Deutschland - Michael Gehler - E-Book

Deutschland E-Book

Michael Gehler

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Beschreibung

Entfremdung, Konfrontation und Systemwettbewerb prägten die beiden Nachkriegsstaaten, die Bundesrepublik und die DDR. Die "soziale Marktwirtschaft" stand mit dem "Wirtschaftswunder" der sozialistischen Planwirtschaft mit der "Neuen Wirtschaftsordnung" gegenüber. Beide Staaten repräsentierten die geteilte deutsche Nation. Die Unzufriedenheit mit den Nachwehen der Ära Adenauer artikulierte sich in der 1968er Protestbewegung. Eine sozial-liberale Ära unter Brandt und Schmidt folgte. Es kam zu einer pragmatischen Annäherung beider Staaten. Nach dem "Fall der Mauer" wurde das vereinte Deutschland in den verstärkten Rahmen der EU ökonomisch und währungspolitisch sowie durch die NATO-Osterweiterung vollends sicherheitspolitisch eingebunden. Die Ära Kohl endete mit großem Reformstau, aber die Berliner Republik begann Konturen anzunehmen. Rot-Grün unter Schröder und Fischer startete mit der "Agenda 2000", verlor allerdings die Wählergunst. Die Ära Merkel war eine Kanzlerschaft im Krisenmodus voller Widersprüche: Sie ermöglichte unter deutscher EU-Präsidentschaft 2007 den Unionsvertrag von Lissabon und spielte mit Frankreich eine führende Rolle beim Zusammenhalt der Eurozone. In der "Flüchtlingskrise" 2015 provozierte sie die Spaltung der EU-Mitglieder. Chancen für eine neue Dynamik der Integration wurden 2017-2019 vertan. Die Corona-Krise 2020 hat die Große Koalition vor eine noch größere Herausforderung als die Banken- und Finanzkrise von 2008/09 gestellt. Das Land ist 30 Jahre nach der Einheit gesellschaftlich und politisch gespalten. Aspekte der Außen- und Innenpolitik sowie der Gesellschaft, Medien und Wirtschaft, aber auch des Alltags wie des Sports und der Unterhaltung werden in dieser Gesamtdarstellung von 1945 bis 2020 behandelt.

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Michael Gehler

Deutschland

Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Birgit Kinder/Alamy: Trabi, East Side Gallery, Mühlenstraße, Berlin

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52101-1

Inhalt

Vorwort

1.Deutschland-Frage und zwei deutsche Staaten (1945/49–1961)

1.1 »Germany first«: Die European Advisory Commission (EAC) 1943–45

1.2 Widersprüchliche Befreiung 1945: Bedingungslose Kapitulation, Bombenkrieg, »Zusammenbruch« und »Stunde Null«?

1.3 Jalta, Potsdam und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten 1945

1.4 Alliierte Kontrolle der Reorganisation von Partei- und Länderpolitik 1945–47

1.5 Entstehung unterschiedlicher Erinnerungskulturen

1.6 Exempel ohne weitreichende Folgen: Das IMT in Nürnberg 1945/46 und die Nachfolgeprozesse, versandete Entnazifizierung und schwierige Wiedereingliederung

1.7 Beginn des Kalten Kriegs und Präjudizien für die innerdeutsche Teilung: Bizone, Münchner Ministerpräsidentenkonferenz 1947 und »Trizonesien« 1948

1.8 Der erste Sieg der Westmächte im frühen Kalten Krieg um Deutschland

1.9 Ein doppeltes Provisorium unter Besatzungsherrschaft

1.10 Äußere und innere Teilintegration der BRD und DDR

1.11 »Wiedergutmachung« der BRD – Ablehnung durch die DDR

1.12 Eingeschränkte Westeuropapolitik: Mitbegründung der Montanunion, Beitritt zum Europarat, »Deutschlandvertrag« und Scheitern der Europaarmee

1.13 Westliche vor östlicher Militärblockbildung – die Militarisierung beider deutscher Staaten

1.14 Zwei deutsche Staaten – zwei deutsche Systeme

1.15 Konträre Außenpolitik der BRD und DDR

2.Verfestigung der Teilung (1961–1972)

2.1 Stabilisierung der DDR und fortgesetzte Westintegration der Bundesrepublik unter Erhard und Kiesinger

2.2 Die kurze Kanzlerschaft Ludwig Erhards (1963–1966) und die Große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger (1966–1969) als Übergangsphasen

2.3 Die anderen und neuen Gesichter der BRD: »Gastarbeiter«, Extremismus und die 1968er-Studentenbewegung

2.4 Machtwechsel in Bonn: Die sozialliberale Koalition Brandt-Scheel (1969–1974)

3.»Wandel durch Annäherung«, Entspannung und Normalisierung (1972–1979)

3.1 Schwierige Begegnungen und extrem mühsame Verhandlungen: EG-Erweiterung, UNO-Beitritte, KSZE und die deutsch-deutschen Beziehungen

3.2 Die Affäre Guillaume als Pyrrhussieg der DDR – SED-Abgrenzungspolitik – Fortsetzung der sozial-liberalen Koalition unter Schmidt und Genscher

3.3 Ölkrise, Wachstumsgrenzen, Arbeitslosigkeit und die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«: Die Lage in beiden deutschen Staaten

3.4 Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter, Extremisten-Beschluss, Berufsverbote und die Rote Armee Fraktion

3.5 Bürgerinitiativen, Frauen-Emanzipation, Mitbestimmung, alternative Energien und Erweiterung des traditionellen Parteienspektrums

4.Entspannung in der Krise, Neue Konfrontation, Rüstungsabbau und Blockerosion (1979–1989)

4.1 Afghanistan-Intervention der UdSSR, KSZE-Nachfolgeprozess, NATO-Doppelbeschluss, Friedensbewegung und Raketen-Stationierung und Helsinki-Effekte dank Gorbatschow

4.2 Konstruktives Misstrauensvotum gegen Schmidt, konservative Wende unter Kohl und Etablierung der Grünen

4.3 Der INF-Vertrag und die Verantwortungsgemeinschaft der deutschen Staaten

4.4 Erinnerung an die Weltkriege, Historikerstreit und die Frage der Aussiedler

4.5 Tschernobyl und die Anti-AKW-Bewegung – Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf – Fortschritte in der EG-Integration

4.6 Steigende Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung sowie Skandale in der Bonner Republik und der DDR

4.7 Weder Glasnost noch Perestroika in der DDR, Honecker-Besuch in Bonn, SED-Repression, Kirchenopposition und erste Anzeichen der Erosion

5.Wiederkehr der »Deutschen Frage« und Vereinigung Deutschlands (1989/90)

5.1 Hintergründe und Voraussetzungen der Veränderungen in Ostdeutschland

5.2 Wirtschaftlicher Niedergang, Botschaftsbesetzungen, Radikalisierung und gelungene Massenflucht über Ungarn

5.3 Vorboten des 9. November: Abbau der ungarischen Grenzanlagen, das Paneuropa-Picknick und die offizielle Grenzöffnung zu Österreich und die Angst vor einer »chinesischen Lösung«

5.4 Gescheitertes Jubiläum 40 Jahre DDR, Ablöse Honeckers und Kollektiv-Rücktritt des ZK

5.5 Die Öffnung der Grenzübergänge am 9. November und Kohls »Zehn-Punkte-Plan«

5.6 SED-Krise, Bürgerrechtsgruppen, die Übergangsregierung Modrow und der »Zentrale Runde Tisch«

5.7 Deutsch-deutsches Treffen in Dresden, Öffnung des Brandenburger Tors, Wochen des Schweigens in Moskau und Vermeidung eines Chaos

5.8 Schwer lastendes Stasi-Erbe und vorgezogene Volkskammerwahlen

5.9 Deutsch-deutsche Währungsunion, die Oder-Neiße-Frage, Sorge bei den westlichen Partnern und die »Zwei-plus-Vier-Verhandlungen«

5.10 Keine militärische Vereinigung: Die NVA als ungeliebtes Kind der deutschen Einheit

5.11 Doppelte Repräsentation und das Ende der geteilten Auslandskulturpolitik 1989/90

5.12 Helmut Kohl als »Kanzler der Einheit« – Kontrastprogramm zur »Deutschlandpolitik« von Konrad Adenauer

5.13 Legalisierter Vollzug der Einigung nach Artikel 23 Grundgesetz

6.Folgen und Lasten der Einheit: Transformation, Stagnation und der Ausklang der Ära Kohl (1990–1998)

6.1 Erste gesamtdeutsche Wahlen und der Preis der Einheit

6.2 Die »Treuhand«: Prügelknabe und Sündenbock – Bilanz einer finanziellen und einmaligen ökonomischen Katastrophe

6.3 Von der Provinz in die Metropole: Berlin wird neue Hauptstadt und Bonn Bundesstadt

6.4 Im Zeichen der Rezession: Stagnation und Krise des Sozial- und Wohlfahrtsstaats

6.5 Rechts- und Linksextremismus: Anschläge auf Ausländer und die letzten RAF-Attentate gegen das BRD-»Establishment«

6.6 Vorbereitung des Euro und stärkeres internationales Engagement: Kontroversen über Deutschlands Rolle in Europa und der Welt

6.7 Grundgesetz-Änderungen, ein erster gesamtdeutscher Bundespräsident und die politische Rolle des Bundesverfassungsgerichts

6.8 Bundestagswahl, Sieg für Rot-Grün und Ablösung Kohls 1998

7.»Rot-Grün« als Experiment auf halbem Weg (1998–2005)

7.1 Die Hauptakteure: Gerhard Schröder und Joschka Fischer

7.2 Schröders »neue Mitte«, Lafontaines Rücktritt und Verluste bei den Grünen

7.3 Umstrittene Außenpolitik: »Kosovokrieg« 1999 und Friedensmission in Mazedonien

7.4 Aufschwung und Rückschlag der CDU durch die Spendenaffäre

7.5 Deregulierung und Internationalisierung: Deutschlands Rolle im Zeichen der Globalisierung und EU-»Osterweiterung«

7.6 Steuer- und Rentenreform sowie Schuldenabbau – Atomausstieg und Diversifizierung der Gesellschaft

7.7 Entscheidung für Zwangsarbeiterentschädigung und Kontroverse um das Holocaust-Mahnmal in Berlin

7.8 Streit um Staatsangehörigkeitsrecht – Einwanderungsland Deutschland

7.9 Terrorismusbekämpfung im Zuge von »9/11« und Vertrauensfrage im Bundestag für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr

7.10 Euroeinführung, Flutkatastrophe und die Ablehnung des Irakkriegs: Knapper Wahlsieg für Rot-Grün 2002

7.11 Grenzen der Reformpolitik, Neuwahlen und das Ende von Rot-Grün 2005

7.12 Rot-Grün als Projekt: Gemischte Bilanz einer einmaligen Regierung

8.Bruch und Tradition: Große Koalition unter Angela Merkel (2005–2009)

