Ein europäisches Gewissen - Michael Gehler - E-Book

Ein europäisches Gewissen E-Book

Michael Gehler

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Beschreibung

Die beiden Geschichtswissenschaftler Michael Gehler und Marcus Gonschor liefern eine fundierte Biografie des langjährigen Europapolitikers und ehemaligen Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering. Sie zeichnen Pötterings Lebenslauf und politische Entwicklung nach und würdigen seine maßgebliche Rolle beim Aufbau parlamentarischer Strukturen in der EU. Gehler und Gonschor schreiben damit zugleich ein wichtiges Stück christdemokratischer, bundesrepublikanischer Geschichte.

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Michael Gehler | Marcus Gonschor

Ein europäisches Gewissen

Hans-Gert Pöttering – Biografie

Mit einem Vorwort von Donald Tusk

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Bildnachweise:

S. 9: Privatbesitz Donald Tusk; S. 20, 22, 26, 39, 76, 77, 244, 290, 298, 334, 436, 459, 482, 505, 506, 515, 524, 526, 530, 532, 534, 535, 538, 556, 561, 597, 613, 616, 619, 639, 656, 659, 671, 720, 725, 732: ­Privatbesitz Hans-Gert Pöttering; S. 98 und 682: CDU, Konrad-Adenauer-Stiftung, ­Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin; S. 711: European Parliament, Bruxelles/Strasbourg

Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design, March

Umschlagmotiv: © Olaf Kosinsky

Bildquelle: Wikimedia Commons

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book: 978-3-451-82130-1

ISBN Print: 978-3-451-38982-5

Inhalt

Vorwort

Vorbemerkungen

1. Herkunft, Kindheit und Jugend

1.1 Familiäre Wurzeln

1.2 Erziehung

1.3 Politisierung und Europabild

1.4 Wehrdienst, Studium und Promotion

1.5 Kommunal- und Hochschulpolitik als Schule für die große Politik? Junge Union und RCDS

2. Der Weg nach Europa 1974–1984

2.1 Politische Einflussmöglichkeiten

2.2 Vorentscheidung in Wolfsburg

2.3 Erster Wahlkampf für Europa

2.4 Erfahrungen mit dem europäischen Parlamentarismus

2.5 Für die Region im Europäischen Parlament

3. Für Europas Sicherheit: Vordenker und Wegbereiter 1984–1989

3.1 Die EVP – ein Modell für eine europäische Partei

3.2 »Spitzenkandidat wider Willen«

3.3 Im Unterausschuss »Sicherheit und Abrüstung«: Stets »einen Schritt weiter als die Regierungen«

3.4 Mit festen Werten für die Menschenrechte

3.5 Gedanken zur Zukunft einer europäischen Verteidigungspolitik

4. Die deutsche Einheit für ein neues Europa 1989–1994

4.1 Treffende Beurteilungen im epochemachenden »annus mirabilis«

4.2 Die historischen Tage des 9. und 28. November 1989

4.3 Missionen in Sachen Deutschland und Europa in Moskau 1990/91

4.4 Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Zeichen des Zweiten Golfkriegs, des Endes des Warschauer Pakts und des Zerfalls Jugoslawiens 1991/92

4.5 Der Vertrag von Maastricht und die EU: Plädoyer für eine starke Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Berücksichtigung des Europäischen Parlaments

4.6 Die Debatte um den europäischen Bundesstaat

4.7 Eine unvorhergesehene Karrierechance

5. Vertiefung vor Erweiterung der EU 1994–1999

5.1 Vorentscheidung in der deutschen Gruppe auf der Linie von Helmut Kohl

5.2 Die Grenzen der Machbarkeit und die letzten Vorbereitungen für die Regierungskonferenz

5.3 Freude und Enttäuschung über Amsterdam

5.4 Die doppelte Erweiterung EU-EVP und der widersprüchliche Umgang mit der Türkei

5.5 Der Weg zur stärksten Fraktion durch die umstrittene Aufnahme von Forza Italia

5.6 Die Demission der Santer-Kommission und der EVP-Triumph bei den Wahlen 1999

6. Fraktionsvorsitzender in einer neuen EU 1999–2007

6.1 Neue Fraktion, schwierige Partner und Personalentscheidungen

6.2 Die umstrittene Bildung der Kommission Prodi 1999

6.3 Der Widerstand gegen die ­EU-14-Boykott-Maßnahmen gegen die schwarz-blaue Regierung in Österreich 2000

6.4 Kein Durchbruch in Nizza und das Nachspiel mit Chirac im Parlament. Ausgebliebene EU-Reform und die offene Demokratieforderung

6.5 Die Anschläge vom 11. September 2001 und die Solidarität mit den USA

6.6 Der Irakkrieg als gescheiterter amerikanischer Versuch zur Spaltung der EU

6.7 Nach der großen Enttäuschung über die gescheiterte Verfassung für Europa: Der Kampf geht weiter

6.8 Die Kontroverse um die Arbeitnehmerfreizügigkeit

6.9 Die größte Erweiterung in der Geschichte der EU

6.10 Untrügliche Vorboten des »Brexit«

6.11 Die Europawahlen 2004, die Wahl zum Präsidenten des Europäischen Parlaments und die Bildung der Kommission Barroso

6.12 Grundsätzliche Vorbehalte gegen die Türkei als EU-Mitglied

6.13 Mit aufgestocktem Erasmus-Programm nach Lissabon

7. Präsident des Europäischen Parlaments 2007–2009

7.1 Die Wahl ins Präsidentenamt

7.2 Anhaltende Strukturprobleme, aber gute Voraussetzungen für die Amtszeit

7.3 Das Europäische Parlament als komplexe Institution und die Antrittsrede ihres Präsidenten mit einem Riesenprogramm

7.4 »Zu unserem Glück vereint«: Der hürdenreiche, aber geradlinige Weg zur Berliner Erklärung

7.5 Die »Charta der Grundrechte« und der Weg zur Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon

7.6 Die Überwindung der Schwierigkeiten bei der Verwirklichung des Vertrags von Lissabon

7.7 Prager Provokationen: Die Dispute mit Václav Klaus

7.8 Maßnahmen zur Reform des Europäischen Parlaments

7.9 Der Kampf gegen den Klimawandel und für den Umweltschutz

7.10 Die EU als Friedensprojekt, Verfechtung der Menschenrechte und Vermittlung im Nahen Osten

7.11 Das Europäische Parlament und der Dialog der Kulturen

7.12 Repräsentant europäischer Werte

7.12.1 Tag der Heimat, Olympische Spiele und Verdun

7.12.2 Globale Dialoge und internationale Kontakte in Asien, Mittel- und Südamerika sowie Afrika

7.13 Erweiterung von Schengen und der EU 2007

7.14 Solidität und Solidarität: Parlamentspräsident zur Zeit der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise

7.15 Eine Idee nimmt Konturen an: Ein Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel?

8. Das Haus der Europäischen Geschichte 2007–2020

8.1 Zwischen wissenschaftlicher Kontroverse und politischer Kritik

8.2 Konzept und Umsetzung

8.3 Zwischenbilanz und Ausblick

9. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung 2010–2018

10. Der Elder Statesman

10.1 Beauftragter für Europäische Angelegenheiten

10.2 Präsident der Vereinigung der ehemaligen Europaabgeordneten

10.3 Weisenrat in der Causa Fidesz

11. Charakterisierung eines europäischen Gewissens und Bilanz eines europäischen Lebens

Abkürzungsverzeichnis

Zeitzeugenverzeichnis

Über die Autoren

Vorwort

Donald Tusk

Vorbemerkungen

Sollen Historiker über noch lebende Persönlichkeiten Biografien schreiben? Diese Fragen diskutierten wir am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim mit dem Helmut-Kohl-Biografen Hans-Peter Schwarz, einige Jahre bevor das Anliegen an die Autoren dieses Buches herangetragen wurde, eine Biografie über Hans-Gert Pöttering zu schreiben. Schwarz berichtete nach Abschluss seiner Lebensgeschichte über den Kanzler der Einheit von seinen zuweilen leidvollen Erfahrungen im nicht immer leichten Umgang mit dem Altpolitiker wie auch von den eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zu seinem Untersuchungsgegenstand. Er warnte vor den Gefahren solcher waghalsigen Vorhaben wie der Befangenheit, der Eitelkeit, der Selbstgefälligkeit und der Voreingenommenheit der noch lebenden Politiker. All das, was Schwarz hierzu mitteilte, ließ es geraten erscheinen, die Finger von solcherlei Unternehmungen zu lassen.

Die Autoren dieses Buches haben sich daher diese von dritter Seite an sie herangetragene Aufgabe alles andere als leicht gemacht, zumal bereits zum Zeitpunkt des Vorhabens die sehr umfangreiche Autobiografie Pötterings »Wir sind zu unserem Glück vereint« vorlag, über die hinausgehend es Neues und Weiterführendes zu ermitteln galt. Allein dies war Bedingung, Herausforderung und Voraussetzung zugleich, um das Anliegen ernsthaft anzugehen und seriös umzusetzen, zumal die Autobiografie bereits substanzielle Informationen bietet und den Verfassern wichtige Orientierung bot, wiewohl sie dann in Anlage und Konzeption ihres Werkes davon abwichen.

Mit Pöttering konnte nach zwei klärenden Gesprächen eine schriftliche Vereinbarung getroffen werden, bei der der seinerzeit verantwortliche Leiter für die wissenschaftlichen Dienste der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), Hanns Jürgen Küsters, sehr gut beratend und hilfreich zur Seite stand. Die vertraglich fixierte Vereinbarung hatte folgenden Inhalt: Ein Mehrwert und neue Erkenntnisse im Vergleich zu den bereits vorliegenden Memoiren konnten nur in einer anzustrebenden Multiperspektivität liegen. Über 80 Zeitzeugen, Beobachter, Mitstreiter und Weggefährten konnten ausfindig gemacht bzw. von Pöttering benannt werden, an die die Autoren der Studie einerseits individualisierte, andererseits aber auch gezielt ausgearbeitete standardisierte Fragenkataloge richteten oder Anfragen für Interviews herantrugen. So konnten beispielsweise mit dem Chef der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, der Europaparlamentarierin und späteren EU-Kommissarin Marianne Thyssen, dem Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Klaus Welle, dem Präsidenten des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik, Hans Walter Hütter, dem Europaparlamentarier Miguel Ángel Martínez Martínez und vielen anderen mehr (siehe die Liste der Zeitzeugen am Ende des Buches) Akteurs- und Zeitzeugengespräche geführt werden, um mehr über Pöttering und die Grenzen und Möglichkeiten seines Wirkens zu erfahren.

