich gezwungen haben, ist einfach nichts los, und meinen Namen habe ich mir auch nicht selbst ausgesucht. Meine Eltern sind schuld an beidem. Wer nennt sein Kind schon Rahel?! Das klingt ja, als ob man gähnt. Raahhääähl! Die 13 passt dazu. Ich bin zwar nicht abergläubisch, aber die 13 ist eine von diesen doofen Primzahlen. Primzahlen sind genauso langweilig wie die Eifel. Man kann sie nur durch eins und sich selbst teilen. Hier in Brehl bist du selbst auch schon das Spannendste, was dir über den Weg läuft … außer meiner verrückten Familie. Die ist irgendwie schräg. Wenn ich hierbleiben muss, werde ich eines Tages genauso verrückt sein.
„Boah, Manno!“
Während Rahel schrieb, versuchte sie gleichzeitig, sich die Ohren zuzuhalten. Das hat wenig Aussicht auf Erfolg, wenn man nicht mit drei Händen geboren ist. Das Mädchen stöhnte genervt und kramte in der Schreibtischschublade nach den Ohrstöpseln.
„Na endlich!“, sagte sie, als sie den Gehörschutz gefunden hatte. „Bah, sind die dreckig! Ich brauche dringend ein paar neue!“
Doch im nächsten Augenblick lachte Rahel trocken, weil ihr einfiel, dass der nächste Laden sechs Kilometer entfernt war und sie gar nicht wusste, ob man dort etwas so Ausgefallenes wie Ohrstöpsel bekam. Hier musste jeder Einkauf exakt geplant werden, am besten mit Liste. Seufzend nahm sie Omas Füller zur Hand und schrieb weiter.
Als komplett unmusikalischer Mensch bin ich als Tochter in dieser Familie sowieso eine glatte Fehlbesetzung. Mamas grässliche Gesangsübungen nerven genauso wie Brüderchens Klarinette. Wenn Silas übt, quäkt das Instrument so jämmerlich, als würde es um Hilfe schreien. Diese Ohrenfolter war in Dortmund schon ätzend genug, aber ab und zu schwiegen Mama und Silas wenigstens, weil sie die Mittagsruhe einhalten mussten. Hier, in Opas Haus, können sie rund um die Uhr üben, denn Nachbarn gibt es erst in über 100 Metern Entfernung. Außerdem kann man darauf wetten, dass Onkel Anton ausgerechnet in den Pausen seine BVB-Schlachtgesänge anstimmt. Mehr passiert nicht. Ich hoffe jeden Tag, dass Mama und Papa es sich noch anders überlegen. Opa zu besuchen ist ja ganz schön, aber hier wohnen will ich nicht. In der Schule haben die mich angeguckt, als sei ich eine Außerirdische, nur weil ich eine Schmickler bin. Eine aus der komischen Familie, die eine Freikirche besucht. In Brehl ist man katholisch oder verdächtig. In Dortmund war das anders. Den Stadtmenschen ist es egal, in welche Gemeinde du gehst. Es gibt interessantere Sachen. Hier dagegen ist es so langweilig, dass jeder Zugezogene eine Sensation ist, und Nordrhein-Westfalen gehört schon zum Ausland.
„Lalalalalaaang!“, klang es hell aus dem Wohnzimmer unter ihr.
„Weilig, weilig, weilig“, motzte Rahel vor sich hin.
Entschlossen stopfte sie die bunten Schaumstoffkeile noch tiefer in ihre Gehörgänge. Mamas Gesangsübungen klangen jetzt zwar wattiger, waren aber immer noch deutlich zu hören. Je höher Frau Schmickler sang, desto lauter wurde es. Als sie beim dreigestrichenen C angekommen war, stimmte Caruso mit ein und sang hingebungsvoll seinen Hundetenor dazu. Eigentlich war der Riesenschnauzer ein Bass, doch wenn Hannah Schmickler, die er über alles liebte, weil sie die Herrin über den Kühlschrank war, ihre Stimme trainierte, wechselte der Familienhund mühelos ins Tenorfach. Die Schnauze hoch in die Luft gereckt hockte er mit langem Hals und geschlossenen Augen jaulend auf dem Fußabtreter, als befände er sich auf der großen Bühne der Mailänder Scala und jenseits der Terrassentür lausche ein Millionenpublikum. Bei solch tierischer Bühnenpräsenz wäre selbst der echte Caruso neidisch geworden. Rahel schloss die Augen und schüttelte ihren Kopf so heftig, dass die hellbraunen Haare hin und her flogen. Nein, bei dieser Geräuschkulisse konnte sich kein Mensch konzentrieren! Doch in dem Moment, als sie ihr Tagebuch zuschlug, brachen unten die Tonleitern schlagartig ab, und der Hund fing an wie verrückt zu bellen. Rahel zog die Augenbrauen hoch. Da stimmte etwas nicht! Mama war noch lange nicht fertig mit Einsingen. Sofort nahm sie die Ohrstöpsel aus den Ohren.