8.1 Angela Merkel: Der Weg zur ersten Bundeskanzlerin

8.2 Große Koalition unter Merkel als Bundeskanzlerin

8.3 Aktive Außenpolitik, EU-Ratspräsidentschaft und Bindung zu Israel

8.4 Fortgesetzte Reformpolitik mit Erfolgen und Misserfolgen

8.5 Finanz- und Wirtschaftskrise, ein Wahlkampf der Ausschließlichkeit, Bundestagswahlen und das Ende der Großen Koalition (2008/09)

8.6 Fazit einer »Zwangsehe«

9.Die schwarz-gelbe Koalition (2009–2013)

9.1 »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa«: Griechenland-Krise und »Rettungsschirme«

9.2 Anhaltender »Aufbau Ost«, abrupter Ausstieg aus der Atomenergie und ein neonazistischer Untergrund

9.3 In der Afghanistan-Falle: ISAF als Mission Impossible, »Kundūz-Affäre« und die späte Erkenntnis eines Kriegseinsatzes

9.4 Die NSA-Affäre und die Frage der deutschen Souveränität

9.5 Bilanz der schwarz-gelben Koalition

10.Vom europäischen Krisenmanager zur lahmen Ente Europas (2014–2017)

10.1 Gesellschaftliche Umbrüche, Wandlungen und Verwerfungen

10.2 »Flüchtlingskrise« oder die Problematik von »Wir schaffen das!«

10.3 Islamistischer Terrorismus, Merkels sinkender Stern und Deutschlands Verlust an Führungsfähigkeit in Europa

10.4 Schließung der Balkanroute, Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, Spannungen mit Ankara und Etablierung der AfD

10.5 Sanktionen gegen Russland, Diesel-Skandal und das »Brexit«-Referendum im Vereinigten Königreich

10.6 Rechtsextremistische Untergründe

11.Die ausklingende Ära Merkel und die Berliner Republik am Scheideweg (2017–2020)

11.1 Die Bundestagswahl 2017 als politisches Erdbeben und der Einzug der AfD in den Bundestag

11.2 Der Aachener Vertrag – kein verheißungsvoller Neustart für Europa

11.3 Deutschland im 21. Jahrhundert – eine vorläufige Bilanz der Ära Merkel

12.Drei unterschiedliche Republiken mit zehn verschiedenen Dimensionen: Bonn – Pankow – Berlin

12.1 Die geschichtliche und historiographische Dimension deutscher Staatlichkeit

12.2 Die Dimension des demokratie-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zusammenhangs

12.3 Die Dimension der äußeren und inneren Sicherheit – ein gemeinsames Anliegen

12.4 Die außenpolitische Dimension als Divergenz-Problem

12.5 Die Dimension der deutschen Einheit 1989/90 als nationaler Aufstand

12.6 Die Dimension der geteilten Nation mit den Langzeitfolgen einer gespaltenen Gesellschaft

12.7 Die Dimension der Identitätskompensationen

12.8 Die vergangenheitspolitische Dimension

12.9 Die Dimension der Wirtschafts- und Zahlungspolitik

12.10 Die neue Dimension der Berliner Republik

Abkürzungsverzeichnis

Bibliografie

Verzeichnis der Abbildungen und Grafiken

Abbildungen

Grafiken

Personenverzeichnis

Vorwort

Blickt man zurück auf die deutsche Geschichte, so trifft der Titel des Buchs »Achterbahn« von Ian Kershaw zur Geschichte Europas gleichermaßen auch für die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert voll und ganz zu. Es erlebte das Ende einer Monarchie, einer Republik und von zwei totalitären Diktaturen. Mit dieser Erfahrung des Zusammenbruchs von vier staatlichen Systemen (1918, 1933, 1945 und 1989/90) musste man umgehen lernen.

Nach der Diktatur der ideologischen Verführung, Vernichtung und Zustimmung des Nationalsozialismus (1933–1945) folgte mit der DDR eine Diktatur der weltanschaulichen Erziehung, Unterdrückung und Überwachung (1949–1989).

In Anlehnung an das autobiographische Werk von Fritz Stern »Fünf Deutschland und ein Leben«, der ausgehend von seinen Erlebnissen in der Weimarer Republik, im »Dritten Reich«, in der DDR, der Bundesrepublik und der Berliner Republik seine Erinnerungen verfasst hat, handelt dieses Buch von drei deutsche Staaten: der BRD von 1949–1990, der DDR im gleichen Zeitraum und der Berliner Republik im Zuge der deutschen Vereinigung.

Allein die Geschichte nach 1945 bietet schon reichlich Stoff für drei deutsche Staaten. Zudem fragt sich nicht nur, wann die Berliner Republik, so ein Buchtitel von Manfred Görtemaker, im Bewusstsein der Menschen eingesetzt und im Denken der Politik eigentlich begonnen hat, sondern inwieweit nach 1945, 1955 und 1989/90 oder auch mit dem Jahr 2015 und der »Flüchtlingskrise« eine weitere Zäsur für eine anders gewordene deutsche Republik gegeben ist.

Aspekte der Innen-, Außen-, Sozial-, Kultur-, Medien-, Industrie-, Technik-, Sport-, Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik werden in beiden deutschen Staaten vor 1990 gleichermaßen behandelt, weil es zu lange eine selektive Geschichtsschreibung zu jeweils einem der deutschen Staaten ohne größere Bezugnahme auf den anderen gegeben hat.

Die BRD und die DDR blieben trotz der Auseinanderentwicklung ihrer Gesellschaften und der Entfremdung der Menschen sowie trotz ideologischer Gegensätzlichkeit, politischer Konfrontation der Regime und territorialer Teilung aufeinander bezogen. Mehr noch waren sie voneinander abhängig, bedingt durch die über vier Jahrzehnte währende, verbissen ausgetragene Systemkonkurrenz des doppelten Deutschland (Udo Wengst/Hermann Wentker).

Jeweils der eine Staat wollte den anderen ausstechen, übertrumpfen und sich als der bessere und überlegene erweisen. Permanente Bezogenheit und strukturelle Abhängigkeit beherrschten die Beziehungen. Dieser Dauerzustand hat sich auf die jeweiligen Geschichtsbetrachtungen beiderseits der Elbe ausgewirkt und wirkt in der wechselseitigen Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Deutschen in Ost wie West bis heute nach.

Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: Die Geschichte der Bundesrepublik wurde von der westdeutschen Historiographie weitgehend als Geschichte des ›besseren‹ Deutschlands dargestellt, eines Deutschlands, das als Sieger aus der innerdeutschen Auseinandersetzung hervorgegangen war. Diese Dichotomie von Erfolg und Misserfolg, also die binäre Opposition von ›Gewinnern‹ und ›Verlierern‹ begegnet einem immer noch in vielen Darstellungen. Sie wird die Geschichtsschreibung nicht weiterbringen, zumal wenn sie sich betont einseitig mit Defiziten, Mängeln und Schwächen nur einer Seite befasst, ohne ebenso auf die der anderen Seite einzugehen, um ein einigermaßen ausgewogenes Bild zu zeichnen.

Es reicht bei einer Gesamtbetrachtung auch nicht aus, die beiden deutschen Staaten nur nebeneinander und gegenüberzustellen, denn Deutschland von 1945/49 bis 1990 war mehr als nur die Summe seiner Einzelteile. Es gilt daher, beide Staaten nach gleichen Kriterien zu betrachten und sie nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen, nicht lediglich allein aus westlicher oder nur aus östlicher Sicht, sondern aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers mit gebührendem Abstand und der Identifizierung von Analogien, Parallelen, Übergängen und Überlappungen.

Eine mittlere und neuere Historiker-Generation, wie beispielsweise Frank Bösch, Stefan Creuzberger, Dominik Geppert oder Dierk Hoffmann fragte sich schon, wie die Geschichte einer gespaltenen Nation zwischen 1945 und 1990 zu schreiben ist, die als »geteilte Geschichte« (Frank Bösch) schon zu schreiben begonnen worden ist. Die Diskussion ist bereits im Gange und zeigt, welche Lücken und Versäumnisse die jeweiligen ›Separat-Historiographien‹ der Teilstaaten hinterlassen haben.

Dieses Buch ist eine ausgeweitete Fortschreibung von »Deutschland. Von der Teilung zur Einigung 1945 bis heute«, das in der Darstellung 2009 endete. Neue Kapitel sind zu den bereits genannten Themenfeldern (Kultur, Literatur, Medien, Industrie, Technik, Sport und Unterhaltung etc.) hinzugekommen. Inzwischen ist nicht nur ein ereignisreiches Jahrzehnt vergangen, das es neu zu erzählen gilt, sondern auch eine Reihe neuester Forschungsliteratur erschienen, die zu berücksichtigen war.

Die »Berliner Republik«, so Manfred Görtemaker, musste als Zentralmacht Europas ihrer Verantwortung im Zeichen wiederkehrender Herausforderungen (Kosovo-Krise, »Euro«-Krise, »Flüchtlingskrise«, Ukraine-Krise, »Brexit«-Krise, Klimakrise und zuletzt die Corona-Krise) gerecht werden. Sie wurde aber auch im Wege ihres Krisenmanagements, v. a. im Rahmen der EU, zunehmend kritisiert und dabei die Rolle von Bundeskanzlerin Merkel hinterfragt. Die veränderte parteipolitische Landschaft mit dem Aufschwung der Grünen und dem Einzug der populistisch-rechtsbürgerlichen Protestwählerpartei »Alternative für Deutschland« (AfD) in den Bundestag war einzuarbeiten und die ausklingende Ära Merkel zu bilanzieren.

Die Jahre ab 2015 in Deutschland sind von einer veränderten innenpolitischen Entwicklung gekennzeichnet gewesen. Das noch junge Selbstverständnis von einer ›Einwanderungsgesellschaft‹ war starken Spannungen ausgesetzt und hat Risse erhalten. Neue politische Bewegungen und eine immer hemmungsloser gewordene Kommunikationsgesellschaft jenseits der öffentlich-rechtlichen Medien haben das gesellschaftliche Klima radikalisiert sowie das klassische politische System der Volksparteien (CDU/CSU und SPD) heftig auseinandergewirbelt und bereits erodieren lassen.

Die verschiedenen Koalitionsregierungen waren und sind mit einer Fülle kaum mehr zu bewältigender Herausforderungen und zahlreicher noch ungelöster Zukunftsaufgaben (Altersversorgung, Digitalisierung, Energiewende, Gesundheitssystem. Klimawandel, Migration, Verkehrsinfrastruktur und Wohnraumfrage) konfrontiert gewesen. Sie brachten sie an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit und Problemlösungskapazität. Nicht zuletzt deshalb ist seit der staatlichen Einheit Deutschlands Gesellschaft und Politik in der Beurteilung dieser Zukunftsfragen gespaltener denn je, zumal die Folgen der politischen Entscheidungen nicht abschätzbar sind.