Eine weitere Voraussetzung für die Bereitschaft zur Übernahme dieser Aufgabe war die Einsichtnahme von Aktenmaterial im Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), u. a. der Bestand der EVP-(ED-)Fraktion, der CDU/CSU-Gruppe in der EVP-(ED-)Fraktion usw. Die dort vorhandenen Aktenbestände konnten vor Ort eingesehen und anschließend in digitalen Formaten übermittelt werden, was sehr bereitwillig und unterstützend geschah. Hierbei danken die Autoren besonders Michael Borchard, Angela Keller-Kühne sowie Kordula Kühlem für das gezeigte Entgegenkommen und die geleistete Unterstützung. Überdies hat das ACDP bereits damit begonnen, größere Aktenbestände einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, indem diese als digitalisierte Formate über den Internetauftritt abrufbar gemacht wurden.1 Mit Blick auf die in allen Lebensbereichen zunehmend an Bedeutung gewinnende Digitalisierung ist das ein mehr als löblicher Vorgang, den es hervorzuheben gilt. Vor allem erleichtert diese Bereitstellung von Archivmaterial über das Internet nicht zuletzt die Arbeit der Historiker in der zentralen Recherche nach relevanten Quellen.

Die anvisierten Themen der geplanten Studie sollten schwerpunktmäßig das europapolitische Wirken Pötterings in den Mittelpunkt stellen. Eingehender als in der Autobiografie darzustellen waren die Kindheit und die Jugend Pötterings, v. a. aber war seine Arbeit im Europäischen Parlament zu analysieren unter besonderer Berücksichtigung der politischen Entscheidungen und Weichenstellungen. Darzulegen sollte vor allem sein, wie Pöttering als EU-Politiker weitere Akteure für seine Ideale zu gewinnen verstand und entsprechend einbinden konnte. Dabei ging es den Autoren insbesondere auch um den menschlichen Faktor hinsichtlich Vertrauensbildung zur Erreichung politischer Kompromissfindung.

Nach dem selbstbestimmten Ausscheiden Pötterings aus dem Europäischen Parlament im Jahr 2014 sollte die Biografie – was in der Autobiografie noch gar nicht möglich war – die Entstehung und Verwirklichung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel, die Arbeit und Funktion als Vorsitzender der KAS sowie das Engagement des deutschen Christdemokraten als Elder Statesman nach seinem Abschied von der Spitze der KAS behandeln.

Es galt somit die verschiedenen Stationen der europapolitischen Karriere von Pöttering (v. a. Vorsitzender des Unterausschusses »Sicherheit und Abrüstung« 1984–1994; stellvertretender Vorsitzender der EVP-Fraktion 1994–1999; Leiter der EVP-Arbeitsgruppe »Regierungskonferenz« 1994–1997; Leiter der EVP-Arbeitsgruppe »Erweiterung der Europäischen Union« 1996–1999; Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion 1999–2007; Präsident des Europäischen Parlaments 2007–2009; Vorsitzender der KAS 2010–2018) aufzuzeigen. Dabei ging es darum, durch Aktenmaterial, v. a. aber auch Außenperspektiven wie das Presseecho und die schon erwähnten Zeitzeugengespräche die mediale Selbstdarstellung Pötterings in Fernseh-, Rundfunk- und Zeitungsinterviews zu untersuchen. Es versteht sich dabei von selbst, dass die Autoren mit Blick auf die Analyse der Printmedien Zeitungen verschiedener politischer Strömungen konsultiert haben. Es finden sich demnach Bezüge auf Printmedien des konservativen, liberalen, linken usw. Spektrums.

Pöttering selbst sollte in unbegrenzten vertraulichen Sechs-Augen-­Gesprächen den Autoren Rede und Antwort stehen. Dazu erarbeiteten die Verfasser einen Katalog von über 350 Fragen, die ihrer Ansicht nach in der Autobiografie unzureichend beantwortet oder bei denen die entsprechenden thematischen Bezüge nicht berücksichtigt waren. Im Zuge der Recherchen und Darstellungen stellte sich im Laufe der Zeit auch heraus, dass die Memoiren Pötterings nicht frei von Aussparungen, Erinnerungslücken, Glättungen und Harmonisierungen sind.

Letztlich konnten 30 Zeitzeugen zu Auskünften und Einschätzungen gewonnen, das verfügbar gemachte umfangreiche Quellenmaterial im ACDP ausgewertet und Pöttering selbst in sechs Begegnungen am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim in über 24 Stunden befragt und die entsprechenden Gespräche durch Film- und Tonträgeraufnahmen aufgezeichnet und transkribiert werden.

Schließlich können sich die beiden Autoren für die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit und nicht zuletzt für das in sie gesetzte Vertrauen vonseiten Hans-Gert Pötterings nur bedanken. Er war in den drei Jahren des Projekts ein offener und wohlwollender Begleiter und stets im Rahmen seines Erinnerungsvermögens zu Auskünften bereit und nahm vertragsgemäß auch keinen Einfluss auf den Entstehungsprozess des Werkes im Sinne von den Autoren widerstrebenden Eingriffen. Im Gegenteil forderte er die Verfasser zuweilen dazu auf, ihn mit Abstand und Distanz zu betrachten und gegebenenfalls zu kritisieren, wenn sich dies aufgrund der historischen Forschungslage und neuerer Erkenntnisse anbot oder gar zwingend erforderlich machte.

Am Ende dürfen wir feststellen, dass mit dieser abgestimmten, durchdachten und gezielten Vorgehensweise großes Bemühen und Engagement vorhanden gewesen ist, eine über die Autobiografie Pötterings hinausgehende, neue Erkenntnisse bietende Studie als Grundlage für weitere Forschungen zur Geschichte des europäischen Parlamentarismus zu leisten. Ob das letztlich aber wirklich gelungen ist, bleibt der Fachwelt und einer interessierten Leserschaft zu beurteilen vorbehalten. Sollte es aus deren Sicht geglückt sein, wird es die Autoren wie auch Hans-Gert Pöttering selbst sicher freuen.

Hildesheim, im Juli 2020

Michael Gehler – Marcus Gonschor

1https://digitaler-lesesaal.kas.de/archiv, abgerufen am 10. Mai 2020.

1.

2. Der Weg nach Europa 1974–1984

Spätestens seit 1976 stand für Hans-Gert Pöttering fest, dass er eine Laufbahn in der (europäischen) Politik anstreben wollte. Doch wie sollte das gelingen? Nachdem die innerparteilichen Vorwahlen um den Niedersächsischen Landtag 1974, wie beschrieben, verloren gegangen waren, verhießen die am 10. Dezember dieses Jahres von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EG, die nunmehr erstmals unter dem Namen Europäischer Rat firmierten, auf dem Pariser Gipfel angekündigten und am 20. September 1976 vom (Minister-)Rat beschlossenen Direktwahlen zum Europäischen Parlament schlagartig eine interessante berufliche Perspektive für den christlich-demokratischen Nachwuchspolitiker aus dem Landkreis Osnabrück.

Das Europäische Parlament war einst aus der erstmalig am 10. Septem­ber 1952 zusammengetretenen Gemeinsamen Versammlung der EGKS hervorgegangen. Sie hatte ursprünglich rein beratende Aufgaben und keinerlei legislative Kompetenzen wie die nationalen Parlamente. Aus dem »Montanparlament« der EGKS entwickelte sich 1958 die Europäische Parlamentarische Versammlung. Mit Inkrafttreten der Römischen Verträge (am 25. März 1957 unterzeichnet) zum 1. Januar 1958 waren mit der EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) nämlich zwei weitere europäische Teilgemeinschaften zur EGKS hinzugekommen, für die man gemäß dem zeitgleich verwirklichten Abkommen über gemeinsame Organe für die EG nunmehr auch nur eine parlamentarische Versammlung haben wollte, nämlich die Europäische Parlamentarische Versammlung. Mitglieder des Europäischen Parlaments waren dabei stets aus den Reihen der nationalen Parlamente Delegierte, die somit ein Doppel­mandat innehatten.1

Neben der Gemeinsamen Versammlung der EGKS wurde 1958 des Weiteren auch deren Gerichtshof in einen gemeinsamen für alle drei Teilgemeinschaften umgewandelt, während die Hohe Behörde der EGKS erst 1967 mit Inkrafttreten des »Vertrags zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften«, dem sogenannten Fusionsvertrag, mit den Kommissionen von EWG und ­EURATOM zusammengelegt worden ist. Die Gemeinsame Versammlung und der Gerichtshof der EGKS waren insofern das institutionelle Fundament bzw. der »Rohbau« der europäischen Integration.2

Das gemeinsame »parlamentarische Kraftzentrum«3 der drei Teilgemeinschaften wertete sich vier Jahre nach seiner Einrichtung sodann selbst nominell auf: Am 13. März 1962 gaben sich die Mitglieder der Europäischen Parlamentarischen Versammlung selbstbewusst den Namen »Europäisches Parlament«, wenngleich es noch über 25 Jahre dauern sollte, bis dieser offiziell-juristisch bestätigt wurde: Erst 1986/87 wurde dem Mitgliederplenum nämlich in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) vertraglich der Name »Europäisches Parlament« zugebilligt.4 Doch das war nur eine Formalität. Längst hatte sich der Begriff Europäisches Parlament eingebürgert. Immerhin hatte ja der Europäische Rat schon 1974 Direktwahlen für eben jenes beschlossen. Diese sollten nunmehr erstmals in der Geschichte 1978 (letztlich ein weiteres Jahr später) stattfinden. Die Bürger aus den durch die 1973 erfolgten Beitritte des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks auf neun Mitgliedsstaaten angewachsenen EG konnten nun erstmals alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments frei und direkt wählen.

Diese Aussicht auf Direktwahlen zum Europäischen Parlament versprach unterdessen für den nach einem (europa)politischen Amt strebenden Hans-Gert Pöttering Hoffnung: »Ich hatte die ersten Wahlen zum Europäischen Parlament fest im Blick und mich innerlich schon darauf eingestellt, dafür zu kandidieren. Natürlich durfte ich noch nicht darüber sprechen.«5 Dass Pötterings (berufliches) Streben nach einem solchen europapolitischen Posten und die Aussicht auf Direktwahlen zum Europaparlament zusammenfielen, war zweifellos eine glückliche Fügung des Schicksals. Bevor die politische Karriere des niedersächsischen Christdemokraten mit der Wahl in das Europäische Parlament am 10. Juni 1979 aber maßgeblich an Fahrt gewinnen sollte, hatte der Nachwuchspolitiker noch Erfahrungen in der parlamentarischen Grundlagenarbeit als Mitarbeiter eines Bundestagsmitglieds sammeln können und vor allem zentrale (partei)politische Anstrengungen unternehmen müssen, um sich seinen Weg nach Europa zu ebnen.