„Mama?!“, rief sie fragend.
Als keine Antwort kam, sprang sie auf und öffnete ihre Zimmertür. Ihre Mutter hatte fantastisch gute Ohren, und diese plötzliche Stummheit passte überhaupt nicht zu ihr.
„Mama, alles in Ordnung?!“, rief sie deswegen etwas lauter ins Haus.
Nichts. Nur die alte Uhr im Flur tickte.
„Maamaa!“, brüllte Rahel und lauschte nur noch für den Bruchteil einer Sekunde. Dann lief sie auf den Flur und mit großen Sprüngen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Als sie um die letzte Ecke sauste, wäre sie fast in ihre Mutter hineingerannt, die in der geöffneten Wohnzimmertür stand. Sie hielt sich mit der einen Hand den Telefonhörer ans Ohr und mit der anderen den Zeigefinger vor den Mund. Rahel prallte zurück, als sei sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen, und guckte verwirrt. Mama erklärte aber immer noch nichts, sondern zeigte mit ausgestrecktem Arm zur Schiebetür, die hinaus auf die Terrasse führte. Ihre Tochter folgte dem Arm mit den Augen. Dann riss sie dieselben so weit auf wie der „Überrascht-Smiley“ im Smartphone, und ihr Unterkiefer fiel herab.
„Das gibt es doch nicht! Ein Einbrecher bei Passlacks, am helllichten Tag!“, erschrak sie.
Genau gegenüber, ungefähr 100 Meter entfernt, machte sich jemand an einem Fenster der Nachbarn im Erdgeschoss zu schaffen und hatte es in diesem Moment aufgehebelt. Durch eine Lücke in der Hecke konnten sie alles genau beobachten.
„Ja, guten Tag, Schmickler hier“, flüsterte ihre Mutter in den Hörer, obwohl der Einbrecher da draußen sie garantiert nicht hören konnte, „bei unseren Nachbarn wird gerade eingebrochen! Ruhe, Caruso!“
Rahel ging zu dem Hund und legte ihm die Hand auf den großen schwarzen Kopf. Sie fühlte kaum das harte und drahtige Fell unter ihren Fingern, da verstummte das Tier tatsächlich und ließ nur noch ein tiefes Knurren hören.
„Nein, Entschuldigung, ich habe nicht Sie gemeint. Nachtigallenweg 10, nur eine Person, soweit ich das sehen kann“, hörte sie Mama sagen. „Rahel, komm da weg vom Fenster.“
„Der ist doch schon drin im Haus“, wehrte ihre Tochter ab, „der sieht mich doch gar nicht mehr!“
„Nein, soweit ich weiß, ist niemand der Bewohner im Haus. Sie sind zur Arbeit und zur Schule. … Waldstraße 35. Hannah Schmickler. Ja, vielen Dank! Ja, ich bleibe dran. Bitte beeilen Sie sich!“
Frau Schmickler legte nicht auf, sah aber jetzt ihre Tochter an.
„Was hast du gesagt?!“
„Der Mann kann mich gar nicht mehr sehen. Er ist schon im Haus!“
„Aha.“
Mama hockte sich neben Rahel und starrte auf das blaue Holzhaus der Familie Passlack.
„Woher weißt du, dass es ein Mann ist?“, fragte Mama und strich sich eine erdbeerblonde Strähne aus dem Gesicht, die aus ihrem Dutt gerutscht war. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet, was die vielen Sommersprossen blasser erscheinen ließ. Rahel registrierte es nebenbei. Sie zog die Stirn kraus.
„War es kein Mann?“
„Ich weiß nicht, aber wenn, dann war er so dünn wie eine Frau“, meinte Frau Schmickler. „Hoffentlich kommt die Polizei gleich.“
„Wie lange dauert das denn?“, fragte Rahel und warf einen verstohlenen Blick auf Mama und ihre vollschlanken, mütterlichen Rundungen. Wie kam ausgerechnet sie darauf, dass es keine dicken Frauen gab?