Die Große Koalition befand sich mehrfach in einer tiefgehenden Krise. Das führte bereits zu geschwächter deutscher Führungsfähigkeit in der EU. Die Corona-Krise stellte sie vor ungeahnte existentielle Herausforderungen, zumal es um die Gesundheit der Bevölkerung, die Wirtschaft des Landes und die rechtsstaatliche Verfassung ging. Die Große Koalition wuchs angesichts dieser Pandemie über sich hinaus und gewann zunehmend öffentliche Anerkennung zurück.

Autor und Verlag dieses Buches haben sich aus all den genannten Gründen und Überlegungen für ein neues Buch der Geschichte Deutschlands von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft entschieden, zumal die Folgen der deutschen Einigung nach wie vor nicht ausdiskutiert, verarbeitet und immer noch ein kontroverses öffentliches Thema sind.

Ohne die weiter fortwirkende Geschichte der zwei deutschen Staaten – die DDR ist in den Köpfen der mittleren und älteren Generation der Ostdeutschen nach wie vor sehr präsent – in die Gegenwartsbetrachtung miteinzubeziehen, ist Deutschland 30 Jahre nach der »Wiedervereinigung« kaum zu verstehen.

In Form von Kästen werden Kurzbiographien von zentralen politischen Akteuren wie Konrad Adenauer, Walter Ulbricht, Helmut Schmidt, Erich Honecker, Helmut Kohl, Joschka Fischer, Angela Merkel und Wolfgang Schäuble geboten. Eine andere Form von Kästen betreffen historische Ereignisse wie Ulbrichts Dementi des Mauerbaus 1961, Brandts Kniefall in Warschau 1970, Honeckers Besuch in der Bundesrepublik 1987, Schabowskis berühmte Pressekonferenz am 9. November 1989 oder Merkels »Wir schaffen das!« 2015.

Herrn Dr. Otto May/Hildesheim danke ich für postalische Dokumente wie Ersttagsbriefe aus seiner Sammlung. Frank Binkowski hat mich bei der Durchsicht der Kapitel und der Fertigstellung der neuen Kapitel mit Informationen und Material unterstützt. Vom Verlag hat mich Dr. Victor Wang mit Rat und Tat begleitet. Frau Katrin Reineke hat vielfältige Wünsche zu den Grafiken sorgfältig und umsichtig umgesetzt. Frau Löw hat die aktuellen Kapitel Korrektur gelesen. Sie und Herr Binkowski waren auch bei der Umbruchkorrektur im Einsatz. Ihnen allen gebührt mein außerordentlicher Dank.

Für alle verbliebenen Fehler und Unzulänglichkeiten bin ich allein verantwortlich. Es sei das Buch insbesondere Leserinnen und Lesern gewidmet, die sich der Thematik nicht allein aus einer westdeutschen oder ostdeutschen Perspektive nähern, sondern sich um eine ausgewogene, neutrale und objektive Sicht bemühen, unvoreingenommen und unabhängig vom Ausgang der Geschichte die Entwicklung der deutschen Staaten angemessen, aber auch kritisch betrachtet sehen wollen.

Michael Gehler

Hildesheim, Mai 2020

PS: Nach Manuskriptabschluss erschien Edgar Wolfrums Buch »Der Aufsteiger. Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute«. Vorliegendes Buch lässt eine solche Rollenzuschreibung nicht zu. Trotz des Zuwachses bei Bevölkerungszahl und Gebietsstand sowie gesteigerter Ausfuhr (bei eigenem Wertschöpfungsverlust der Exportgüter), positiver Leistungsbilanz, ökonomischen Wachstums und gestiegener Wirtschaftsleistung stehen diesen andere Befunde entgegen: Das Land ringt seit 1990 mit dem inneren Zusammenhalt. Es ist ideologisch, gesellschaftlich, politisch und innerparteilich gespalten, ja 2020 zerrissener denn je. Das war seiner Position der Stärke abträglich. Ohne Deutschland wären zwar weder der Euro (2002) noch die EU-Osterweiterung (2004) so schnell gekommen, doch seit der Banken- und Finanzkrise (2010) ist es in der EU angefochten. Seit der »Flüchtlingskrise« (2015) angeschlagen, konnte sich Deutschland unter den EU-27 nicht mehr behaupten. Es hat zur Nord-Süd- und Ost-West-Spaltung der Union in der Euro- bzw. Migrationsfrage mitbeigetragen und sich damit selbst geschwächt sowie den »Brexit« nicht verhindern können. In der Bewältigung der Corona-Krise setzte sich Berlin auch gemeinsam mit Paris gegen EU-Klein- und Mittelstaaten nicht durch. Seit einer Dekade im europa-, integrations- und innenpolitischen Krisenmodus, reicht für die Bändigung der Zentrifugalkräfte in der EU und die Sicherung ihres Zusammenhalts sowie die Verhinderung des Auseinanderdriftens und des Niedergangs des Westens die Kraft nicht mehr aus. Betrachtet man die innerdeutsche Lage stichwortartig und alphabetisch durchdekliniert bezüglich Bahn, Bildung, Bundeswehr, Chancengleichheit, Demokratieschutz, Digitalisierung, Einwanderer-Integration, Energie, Frauenquote, Gleichstellung, Klima, Pflege, Umwelt, Verkehrsinfrastruktur und Wohnraum fragt sich, worin der deutsche Aufstieg besteht. Herfried und Marina Münklers Buch »Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland« (2019) bringt diese Zustände realistisch und ungeschönt auf den Punkt. Die Sicherung des Bestehenden, sprich Status quo-Wahrung und Verhinderung weiteren Abstiegs, sind für Deutschland und die EU Herausforderung und Aufgabe genug.

1.Deutschland-Frage und zwei deutsche Staaten (1945/49–1961)

1.1»Germany first«:Die European Advisory Commission (EAC) 1943–45

Der Versuch Adolf Hitlers, mit dem Krieg gegen Polen 1939 und dem Angriff auf die Sowjetunion 1941, »Lebensraum« für das deutsche Volk zu erobern und ein »Großgermanisches Reich« zu schaffen, war aufgrund der gemeinsamen Anstrengungen der Alliierten gescheitert. Bis ins Jahr 1943 gab es allerdings zwischen den drei Hauptverbündeten der Anti-Hitler-Koalition, Großbritannien, der UdSSR und der USA weder eine Vereinbarung noch eine Koordination in der Frage, was nach einem Sieg geschehen sollte. Mit der nach Stalingrad sich abzeichnenden Niederlage der Deutschen Wehrmacht verzahnte sich die Nachkriegsplanung der Alliierten ab Herbst und Winter 1943 stärker.

Die Moskauer Außenministerkonferenz vom 19. Oktober bis 1. November beschloss die Bildung einer gemeinsamen Beratenden Kommission, der European Advisory Commission (EAC). Vom 15. Dezember 1943 bis zur Beendigung ihrer Tätigkeit am 2. August 1945 – ihre Aufgaben wurden vom Alliierten Kontrollrat sowie vom Rat der Außenminister der Vier Mächte übernommen – konzipierte die EAC vier zentrale Dokumente: erstens den Entwurf einer Kapitulationserklärung (25. Juli 1944), zweitens ein Abkommen der Drei Mächte über die Besatzungszonen und die Verwaltung »Groß-Berlins« (12. September 1944), drittens den Kontrollapparat (14. November 1944) sowie viertens die Deklaration der Vier Mächte hinsichtlich der Niederlage der Deutschen und der Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland (5. Juni 1945). Außer mit Deutschland beschäftigte sich die EAC nur mit Bulgarien und Österreich. Es waren die Briten, die im Rahmen der EAC am ehesten »europäisch« dachten und auch das stärkste Interesse an ihrem Fortbestand hatten. Das Allied Consultation Committee (ACC), das am 18. Dezember 1944 seine erste Sitzung abhielt, nahm Zusammenfassungen der Vorschläge der »minor allies« vor, die in der EAC jedoch kaum Beachtung fanden. Die britische Regierung informierte vertraulich ihre Dominions über die Beratungen und behandelte das französische nationale Befreiungskomitee (CFLN) privilegiert.

Die übrigen in London ansässigen europäischen Exilregierungen wurden insgesamt nur oberflächlich und mit geringem Zeitvorsprung vor der Öffentlichkeit über die Resultate der EAC informiert. Die Behandlung der übrigen Verbündeten als »minor allies« machte deutlich, dass für die USA und die UdSSR die Europäer nur ein »minor factor« waren. Wenngleich die Arbeiten der EAC nur langsam vorangingen, war ihr Ergebnis beachtlich.

Mit den Vereinbarungen über die Kontrollprozeduren und die Festlegung der Besatzungszonen in Deutschland und Österreich (eingeschlossen Berlin und Wien) hatte sie entscheidende Vorarbeit für die zukünftige Vier-Mächte-Verwaltung in beiden Ländern geleistet. Das »dismemberment of Germany« (»Zerstückelung Deutschlands«) fand aufgrund unterschiedlicher Überlegungen der »Großen Drei« keinen Konsens. Die EAC erzielte daher nur Minimalkompromisse, während in den Grundsatzfragen vieles offenblieb, woran auch der Alliierte Kontrollrat in Berlin scheitern sollte.

Die großen Erwartungen, die das britische Außenamt, das Foreign Office, auf die EAC gesetzt hatte, sollten sich nicht erfüllen, zumal diese nie über die Gestaltung Europas in der Nachkriegszeit beriet. Ganz abgesehen davon, dass die EAC mit den Abkommen über die bedingungslose Kapitulation und die Besatzungssysteme Deutschlands hinreichend beschäftigt war, fehlte es den anderen Mitgliedern am politischen Willen dazu. Die Bereitschaft Washingtons und Moskaus fehlte, aus der EAC ein Forum für die Planung der Neuordnung Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu machen.

1.2Widersprüchliche Befreiung 1945: Bedingungslose Kapitulation, Bombenkrieg, »Zusammenbruch« und »Stunde Null«?

Ausgehend von der Forderung der Anti-Hitler-Koalition auf der Konferenz von Casablanca vom 14. bis 26. Januar 1943 kapitulierte die Deutsche Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 bedingungslos. Bezeichnend war die Unterfertigung von zwei Kapitulationsurkunden: in Reims gegenüber den westlichen und in Berlin-Karlshorst gegenüber den sowjetischen Militärs. Millionen deutscher Soldaten waren gefallen. Fast jede Familie war davon betroffen.