2.1 Politische Einflussmöglichkeiten

Sein zweites juristisches Staatsexamen am Oberlandesgericht in Celle hatte Hans-Gert Pöttering im September 1976 »befriedigend« abgeschlossen, um sich berufliche Alternativen zur Politik als Rechtsanwalt oder gar Richter offenzuhalten – für den Fall des Scheiterns seiner politischen Ambitionen. Das war (und ist) ein typischer Wesenszug des auf Sicherheit achtenden Pöttering. Just zu dieser Zeit erreichte den ausgebildeten Juristen ein vielversprechendes Angebot vom damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten (1965–1980) aus dem Wahlkreis Bersenbrück und stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (1972–1980) Burkhard Ritz: Hans-Gert Pöttering sollte persönlicher Referent des Mitglieds des Deutschen Bundestags (MdB) in Bonn werden. Da Ritz den engagierten JU-Politiker aus örtlichen Parteikreisen kannte und wusste, dass der nach einer beruflichen Verwendung suchte, kam sodann unmittelbar ein Arrangement zwischen Pöttering und »seinem« Bundestagsabgeordneten zustande.6 Er hatte deshalb angekündigt, nicht mehr als Kreisvorsitzender seiner JU zu kandidieren, um sich voll und ganz auf die neue Tätigkeit in Bonn konzentrieren zu können.7 Weil Burkhard Ritz seinerzeit im Falle einer Beteiligung der CDU an der Regierung infolge der Bundestagswahlen vom 3. Oktober 1976 sogar für einen Ministerposten gehandelt wurde, erschien »eine Tätigkeit« an der Seite des MdB zudem mehr als »attraktiv« für den aufstrebenden Jungpolitiker Pöttering. Diese Hoffnungen erfüllten sich aber bekanntlich nicht, da SPD und FDP 1976 ihre Regierungskoalition fortsetzten und die CDU/CSU in der Opposition bleiben musste. Mithin versprach die Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Pöttering dennoch die Aussicht, sein professionelles politisches Profil zu schärfen.8 Der ursprünglich aus Pommern stammende und infolge des Zweiten Weltkriegs aus seiner Heimat vertriebene Ritz hatte derweil mit Agrarpolitik einen politischen Schwerpunkt, der »nicht mein Thema war«, wie sein damaliger Mitarbeiter Jahrzehnte später bekundet. Seine Aufgaben als Referent, also das Vorbereiten von Briefen, das Führen von Telefonaten, das Entwerfen von Reden und weitere assistierende Tätigkeiten, bewerkstelligte Pöttering trotzdem ­problemlos. Seinerzeit ging der Norddeutsche seiner Arbeit direkt neben dem Abgeordneten im gleichen Büro in der zweiten Etage des »Alten Hochhauses« in Bonn nach. Da der in unmittelbarer Nähe kein Büro für seinen Referenten gefunden hatte, wurde Pöttering ein Schreibtisch direkt neben dem seines Chefs zur Verfügung gestellt. Von dort konnte der engagierte Jungchristdemokrat das Geschehen der Bonner Politikszene aus nächster Nähe mitverfolgen. Sogar den Fraktions­sitzungen unter Vorsitz (1976–1982) keines Geringeren als des späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl (1982–1998) wohnte der Assistent von Burkhard Ritz zu dieser Zeit bei. So erlebte Pöttering aus der Perspektive des wissenschaftlichen Assistenten auch jenes düstere Kapitel der Beziehungen zwischen den beiden Schwesterparteien CDU und CSU, die seit der ersten Bundestagswahl 1949 stets eine gemeinsame Fraktion im Parlament gebildet hatten. Nachdem sich die CSU in den ersten Jahren nach ihrer Gründung 1945 zunächst im innerbayerischen Wettstreit gegen die Bayernpartei durchgesetzt hatte, weitete sie unter Führung des langjährigen Vorsitzenden Franz Josef Strauß (1961–1988) ihr Streben nach bundesweiter Emanzipation von der Schwesternpartei aus, das am 19. November 1976 im Trennungsbeschluss von Kreuth gipfelte.9 Darin beschloss die CSU-Landesgruppe unter maßgeblicher Förderung durch den Parteivorstand, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im 8. Deutschen Bundestag (1976–1980) nicht fortzusetzen10 und die Etablierung der CSU zur »vierten Partei« auf Bundesebene voranzutreiben.11 Pöttering weiß zu berichten:

»[I]ch erinnere mich, dass ich einen Ausweis bekam, auf dem CDU-Fraktion stand. Eigentlich wäre CDU/CSU-Fraktion richtig gewesen. [...] Ich sah mit großem Respekt, ja mit Bewunderung, wie Helmut Kohl hier Kurs hielt und sich dem Kreuther Beschluss widersetzte. Er traf am Ende auch die organisatorischen Vorbereitungen. Wenn Kreuth verwirklicht worden wäre und die CSU sich bundesweit ausweitete, dann würde es auch in Bayern einen CDU-Verband geben. Da war am Ende Helmut Kohl der Stärkere, auch im Verhältnis zu Franz Josef Strauß.«12

In der Tat war der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl, der vom Kreuther Trennungsbeschluss aus den Medien erfahren musste, »nicht mehr zu bremsen«. Bereits vor Kreuth hatte der Parteivorsitzende im Präsidium angekündigt, »sofort die CDU in Bayern zu gründen«, falls die CSU zur »vierten Partei« auf Bundesebene avancieren wolle. Daher hatte er bereits weit im Voraus Rücklagen für die Gründung einer bayerischen CDU bilden lassen, die er nun auch nicht einzusetzen zögerte.13 Kurz nachdem die vom Adenauer-Haus lancierte Meldung die Runde gemacht hatte, die CDU suche in München schon nach einem Haus für ihre Landesgeschäftsstelle, war der Trennungsbeschluss von Kreuth perdu. Der CDU-Chef sowie künftige Vorsitzende der Bonner CDU- und CSU-Bundestagsfraktion Kohl hatte im Machtpoker mit dem CSU-Primus Strauß14 obsiegt.15

Unterdessen konnte der als rechte Hand von Kohls künftigem Fraktionsvize arbeitende Hans-Gert Pöttering diese politischen Scharmützel aus erster Hand miterleben. Insofern war die Assistententätigkeit an der Seite von Burkhard Ritz für Pöttering ohne Zweifel eine »lehrreiche Zeit« und für die spätere eigene Abgeordnetentätigkeit dienlich: »Burkhard Ritz war ein anerkannter Politiker und bei ihm Mitarbeiter zu sein, war sicherlich nicht hinderlich, zumindest Kandidat [für das Europäische Parlament] zu werden, sondern wahrscheinlich förderlich.«16

Für das machtpolitische Streben Pötterings waren ebenfalls das intensivierte Engagement im Rahmen seines JU/CDU-Heimatverbands und die damit verbundenen Auftritte in der Öffentlichkeit hilfreich. Im JU-Milieu hatte er übrigens 1974 seine spätere Ehefrau Ruth kennengelernt, die er 1977 geheiratet hatte. Aus der Ehe gingen die beiden Söhne Johannes (geb. 1977) und Benedict (geb. 1983) hervor. Zu seinem tiefsten Bedauern scheiterte die Ehe aber, da, wie er selbst schreibt, sich die »Geduld und Kraft« seiner Partnerin nach und nach erschöpfte, zumal er viel »weniger Zeit für die Familie« hatte und der deutsche Christdemokrat schlicht für die Politik, ja Europa lebte.17

Hans-Gert Pöttering mit seinem Sohn Benedict, Ehefrau Ruth und Sohn Johannes (v. l. n. r.)

Der zwar nicht an kommunalpolitischen, wohl aber an außen-, deutschland-, europa- und sicherheitspolitischen Themen interessierte Nachwuchs­politiker hatte bereits vor Beendigung seines juristischen Referendariats im September 1976 verstärkt die Öffentlichkeit gesucht und leidenschaftlich für das europäische Integrationsprojekt geworben. So sprach sich der durch Mitgliedschaft im Bundesausschuss für Sicherheitspolitik der CDU und in der außenpolitischen Kommission der JU formell zum Außen- und Sicherheitspolitiker aufgewertete Hans-Gert Pöttering schon am 27. Mai 1975 bei einer Veranstaltung zum Thema »Jugend für Europa« im deutsch-­niederländischen Grenzgebiet dafür aus, »die Grenze zu entgrenzen«, zumal in einer strukturschwachen Region wie dem Emsland. Durch eine verstärkte Integration der EG-Mitgliedsstaaten könnten gerade solche Gebiete enorm wirtschaftlich profitieren. Darüber hinaus forderte er eine »Übertragung von Souveränität auf gemeinschaftliche, demokratisch legitimierte Institutionen«.18

Pöttering bei einer Kundgebung für den Abbau der Grenzen zu den Niederlanden im niedersächsischen Nordhorn, 6. Mai 1983

Damit warb Pöttering ziemlich genau zehn Jahre vor dem ersten Schengener Übereinkommen »betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen« innerhalb der EG für eben jene Abschaffung der stationären Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten.19 Außerdem stellte sich Pöttering bewusst in die Tradition jener deutschen und französischen Studenten, die als Mitglieder der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) zu Beginn der 1950er Jahre die Schlagbäume an der deutsch-französischen Grenze zerstörten und damit den Nationalismus der Vergangenheit zu überwinden suchten.20