„So sieben, acht Minuten wird es wohl dauern“, seufzte ihre Mutter und hievte sich leise stöhnend wieder in die Höhe. Dann sah sie zu Passlacks hinüber. In Wirklichkeit hatte sie keine Ahnung, wie viel die Polizei hier auf dem Land zu tun hatte und ob es mehr als einen Streifenwagen für den Landkreis gab. Paul, ihr Mann, hätte es bestimmt gewusst. Aber er war nicht zu Hause. Rahel sah auf ihre Armbanduhr. Zehn vor zehn. Die nächste Polizeiwache lag eine gute Autoviertelstunde entfernt. Ihr Schulweg führte daran vorbei.
„Wie fühlst du dich?“, fragte ihre Mutter, ohne das Nachbarhaus aus den Augen zu lassen. Sie legte die Hand über das untere Ende des Telefonhörers.
„Besser. Die Kopfschmerzen sind weg, und die Halsschmerzen nicht mehr ganz so schlimm.“
Hannah Schmickler nickte und unterdrückte das Bedürfnis, ihrer Tochter über den Kopf zu streichen.
„Es hilft bestimmt kolossal, dass du gestern und heute nicht zur Schule musstest, oder?“, sagte sie stattdessen und schmunzelte. Bald würde sie zu Rahel aufsehen müssen. Ihre Tochter war bereits einen Zentimeter größer als sie.
„Vielleicht“, gab Rahel zu.
Sie genoss jede Minute, in der sie Mama für sich hatte, außer wenn Mama so einen Krach wie gerade eben machte. Aber sie war alt genug, um zu wissen, dass das zu Mamas Beruf gehörte wie das Lauftraining für einen Profifußballer.
„Morgen kann ich aber wieder gehen“, erklärte sie bereitwillig.
Caruso fing an zu winseln und schaute abwechselnd zwischen Rahel und ihrer Mutter hin und her. Das Mädchen streichelte Carusos Schlappohren. Dann tätschelte sie ihm den Rücken. Von ferne hörten sie kurz das Quäken einer Polizeisirene, dann war es wieder still. Caruso ließ sich seufzend auf dem Fußabtreter nieder und legte den Kopf auf seine Pfoten.
„Sie haben die Sirene ausgemacht, um den Einbrecher nicht zu warnen“, vermutete Frau Schmickler. Rahel nickte. „Sie sind bestimmt gleich hier.“
Tatsächlich! Schon rollte langsam und fast geräuschlos ein blau-weißer VW Passat auf den Nachtigallenweg zu. Wir suchen Dich!, stand als Werbeslogan für den Polizeinachwuchs an der Seite. Rahel grinste. Wie passend! Sie hatte einen Sinn für Details, und diesen Spruch konnte man durchaus auch noch anders verstehen.
„Ja, hallo? Nein, weder nach vorne noch an der Straßenseite oder hinten ist jemand aus dem Hause gekommen. Aber die andere Seite, zum Nachbargarten hin, kann ich nicht sehen.“
Offensichtlich sprach Mama wieder mit der Polizei. Jetzt legte sie endlich auf. Das Polizeiauto hielt auf der Wendefläche neben dem Nachbarhaus. Fast gleichzeitig stiegen eine Polizistin und ihr Kollege aus dem Wagen. Erst standen sie kurz abwartend da, als lauschten sie auf einen Befehl, dann gingen sie langsam auf das freistehende Holzhaus zu. Rahel hielt die Luft an, als die beiden Beamten ihre Waffen zogen.
„Endlich! Glaubst du, der ist da noch drin?“, fragte sie und flüsterte jetzt selbst. „Oder ist er durch die Tür hinten?“
Frau Schmickler knetete ihre kalten Finger. Die Flügel ihrer blassen Stupsnase zitterten leicht.
„Das hat die Polizei auch gerade gefragt, aber ich weiß es nicht.“
Jetzt war der eine Beamte komplett hinter dem Haus verschwunden. Seine Kollegin schaute gerade vorsichtig in Passlacks Küche. Dann ging sie weiter und fand das beschädigte, aber wieder geschlossene Fenster an der Seite. Rahel reckte den Kopf, aber trotzdem konnte sie nicht durch die Wände gucken.
„Hoffentlich ist von denen wirklich keiner zu Hause“, sagte sie.
„Sie müssten alle weg sein. Moritz ist mit Silas zum Schulbus gegangen, und Herr Passlack kurz darauf mit dem Auto weggefahren. Xenia kommt immer erst um 13:30 Uhr zurück.“
Rahels Miene versteinerte sich.