Das Ende der NS-Herrschaft ging mit der militärischen Besetzung des Deutschen Reichs durch alliierte Truppen einher. Die Sieger und die von der NS-Diktatur unterdrückten und verfolgten Opfer in den Konzentrationslagern empfanden die Niederringung des Hitler-Reichs als Befreiung von der NS-Terrorherrschaft und sprachen darüber auch vollkommen zu Recht so. Als »Befreiung« sah dies aber die Mehrheit der Deutschen nicht unbedingt so. Angesichts des völligen staatlichen Zusammenbruchs herrschte eine gedrückte Stimmung, gleichwohl das Ende des Krieges mit Erleichterung aufgenommen wurde, den die Deutschen durch den amerikanischbritisch-kanadischen Luftkrieg mit Flächenbombardements in den Städten sowohl als individuelle als auch als kollektive Katastrophe, d. h. als entbehrungsreich und leidvoll erlebt hatten. Mehr als 500.000 Zivilisten fanden dabei den Tod. Am schlimmsten traf es Hamburg, als in einer Woche bis zu 40.000 Menschen umkamen.

Viele deutsche Städte wurden noch in den letzten Kriegswochen in Schutt und Asche gelegt. Nicht nur große, sondern auch mittlere und kleinere Städte waren vom alliierten Bombenkrieg schwer betroffen – viele sind ohne jeglichen militärstrategischen Grund angegriffen und zerstört worden. Das »Nürnberg des Nordens«, das mittelalterliche Städtchen Hildesheim mit seinen vielen Kirchen ging am 22. März 1945 zu fast 90 % im britisch-kanadischen Bombenhagel unter. Über tausend Jahre Stadtgeschichte waren in einem Moment zerstört. »Der Augenblick und die Geschichte« nannte es Manfred Overesch. Besonders schwer traf es auch Dresden, wegen seiner Lage und seiner Kunstschätze das »deutsche Elbflorenz« genannt. Wenige Wochen vor Ende des Kriegs wurde das Gesicht dieser Stadt völlig zerstört. Was war geschehen?

Am 13. Februar 1945 gingen in Dresden um 21.41 Uhr die Alarmsirenen los. Bisher hatte die Stadt nur zwei kleinere Luftangriffe erfahren. Fliegerabwehr (Flak) war kaum vorhanden, da diese zur Panzerbekämpfung an der Ostfront eingesetzt war. Um 22.09 Uhr fielen die ersten Bomben aus 243 schwer beladenen britischen Lancaster-Bombern auf das historische Zentrum der Stadt. Langstreckenjäger Typ »Mosquito« hatten zuvor Leuchtmarkierungen vorgenommen.

Die Angriffe dauerten keine 30 Minuten. Zeit für Rettungsaktionen und Löscharbeit war kaum. Eine neuerliche Welle mit 529 Lancaster-Bombern traf ab 1.22 Uhr wieder die Stadt. Anschließend schien Ruhe zu sein – trügerische Ruhe. Elf Stunden später griffen 311 US-amerikanische B-17 »Flying Fortress« (»Fliegende Festung«) mit jeweils über zwei Tonnen Bomben die wehrlose Stadt an. Mustang-Jäger flogen tief, beschossen mit Bordwaffen Straßen und Plätze. Die bereits nach dem ersten Großangriff ausgefallene große Alarmanlage konnte die Dresdner nicht mehr warnen. 210 B-17-Bomber griffen die Stadt am 15. Februar zum letzten Mal an. Da kaum mehr noch etwas zu zerstören war, fielen die Schäden geringer aus als bei den drei vorherigen Bombardements.

Mehrere Tausend Tonnen Brand- und Sprengbomben wurden abgeworfen, sodass für jedes Haus nahezu ein Zentner Sprengstoff abfiel. Der deutsche Historiker und Publizist Jörg Friedrich sprach in seinem Buch »Der Brand«, welches sich mit dem Luftkrieg gegen Deutschland befasst, im Falle der Bombardements von Dresden und Darmstadt von »Präzisionsvernichtung« und seitens des Alliierten Bomber Command von intendierten »Kolossal-Massakern«.

Diese Art von »Befreiung« war mehr als zwiespältig aufzufassen, zumal sie mit dem Tod zehntausender unschuldiger Zivilisten, dem Verlust von Familienangehörigen sowie der Zerstörung von Hab und Gut verbunden war. Dass die amerikanischer B-39 Bomber den Namen »Liberator« trugen, konnte man vor diesem Hintergrund als zynisch empfinden. Der britische Moralphilosoph und Schriftsteller Anthony C. Grayling bejahte die Frage, ob es sich bei den Flächenbombardements um Kriegsverbrechen handelte. Kriegsvölkerrechtlich sprach zwar nichts gegen diese Art von Kampfführung, sie aber moralisch für verwerflich zu halten, sei schwerlich zu bestreiten.

Das kollektive Gedächtnis des Zerstörungsangriffs gegen Dresden blieb in der Bevölkerung bis zum heutigen Tage wach. Am 15. Februar 1945 war die ausgebrannte Dresdner Frauenkirche als Folge der Bombenangriffe eingestürzt. Beginnend mit dem Jahr 1946 gab es mehrere erfolglose Wiederaufbaubestrebungen. Seit dem 13. Februar 1982 wurde der Trümmerberg Symbol der Friedensbewegung »Schwerter zu Pflugscharen« in der DDR und Ort des gewaltfreien Protestes. Im November 1989 gründete sich im Zuge der friedlichen Revolution eine Bürgerinitiative für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, aus der 1990 eine »Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus der Frauenkirche Dresden e. V.« hervorging. 1992 setzten erste Sicherungs- und Planungsarbeiten ein. Ein Jahr darauf folgte die archäologische Enttrümmerung, die 1994 abgeschlossen wurde, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen. 60 Jahre nach Kriegsende war dieser mit der Weihe der Frauenkirche am 30. Oktober 2005 vollendet.

Nicht nur große, sondern auch mittlere und kleinere Städte waren vom Bombenkrieg schwer betroffen. Etwa fünf Millionen Wohnungen waren gänzlich oder stark zerstört (Abb. 1). Die Deutschen lebten in Kellern unter Trümmern, in Baracken oder Behelfswohnungen. Vielfach war die Versorgung mit Strom und Gas zusammengebrochen, Wasser gab es nicht ausreichend. Das Wort »Zusammenbruch« findet seine Erklärung nicht nur mit Blick auf das untergegangene Deutsche Reich und den zerborstenen NS-Staat. Zusammengebrochen und zerstört waren Häuser, Einrichtungen, Verkehrs- und Transportwege, Eisenbahn und Post funktionierten nicht mehr, Behörden und Dienststellen hatten sich aufgelöst.

Die alliierten »Befreier« waren von der Mehrheit der »Volksgenossen« weder herbeigerufen worden, noch war die Besetzung Deutschlands wirklich erwünscht. Es gab Verbote der Verbrüderung (»non-fraternization«) mit den »Befreiten«, die die Art und Weise der Befreiung als zumindest zwiespältig empfanden. Von Freundschaft und Bündnispartnerschaft auf breiter Basis konnte bei Kriegsende und den ersten nachfolgenden Jahren keine Rede sein.

Für viele Deutsche bedeutete das Jahr 1945 einen tiefen persönlichen Einschnitt: Der Nationalsozialismus hatte sich als verbrecherische Bewegung und zerstörerisches System erwiesen. Mitunter war man mitverantwortlich oder gar mitschuldig geworden. Traditionen waren abgeschnitten und Wertvorstellungen erschüttert. »Autorität«, »Führung«, »Fleiß«, »Nation«, »Ruhe« und »Ordnung« hatten bei all ihrer Problematik Werte dargestellt und entsprechende Orientierungen gegeben. Sie schienen nun wertlos, jedenfalls durch Hitler und seine Schergen instrumentalisiert und pervertiert. Die Besetzung des Landes bedeutete für viele Deutsche Angst und Ungewissheit vor der Zukunft. Nicht wenige Herrschaftsträger, Funktionäre sowie Anhänger und Sympathisanten des Nationalsozialismus begingen Selbstmord.

Die Militärokkupation und die unterschiedliche Besatzungspolitik in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und den westlichen Zonen zogen unterschiedliche Gesellschafts-, Ordnungs-, Sozial- und Wirtschaftssysteme nach sich, die die äußerliche Teilung und die innere Spaltung Deutschlands einleiteten. Weder Hitler, zu dem die Mehrheit der Deutschen bis zuletzt hielten, noch sein Krieg, den viele Deutsche als eine Art »Strafe Gottes« empfanden, sondern die verschiedenen Besatzungspraktiken und die gegensätzlichen alliierten Vorstellungen über die zukünftige Regelung der deutschen Frage sollten zu einer geteilten Nation führen.

Abb. 1: Kriegszerstörungen in den deutschen Städten

Auch für viele der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten, die in den Westzonen und der späteren Bundesrepublik unterkamen, musste der Begriff der »Befreiung« zynisch wirken, von der SBZ ganz zu schweigen. Die Menschen fühlten sich dort alles andere als »befreit«. Vergewaltigungen, Verhaftungen und Verschleppungen waren in den ersten Monaten nach Kriegsende und zum Teil noch Jahre danach erlebte Alltagserfahrung. Es etablierte sich im neuen Osten Deutschlands eine neue Diktatur, verbunden mit Repression und Terror.

Zunächst galt es, für viele Deutsche die Nöte des Lebensalltags zu meistern. Gemeinsam mit den Militärverwaltungen mussten Transportprobleme gelöst und die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Brennstoff und Kleidern versorgt werden. Die viel zitierten »Trümmerfrauen« halfen bei der Beseitigung des Bombenschutts und trugen zum Wiederaufbau in den Städten entscheidend mit bei. Verschärft wurde die katastrophale Versorgungslage durch die aus dem Osten eintreffenden Flüchtlinge und von dort Vertriebenen. Der Zwang zum politischen Neuanfang wurde als »Stunde Null« bezeichnet. Tatsächlich gab es sowohl ideologische als auch personelle Kontinuitäten in Verwaltung und Wirtschaft.

Mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 legten nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht die alliierten Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges die Prinzipien ihrer Deutschlandpolitik fest, in denen sie die »oberste Regierungsgewalt in Deutschland« übernahmen, womit es jegliche Souveränität verlieren sollte. Die Handlungsspielräume waren damit durch formellen Beschluss der Alliierten auf Null reduziert. Das verstärkte sich noch in den Folgejahren, als die geteilte Nation zum Hauptaktionsfeld des Ost-West-Konflikts in Europa werden sollte, der alsbald eine globale Dimension annahm. Bestimmende Faktoren für die politische Entwicklung Deutschlands waren also die Besatzungsmächte, doch wäre es verfehlt anzunehmen, dass die Deutschen selbst ihr politisches Schicksal nicht in die Hände nehmen und mitentscheiden konnten, wie noch zu zeigen sein wird. Formell und offiziell hatten die Alliierten das eindeutige Sagen. Sie waren verantwortlich und zuständig für Berlin und Deutschland als Ganzes.