Des Weiteren griff der Niedersachse mit seinen Forderungen nach einer gemeinschaftlichen Institution mit demokratischer Legitimität für die EG prinzipiell die Ankündigung des Europäischen Rats vom 9./10. Dezember 1974 auf, das Europäische Parlament direkt von den Bürgern der Gemeinschaft wählen zu lassen und in diesem Zuge die parlamentarischen Kompetenzen auszuweiten. Darüber hinaus weisen die Forderungen des jungen Christdemokraten aus Norddeutschland eine hohe Ähnlichkeit mit jenen des damaligen belgischen Premierministers Leo Tindemans (1974–1978)21 – eines späteren Parteifreunds aus der belgischen Christlijke Volkspartij (CVP) und Parlamentskollegen – auf. Dieser forderte in dem nach ihm benannten Tindemans-Bericht vom 29. Dezember 1975, in dem er Vorschläge für eine Weiterentwicklung der EG zu einer EU ausgearbeitet hatte, unter anderem eine Verstärkung der gemeinsamen EG-­Institutionen sowie die weitgehende Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips im Ministerrat.22 Denn Tindemans war völlig klar, dass ein Vetorecht für jeden Mitgliedstaat die Entscheidungsfähigkeit der EG massiv beschränkte – egal in welchem Politikfeld. Das galt umso mehr, wenn der Norderweiterung der EG von 1973 um Großbritannien, Irland und Dänemark weitere Beitritte folgten und die Gemeinschaft der neun weiter wuchs.23 Seinen Bericht wollte Tindemans unterdessen keinesfalls als Verfassung (miss)verstanden wissen.24

In einem ähnlichen Tenor wie der belgische Premier artikulierte sich denn auch der nach Europa strebende Hans-Gert Pöttering. Er ging aber insofern weiter als Tindemans, als er vehement »schon jetzt eine Unionsverfassung« forderte, wobei zweifelsfrei »am föderativen Prinzip festzuhalten« sei: In einer europäischen Zentralgewalt erkannte der niedersächsische Christdemokrat einen Sinn, wenngleich auch die Mitgliedsstaaten der EG unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips ihre Aufgaben wahrzunehmen hätten.25 Damit lag Pöttering auf einer Linie mit jenen deutschen Christlichen Demokraten, die schon in den 1950er Jahren für eine europäische Verfassung geworben hatten – obschon letztlich erfolglos.26

Den Tindemans-Bericht studierte Pöttering nach dessen Veröffentlichung im Frühjahr 1976 und trug Passagen bei politischen Veranstaltungen daraus vor, da sie identisch mit seinen europapolitischen Überzeugungen waren,27 wenngleich für den deutschen Christdemokraten das Etikett weniger wichtig war als der Inhalt:

»Der Begriff Tindemans-Bericht spielte [...] keine so große Rolle, aber das Anliegen wurde natürlich vorgetragen. Ich sprach immer, seitdem ich europapolitisch engagiert bin, von der politischen Union – auch weit vor der Europawahl. Und der Tindemans-Bericht war sicher so ein Mittel, diesen Gedanken, zumindest in der Christdemokratie, aber ich glaube auch darüber hinaus präsent zu halten und zu vertreten. Auch weil wir sagten: Die Europäische Gemeinschaft dürfe nicht nur etwas Wirtschaftliches sein, sondern sie muss etwas Politisches werden.«28

Der JU-Politiker Pöttering hatte mittlerweile auch seinen (außenpolitischen) Fokus geschärft: Nach dem Sturz des diktatorischen Estado-Novo-Regimes in Portugal in der »Nelkenrevolution« vom 25. April 1974 hatte eine Transformationsphase begonnen, während deren verschiedene politische Strömungen um die Macht in Lissabon konkurrierten. In diesem Zusammenhang kommentierte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Portugals, Álvaro Cunhal, den für seine Partei schlechten Ausgang der Wahlen in Portugal vom April 1975 mit den Worten: »Die Wahlen haben nichts mit der Dynamik der Revolution zu tun. [...] Ich verspreche, dass es in Portugal kein Parlament geben wird.«29 Cunhals Aussage aufgreifend, kritisierte Pöttering wenige Monate später auf einer Kreismitgliederversammlung der JU in Rulle bei Osnabrück das Ausbleiben von sich von Cunhal distanzierenden Positionierungen des politischen Wettbewerbers, nämlich der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD, der Jusos. Sodann erfolgte ein für Pöttering typisches politisches Grundsatzbekenntnis zu den demokratischen Kräften im Westen der Iberischen Halbinsel und zur lückenlosen Einhaltung der Menschenrechte:

»Wir wünschen, daß diese Demokraten schließlich doch Erfolg haben, sich gegen die Methoden der Gewalt und der Menschenverachtung durchzusetzen, um in Portugal ein freies, pluralistisches Land aufzubauen, das sich gründet auf den Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte.«30

Doch die Liste der westeuropäischen Länder mit Krisen und Herausforderungen umfasste zu jener Zeit weitaus mehr Staaten als nur Portugal: Während sich die Volkswirtschaft des Vereinigten Königreichs in einer schwierigen Situation befand, stellte sich in Spanien ähnlich wie in dessen Nachbarland die Frage, wie die (demokratische) Zukunft nach dem Tode des jahrzehntelangen Diktators Franco aussehen sollte. Auch die (euro)kommunistischen Entwicklungen in Italien und Frankreich bereiteten nicht nur dem JU-Vorsitzenden im Kreis Osnabrück Kopfschmerzen, sondern sorgten in den meisten christlich-demokratischen und konservativen Parteizentralen Westeuropas für sorgenvolle Mienen.31 Die Lösung all dieser Probleme versprach sich Hans-Gert Pöttering in einem »Bundesstaat Europa«, in dem das »nationale Interesse [...] hinter die Gemeinsamkeit zurücktreten« müsste.32 In einer vertieften (west)europäischen Integration erkannte er zudem eine Antwort auf die deutsche Frage. Anders formuliert: Die deutsche und die europäische Einheit waren analog zu jenem Diktum Helmut Kohls von 1990 »zwei Seiten derselben Medaille«.33 Pöttering war nämlich richtigerweise davon überzeugt, dass nur dann die deutsche Zweistaatlichkeit überwunden werden könne, wenn auch die Teilung Europas beendet würde.34 Die Geschichte sollte ihm Recht geben.

Pötterings übergeordnete Verpflichtung für die Einheit Deutschlands blieb zu JU-Zeiten in den 1970er Jahren aktiv. Nachdem der junge Christdemokrat – wie beschrieben – im Angesicht der Berliner Mauer seinen Einstieg in die Politik beschlossen hatte, kehrte er 1976 anlässlich des 15. Jahrestags der Errichtung jener Mauer nach West-Berlin zurück. Pöttering nahm an einer von der JU Deutschland unter Vorsitz Matthias Wissmanns organisierten Protestkundgebung gegen die Berliner Mauer teil. Die Fahrt über das Territorium des anderen Deutschlands erwies sich für den Bersenbrücker als »besonderes Erlebnis«: »[D]ie Straße war schon rein materiell anders. Dann die Felder zu sehen, die Häuser – das war wirklich eine andere Welt, das spürte man schon.«35 Von den 40 aus dem gesamten Bundesgebiet die Reise nach West-Berlin angetretenen Bussen erreichten allerdings nur zwei ihre Destination. Den anderen 38, voll besetzt mit JU-Mitgliedern, wurde von den DDR-Grenzern forsch die Durchfahrt verwehrt. Der Bus, in dem Pöttering mit seinen Osnabrücker Parteifreunden saß, konnte unterdessen sein Ziel erreichen. Dies hatten die Jungchristdemokraten wohl dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass eine US-amerikanische Journalistin und ein britischer Schüler mit an Bord waren. Die DDR-Grenzwächter wagten es in dem Falle nicht, Staatsangehörigen von zwei der vier Staaten, die im Viermächteabkommen über Berlin vom 3. September 1971 den uneingeschränkten Transitverkehr aus der Bundesrepublik durch die DDR in die westlichen Sektoren Berlins vertraglich zugesichert hatten,36 eben jenen Einlass zu verwehren.37 Als die Gruppe um Pöttering lange von den DDR-Truppen am Grenzübergang Helmstedt/Marienborn aufgehalten wurde, verspürte der niedersächsische JU-Kreisvorsitzende »keine Sekunde Angst«. Eine eventuelle Inhaftierung durch die DDR-Truppen hätte er sogar billigend in Kauf genommen, zumal eine solche enorme mediale Aufmerksamkeit versprach, durch die der eigenen politischen »Grundposition« Ausdruck hätte verliehen werden können.38

Durch seine regelmäßig in der Öffentlichkeit vertretenen und beworbenen »Grundpositionen« als Außen- und Sicherheitspolitiker der JU bereitete Pöttering strategisch seine Bewerbung um eine Nominierung als Kandidat für die Europawahl 1978/79 vor: Nach der schon erwähnten für Pöttering negativ ausgegangenen CDU-internen Vorwahl zur Landtagswahl 197439 hatten sowohl der unterlegene Kandidat als auch der Gewinner, Reinhard von Schorlemer, »großes Interesse daran«, dass es nicht zu einer neuerlichen Konkurrenzsituation zwischen den beiden Akteuren kam. Pöttering selbst glaubt übrigens Jahrzehnte später, dass er eine weitere Kandidatur gegen von Schorlemer »wahrscheinlich auch verloren hätte«. Daraus erwuchs das Inter­esse, »auf einer anderen Ebene politisch aktiv« zu werden, sich also für eine Kandidatur als CDU-Kandidat für die Ende des Jahrzehnts anstehenden ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament in Stellung zu bringen. Denn: »Europa war meine große Ambition«, so Pöttering.40

Auf der Suche nach dem europapolitischen Amt, das Gestaltungsspielraum versprach, hatte der vorausdenkende Christdemokrat sodann die Direktwahlen zum Europaparlament anvisiert. Da jedes Mitgliedsland in der Formulierung seiner Wahlgesetze frei ist, entschied sich die Bundesrepublik für eine Listenwahl bei den Europawahlen 1979. Danach wurden – und werden immer noch – in der Bundesrepublik keine Direktmandate für den Sieg in einem Wahlkreis vergeben wie bei Bundestagswahlen. Die Kandidaten werden stattdessen auf Landes- (CDU/CSU) bzw. Bundeslisten (SPD) aufgestellt. Je nach dem Stimmenanteil für die Partei werden dann die Kandidaten der vorderen Plätze auf der Liste ins Parlament gewählt.41

Obwohl es also formell keine Wahlkreise bei Europawahlen gibt, bemühten sich die Parteien dennoch um eine klare »Zuordnung eines jeden Abgeordneten für eine Region«, um der Partei regional ein Gesicht zu geben, wie Pöttering erklärt:

»Z. B. war es bei mir [...] die Region Osnabrück-Emsland. Das war der Kern. Ostfriesland betreute ich mit, weil sie keine Abgeordneten haben. Wir vier, manchmal auch fünf Europaabgeordnete der CDU aus Niedersachsen teilten uns das Land auf, sodass jede Kreis­partei wusste, wer zuständig war. [...] Jeder [Abgeordnete] hat einen Bereich, sodass die Partei weiß – sowohl die Landes- als auch die Bezirks-, Kreis- und Ortsebene –, wer zuständig ist. [...] Das Wichtigste ist, dass die Parteien und die Menschen wissen, dass sie einen Ansprechpartner haben. Deswegen bewährte sich im Kern, wie ich finde, für Deutschland zumindest, dieses Prinzip der Landeslisten.«42

Der Weg zu einer Wahl ins Europaparlament führte daher zunächst über eine Nominierung als Kandidat seiner Partei. Dafür musste der Bersenbrücker aus der kommunalen Parteiebene aufsteigen und die nächste Stufe erreichen – und zwar die Landesverbandsebene. Auch deshalb hatte Pöttering 1976 beschlossen, nicht mehr für den Vorsitz der JU im Landkreis Osnabrück zur Verfügung zu stehen, wie auch sein berufliches Engagement in Bonn für den Abgeordneten Ritz ja dazu geführt hatte. So hatte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Für die weitere politische Karriere war die 1976 erfolgte Wahl zum Beisitzer in den Vorstand der JU Niedersachsen eine wesentliche Weichenstellung, zumal der Neuling sodann nach der eigens für ihn geschaffenen Funktion eines europapolitischen Sprechers strebte. Während die Etablierung dieser Aufgabe für Pöttering eine strategische Entscheidung mit Blick auf die in einigen Jahren anstehenden Europawahlen war, verkannten Parteifreunde die Implikationen, die mit der Vergabe dieses Parteiamts an Pöttering verbunden waren. So ließen sie sich zu dem Kommentar hinreißen: »Der spinnt ja, was will der da europapolitischer Sprecher werden!«43 Doch für Pöttering stand längst fest:

»Als ich 1976 in den Landesvorstand der JU Niedersachsen gewählt wurde, hatte ich natürlich die Europawahl 1978/79 im Blick. Ich wollte, dass wir als JU Niedersachsen ein Europakonzept entwickelten, was dann auch 1978 auf dem Niedersachsentag in Wolfsburg beschlossen wurde, sodass ich eine klare Agenda in meinem Kopf hatte. Manche lächelten, als ich darum bat, europapolitischer Sprecher zu werden. Das gab es vorher noch nie. Aber ich hatte meine Vorstellung und so kam es dann auch.«44

2.2 Vorentscheidung in Wolfsburg

Als neuer europapolitischer Sprecher der JU Niedersachsen hatte Hans-Gert Pöttering ein parteipolitisches Amt erlangt, das es ihm gestattete, seinen Anspruch auf eine politische Gestaltungsmöglichkeit zu untermauern und sich für die Nominierung als Kandidat seiner Partei für die Europawahlen in Stellung zu bringen. Nun legte der Bersenbrücker so richtig los und begann seine europapolitischen Vorstellungen zu konkretisieren. Schon im Zuge des sich anbahnenden Bundestagswahlkampfs 1976 nutzte Pöttering als neues Mitglied des JU-Landesvorstands die Chance zu einem Auftritt während einer CDU-Versammlung im südlich von Osnabrück gelegenen Hagen. Dabei vertrat er in der an Konrad Adenauer erinnernden Parteiveranstaltung die Auffassung, der erste Kanzler habe mit seiner Westintegrationspolitik die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Bundesrepublik Deutschland »zu den Staaten der freien Welt« gehöre, während die SPD seinerzeit für »Bündnislosigkeit« gestanden habe. Basierend auf diesen Thesen setzte er zu einer kritischen Bemerkung über Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974–1982) von der SPD an, der im Gegensatz zu Adenauer gegenüber den westeuropäischen Partnern als »Besserwisser und Oberlehrer« auftrete, wodurch die europäische Integration eben keine Beschleunigung erfahre.45

Gerade die sei aber zu jener Zeit vordringlich gewesen, zumal »in Europa Freiheit und Demokratie nur dann geschaffen und erhalten würden, wenn in Zukunft das Gemeinsame herausgestellt und betont« werde. Die »CDU als Motor der europäischen Einigungspolitik« mit ihrem Kanzlerkandidaten Helmut Kohl strebe daher nach einem stärkeren Westeuropa, das auch im transatlantischen Verhältnis seiner Verantwortung nachkommen solle. Solidarität müsse derweil der Maßstab für die Beziehungen der EG-Staaten untereinander sein, warb Pöttering bei einer Veranstaltung in Diepholz, mit der die örtliche JU Anfang September 1976 ihren Bundestagswahlkampf anbahnte. Prioritär verfolgte die Christdemokratie, so der europapolitische Sprecher der JU, die Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Dieser sollten die für 1978 geplanten Direktwahlen zum Europäischen Parlament besonders zuträglich sein.46

Da sich die EG nach den im Wahlkampf artikulierten und damit zweifelsohne zugespitzten Aussagen des ins Europäische Parlament strebenden Hans-Gert Pöttering in den 1970er Jahren in einer »Dauerkrise« befand, verspreche die Aussicht auf Direktwahlen den dringend gebotenen neuen »Impuls für die zukünftige Europapolitik«.47 Die EG stand seiner Meinung nach angesichts der nahenden Direktwahlen sowie der bevorstehenden Beitritte Griechenlands, Spaniens und Portugals (Süderweiterung) »vor einer neuen Phase der Entwicklung«.48

So war es gleichsam ein Gebot der Stunde, eine christlich-demokratische Konzeption für die Gestaltung der künftigen Situation der EG zu stricken – zumal aus der Perspektive der jungen Generation. Genau diese wollte die JU auf ihrem Niedersachsentag am 22./23. Juli 1978 in Wolfsburg, vergleichbar mit einem Parteitag der Mutterpartei, verabschieden. Für die vorbereitenden Arbeiten am europapolitischen Konzept hatte Pöttering sich in seiner Funktion als europapolitischer Sprecher der Jungchristdemokraten längst empfohlen. Die Entscheidung des Landesvorstands, eine Arbeitsgruppe um Pöttering mit den inhaltlichen Vorbereitungen des Europakonzepts zu betrauen, stellte daher auch keine Überraschung dar, sondern war in gewisser Weise logisch. In einer Vorlage für den Landesvorstand hatte Pöttering sodann als Thema des Niedersachsentages »Europa – für Freiheit und Frieden« vorgeschlagen und dazu drei Arbeitskreise angeregt. Die erste Arbeitsgruppe sollte sich mit »Außen- und Sicherheitspolitik in Europa – mit einer Stimme?« befassen, die zweite mit »Wirtschafts- und Sozialpolitik in der EG – auf dem Wege zur Union?« und die dritte mit »Wahlen zum Europäischen Parlament – Aufgaben der Europäischen Volkspartei (EVP)«. Für jeden Arbeitskreis hatte Pöttering jeweils einen prominenten Referenten vorgesehen: Egon Klepsch,49 Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Fraktion im Europäischen Parlament (1977–1982 und 1984–1992), für europäische Außen- und Sicherheitspolitik; Hans Katzer, ehemaliger Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (1965–1969) sowie Vorsitzender der Europäischen Union Christlich-Demokratischer Arbeitnehmer, zur europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik; Kai-Uwe von Hassel, ehemaliger Bundesminister der Verteidigung, Vorsitzender der Europäischen Union Christlicher Demokraten (EUCD, 1973–1981) und Vizepräsident der EVP (1976–1981),50 zur 1976 gegründeten europäischen christlich-­demokratischen Partei, der EVP. Wichtig war dem Organisator Pöttering, dass den »AK-Teilnehmern ausreichend Zeit für die Diskussion« zur Verfügung stand, damit die Ergebnisse der Arbeitskreise in den am Ende des Niedersachsentages zu verabschiedenden Dokumenten nicht nur berücksichtigt, sondern auch von den Delegierten beschlossen wurden.51

Von den ursprünglich vorgesehenen bzw. vorgeschlagenen durchaus namhaften Referenten nahm de facto am Ende aber nur Egon Klepsch teil, der sich mit der EVP und den Direktwahlen zum Europäischen Parlament befasste.52 Anstelle von Katzer hatte Pöttering dann seinen Chef aus Bonn, den stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Burkhard Ritz, gewinnen können, der im Arbeitskreis 2 zur europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik sprach, während der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der KAS, Hans Rühler, für das Referat zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitikim Arbeitskreis 3 verantwortlich zeichnete.

Bevor die inhaltliche Diskussion am Nachmittag des 22. Juli 1978 in der Wolfsburger Stadthalle an Fahrt gewinnen sollte, war der für die vorbereitenden Arbeiten an der Europakonzeption verantwortliche Hans-Gert Pöttering mit dem von zehn angetretenen Kandidaten besten Ergebnis zum Beisitzer in den Landesvorstand gewählt worden. Immerhin 223 von 268 stimmberechtigten Delegierten hatten ihrem europapolitischen Sprecher das Vertrauen ausgesprochen. Als Landesvorsitzender der JU hatte Fritz Brickwedde zuvor schon den amtierenden Klaus-Michael Machens ablösen können, wenngleich das Ergebnis von 138 zu 126 Stimmen53 denkbar knapp war und damit die gespaltene Haltung der Delegierten hinsichtlich dieser Personalie zum Ausdruck brachte.

Die Wahl Brickweddes zum neuen Landesvorsitzenden in der »Kampfabstimmung« nahm Hans-Gert Pöttering derweil mit gemischten Gefühlen auf. Brickwedde hatte sich nämlich im Gegensatz zu seinem ihm unterlegenen Gegner, Klaus-Michael Machens, nicht von vornherein »klar verpflichtet« gehabt, »dass ich Kandidat« der JU für das Europäische Parlament »würde«, so die Rückbetrachtung Pötterings. Bei ihm sei das »offen« gewesen.54 Der aus vier Vorständen (Vorsitzender: Fritz Brickwedde, stellvertretende Vorsitzende: Bernd Huck, Wilhelm Hogrefe, Hartmut Büttner) und acht Beisitzern bestehende neue Landesvorstand der JU Niedersachsen ging nach den personalpolitischen Entscheidungen in die Beratungen, ob er dem Niedersachsentag seine Empfehlung aussprechen solle, Hans-Gert Pöttering als Kandidaten der jungen Christdemokraten für die Europawahlen zu nominieren.55 Gegenüber dem neuen Landesvorstand hatte sich vor allem der Vorsitzende des JU-Bezirksverbandes Osnabrück-Emsland, Wolfram Hamacher, dafür stark gemacht, dass Pöttering als Kandidat vorgeschlagen werden möge. Hamacher, nach Pötterings Einschätzung »ein sehr grundsatztreuer und durch und durch anständiger Mensch, auf den man sich verlassen konnte«, hatte dem Landesvorstand gegenüber für Pöttering geworben, da der »für Europa brenne« und es vorteilhaft »für die JU Niedersachsen« sei, »jemanden zu haben, der sich voll und ganz hinter die Europapolitik stellte«. Genau diese Argumentation scheint Anklang im Vorstand gefunden zu haben.56 So folgte der neu gewählte Landesvorstand schließlich den Ausführungen Hamachers zur Personalie Pöttering.