„Duzt du dich mit der etwa schon?!“, fragte sie und konnte den Vorwurf in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Ihre Mutter antwortete nicht sofort. Die Polizistin war jetzt vor dem Haus entlang gegangen und hinten mit ihrem Kollegen zusammengetroffen. Sie hörten sie etwas rufen, konnten aber die Worte nicht verstehen.
„Ich weiß, dass du mit dem Umzug nicht einverstanden warst“, sagte Frau Schmickler dann. „Aber Opa und Anton brauchten Hilfe, und Papa und ich sind der Meinung, dass es so für uns alle das Beste …“
„Ja, ja, schon gut“, wehrte Rahel ab und verschränkte die Arme vor der Brust, „ich kenne alle eure Argumente!“
„Je eher du dich damit abfindest, desto einfacher lebst du dich hier ein“, erklärte Frau Schmickler.
Ihre Tochter presste die Lippen aufeinander und starrte stumm auf das Nachbarhaus. Es hatte keinen Zweck, mit Mama alles noch einmal von vorne durchzukauen. Sie waren hier, das war nicht zu ändern. Hier in Brehl, wo nicht mal jede Stunde ein Bus fuhr. Brehl, das ganze 1026 Einwohner hatte, aber keinen Bahnhof, kein Kino und keine Shoppingmöglichkeit, wenn man den Bäcker und den Wochenmarkt nicht mitrechnete. Strenggenommen war Brehl kein Dorf, sondern einer der fünf Teile des kleinen Städtchens Burgenach. Aber das machte die Sache auch nicht besser, es lag nun einmal 140 Kilometer entfernt von ihren alten Freundinnen und ihrem geliebten Schwimmbad. Rahel war sich nicht sicher, was sie mehr vermisste, die Mädels oder das Training im Schwimmbad!
„Immerhin gibt es hier ein Schwimmbad“, sagte Mama, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
„Ja, klar, vielen Dank!“, brauste ihre Tochter auf. „Ein altes Thermalbad zwischen Brehl und dem nächsten Dorf, in dem schon Opas Großmutter geschwommen ist.“ Rahel grinste spöttisch. „Bei einer Wassertiefe von höchstens einem Meter und achtzig hat das einzige Becken nicht mal Startblöcke.“
Ihr heißgeliebtes Wasserspringen konnte sie vergessen!
„Besser als nichts“, sagte Hannah Schmickler nur.
Sie verkniff sich eine erzieherische Bemerkung über die Tugend der Dankbarkeit und dass Schwimmen ohnehin gesünder war als Kunst- und Turmspringen.
Plötzlich schrie Rahel auf, und ihre Mutter zuckte erschrocken zusammen. Drüben bei Passlacks sprang eine dunkle Gestalt vom Balkon. Der Einbrecher hatte abgewartet, bis beide Polizisten wieder an der Haustür waren, und dann die Flucht in die entgegengesetzte Richtung zum Wald hin angetreten. Obwohl er einige Meter herabgesprungen war, kam er mit den Füßen zuerst auf dem Rasen auf, rollte sich wie ein Turner ab und stand sofort wieder. Ohne zu zögern oder sich umzusehen, rannte er auf den an das Grundstück angrenzenden Wald zu, als gerade ein zweites Polizeiauto auf die Wendefläche rollte. Die Polizisten, die zuerst am Haus gewesen waren, hatten wohl etwas gehört. Sie sahen vorsichtig um die Ecke und begriffen sofort.
„Halt, stehenbleiben, Polizei!“, rief der eine Beamte laut.
Aber der Flüchtige dachte nicht daran und lief weiter. Jetzt sprinteten die beiden Beamten zeitgleich los und nahmen die Verfolgung auf. Doch der Einbrecher hatte schon mehr als zehn Meter Vorsprung und war schneller. Scheinbar mühelos sprang er über Wurzeln und Büsche und verschwand unter den Bäumen. Die Polizisten blieben ihm immer noch auf den Fersen. Plötzlich aber zuckte der eine Beamte zurück und blieb stehen. Seine Kollegin lief an ihm vorbei in den Wald.
„Was hat er denn?“, fragte Mama mit ihrer typisch besorgten Mamastimme. Es klang, als sei der Polizist auch eins ihrer Kinder.
„Ein Zweig hing so tief, dass er ihm ins Gesicht gefletscht ist. Wahrscheinlich hat er sein Auge getroffen“, erklärte Rahel.
Auch die Beamten aus dem zweiten Wagen halfen jetzt bei der Jagd nach dem Einbrecher. Sie liefen aber etwas gebückt und wichen den tiefhängenden Zweigen aus.