1.3Jalta, Potsdam und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten 1945

Die »Großen Drei« hatten auf der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 entschieden, Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen. Für die Reichshauptstadt Berlin sollte eine Sektoren-Regelung gelten. Frankreich wurde im Juli als Besatzungsmacht anerkannt und erhielt aus der amerikanischen und der britischen eine eigene Zone im Südwesten sowie einen Sektor im Nordwesten Berlins zugewiesen. Die britische Zone bestand aus dem Nordwesten Deutschlands, die amerikanische aus Bayern sowie Bremen und Bremerhaven. Die UdSSR hatte in ihrer Besatzungszone in Mittel- und Ostdeutschland ohne Absprache mit den Westalliierten das nördliche Ostpreußen unter ihre Verwaltung und das übrige Ostdeutschland jenseits der Oder-Neiße-Linie unter polnische Verwaltung gestellt. Die dort lebenden Deutschen wurden ausgewiesen und vertrieben. Josef W. Stalin schuf damit vollendete Tatsachen und die Westmächte waren dagegen hilflos und machtlos. Die Situation im Westen verschärfte sich durch Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten.

Abb. 2: Die deutschen Länder unter den Besatzungsmächten

Auf der Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 wurden weit reichende Beschlüsse über die zukünftige Behandlung Deutschlands getroffen. Die Ziele der »Großen Drei«, Josef W. Stalin, Harry S. Truman und Winston S. Churchill, lauteten: Auflösung der NSDAP und ihrer Verbände, Dekartellisierung und Dezentralisierung der deutschen Wirtschaft, Entfernung von Nationalsozialisten aus öffentlichen und halböffentlichen Ämtern sowie aus verantwortlichen Posten der Privatwirtschaft, demokratische Erneuerung des Erziehungs- und Gerichtswesens, Wiederherstellung der lokalen Selbstverwaltung und Zulassung demokratischer Parteien.

»Deutscher Militarismus« und Nationalsozialismus sollten »ausgerottet« und alle Vorkehrungen getroffen werden, dass Deutschland nie mehr Nachbarn oder den Frieden bedrohen könnte. Verbunden mit diesem Ziel war die Zerschlagung Preußens, welches als vermeintliche Wurzel des deutschen Militarismus galt und per Beschluss des Alliierten Kontrollrats am 25. Februar 1947 aufgelöst wurde. Diese Entscheidung ging u. a. auf Winston Churchill zurück, der vor diesem Hintergrund die von Stalin 1945 durchgeführte Westverschiebung Polens gebilligt hatte, welches von ihm schon in den letzten Kriegsjahren dem sowjetischen Einflussbereich zugeschrieben worden war.

Die Forderung nach »Dekartellisierung« ging ganz maßgeblich auf politische Einflüsse aus den Vereinigten Staaten zurück. Sie wollten Deutschland als industriellen und wirtschaftlichen Rivalen ausschalten. Das war eines der entscheidenden Kriegsziele der Roosevelt-Administration. Deutschland musste daher sein Kartellsystem aufgeben, was eine wesentliche Grundlage seiner Industriepotenziale und eine Quelle hoher Planbarkeit, aber auch Basis seiner Überlegenheit in Europa war und einen Gleichstand mit den USA ermöglicht hatte. Bei der späteren Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1952), auch Montanunion genannt, vermied man daher tunlichst den Begriff »Kartell«, weil man um die amerikanische Gegnerschaft Bescheid wusste.

Mit dem Potsdamer Abkommen sollte der deutschen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben werden, sich ihr Leben »auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage wieder aufzubauen«. Deutlich abweichende Vorstellungen von »Demokratie« blieben aber bestehen und kamen z. B. in der SBZ rasch zum Vorschein. Der in Potsdam gefasste Beschluss, Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu betrachten, wurde von der später hinzugekommenen vierten Besatzungsmacht Frankreich abgelehnt und sabotiert. Die französische Ablehnung gesamtdeutscher Zentralverwaltungsstellen wurde zum Präjudiz für die Jahre später vollzogene Teilung. Potsdam legte ferner fest, dass die Besatzer in ihren Zonen Reparationen nach eigenen Vorstellungen einfordern konnten. Damit war der Grundsatz der wirtschaftlichen Einheit bereits durchlöchert. Das deutsche Auslandsvermögen wurde vom Alliierten Kontrollrat übernommen, die Kriegs- und Handelsflotte aufgeteilt.

Die Grafik 1 basiert auf einer Volkszählung vom 13. September 1950 und zeigt die Verteilung der Bevölkerung. 56,9 % kamen aus den Ostgebieten, 24 % aus der Tschechoslowakei und 8,2 % aus der ehemaligen Republik Polen und der Freien Stadt Danzig, aus Ost- und Südosteuropa 8 % und aus den westlichen Ländern oder Übersee 2,9 %. Die Flucht und Vertreibung der Deutschen sind im größeren historischen Kontext der ethnischen Säuberungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. Zwischen 1939 und 1943 waren bereits 15,1 Millionen Menschen Opfer von Flucht und Vertreibung geworden (nicht einbezogen die Opfer des NS-Judenmords sowie der NS-Kriegs- und der Besatzungspolitik) und zwischen 1944 und 1948 rund 31 Millionen. Die darunter zahlenmäßig größte Gruppe stellten Deutsche dar: Über 14 Millionen flohen vor der Roten Armee aus den deutschen Ostgebieten, der Tschechoslowakei, Polen, der Sowjetunion, dem Baltikum, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien oder wurden von dort vertrieben, wobei nur ein Teil der Ausgetriebenen und Geflohenen die für sie rettenden deutschen Besatzungszonen erreichen konnte. Wie viele dabei umkamen ist umstritten. Die veröffentlichten Zahlen schwanken zwischen gut 600.000 und maximal 2,8 Millionen.

Grafik 1: Flüchtlinge und Vertriebene: Volkszählung 13.9.1950

Der Tübinger Historiker Mathias Beer plädierte 2011 unter Würdigung aller verfügbaren einschlägigen Untersuchungen dafür, von deutlich unter einer Million Todesopfern als Folge von Flucht und Vertreibung auszugehen. Die Vertreibung der Deutschen wurde lange monokausal mit dem Argument der Folgewirkung der Politik des »Dritten Reichs« begründet, es gab aber, wie etwa der Berliner Historiker Michael Schwartz argumentiert, längerfristige Ursachen – ältere ethnisch-nationale Konfliktlagen, geostrategische Interessen und bereits vorhandene Politikmodelle ethnischer Säuberungen vor und während des Krieges. Sie wurden durch die nationalsozialistische Politik mobilisiert und radikalisiert. Unabhängig davon stellten alle Formen von Vertreibung Kriegs- bzw. Nachkriegsverbrechen dar, die mit den vorhergegangenen Verbrechen zwar erklärt, aber nicht gerechtfertigt werden können.

In Potsdam waren die Westmächte mit neuen, außenpolitisch z. T. unerfahrenen Politikern vertreten. Für den am 12. April 1945 an einer Hirnblutung verstorbenen und für den Kriegseintritt der USA verantwortlichen Präsidenten Franklin D. Roosevelt kam Harry S. Truman als Nachfolger zum Zuge. Der britische Kriegspremier Churchill war abgewählt und am 28. Juli durch den Labour-Führer Clement Attlee abgelöst worden. Stalin nutzte die Schwäche und Unentschlossenheit seiner westlichen Verhandlungspartner.

Die kommunistisch geführte polnische Regierung sollte als Kompensation für die an die UdSSR abzutretenden ostpolnischen Gebiete Ostdeutschland bis zur Oder-Neiße-Linie erhalten. In Potsdam führte diese Frage zwar zu Konflikten, letztlich erkannten die Westmächte aber im Abkommen vom 2. August 1945 die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens vorbehaltlich einer definitiven Regelung durch einen Friedensvertrag mit Deutschland an. Gleichzeitig stimmten sie der »Überführung« der Deutschen aus diesen Gebieten sowie aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zu, wobei diese »in geregelter und menschlicher Weise« erfolgen sollte.

Das Gegenteil war jedoch der Fall, denn die Realität sah völlig anders aus: Vertreibungen hatten schon Monate vor der Konferenz begonnen. Erste Wellen fliehender Deutscher setzten vor dem bedrohlichen Hintergrund der anrückenden Roten Armee ein. Weitere Wellen, die als organisierte Vertreibung zu begreifen sind, offiziell als »Aussiedlung« bezeichnet, erfolgten tatsächlich in ungeregelter und inhumaner Weise. Die Vertriebenen mussten meist ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Massen flohen in den »freien Westen«. Die Aufnahme und Integration dieser Flüchtlingsmengen in einem von den Siegermächten weitgehend zerstörten Land, in dem die heimische ausgebombte Bevölkerung selbst kaum Unterkünfte fand und eine extrem schlechte Versorgungslage gegeben war, bedeutete für die Besatzungsmächte und die deutschen Behörden eine enorme zusätzliche Herausforderung. Die im Laufe der 1950er-Jahre weitgehende infrastrukturelle und materielle Integration der Heimatvertriebenen zählt zu den beachtlichsten Erfolgen der deutschen Nachkriegsgesellschaften.

1.4Alliierte Kontrolle der Reorganisation von Partei- und Länderpolitik 1945–47

Der Alliierte Kontrollrat tagte im Gebäude des ehemaligen Berliner Kammergerichts und setzte sich aus den Oberbefehlshabern der vier Siegermächte zusammen, die als Militärgouverneure in ihrer jeweiligen Besatzungszone die oberste Verwaltung bildeten. Der Kontrollrat befasste sich mit der Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze und Verordnungen sowie in Ausführung des Potsdamer Abkommens mit Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Dekartellisierung und Demontagen. Er besaß jedoch keine Exekutivgewalt, sondern musste darauf bauen, dass seine Beschlüsse in Form von Anordnungen, Direktiven, Gesetzen und Kundmachungen von den jeweiligen Militärgouverneuren in den verschiedenen Zonen durchgeführt wurden.

Die alliierte Besatzung wurde von national eingestellten und patriotisch gesonnenen Deutschen in ihren Bestrebungen zur Überwindung der geteilten Nation als hinderlich angesehen. Bei der Herstellung der wirtschaftlichen Einheit, wie sie das Potsdamer Abkommen vorsah, einigte sich der Alliierte Kontrollrat nicht auf ein gemeinsames Agieren. Die einzelnen Oberbefehlshaber der alliierten Militärstreitkräfte konnten in ihren Zonen eigenmächtig vorgehen. Als oberstes Organ hatte der Alliierte Kontrollrat nach dem Einstimmigkeitsprinzip zu entscheiden, d. h. er war bei nur einem einzigen Veto handlungsunfähig.