Dem dann am folgenden Tag von der neuen JU-Landesführung eingebrachten »Dringlichkeitsantrag«, den Co-Vorsitzenden der Antragskommission »Hans Gert Pöttering als Kandidaten der Jungen Union Niedersachsen zum Europäischen Parlament zu nominieren«, stimmte der Niedersachsentag »einstimmig« zu.57 Das war ein überwältigender Vertrauensbeweis der 268 JU-Repräsentanten für ihren europapolitischen Sprecher und zugleich ein Signal an die Mutterpartei, dass sie auch ihren Kandidaten bei der Aufstellung der Landesparteiliste zur Europawahl prominent berücksichtigt wissen wollten. Die jungen Christdemokraten wollten mit der Nominierung ihres 33 Jahre alten Parteifreundes freilich auch jenem in den Medien kolportierten und die etablierten Parteien in ihrer Personalauswahl für Europa kritisierenden Satz »Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa« offensiv entgegnen.58 Pöttering selbst hält dieses Diktum in der Rückschau übrigens tatsächlich für zutreffend:

»[E]s stimmte durchaus, weil viele Persönlichkeiten kandidierten, die schon eine große nationale Laufbahn hinter sich hatten: Kai-Uwe von Hassel, Alfons Goppel und Wilhelm Hahn bei uns, dann Willy Brandt, Heinz Kühn und Heinz Oskar Vetter bei der SPD. [...] Ich profitierte davon, weil die CDU meinte, es sei angemessen, auch einen Jüngeren zu haben. [...] Aus heutiger Sicht muss ich [aber auch] sagen: So sehr berechtigt dieser Satz war [...], hatte ich doch mit diesen älteren Persönlichkeiten sehr gut zusammengearbeitet – besonders mit Kai-Uwe von Hassel, aber auch mit Alfons Goppel [...]«59

Unterdessen hatte die Führung der CDU in Niedersachsen – dieser Gebietsverband wird laut CDU-Statut nicht als Landesverband angesehen, sondern die drei ihn konstituierenden Landesverbände Braunschweig, Hannover und Oldenburg als autonome Organisationseinheiten –60 auf dem Niedersachsentag die Nominierung Pötterings als Kandidat des christlich-demokratischen Nachwuchses für das Europaparlament ausdrücklich begrüßt. Sowohl Niedersachsens CDU-Landeschef (1968–1990) und Minister für Bundesangelegenheiten (1976–1986) Wilfried Hasselmann als auch der Landesvater persönlich, Ministerpräsident Ernst Albrecht (1976–1990), sprachen sich für eine Kandidatur des europapolitischen Sprechers der JU aus.61

Die Nominierung durch seine JU-Freunde wertet Pöttering selbst völlig zutreffend als »entscheidende[n] Schritt«, um in der weiteren Folge durch den CDU-Bezirksverband Osnabrück-Emsland erst Beistand erfahren zu können. Damit hatte Pöttering dann die gewichtigen Unterstützer für seine Kandidatur für das Europäische Parlament, die er als Neuling auch dringend brauchte. Neben Pöttering strebten nämlich auch anerkannte und profilierte Parteifreunde nach einem Mandat im Europäischen Parlament, wie z. B. Hans Edgar Jahn62 aus Braunschweig, der jahrzehntelange parlamentarische Erfahrung als MdB (1965–1980) sowie als Delegierter der Gemeinsamen Versammlung der EG (1970–1979) aufzuweisen hatte, oder auch Philipp von Bismarck, ebenfalls MdB (1969–1979) und Vorsitzender des Wirtschaftsrates der CDU (1970–1983).63

»Nachdem die JU mich zum Kandidaten aufgestellt hatte, zog mein CDU-Bezirksverband Osnabrück-Emsland nach. Diese Doppelkonstruktion, JU Niedersachsen und CDU-Bezirksverband Osnabrück-Emsland mit dem gewichtigen Werner Remmers als Vorsitzenden, ermöglichte es dann, dass ich den vierten Platz auf der Liste [der CDU in Niedersachsen für die Europawahl 1979] bekam. Die Liste zog dann bis Platz fünf.«64

Verbands- bzw. parteiintern konnte Pöttering sich gegen den ­Emsländer Kreistagsabgeordneten (1977–1981) Rudolf Mengelkamp durchsetzen, der ebenfalls Ambitionen auf einen Platz auf der Liste als Kandidat des CDU-­Bezirksverbands Osnabrück-Emsland gehabt hatte.65 Doch die Landesvertreterversammlung der CDU in Niedersachsen stimmte am 13. Januar 1979 der Nominierung Hans-Gert Pötterings für den vierten Platz auf ihrer Landesliste »einstimmig« zu66 und ließ damit keine Zweifel aufkommen.

Für Pöttering hatte sich zuvor auch schon der im Sommer 1978 neu gekürte niedersächsische JU-Landeschef verwendet – und zwar bei keinem Geringeren als dem Chef der Bundespartei höchstpersönlich. Fritz Brickwedde intervenierte am 13. Oktober 1978 schriftlich bei Helmut Kohl, nachdem der Parteichef während einer Sitzung des CDU-Bundesvorstands eine Veränderung der ersten vier Plätze der niedersächsischen Landesliste zugunsten eines Bremer Kandidaten ins Spiel gebracht hatte, die eine Wahl des JU-Kandidaten ins Europäische Parlament massiv zu gefährden schien. Brickwedde lehnte daher eine Veränderung der Liste strikt ab und lobte Pöttering in höchsten Tönen gegenüber Helmut Kohl:

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Dr. Hans-Gert Pöttering der einzige Kandidat der Jungen Union in der ganzen CDU ist, der eine echte Chance hat, ins Europa-Parlament einzuziehen. Sehen Sie nicht auch mir [sic! recte: mit] Sorge, daß in vielen Landesverbänden unserer Partei die Europa-Wahl dazu benutzt wird, verdienten Politikern ihr letztes Mandat zu gewähren? Nach meiner Meinung muß es auch Aufgabe unseres Parteivorsitzenden sein, dafür Sorge zu tragen, daß nun wenigstens einer aus den Reihen der Jungen Union in das Europa-­Parlament kommt.«67

Wenngleich Pöttering also zunächst Zweifel wegen der (vermeintlich) nicht eindeutigen Unterstützung Brickweddes für seine Kandidatur hatte, so unterstützte der neue JU-Landeschef ihn in der Folge ohne Wenn und Aber.

Zu Pötterings Ruf als eines kompetenten Mannes hatten in der Zwischenzeit seine vorbereitenden inhaltlichen Arbeiten am europapolitischen Konzept der JU für den Niedersachsentag vom 22./23. Juli 1978 in Wolfsburg beigetragen. So war er denn auch neben Bernd Huck einer der beiden Vorsitzenden der Antragskommission während des Niedersachsentags. Als solcher führte er nach den personalpolitischen Entscheidungen am 22. Juli 1978 in das Thema »Europa« ein und eröffnete die Beratungen der Arbeitskreise über die von ihm »in Zusammenarbeit mit einer Kommission« erarbeiteten konzeptionellen Überlegungen. Dass diese nach Beratungen und Diskussionen in den entsprechenden Arbeitskreisen am Ende des Niedersachsentags »mit einigen Änderungen bei einigen Enthaltungen angenommen« wurden,68 stellte zweifelsohne einen Erfolg für Pöttering dar, der bis dato noch keine Erfahrungen in der Arbeit an programmatischen Erklärungen hatte aufweisen können.

In den drei vom Niedersachsentag angenommenen umfassenden europa­politischen Vorlagen artikulierte die JU ihre Forderung, dass die Mutter­partei den Europawahlkampf exklusiv im Rahmen der EVP führen und künftig »auch nur in einer christdemokratischen Fraktion im Europa­parlament« mitwirken solle. Vom zukünftigen direkt gewählten ­Europäischen ­Parlament erwarteten die jungen Christdemokraten, dass strittige Themen unter den EG-Partnern nicht mehr außen vor gelassen werden sollten, ja nicht mehr »Probleme auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners« gelöst würden. Stattdessen sollte ein durch allgemeine und direkte Wahlen gebildetes Parlament einen politischen Diskurs und abschließende Entscheidungen durch »demokratisch legitimierte Mehrheiten« gestatten. Solche demokratisch fundierten Mehrheiten könnten nur im Europaparlament zustande kommen, das zudem vom CDU-Nachwuchs als wesentlich »integrationsfreudige[r]« eingestuft wurde als der (Minister-)Rat, der bis dato ohne Zweifel »das Schwergewicht« in der Gesetzgebung und bei den Kompetenzen gewesen sei. Die Delegierten sprachen sich daher unmissverständlich für eine institutionelle Stärkung des Europäischen Parlaments mit Blick auf seine legislativen Kompetenzen aus, um so eine »Belebung des Integrationsprozesses« zu erreichen. Der Niedersachsentag der JU ging in seinem vorauseilenden, wenngleich, wie sich herausstellen sollte, nicht fehlgehenden Lob für das Europäische Parlament sogar so weit, dass er feststellte: »Die europäische Einigung steht und fällt mit dem Ausbau der Stellung des Parlaments.« Damit war klar, dass die JU unter maßgeblicher Beteiligung Hans-Gert Pötterings eine Vision des institutionellen Gefüges der EG hatte, in dem das Parlament ein wesentlicher und machtvoller Akteur sein würde: Die Vertretung der europäischen Bürger sollte nämlich neben sukzessiv auszubauenden Gesetzgebungskompetenzen auch ein vollständiges Haushaltsrecht erhalten – und damit das »Königsrecht des Parlaments«, wie es eben die nationalen Parlamente auch haben.