„Das ist ja wie im Fernsehen!“, meinte Rahel. „Was meinst du, schnappen die drei ihn?“
„Hoffentlich!“
Jetzt war nur noch der verletzte Polizist zu sehen. Er presste eine Hand auf das linke Auge und ging langsam zurück zum Streifenwagen. Dabei sprach er in sein Funkgerät. Als er am Fahrzeug angekommen war, setzte er sich auf den Autositz. Ein paar Minuten später kehrten seine Kollegen zurück. Leider ohne den Einbrecher. Sie unterhielten sich kurz, und ein Polizist sah sich das Auge seines Kollegen an. Dann stiegen alle Beamten wieder in die Streifenwagen.
„Schade“, sagte Mama.
„Guter Sprung!“, sagte Rahel und nickte anerkennend.
Es klingelte an der Haustür. Mama hatte ihre Gesangsübungen wieder aufgenommen und offenbar nichts gehört. Also ging Rahel die Treppe hinunter, um zu öffnen. Die Polizisten waren erst vor einer halben Stunde gegangen, nachdem sie zu Protokoll genommen hatten, was Frau Schmickler und Rahel beobachtet hatten. Das war nicht allzu viel gewesen, denn Rahel und ihre Mutter hatten weder das Gesicht des Einbrechers noch sonst irgendwelche Details der dunklen Kleidung erkennen können. Das lag daran, dass die Häuser in Brehl nicht so eng nebeneinander gebaut waren wie in der Stadt. Die Grundstücke auf dem dünn besiedelten Land waren einfach größer. In Rheinland-Pfalz, dem waldreichsten Bundesland mit nur vier Millionen Einwohnern, sowieso und in der Eifel erst recht. Rahel seufzte, als sie im Flur ankam. Vier Millionen! So viel hatte Berlin fast allein, und in Dortmund wohnten auch über eine halbe Million Menschen. Das hatte sie neulich für die Hausaufgaben recherchiert, als das Internet mal funktionierte, was leider nicht die Regel war. Rahel seufzte noch einmal. Dann öffnete sie die Haustür und starrte auf Herrn Passlack.
„Guten Tag! … Ich meine, entschuldige bitte die Störung, äh …?!“, stotterte ihr Nachbar.
Er hatte seinen Hut abgenommen und fuhr sich durch die Haare.
„Rahel“, sagte Rahel. „Guten Tag, Herr Passlack.“
„Rahel? Wer ist da, mit wem sprichst du?“, rief Mama aus dem Wohnzimmer.
Der Klavierdeckel klappte zu. Etwas lauter als üblich. Rahel konnte aus der Lautstärke des vertrauten Geräusches ziemlich gut Rückschlüsse auf Mamas Laune ziehen.
„Herr Passlack ist da“, rief sie schnell über ihre Schulter.
Mama kam aus dem Wohnzimmer und ging auf Herrn Passlack zu.
„Entschuldigen Sie, Herr Passlack, ich habe gar keine Klingel gehört. Kommen Sie doch herein“, forderte sie ihn auf. „Es tut mir so leid für Sie. Hoffentlich ist nichts Wertvolles zerstört oder gestohlen worden?“
Rahel öffnete die Tür weiter, und ihr Nachbar betrat den Hausflur. Nervös drehte er seinen Hut in den Händen.
„Nein, nein, alles Wesentliche ist an seinem Platz, und zerstört ist auch nichts, soweit ich das auf die Schnelle feststellen konnte.“
Herr Passlack schüttelte den Kopf. Rahel fiel auf, dass seine Stimme leicht zitterte.
„Nur das Fenster … und die Unordnung …“
„Na, Gott sei Dank!“, sagte Hannah Schmickler. „Was für ein Glück, dass Sie nicht zu Hause waren!“
„Ja, nicht auszudenken, wenn ich … oder Xenia … oder Moritz … Sie kommen erst in einer Stunde … normalerweise.“
Herr Passlack wurde noch eine Spur blasser. Rahel fühlte sich überflüssig, wusste aber nicht, ob sie jetzt einfach weggehen sollte oder ob das unhöflich war.
„Ich wollte mich bedanken, dass Sie die Polizei gerufen haben!“, sagte der Nachbar.
„Das ist doch selbstverständlich! Als Nachbarn müssen wir doch zusammenhalten!“
Mama schaute Herrn Passlack freundlich an. Doch dessen Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen. Er guckte, als hätte er Zahnschmerzen, das fiel nicht nur Rahel auf.
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Mama. „Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.“
Herr Passlack nickte erleichtert und folgte Mama ins Wohnzimmer.