Die vier militärischen Oberbefehlshaber der amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Streitkräfte in Deutschland hatten mit ihrer Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 die Errichtung des Alliierten Kontrollrates angekündigt, der am 30. August 1945 seine Tätigkeit aufnahm. Die USA, die UdSSR, das Vereinigte Königreich und Frankreich besaßen als Siegermächte damit die höchste Gewalt in Deutschland und teilten es in vier Besatzungszonen ein. Berlin erhielt vier Sektoren und Vier-Mächte-Status. Unter Respektierung der alten Territorien bildeten die Besatzungsmächte in ihren Zonen Länder. Preußen war durch die Grenzen der Besatzungszonen mehrfach aufgesplittert. Die Verwaltungen wurden mit Deutschen besetzt. Bereits im Juli 1945 wurden in der SBZ die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg gegründet.

Das Office of Military Government of the United States (OMGUS) machte im September 1945 Bayern, Hessen, Württemberg-Baden und im Januar 1947 Bremen zu Ländern. Seit Mitte 1946 wurden in der britischen Zone Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg als neue Länder gebildet, in der französischen Zone Baden, Württemberg-Hohenzollern und Rheinland-Pfalz. Das Saarland erhielt einen Sonderstatus und wurde in das französische Zollgebiet einbezogen. Ein wesentlicher Grund lag in den dortigen Kohlevorkommen, die für die Stahlproduktion Frankreichs notwendig waren. Ein weiteres Motiv der Abtrennung von Deutschland und für seinen Status als französisches Protektorat lag in der Schwächung der deutschen Wirtschaft.

Trotz Besatzung regte sich alsbald wieder politisches Leben unter den Deutschen. Die Alliierten versuchten jene Personen als Bürgermeister und Ländervertreter einzusetzen, die nicht im Verdacht des Zusammenwirkens mit dem NS-Regime standen und somit als politisch »unbelastet« galten, was jedoch schwerlich gelingen sollte. Im Sommer 1945 wurden Parteien zugelassen, die in ihrer Personal- und Organisationsstruktur vielfach auf die Weimarer Republik zurückgingen.

Moskau erteilte frühzeitig am 10. Juni 1945 den Befehl zur Gründung »demokratischer Parteien« in der SBZ. Dabei spielte der Anspruch auf Gesamtdeutschland eine erhebliche Rolle. Einen Tag darauf startete das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) einen Appell, der sich auch an bürgerliche Kreise richtete. Sie war die erste Partei, die am 11. Juni 1945 in Berlin aufrief, Deutschland »den Weg der Aufrichtung eines antifaschistisch-demokratischen Regimes, einer parlamentarisch demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk« zu weisen. Eine Vereinigung mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) lehnte sie ab. Walter Ulbricht, kurz vor Kriegsende am 20. April als Leiter deutscher Exilkommunisten aus Moskau nach Berlin eingeflogen, war einer der Unterzeichner, der sich mit großem Engagement in die neue politische Arbeit stürzte.

Kurzbiographie Walter Ulbricht

Als Sohn eines Schneiders wurde Ulbricht 1893 in Leipzig geboren. Im Zuge seiner Wanderschaft als Tischlergeselle nach Dresden, Nürnberg, Venedig, Amsterdam und Brüssel schloss er sich 1912 der SPD an. Während des Ersten Weltkriegs wurde er als Soldat in Polen, Serbien und an der Westfront eingesetzt. 1918 Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat des XIX. Armeekorps, schloss er sich nach seiner Rückkehr in Leipzig dem Spartakusbund an. 1919 wurde er Mitglied der neu gegründeten KPD und 1923 bereits des Zentralkomitees. Für kurze Zeit wurde Ulbricht 1925 Mitarbeiter im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (KI) an der Lenin-Schule in Moskau und wirkte als Parteiinstrukteur in Wien und Prag, in den Jahren von 1926 bis 1928 als Abgeordneter des sächsischen Landtags und von 1928 bis 1933 als Reichstagsabgeordneter der KPD. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging Ulbricht im Auftrag der KPD ins Exil nach Frankreich und 1938 schließlich in die Sowjetunion, wo er als KPD-Vertreter in der Kommunistischen Internationale (KI) tätig wurde. 1943 beteiligte er sich an der Gründung der Widerstandsgruppe »Nationalkomitee Freies Deutschland«. Im April 1945 kam er aus Moskau mit geschulten Parteifunktionären, der »Gruppe Ulbricht«, nach Berlin, wo er die Wiederbegründung der KPD forcierte. Seinen engeren Mitstreitern schärfte er ein: »Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles unter Kontrolle haben.« Von 1950 bis 1971 war er Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und mächtigster Mann in der DDR. 1952 initiierte er den »Aufbau des Sozialismus« in der DDR (der scheiterte und zum 17. Juni 1953 führte) und 1961 den Bau der Berliner Mauer. Ulbricht wurde mit sowjetischer Rückendeckung 1971 von Honecker zum Rücktritt gezwungen und entmachtet. Das unbedeutende Amt des Vorsitzenden des Staatsrates behielt er bis zu seinem Tod. Ehrenhalber wurde er »Vorsitzender der SED«. Er starb am 1. August 1973 im Gästehaus der DDR am Döllnsee, während in Ost-Berlin die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten ohne Unterbrechung weitergingen. Sie waren im »Stadion der Weltjugend« eröffnet worden, das wenige Tage zuvor noch »Walter-Ulbricht-Stadion« geheißen hatte. Sein Name wurde auf stalinistische Weise aus dem öffentlichen Leben der DDR durch Neubenennungen von Betrieben und Institutionen völlig entfernt (mehr weiter unten).

Am 15. Juni 1945 trat in Berlin der Zentralausschuss der SPD mit ehrgeizigen Sozialisierungsforderungen auf und verlangte im Unterschied zur KPD in »moralischer Wiedergutmachung politischer Fehler der Vergangenheit« die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien. In Hannover hatte der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher mit der Reorganisation der SPD begonnen und wurde im Mai 1946 zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Trotz schwerer körperlicher Behinderung nach dem Verlust seines rechten Arms im Ersten Weltkrieg und der Haft in verschiedenen Konzentrationslagern, bei der er die Amputation seines Beins erleiden musste, setzte sich Schumacher engagiert für die politische Aufbauarbeit ein und avancierte zum großen politischen Gegenspieler Konrad Adenauers, den er wegen seiner einseitigen prowestlichen Politik wiederholt scharf kritisieren sollte.

Erschwerend für die Demokratieentwicklung und die Parteiengründungen auf gesamtstaatlicher wie Länderebene wirkte sich die Teilung Deutschlands in alliierte Interessenzonen aus. Die Aufspaltung vollzog sich auch alsbald auf parteipolitischer Ebene. Der Berliner Zentralausschuss der SPD hatte unter sowjetischer Aufsicht im Juni 1945 die »organisatorische Einheit der deutschen Arbeiterklasse« gefordert, was von Schumacher kategorisch verworfen wurde. Der übertrieben zugespitzte Gegensatz führte schon frühzeitig auf der »Reichskonferenz« der SPD in Wennigsen bei Hannover am 5./6. Oktober 1945 zur organisatorischen Trennung: Der Zentralausschuss sollte für die SBZ, Schumacher für die westlichen Zonen zuständig sein. Dem Bericht über Wennigsen in der SPD-Chronik ist zu entnehmen, dass eine frühzeitige Festlegung auf programmatische Positionen der Partei nicht erfolgen sollte, wie auch die Frage einer organisatorischen Einigung mit der KPD als »zur Zeit nicht [als] diskussionsreif« erachtet wurde. Damit hielt man sich vorerst noch alle Optionen offen, doch sollten sich die Wege alsbald trennen. Wie nach dem Ersten Weltkrieg sollte es auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf gesamtdeutscher Ebene bei der Spaltung der Linken bleiben.

Abb. 3: Das Plakat »In eins nun die Hände« zeigt Wilhelm Pieck (KPD) und Otto Grotewohl (SPD) anlässlich der bevorstehenden Fusion der Parteien zur SED.

Es war u. a. Schumachers rigider Antikommunismus, seine unbewegliche Haltung und sein Streben nach Abgrenzung von der KPD – die Kommunisten waren für ihn »rot lackierte Faschisten« –, die zur Spaltung der SPD führten. Es ist nicht zu weit hergeholt, Schumacher als »Spalter« des linken Lagers zu sehen, wobei zu ergänzen ist, dass er in Abgrenzung zu Kommunisten und Links-Sozialisten für Demokratie und Freiheit eingetreten ist.

Als die Kommunisten einsahen, dass sie weniger Anhänger als die SPD haben würden, drängten sie ab Herbst 1945 mit Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) auf eine Fusion mit der SPD der SBZ. Schumacher lehnte sowohl den gesamtdeutschen Führungsanspruch der Berliner SPD als auch den Zusammenschluss mit der KPD ab. Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einer zunehmend geteilten Nation fand ihren Abschluss in der Zusammenlegung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der SBZ. Diese hatte eine eigene Vorgeschichte.

Den Wunsch nach Vereinigung beider Linksparteien, der von nicht wenigen Sozialdemokraten und vom SPD-Zentralausschuss geäußert wurde, hatte die KPD, wie gesagt, abgelehnt. Vorerst sollte die eigene Partei gefestigt und in Kooperation mit der SMAD die SBZ kommunistisch-sozialistisch ausgestaltet werden. Nachdem klar wurde, dass die KPD nicht so viel Zustimmung wie die SPD und bürgerliche Parteien zu erwarten hatte, forderte die KPD ab Oktober 1945 die Vereinigung mit der SPD. Sie und ihr Zentralausschuss in Berlin unter Leitung von Otto Grotewohl, der die Bedingungen für eine Vereinigung formulierte, gerieten nun zunehmend unter Pression der SMAD. So setzten auch Verhaftungen von SPD-Politikern ein. Eine Urabstimmung über den Zusammenschluss wurde auf Betreiben der sowjetischen Verwaltung unterbunden. Die in den Westsektoren Berlins am 31. März 1946 erfolgte Urabstimmung unter SPD-Mitgliedern ergab bei einer Wahlbeteiligung von 73 % über 82 % der Stimmen, die sich gegen eine Vereinigung mit der KPD aussprachen. Trotzdem gab der Zentralausschuss der SPD dem politischen Druck nach.

Am 19. und 20. April 1946 beschlossen der 15. KPD- bzw. der 40. SPD-Parteitag den Zusammenschluss zur SED. Den Vorsitz des neuen Amalgams übernahmen in Kooperation der Kommunist Wilhelm Pieck und der Sozialdemokrat Otto Grotewohl. Die Parteiämter wurden zunächst paritätisch besetzt. Nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito im Juni 1948, der für Jugoslawien einen eigenen sozialistischen Weg einschlug, wurde die SED in eine straffe Kaderpartei formiert, eine »Partei neuen Typus« wie es hieß, die sich dem Kurs des Kommunistischen Informationsbüros (KOMINFORM) anschloss und den Vorstellungen Moskaus unterordnete. Auffassungen von einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus wurden zurückgenommen.