Darüber hinaus forderten die jungen niedersächsischen Christdemokraten, dass Anregungen des Europäischen Parlaments »zu allen Europa betreffenden Fragen [...] von der Kommission dem Ministerrat vorgetragen werden« müssten. Damit regten sie eine Vorform eines Initiativrechts für Gesetze an. Ferner sollte das Parlament für die Einsetzung der Kommission verantwortlich sein. Deren Stellung konkretisiert Pöttering wie folgt:

»Die Kommission hat eine sehr schwierige Position. Mir gefällt nicht, wenn sie als eine Behörde bezeichnet wird. Das klingt nach Bürokratie, nach Administration. Das ist es zwar auch, aber nicht nur. Mein Idealbild war immer eine politische Kommission, eine Art europäische Regierung. Das hören die nationalen Regierungen natürlich nicht gerne, aber die Kommission muss eine politische Funktion haben und sie muss natürlich auch vermitteln. Sie hat das Vorschlagsrecht für die europäische Gesetzgebung, wobei auch immer wieder die Forderung auftrat, dass das Europäische Parlament dieses Initiativrecht bekommen sollte.«69

Unterdessen hatte der christlich-demokratische Nachwuchs in Wolfsburg ferner gefordert, dass der Ratspräsident dem Europäischen Parlament verpflichtend »Rechenschaft« ablegen sowie dass eine Debatte »über den Zustand der Gemeinschaft und die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung«,70 angelehnt an die Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Lage der Nation im Kongress,71 einmal pro Jahr stattfinden müsse.

Als weitere »wichtige Aufgabe des neu gewählten Parlaments« identifizierte der Niedersachsentag der JU die Aufnahme von »Beratungen über die Gestalt einer zukünftigen europäischen Verfassung«, in der »Bürger- und Menschenrechte« und die Etablierung eines europäischen »Bundesstaates mit der parlamentarischen Demokratie als Regierungssystem« festgeschrieben sein würden. Damit präsentierten die jungen Christlichen Demokraten um Pöttering einen durchweg föderalistischen Ansatz für ihr Europakonzept. In der zu schaffenden europäischen Konstitution solle darüber hinaus unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips klar geregelt sein, welche Ebene (europäische, nationale oder kommunale) welche gesetzgeberische Kompetenz habe. Mit Blick auf ihr Auftreten gegenüber Akteuren außerhalb der EG müssten unterdessen »alle Mitgliedsstaaten ihr außenpolitisches Verhalten an den Regeln der Bundestreue messen lassen«. Das Recht auf ein Veto im Ministerrat könne daher nicht aufrechterhalten bleiben, so die weitreichenden Forderungen der JU.

Schon 1978 bemängelten die jungen Christdemokraten auch den »behördlichen Verordnungsdschungel«, der in den »Brüsseler Glaspalästen« entstehe, weshalb der Aufbau »leistungsfähiger europäischer Verwaltungs­institutionen« kombiniert mit einer »Vereinfachung des Verordnungswesens« dringend geboten sei. 40 Jahre später und an Erfahrungen in Brüssel und Straßburg reicher relativiert Pöttering die schwungvolle Kritik der jungen Christdemokraten von 1978 etwas:72

»Wenn man einen freien Binnenmarkt schaffen will für einen freien Austausch von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, dann muss man natürlich nationale Hürden beseitigen. Dafür benötigt man eine Gesetzgebung und das ist im Einzelfall schwierig und bürokratisch, aber es ist nötig.«73

Die JU-Repräsentanten hatten unterdessen 1978 eine fehlende Identifikation der Bürger mit den Ideen der europäischen Einigung registriert. Die anfängliche Begeisterung für das europäische Einigungsprojekt war im Vergleich zu den späten 1940er und frühen 1950er Jahren doch stark abgeklungen. Abhilfe hierfür versprach sich der CDU-Nachwuchs von der Einführung eines europäischen Passes sowie einer europäischen Flagge und Hymne. Durch den gezielten Einsatz dieser europäischen Symbole sollte die Idee Europa mehr Anklang bei seinen Bürgern finden.74 Während der europäische Pass bereits ab 1981/82 in der EG-Gesetzgebung Berücksichtigung fand, um »den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auf jede erdenkliche Weise verstärkt das Gefühl zu geben, daß sie ein und derselben Gemeinschaft angehören«,75 konnten sich die Mitgliedstaaten bislang nicht auf die gesetzliche Implementierung weiterer europäischer Symbole einigen. »[D]amit nicht der Eindruck der Staatlichkeit erweckt würde«, so Pötterings Erinnerung, verzichtete man zuletzt im am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 1. Dezember 2009)76 auf die vertragliche Fixierung jener Symbole wie Flagge, Hymne und Europatag. »So wurden die Symbole nicht in den Vertrag aufgenommen, aber de facto blieben sie da. Heute ist die Europa-Flagge mit den zwölf Sternen das Symbol der Europäischen Union.«77

Unterdessen hatte der Niedersachsentag der JU am 22./23. Juli 1978 die Forderung nach einer »Einführung des Kommunalwahlrechts für Bürger aus Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz länger als 5 Jahre in der Gemeinde/Stadt haben«, sowie postalischen »Inlandstarife[n]« im gesamten EG-Bereich, quasi einem Roaming für die Post, artikuliert. Des Weiteren sollte ein »europäisches Jugendwerk« die »Begegnung und den Austausch junger Menschen in der EG« befördern.78 Die Forderung der JU nach einem Kommunalwahlrecht wurde im die EU begründenden Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 erfüllt,79 während bereits 1969 die Staats- und Regierungschefs der EG auf dem Haager Gipfel die Schaffung eines Europäischen Jugendwerks angeregt80 und drei Jahre später der Europarat81 ein solches initiiert hatte, das seitdem die Aktivitäten von Jugendorganisationen finanziell unterstützt.82

Die 1976 in Luxemburg als christlich-demokratische Partei der EG gegründete EVP wurde von den jungen deutschen Christdemokraten zwei Jahre später auf ihrem Niedersachsentag nicht als »reine Zweckvereinigung für die Durchführung des Wahlkampfes« zum Europaparlament wahrgenommen. Vielmehr solle sie die Zusammenarbeit ihrer nationalen Mitglieds­parteien »auf allen Gebieten fördern«, wobei klar sein müsse, »daß sich die gesamte EVP nach demokratischen Prinzipien legitimiert«. Für ihre Fraktion im Europäischen Parlament forderte die JU eine »institutionalisierte Form der Zusammenarbeit mit anderen nicht-sozialistischen Parteien«, vor allem den britischen Conservatives,83 wie sie seit 1978 in der European Democrat Union (EDU), einer »working group« gleichgesinnter Parteien, praktiziert wurde.84 Damit hatten die JU-Repräsentanten das gleiche Ziel wie auch die Vertreter anderer europäischer christlich-demokratischer und konservativer Parteien im Blick, denn auch Letzteren ging es bei einer solchen Zusammenarbeit um »die Mehrheitsverhältnisse im künftigen [Europäischen] Parlament«, die eine »künftige neue mehrheitsfähige Mitte-Rechts-Allianz« als Erfordernis erachteten, um sich »gegenüber den europäischen Sozialisten und Kommunisten« durchsetzen zu können.85 Allerdings warnten erfahrene Parlamentarier der ersten Stunde wie Egon Klepsch, der als CDU-Vertreter schon dem nicht direkt gewählten Europaparlament angehört hatte, vor einer zu einseitigen Zusammenarbeit in einem »Rechtsblock«, da »man Europa nicht auf schmalsten Mehrheiten errichten« könne, weshalb »die Bandbreite eines künftigen pluralistischen Europas« auch die »Sozialdemokraten« oder die »Gaullisten« umfassen müsse.86

Außerdem zeigte die JU klare Kante gegenüber ihrem ideologischen Hauptgegner, dem Kommunismus. Dieser sorgte zu jener Zeit in der »Erscheinung des sog[enannten] Euro-Kommunismus« in Frankreich, Italien und Spanien für Schlagzeilen, da die jeweiligen nationalen Ableger respektable Wahlergebnisse erzielen konnten und bisweilen sogar an einzelnen Regierungen beteiligt waren.87 Den Kommunisten attestierten die jungen Christdemokraten um Pöttering eine nach wie vor starke Anbindung an die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) und fehlende demokratische Strukturen. Die Kommunisten hätten »niemals in der Geschichte [...] die Macht mit anderen geteilt, nachdem sie sie einmal in den Händen hatten«, und seien zudem »Gegner der Freiheit« und damit auch des europäischen Einigungswerks. Innerhalb des direkt zu wählenden Europäischen Parlaments sollten alle demokratischen Kräfte daher auch die Zusammenarbeit mit den Kommunisten ablehnen, so die Auffassung der JU.

Bezugnehmend auf den EWG-Vertrag vom 25. März 1957 sprach der CDU-Nachwuchs seine Forderung aus, dass die europäische »Wirtschafts- und Währungsunion sowie die soziale Integration« ein Gebot der Stunde seien. Damit knüpften die JU-Delegierten auch an den Plan des christlich-demokratischen Luxemburger Ministerpräsidenten Pierre Werner vom 8. Oktober 1970 an, der die schrittweise Schaffung einer Währungsunion innerhalb der EG bis zum Jahr 1980 vorsah. Erst wenige Monate nachdem die JU in Wolfsburg ihren Niedersachsentag abgehalten hatte, beschloss der Europäische Rat am 5. Dezember 1978 dann die Errichtung des Europäischen Währungssystems (EWS) und griff damit die Vorschläge Werners auf. Zuvor hatten Weltwährungs- und Ölkrise in der ersten Hälfte des Jahrzehnts eine Realisierung des Werner-Plans unmöglich gemacht.88 Im Sommer 1978 waren die JU-Repräsentanten jedenfalls begeistert von der Idee einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Mit ihr, so die Überlegung, könnten die »enormen Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften« ausgeglichen werden. Das solidarische und »partnerschaftliche Verhalten der wirtschaftlich starken Länder gegenüber den wirtschaftlich schwachen« sollte sodann für echten Gemeinschaftsgeist sorgen. Nicht »im Rahmen der Einzelstaatlichkeit«, sondern nur in einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, so die Meinung der JU, ließen sich zudem die »großen Probleme« der Zeit, wie »Inflation«, »Arbeitslosigkeit«, »Alternativen zur Kernenergie« usw. lösen. Als konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion benannte die JU in ihrem Europa­papier die Koordinierung der »Regional-, Industrie-, Energie-, Umwelt- und Forschungspolitik«, die Umsetzung der »beschlossene[n] Angleichung der Mehrwertsteuersätze«, »[e]ine einheitliche Wettbewerbs- und Kartellgesetzgebung« und die Einrichtung einer »europäische[n] Notenbank«.