„Haben Sie Ihre Frau schon angerufen?“, hörte Rahel Mama noch fragen, dann stieg sie die Stufen wieder hinauf und setzte sich vor ihr Tagebuch.
Die Stimmen im Wohnzimmer waren kaum noch zu hören. Sie sah auf ihre Uhr. Fast eins. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Bald würde sie sich um ihre Hausaufgaben kümmern müssen. Rahel gähnte und schraubte den Füller wieder zu. Dann stand sie auf und legte sich kurzentschlossen aufs Bett. Erst im Liegen merkte sie, wie müde sie wirklich war. Die Erkältung ist wohl doch noch nicht ganz vorbei, dachte sie und nickte ein.
Dreißig Minuten später bellte Caruso sie aus ihren Träumen. Sie fuhr hoch und war sofort hellwach.
„Aus, Caruso!“, befahl eine tiefe Männerstimme, und der Hund verstummte augenblicklich. „Sitz!“, sagte dieselbe Stimme kurz und knapp. Dann folgte ein hohes, langgezogenes „Feiiiiin!“
Rahel lächelte. Sie streckte sich, stand auf und verließ ihr Zimmer. Unten saß Caruso brav an der Tür und klopfte mit seinem langen Schwanz auf den Boden.
„Hallo, Opa Peter!“, grüßte sie den großen und kräftigen Mann, der gerade hereingekommen war.
Herr Schmickler Senior beugte sich zu dem Hund hinab, um ihm eine Belohnung zu geben. Nachdem er den Riesenschnauzer noch einmal getätschelt hatte, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Sein Kopf reichte jetzt fast bis zum Türrahmen, und seine grün-grauen Augen leuchteten fröhlich hinter der eckigen dunklen Hornbrille. Er strich sich durch den dichten, kurzen Vollbart, der dieselbe grau-braune Farbe wie die vollen Augenbrauen hatte. Nur Opas Haare auf dem Kopf waren schon dünner geworden. Wenn das und die grauen Strähnen nicht gewesen wären, sähe er noch genauso aus wie Papa, dachte Rahel. Na ja, fast. Oder wie Jürgen Klopp, der Fußballtrainer. Schade, dass der schon lange nicht mehr bei Dortmund war.
„Hallo, Rahel, na, geht es dir besser?“, fragte der Mann jetzt und schaute seine Enkelin an. „Ich hoffe, du hast genauso einen Appetit wie ich.“
„Tatsächlich habe ich gerade geschlafen, als Caruso so bellte. Und da ich den ganzen Vormittag in meinem Zimmer verbracht habe und nicht im Wald wie du, hält sich mein Hunger in Grenzen. Ich weiß auch nicht, ob Mama überhaupt gekocht hat.“
Rahel machte absichtlich eine Pause. Opa Peters Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er es für ausgeschlossen hielt, dass seine Schwiegertochter nichts gekocht haben könnte.
„Nein?!“, fragte er trotzdem.
„Bei unseren Nachbarn wurde nämlich eingebrochen!“, verkündete Rahel triumphierend.
„Tatsächlich?! Bei wem?“
„Bei Passlacks, und Mama hat die Polizei gerufen.“
„Na, sieh mal einer an!“, murmelte Opa. „Ausgerechnet, wenn ich Holz mache.“
Rahel beobachtete, wie Papas Vater seine Jacke und Schuhe auszog und in den Schmutzraum brachte, der direkt neben dem Eingang lag. Hier lagerte die Arbeitskleidung von Opa und Onkel Anton, die nach der Arbeit einen kleinen Holzhandel betrieben. Obwohl für Opa jetzt immer „nach der Arbeit“ war, da er seit fast fünf Jahren in Rente oder besser in Pension war, wie das bei Polizeibeamten hieß. Er half nur noch ab und zu in der Diensthundeschule aus, wo er früher als Trainer gearbeitet hatte. Es gab sogar eine Dusche in dem Schmutzraum der Schmickler-Männer. Aber die brauchte Opa heute nicht.
„Wie viele Kollegen waren da?“, fragte er.
„Vier. Eine Frau und drei Männer.“
Rahel lächelte. Opa würde immer Polizist bleiben, und alle anderen Polizisten waren seine Kollegen, egal, ob er wirklich mit ihnen zusammengearbeitet hatte oder nicht.
„Und wenn ich das richtig höre, sitzt Herr Passlack immer noch bei Mama im Wohnzimmer. Er ist schon eine Dreiviertelstunde hier.“
„Na fein. Danke, dass du mich auf den neusten Stand gebracht hast oder besser: für das Update, wie ihr sagt?“
„Die Info“, grinste Rahel.