Im Jahre 1949 trat die SED offen gegen den »Sozialdemokratismus« auf. Die letztlich unter sowjetisch-kommunistischem Druck erfolgte (Zwangs)Vereinigung von KPD und SPD zur SED bestätigte Schumacher in seinen Vorbehalten, zumal der Handlungsspielraum der Sozialdemokraten in der »Ostzone« auf Null reduziert worden war. Kritiker unter ihnen sowie »Altkommunisten«, die sich dem Zusammenschluss widersetzt hatten, wurden in einem neu errichteten Lager in Buchenwald auf dem Boden der ehemaligen KZ-Anlagen der Nationalsozialisten interniert. Tausende Oppositionelle kamen auf diese Weise zu Tode. Erst nach der politischen »Wende« 1989/90 kamen die dort verübten Verbrechen und Untaten ans Tageslicht.

Abb. 4: Umschlag eines regulären Ersttagsbriefs mit Aufdrucken vom 20jährigen Gründungsjubiläum der SED im April 1966 und Briefmarken, die eine Zeichnung von Karl Marx und Wladimir I. Lenin sowie ein Foto mit Walter Ulbricht zeigen.

Das Bekanntwerden der Ausmaße der NS-Verbrechen schockierte beide Seiten, sowohl die zum Teil ahnungslose deutsche Bevölkerung als auch die alliierten Sieger. Nach Auflassung der KZs fehlte bei den Besatzungsmächten daher der Glaube an die moralische Integrität und politische Zuverlässigkeit der Deutschen. Die Vertreter der USA und Großbritanniens gestatteten in ihren Besatzungszonen erst im August und September 1945 die Bildung von Parteien. Die neu gegründeten Christliche Demokratische Union (CDU) und ihre bayerische Schwester, die Christlich-Soziale Union (CSU), waren mit der Zentrumspartei bzw. der Bayerischen Volkspartei der Weimarer Zeit nicht mehr vergleichbar, zumal sie als neue christlich-bürgerliche Sammlungsbewegungen aus Opposition und Widerstand gegen den Nationalsozialismus hervorgegangen waren, ein überkonfessionelles Profil entwickelten und damit auch protestantische Wähler für sich gewinnen konnten, die in den 1930er-Jahren deutschnationale oder liberale Parteien gewählt hatten.

CDU und CSU avancierten zu einflussreichen Volksparteien der rechten Mitte, die die Geschichte der Bundesrepublik und Bayerns über Jahrzehnte prägen sollten. Gründungsorte der CDU waren Berlin, Köln und Frankfurt/Main. An der Spitze in Berlin und der SBZ stand Jakob Kaiser, der einen »christlichen Sozialismus« propagierte und damit auch in den Westzonen Zuspruch erfuhr. Diese Programmatik wurde im Rheinland von Karl Arnold propagiert und floss in das Ahlener Programm 1947 ein.

In der SBZ schloss sich die CDU dem »antifaschistischen Block« an und verlor damit die Unabhängigkeit. Alle christdemokratischen Gruppierungen im Westen einigten sich auf der »Reichstagung« in Bonn-Bad Godesberg vom 14. bis 16. Dezember 1945 auf den gemeinsamen Namen CDU, ohne eine Gesamtorganisation zu bilden. Am 13. Oktober 1945 hatte sich in Bayern die CSU als selbständige und überkonfessionelle Partei gebildet. Sie war konservativer und zugleich föderalistischer als die CDU, ihre Schwesterpartei.

Kurzbiographie Konrad Adenauer

Er war die zentrale CDU-Gründungsfigur. Geboren 1876 in Köln als Sohn eines Bäckermeisters und späteren Beamten wurde Adenauer nach Studium der Rechtswissenschaften Gerichtsassessor und ab 1906 Beigeordneter der Stadt Köln und schloss sich dem Zentrum an. Die katholisch-rheinländische Prägung, eine Frankophilie sowie unreflektierte Frömmigkeit und die Ablehnung der protestantisch-preußisch wilhelminischen Welt legten seinem Fortkommen gesellschaftliche Schranken auf. Daraus erwuchs eines seiner Lebensprinzipien, nämlich aus eigener Kraft »etwas zu werden«. Von 1917 bis 1933 amtierte er als Oberbürgermeister von Köln und war Mitglied und Präsident des Preußischen Staatsrates. Während des deutsch-französischen Konflikts anlässlich der Ruhrbesetzung 1923 trat er zeitweise für eine von Preußen losgelöste rheinische Republik innerhalb des Deutschen Reichs in Anlehnung an Frankreich ein, um zum Abbau der Konfrontationspotenziale beizutragen. 1933 von den Nationalsozialisten aus allen Ämtern entlassen, verteidigte er sich selbst vor Gericht gegen alle Vorwürfe, erstritt sich eine fürstliche Pensionsnachzahlung und nutzte die Zeit des politischen Rückzugs zum Bau eines großen Hauses in Rhöndorf in der Nähe von Bonn. Infolge der Begeisterung und des Opportunismus vieler Deutscher gegenüber dem Nationalsozialismus hatte Adenauer beträchtliche Zweifel an ihrer politischen Reife. Dieses Misstrauen, das er grundsätzlich Menschen entgegenbrachte, verfolgte ihn noch als späterer Bundeskanzler gegenüber seinen Landsleuten. 1934 war er zeitweise in Haft. Im Zuge des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Adenauer im August neuerlich verhaftet und für einige Monate festgehalten, konnte aber fliehen und überleben. 1945 setzte ihn die US-Militärverwaltung als Kölner Oberbürgermeister ein, doch der britische General John Ashworth Barraclough entließ ihn nach wenigen Monaten wegen »Unfähigkeit« bei der Organisation der Lebensmittelversorgung und der Trümmerbeseitigung. Die Briten verhängten ihm gegenüber ein Parteiverbot vom 6. Oktober bis 4. Dezember 1945. Parteipolitisch blieb Adenauer aber ambitioniert und übernahm 1946 den CDU-Vorsitz sowohl im Rheinland als auch in der britischen Zone. 1950 wurde er erster Bundesvorsitzender (Abb. 5). und 1949 Bundeskanzler (bis 1963) und Außenminister (bis 1955).

Das stark sozial, um nicht zu sagen sozialistisch ausgerichtete Ahlener Programm verabschiedete die CDU in der britischen Zone am 3. Februar 1947. Während die britische Militärverwaltung sozialistischen Vorstellungen gegenüber aufgeschlossen war, lehnten US-Besatzungsbehörden diese ab. US-General Lucius D. Clay, der für ein liberales Wirtschaftssystem in seiner Zone eintrat, sprach sich für den Einsatz von US-Krediten für den Wiederaufbau aus. Diese aber sollten vom US-Kongress nur für eine nicht-sozialistische Volkswirtschaft zu erhalten sein.

Früh richtete sich die CDU auf die US-Besatzungspolitik aus. Der Einfluss der Gewerkschafter in der Partei ging bald zugunsten des bürgerlich-kapitalistischen und industriellen Flügels zurück. Die CDU wandte sich vom Ahlener Programm ab. Es wurde jedoch nie für ungültig erklärt. In den »Düsseldorfer Leitsätzen« vom 15. Juli 1949 bekannte sich die CDU zur »sozialen Marktwirtschaft«, wie sie Professor Ludwig Erhard mit dem Slogan »Wohlstand für alle« propagierte.

Die Gründung liberaler Parteien nach 1945 half die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Trennung zwischen Rechts- und Linksliberalismus zu überwinden. Initiatoren waren ehemalige Exponenten der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Volkspartei (DVP). Am 5. Juli 1945 entstand die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) unter dem ehemaligen Oberbürgermeister von Zittau und Reichsinnenminister Wilhelm Külz. Die Partei trat gesamtdeutsch auf, ihr Einfluss blieb aber auf die SBZ beschränkt. Den stärksten Einzugsbereich liberaler Parteien in den Westzonen gab es in Baden und Württemberg. Theodor Heuss und Reinhold Maier waren hier tonangebend. In Hamburg gründete sich im September 1945 die »Partei der Freien Demokraten«, die als spätere Bundespartei fortan den Namen »Freie Demokratische Partei« führte. Sowohl in der britischen als auch in der US-Zone entstanden 1946 liberale Parteien, in der Zone Frankreichs folgten diese erst später. Die Abwehr kirchlichen Einflusses auf den Staat und die Unterstützung der Privatwirtschaft waren ihre Anliegen.

Abb. 5: Ersttagsbrief zum ersten Todestag von Konrad Adenauer am 19. April 1968 mit offiziellem Block von Briefmarken mit Zeichnungen von Winston S. Churchill, Alcide De Gasperi und Robert Schuman. Diese Ersttagsbriefe entsprangen im Westen rein privater Initiative, während sie im Osten Deutschlands nur offiziell ausgegeben werden durften.

Nachdem die LDPD in der SBZ am »Deutschen Volkskongress« mitwirkte und unter SED-Einfluss kam, löste sich die 1947 gebildete gesamtdeutsche Parteiorganisation rasch auf. Die westzonalen Landesparteien fusionierten am 11. Dezember 1948 in Heppenheim an der Bergstraße zur FDP. Erster Bundesvorsitzender wurde Theodor Heuss.

1.5Entstehung unterschiedlicher Erinnerungskulturen

Der Umgang mit KZ-Gedenkstätten wie Buchenwald in der DDR oder Bergen-Belsen in der britischen Besatzungszone, im späteren Bundesland Niedersachsen, zeigt signifikante Unterschiede in der Entwicklung der Erinnerungskulturen in den beiden entstehenden deutschen Staaten auf: Bei Bergen-Belsen ging die erste Initiative zur Schaffung eines Gedenkortes von den Häftlingen selbst aus, als diese am 25. September 1945 anlässlich des Kongresses der befreiten Juden ein behelfsmäßiges Holzdenkmal inmitten der Massengräber aufstellten. Da die Kasernen des Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne, welche zunächst als Nothospital für die Überlebenden Bergen-Belsens gedient hatten, im Verlauf des Sommers 1945 zu einem Camp für jüdische Displaced Persons (DPs) umfunktioniert worden waren, hatten die jüdischen KZ-Überlebenden die Möglichkeit, den Ort des Gedenkens aktiv mitzugestalten. Bereits am ersten Jahrestag der Befreiung, dem 15. April 1946, konnte das »Belsener jüdische Komitee« ein Denkmal für jüdische Opfer des Holocaust enthüllen. Dieses war auf einem flach gehaltenen treppenartigen Podest mit drei Stufen angebracht, stellte einen hohen quaderförmigen Stein dar und trug eine Inschrift in hebräischer wie englischer Sprache, die an die rund 30.000 in Bergen-Belsen ermordeten Juden erinnerte. Nach dem Beschluss der britischen Militärregierung, das Gelände zu einer ehrenvollen Grab- und Gedenkstätte umzugestalten, setzte Anfang 1947 der Bau eines großen Denkmals ein, welches aus einem 24 Meter hohen Obelisken und einer Inschriften-Mauer mit 50 Metern Länge besteht, auf der in verschiedenen Sprachen der Opfer der NS-Verfolgung erinnert wird, die an dieser Stelle zu Tode gekommen waren.