Die ökonomischen Überlegungen des CDU-Nachwuchses wurden sodann begleitet von Vorstellungen über eine »Sozialunion«, da »Sozial- und Wirtschaftspolitik [...] nach Auffassung der Jungen Union eine Einheit« bildeten, zumal »bei allen Entscheidungen die Auswirkungen auf die Menschen mitberücksichtigt werden« müssten. Außerdem sprachen sich die jungen Christdemokraten um Pöttering für Einflussmöglichkeiten der Arbeitnehmer auf die ökonomische Evolution durch »Mitbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers am Arbeitsplatz, im Betriebsrat und im Aufsichtsrat« aus, ebenso wie sie auch eine »soziale Verpflichtung gegenüber den Schwachen in Europa« benannten. Da die sozioökonomische Lage vieler Menschen in Europa nicht selten von der wirtschaftlichen Situation der jeweiligen Heimatregion abhänge, sprach sich die JU für eine »zukunftsweisende Struktur- und Regionalpolitik« aus, um die Unterschiede in den Arbeits- und Lebensbedingungen verstärkt auszugleichen, damit nicht »große Teile der Bevölkerung aufgrund ihrer Geburt in einer bestimmten Region« vom »Fortschritt« und Wohlstand ausgeschlossen würden. Dass gerade diese Regional- und Strukturpolitik »große finanzielle Anstrengungen« bedeuten würde, machten die JU-Repräsentanten aber deutlich und sahen hier klar die »Verantwortung« der »wirtschaftlich starken Partner in der EG« gegenüber den »ärmeren« EG-Staaten, womit »in besonderer Weise« auch die Bundesrepublik, ja der deutsche Steuerzahler gemeint war.

Mit Blick auf eine zu entwickelnde gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik stimmte der Niedersachsentag der vom Arbeitskreis formulierten These zu, dass die »westeuropäischen Staaten als einzelne und Westeuropa insgesamt zunehmend bedeutungslos« würden, wenn sie nicht mit einer Stimme sprächen. Genau deshalb sei die Etablierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur »ein wichtiger Beitrag für die Wahrung der europäischen Identität«, sondern auch »unverzichtbar für die Sicherung des Friedens«,89 zumal in Zeiten einer neuerlichen Aufrüstung der sowjetischen Atomarsenale während des »Zweiten Kalten Krieges«. Dieser hatte 1977 mit der Stationierung neuer sowjetischer SS-20-Mittelstreckenraketen begonnen, die jede westeuropäische Hauptstadt erreichen konnten, fand seinen Höhepunkt in der Nachrüstung der NATO-Staaten ab Ende 1983 mit Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles, wie im NATO-­Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 vorgesehen, und nahm sein Ende erst mit der Unterzeichnung des bilateralen Washingtoner Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) zwischen der UdSSR und den USA am 8. Dezember 1987.90

Das Fundament einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sah die JU in der von der EG nach dem Gipfel von Den Haag 1969 geschaffenen Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). In der EPZ kooperierten die EG-Mitgliedsstaaten in jenen Politikfeldern, die nicht durch die Römischen Verträge bzw. den EGKS-Vertrag abgedeckt waren, also im nicht-wirtschaftlichen Bereich, vornehmlich der Außenpolitik. Damit handelte es sich um eine rein intergouvernementale und, da lange ohne verbriefte Basis, auch freiwillige Zusammenarbeit der EG-Partner, die erst 1986 in der Einheitlichen Europäischen Akte eine vertragliche Verankerung erfuhr, bevor sie 1992 mit dem Vertrag von Maastricht endgültig aufgelöst wurde.91 Der Niedersachsentag der JU forderte derweil schon 1978 in Wolfsburg genau jene später in Maastricht vollzogene Implementierung der EPZ in die EG.

Die in Aussicht genommene Süderweiterung der EG um Griechenland (Beitritt 1981) sowie Spanien und Portugal (Beitritte 1986) begrüßten die jungen Christlichen Demokraten unter politischen Aspekten ausdrücklich. Die Aufnahme dieser südeuropäischen Staaten, die viele Jahre lang durch diktatorische Regime dominiert worden waren, förderte nach Auffassung der JU-Repräsentanten ausdrücklich deren »Demokratisierung«, wenngleich die Erweiterung in ökonomischer Sicht durchaus problematisch sei: »Angesichts der notwendigen Anpassungsprozesse wird der Beitritt große Kosten verursachen«, so die zutreffende Einschätzung. Mit gezielten Hilfen könnten die Beitritte Griechenlands, Spaniens und Portugals aber gelingen, zumal sie »Investitionen in die Zukunft und damit die Freiheit Europas« seien und die EG »eine Solidargemeinschaft sein« solle. So müsse die EG denn auch weiterhin »für alle Staaten Europas offen bleiben«, wenn ihr »innerer Aufbau den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« entspreche und »die Menschenrechte garantiert« seien.

Obgleich die Vereinigten Staaten für die EG »auch in Zukunft der wichtigste Partner und Verbündete« blieben, müssten die EG-Partner es zukünftig schaffen, zunehmend »mit einer gemeinsamen Haltung« gegenüber Washington aufzutreten, vor allem im Bereich der Sicherheits-, Handels- und Wirtschaftspolitik. Nur so könne eine »echte« transatlantische »Partnerschaft auf der Basis der Gleichheit« entstehen, so das europapolitische Konzept der JU, in dem die Handschrift Hans-Gert Pötterings mehr als deutlich wird – gerade in diesem Punkt. Dass die EG außen- und sicherheitspolitisch unisono spreche, sei aber »am dringlichsten« im Verhältnis zur UdSSR und den Staaten des Warschauer Pakts, weil der Kommunismus und »die gewaltige Militärmacht Moskaus in Mitteleuropa« nach wie vor »eine Herausforderung für die freien Länder des Kontinents« blieben. Die EG müsse daher auf eine »Politik des Ausgleichs und der Entspannung zwischen Ost und West« setzen und eine »Europäische Verteidigungspolitik« vorantreiben, die auf einer »zunehmende[n] Kooperation und Stan­dardisierung in der Rüstungspolitik« wie auch einer »Vereinheitlichung der Struktur der verbündeten Streitkräfte« fuße. Den Abschluss der europa­politischen Konzeption der niedersächsischen JU bildeten sodann förmliche Bekenntnisse zu einer »gemeinsamen europäischen Entwicklungs­politik« und einer »Friedensregelung im Nahen Osten«, die von »besonderer Bedeutung« für ­Europa seien.92

Ohne Zweifel waren die Forderungen des Wolfsburger Niedersachsentags der JU vom Sommer 1978 seinerzeit visionär und ambitioniert, wobei Kritiker sie sogar als unrealistisch bezeichnet haben dürften. Der CDU-Führung um den Vorsitzenden Hasselmann und Ministerpräsident Albrecht jedenfalls gefielen die europapolitischen Konzeptionen des Nachwuchses. Besonders dass der Landesvater sich anerkennend ausdrückte, sei »nicht selbstverständlich« gewesen, so Pöttering in seinen Memoiren.93 Insofern unterschieden sich Hasselmann und Albrecht doch grundlegend, wie der damalige europapolitische Sprecher sich Jahrzehnte später erinnert:

»Albrecht war ein sehr gestrenger Herr. Jeder begegnete ihm mit großem Respekt. Er war ein großer Intellektueller. Er hatte großes Ansehen in Niedersachsen und er war in Kombination mit Wilfried Hasselmann, dem Parteivorsitzenden, geradezu ein ideales Gespann. Wilfried Hasselmann konnte immer, wie ich es formulierte, zehn Leuten gleichzeitig auf die Schulter klopfen und Ernst Albrecht war die leuchtende intellektuelle Gestalt. Er war aber auch sehr distanziert. Er hatte zwar immer ein Lächeln auf den Lippen, was man aber nicht immer nur als Lächeln interpretieren durfte.«94

Über das Europakonzept des CDU-Nachwuchses ist indessen aus heutiger Sicht unzweifelhaft zu urteilen, dass viele der Forderungen mittlerweile umgesetzt wurden. Andere bedürften nach wie vor einer Realisierung. Für Hans-Gert Pöttering, der wesentlich an den inhaltlichen Vorbereitungen mitgewirkt hatte, blieben diese Beschlüsse für seine weitere politische Karriere gewiss »maßgeblich« und auch »Auftrag«,95 wie sich zeigen wird.

2.3 Erster Wahlkampf für Europa

Ausgestattet mit der doppelten einstimmigen Nominierung durch JU und CDU, war Pöttering auf Platz vier der CDU-Landesliste Niedersachsen in seinen ersten Wahlkampf für Europa gezogen. Der Wahlkampf hatte für den ins Europäische Parlament strebenden CDU-Nachwuchspolitiker aber eigentlich schon davor begonnen, zumal er sich bereits im Rahmen seiner Mitgliedschaft im CDU-Bezirksvorstand Osnabrück-Emsland und seiner Funktion als europapolitischer Sprecher pointiert zu europapolitischen Themen geäußert und »für eine Stärkung der Europa-Idee gearbeitet« hatte.96 Pöttering versäumte es im Kampf um ein Europaparlamentsmandat sodann nicht, seinen künftigen Wählern die Relevanz der EG für die Heimatregion zu verdeutlichen: »Der Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaft sollte in Zukunft größeres Gewicht gegeben werden. Weite Gebiete innerhalb der EG sind gegenüber anderen Regionen benachteiligt«, ließ der christlich-demokratische Nachwuchspolitiker seine Zuhörer in der Hermann-Ehlers-Akademie in Hannover Anfang Oktober 1978 wissen. »Dieses ist gerade auch für Niedersachsen als einen großen ländlich strukturierten Flächenstaat von Bedeutung.« Genau deshalb hob er hervor, dass er sich im Falle einer Wahl für gezielte Investitionen der EG in strukturschwachen Gebieten wie dem Emsland und Ostfriesland einzusetzen gedenke, um den Menschen in ihrer Heimat Arbeit entweder zu verschaffen oder zu sichern.97

Prospekt zu den ersten Direktwahlen des Europäischen Parlaments 1979

Geschickt griff der auf Platz 4 der CDU-Liste Gesetzte damit die Themen im Wahlkampf auf, die eine besondere Rolle für seine Wähler spielten, und versicherte ihnen, dass er im Falle einer Wahl ins Europäische Parlament stets »Kontakte mit der Basis halten wolle, um deren Sorgen und Probleme entsprechend vertreten zu können«.98