„Na, danke für die Info. Komm, wir schauen mal, ob wir deine Mama da loseisen können. Dann gibt’s vielleicht doch noch was Leckeres.“
Rahel lachte. Ihr Opa aß gern, obwohl man ihm das nicht ansah. Er war fast den ganzen Tag in der Natur, sei es beim Joggen mit Caruso oder bei der Arbeit im Wald. Da verbrauchte er genug Kalorien.
„Keine Angst. Ein Tag ohne Kochen kommt für Mama nicht infrage. Dafür macht es ihr viel zu viel Spaß. Bei uns gibt es nur Fast Food, wenn Mama krank oder auf Konzertreise ist.“
„Weiß ich doch“, sagte Opa und betrat das Wohnzimmer.
Herr Passlack sprang vom Sofa auf, als hätte ihn etwas gestochen.
„Herr Schmickler, guten Tag, ich wollte gerade gehen.“
„Das ist nicht nötig, Herr Passlack. Sie stören nicht“, beruhigte ihn Opa. „Rahel hat mir eben erzählt, was passiert ist. Geht es Ihnen und Ihrer Familie den Umständen entsprechend gut? Ich nehme an, Sie waren alle bei der Arbeit beziehungsweise in der Schule.“
Aufmerksam sah er den Nachbarn an. Da Herr Passlack die Burgenacher Filiale einer mittelgroßen Supermarktkette leitete, war er nicht nur Opa Peter, sondern jedem in Brehl bekannt. Sein RHEKA-Markt lag direkt an der Bundesstraße. RHEKA stand für Rheinische Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler. Aber RHEKA war kürzer und passte besser auf die Lkws, die die Waren anlieferten. Herr Passlack nestelte an seinem Kragen und öffnete den obersten Knopf.
„Ja, danke, soweit … ja, genau. Ich bin sofort losgefahren, als mich die Polizei benachrichtigte. Es wurde anscheinend nichts gestohlen, jedenfalls ist mir nichts aufgefallen. Die Polizei kam wohl rechtzeitig.“
„Gut! – Hallo, Hannah!“, sagte Opa und nickte seiner Schwiegertochter zu.
„Hallo, Paps!“
Rahels Mutter nickte zurück. Papas Vater nannte sie „Paps“ und ihren eigenen „Papa“. Sie lächelte und stand auf.
„Die allermeisten Einbrüche finden statt, wenn niemand zu Hause ist“, erklärte Opa Herrn Passlack.
„Sie dürfen ruhig noch einmal Platz nehmen“, lud auch Hannah Schmickler ihren Nachbarn ein. „Nur muss ich jetzt in die Küche und kochen. Nach der Aufregung brauche ich dringend etwas Entspannung.“
„Sie finden Kochen entspannend?“, fragte Herr Passlack überrascht und ließ sich zurück aufs Sofa plumpsen.
„Jaaa!“ Frau Schmickler strahlte. „Ich bin Künstlerin, und auch Kochen kann Kunst sein. Dann macht es richtig Spaß. Aber ehrlich gesagt esse ich auch gerne, und einer muss ja kochen.“
Sie errötete leicht, als wäre es peinlich, was sie gesagt hatte.
„Wollen Sie zum Essen bleiben?“, lud Herr Schmickler seinen Nachbarn ein.
„Nein, nein, danke. Ich muss gleich wieder rüber!“
„Wie lange war denn der Einbrecher im Haus?“, fragte Opa, als Mama gegangen war, und setzte sich. Caruso ließ sich zu seinen Füßen nieder und schaute den Nachbarn mit seinen braunen Augen aufmerksam an. Herr Passlack zuckte die Schultern. Jetzt wurde sein Gesicht rot.
„Bis die Polizei kam, hat es gute zehn Minuten gedauert“, sagte Rahel. „Dann sind sie erst ums Haus rum und wieder zurück, bevor er oder sie vom Balkon gesprungen ist.“
„Um die üblichen Verstecke zu durchsuchen, reicht das eigentlich. Haben Sie etwas Wertvolles im Haus?“
Herr Passlack schüttelte eifrig den Kopf. Seine Stirn wurde feucht und glänzte vom Schweiß.
„Denken Sie, Ihre Kollegen kriegen den?“, fragte er und holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche.