Neben den großen Konzentrationslagern zur millionenfachen Ermordung von europäischen Juden wie Auschwitz, Belzec, Chelmno, Majdanek, Treblinka und Sobibor, die sich nicht in Deutschland, sondern auf polnischem Territorium befanden, spielten Konzentrationslager auf deutschem Boden auch eine Rolle in der Erinnerung. Im KZ Buchenwald bei Weimar fand bereits der erste Akt des Gedenkens schon wenige Tage nach seiner Befreiung statt: Am 19. April 1945 schufen die gerade erst befreiten Häftlinge ein provisorisches Denkmal auf dem Appellplatz. Eine schwarze Holzsäule, an deren Vorderseite die Buchstaben »K.L.B.« für Konzentrationslager Buchenwald und die Zahl 51.000 als die zu diesem Zeitpunkt geschätzte Anzahl von Toten zu lesen war, stand stellvertretend für alle verscharrten Toten. Nach Nationen geordnet zogen die KZ-Häftlinge am Denkmal vorbei und erwiesen ihren verstorbenen Mithäftlingen die letzte Ehre.

Schon beim ersten Gedenken der Opfer von Buchenwald fühlten sich nicht alle Opfergruppen angesprochen, da v. a. die rassenbiologisch motivierte NS-Verfolgungspolitik ausgeblendet worden war. Bereits 1945 wurden erste Vorschläge für eine dauerhafte Gedenkstätte gemacht. Aufgrund der Übernahme des Geländes durch das sowjetische Volkskommissariat für Inneres, Narodnyj kommissariat wnutrennych del (NKWD) und dessen Nutzung als Speziallager konnte dieser Wunsch jedoch nicht umgesetzt werden.

Im Jahre 1949 schaltete sich die SED in die Planungen einer Gedenkstätte direkt ein, als Walter Ulbricht das Buchenwald-Komitee der 1947 ins Leben gerufenen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) damit beauftragte, einen Entwurf für ein Mahnmal vorzulegen. Die Gestaltung des bisher geplanten Denkmals war in den Hintergrund gerückt, weil die Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) vorgeschlagen hatte, das Lager, in dem sich zu diesem Zeitpunkt noch Internierte befanden, zu einer Gedenkstätte umzugestalten. Nachdem auch das Zentralkomitee der SED diesem Vorhaben zugestimmt hatte, legte man das Hauptaugenmerk auf die Ausgestaltung des noch nicht geräumten Häftlingslagers. Durch Würdigung der antifaschistischen Widerstandskämpfer sollte die DDR als neues und besseres Deutschland legitimiert werden. Mit der Bezeichnung »Thälmann-Gedenkstätte« wurde an den ehemaligen Vorsitzenden der KPD (1925–1933) und von Nationalsozialisten ermordeten Ernst Thälmann erinnert, der für den antifaschistischen Widerstand und als Sinnbild für die Erkämpfung der Freiheit stand.

Nachdem das Lagergelände an die DDR übergeben worden war, wurde im Mai 1952 mit der Umsetzung des Beschlusses des ZK der SED vom 9. Oktober 1950, nämlich dem Abriss des Großteils des noch vollständig erhaltenden Häftlingslagers sowie des ehemaligen SS-Bereichs, begonnen. Nur das Krematorium, in dem Thälmann am 18. August 1944 erschossen worden war, der Torbau mit seinen Wachtürmen und Teile des Stacheldrahts sollten bestehen bleiben, der einstige Häftlingsraum aufgeforstet werden.

Die erste ständige Ausstellung wurde im Jahr 1954 durch das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin in der ehemaligen Kantine des Häftlingslagers umgesetzt. Mit der Aufstellung einer Gedenktafel für Thälmann war der Grundstein für die Erinnerungskultur in der DDR gesetzt, die den kommunistischen Widerstand in besonderer Weise herausstellte, der in Westdeutschland lange totgeschwiegen wurde. Aber nicht nur die offenkundige Hervorhebung der kommunistischen Häftlinge, sondern auch die bauliche Ausgestaltung der Gedenkstätte, die ein Ineinander von Auslöschung und Erhaltung bestimmter Relikte des Lagers bedeutete, war nach einem bestimmten Interpretationsmuster angelegt, bei dem es jedoch nicht um die Auslöschung der Erinnerung an das Speziallager ging.

Das Konzentrationslager selbst stand für eine zu vieldeutige und ambivalente Geschichte, verwies zu sehr auf das Ausgeliefertsein, die Ohnmacht und das Leid, als dass es ohne die Minimierung der Relikte in eine betont heroische Geschichte kommunistisch geführten politischen Widerstands hätte eingebunden werden können. Angesichts dieser Tatsache war aber diese Minimierung der Relikte Voraussetzung für die Maximierung der Sinnstiftung in heldenhaft kommunistischer Weise.

Die Einweihung der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« fand am 14. September 1958 statt. Der Besucher sollte dabei verinnerlichen, dass der Sieg des Kommunismus unausweichlich war. Er sollte die selbstständige Befreiung der Gefangenen und die Erlösung durch die Antifaschisten, also durch die DDR, vergegenwärtigen. Zudem sollte er begreifen, dass der Kampf zur Durchsetzung des Kommunismus weitergehen musste. Die Identifikation mit der DDR sollte der Ablehnung Westdeutschlands und der westlichen Allianz als potenziellen Nachfolgern des SS-Staats entsprechen. Diese kommunistisch dominierten Erinnerungskonstruktionen wurden bis zum Ende der DDR weitestgehend beibehalten.

Während der DDR-Zeit war in Buchenwald das »Speziallager Nr. 2« kein Thema. Das historisch-politische Tabu wurde erst im Zeichen der Ereignisse von 1989/90 gebrochen. Zwar wurde die Tatsache, dass an der Stelle des ehemaligen KZ ein Lager der SBZ bestanden hatte, nicht geleugnet, aber es wurde als typisches Internierungslager im Kontext der Entnazifizierung durch die Alliierten charakterisiert. Die hohe Anzahl an Toten des Speziallagers sowie der Bestand von Massengräbern auf dem Gelände waren verheimlicht worden.

Bis zum Ende der DDR lag ein aufgezwungenes Schweigen über der Geschichte der Speziallager in der SBZ. Dabei gab es Jahrzehnte zuvor ein brutales gerichtliches Nachspiel für Insassen dieses Straflagers, das zur Internierung für politische Gegner (Altkommunisten, Sozialdemokraten, SED-Oppositionelle) diente. In den sogenannten Waldheim-Prozessen im Jahr 1950 ging es um aus dem Internierungslager Buchenwald entlassene Personen, die mit Todesurteilen und schweren Haftstrafen konfrontiert worden waren. In diesen berüchtigten Verfahren, benannt nach dem Ort namens Waldheim, wurden in einer einmaligen Prozesslawine allein in zwei Monaten 3.300 Urteile gesprochen. Zwölf Strafkammern in Chemnitz kamen in diesem Urteilsexzess kaum mehr mit ihrer Arbeit nach: 32 Todesurteile und 146-mal »lebenslänglich« wurden verhängt. Rund 2.700 Personen erhielten zehn bis 25 Jahre Haft.

Der zusammenfassende Vergleich der Erinnerungskulturen in Ost- und Westdeutschland am Beispiel Buchenwalds und Bergen-Belsens zeigt, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur darstellte. Die Deutschen hatten sich mit den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen. Das Monströse des NS-Massenmords an den Juden war der Bevölkerung zunächst nicht in seinen Ausmaßen bewusst. Die Bilder und Filme über die Zustände in den von den Alliierten befreiten Konzentrationslagern erzeugten umso mehr in der Öffentlichkeit Ablehnung, Entsetzen und Schockzustände.

Nicht nur die staatliche Schuld des NS-Systems, sondern auch die individuelle Verantwortung standen zur Diskussion. Im Zeichen der Entnazifizierung wurde diese Frage auch diskutiert, wobei sich viele Deutsche vom Nationalsozialismus zu distanzieren versuchten, indem sie sich lediglich als Mitläufer oder gar als Verfolgte und Unterdrückte des Hitler-Regimes darstellten. Schuldzuweisungen seitens der Siegermächte trugen dazu bei, die eigene Verstrickung abzustreiten und die persönliche Schuld abzuwehren.

Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Karl Jaspers unterschied in einer 1946 erschienenen Schrift »Die Schuldfrage« vier Formen der Schuld: die kriminelle aufgrund objektiv nachweisbarer Gesetzesverstöße, die politische durch Handlungen von Politikern und Staatsleuten, an denen der Einzelne durch seine staatliche Zugehörigkeit und seine regierungspolitische Mitverantwortung beteiligt sei; die moralische durch Handlungen, deren Charakter nicht allein dadurch nicht verbrecherisch werde, weil sie befohlen seien und die metaphysische Schuld aus Mitverantwortung für Unrecht und Ungerechtigkeit in der Welt. Instanzen zur Klärung der einzelnen Schuldkategorien waren für ihn das Gericht bei der ersten Form; Gewalt- und Sieger-Wille, wenn das (verbrecherische) Regime im Krieg unterlegen sei, bei der zweiten; das persönliche Gewissen bei der dritten und einzig Gott bei der vierten.

Jaspers wollte mit dieser Differenzierung die Oberflächlichkeit des allgemeinen Geredes über Schuld überwinden. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung konnte für Jaspers nie eine Bevölkerung als Ganzes angeklagt werden, da Verbrecher immer nur als Einzelne handelten. So könne, wie der Philosoph argumentierte, ein Volk nie als Ganzes moralische Schuld tragen, da es keine allgemein verbindliche Moral oder Unmoral eines ganzen Volkes gebe.

Die Deutschen lehnten auch größtenteils die These von der Kollektivschuld ab und verdrängten dabei allzu leicht das vergangene Geschehen. Darunter litt in beiden Teilen Deutschlands die Erinnerungsarbeit, wozu die ab 1947/48 einsetzende Konfrontation im Kalten Krieg in Europa und der Ost-West-Konflikt als globaler Konflikt beitrugen.