„Das ist schwer zu sagen. Leider werden nur die wenigsten Wohnungseinbrüche aufgeklärt“, bedauerte Opa. „Aber bestimmt wird hier in der Gegend für die nächste Zeit mehr Streife gefahren. Ich würde Ihnen empfehlen, sich von der Kriminalpolizei beraten zu lassen, wie Sie Ihr Haus besser sichern können. Es gibt da einige gute Maßnahmen, die sich für wenig Geld realisieren lassen.“
„Vielen Dank für den Tipp! Das werde ich bestimmt tun.“
Herr Passlack tupfte sich mit dem Taschentuch auf der Stirn herum. Als es erneut an der Haustür klingelte, sprang ihr Nachbar schon wieder auf. Er bestand darauf, jetzt zu gehen, und verabschiedete sich energisch von Opa. Dann hetzte er in den Flur und stieß fast mit seiner eigenen Frau zusammen, die Mama gerade hereingebeten hatte.
„Hier steckst du also!“, entfuhr es Frau Passlack. „Und ich wundere mich, wo du bist! Da war so ein seltsamer Anruf gerade. Und wie es im Haus aussieht! Das reinste Chaos! Gut, dass er den Schmuck meiner Mutter nicht gefunden hat …“
„Ein Anruf? Von wem?“
Herr Passlack zerrte schon wieder an seinem Kragen.
„Ach, irgendein Verrückter. Seinen Namen hat er nicht genannt, aber er sprach mit einem ausländischen Akzent …“
Herr Passlack fasste sich an die Brust.
„Ich habe überhaupt nicht verstanden, was er von dir wollte.“
„Von mir?!“, keuchte ihr Mann.
„Ja, er fragte ausdrücklich nach Wolfgang Passlack. Wahrscheinlich irgendein Lieferant. Der meldet sich bestimmt noch mal. Ich habe ihm gesagt, er soll im Büro anrufen und nicht bei uns zu Hause! Wie gesagt, ich konnte ihn ganz schlecht verstehen. Woher hatte der überhaupt unsere Nummer?“
Empört sah Frau Passlack ihren Mann an, als sei er schuld an dem Anruf.
„Danke, Schatz.“
Herr Passlack hustete, und seine Frau sah ihn komisch an.
„Alles in Ordnung, Herr Passlack?“, fragte Rahels Mutter. „Ja, ja, vielen Dank noch mal, Frau Schmickler! Herr Schmickler, wir müssen jetzt rüber und Ordnung machen. Moritz kommt gleich. Der Junge kriegt ja einen Schrecken, wenn wir nicht da sind und alles so herumliegt.“
Ihr Nachbar hatte sich aufrecht hingestellt und zog sein Jackett glatt.
„Ja, natürlich. Wenn ich noch etwas helfen kann, sagen Sie ruhig Bescheid“, sagte Opa und hielt den Passlacks die Tür auf. Als sie eilig über den Hof davoneilten, sah Rahel den beiden stirnrunzelnd hinterher.
„Ein seltsames Paar ist das!“, sagte sie zu Opa.
„Ach, Rahel“, ermahnte Opa Peter sie. „Sei nicht zu streng mit ihnen. So ein Einbruch kann einen ganz schön aufwühlen.“
„Ja, sicher“, gab sie zu. Aber den Schmuck hatte Herr Passlack gar nicht erwähnt … von wegen nichts Wertvolles!, überlegte sie.
Während Rahel den Tisch für das Mittagessen deckte, dachte sie über ihre Nachbarn nach. Herr Passlack war viel aufgeregter gewesen als seine Frau. Seltsam! Als Chef der großen RHEKA-Filiale im nächsten größeren Ort war er doch bestimmt Stress gewohnt. Seine Frau arbeitete als Arzthelferin nur vormittags. Der einzige Sohn, Moritz, war schon 15 Jahre alt und ging in die 10b am Matthias-Claudius-Gymnasium, das auch Rahel und ihr Bruder Silas besuchten.
„Hi, Schwesterherz!“
Ein kräftiger Schlag auf den Rücken riss sie aus ihren Gedanken.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das nicht lustig ist?“, fauchte sie ihren Bruder an.
„Sorry, wie geht’s dir?“
„Besser.“
„Schön. Was gibt’s?“
„Hähnchengeschnetzeltes mit Basmatireis, dazu gedünstete Erbsen und Möhren, zum Nachtisch Obstsalat!“, sagte Mama und stellte eine dampfende Schüssel auf den Tisch.
„Lecker!“
Silas strich sich über sein Bäuchlein. Er hatte dieselbe Figur wie Mama, die gleiche Haarfarbe und ihre Sommersprossen. Die kleine, leicht aufwärts gebogene Nase, die bei Mama süß aussah, verlieh seinem runden Jungengesicht allerdings etwas von Schweinchen Dick.