Deutungskämpfe - Heinrich August Winkler - E-Book

Deutungskämpfe E-Book

Heinrich August Winkler

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Beschreibung

Bis heute ist die deutsche Geschichte ein Terrain, auf dessen Boden gern auch politische Konflikte ausgetragen werden: Gibt es einen deutschen Sonderweg? Kommt Deutschland eine größere Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu als anderen Nationen? Wie konnte es zum Aufstieg Hitlers, der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Holocaust kommen? So lauten nur einige der Fragen, zu denen auch Heinrich August Winkler immer wieder öffentlich Stellung genommen hat. Seine glänzend geschriebenen Essays, die hier in einer Auswahl versammelt sind, haben diese "Deutungskämpfe" über fünf Jahrzehnte hinweg maßgeblich geprägt. Ein Deutschland, das sich der politischen Kultur des Westens vorbehaltlos öffnet und dabei ein kritisches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit entwickelt – ein solches Deutschland musste nach 1945 erst gegen zahlreiche Widerstände errungen werden. Von diesem oft erbittert geführten Streit über die deutsche Geschichte erzählt das neue Buch von Heinrich August Winkler. Ganz gleich, ob die Versuche einer Instrumentalisierung der Geschichte dabei von links oder von rechts kamen, stets verfolgten Winklers Interventionen einen doppelten Zweck: Legenden zu korrigieren und der Kultur des demokratischen Pluralismus Rückendeckung zu geben – kenntnisreich, scharfsinnig und, wo nötig, auch mit einem kräftigen Schuss Polemik.

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HEINRICH AUGUST WINKLER

DEUTUNGSKÄMPFE

Der Streit um die deutsche Geschichte

Historisch-politische Essays

C.H.BECK

ZUM BUCH

Bis heute ist die deutsche Geschichte ein Terrain, auf dessen Boden gern auch politische Konflikte ausgetragen werden: Gibt es einen deutschen Sonderweg? Kommt Deutschland eine größere Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu als anderen Nationen? Wie konnte es zum Aufstieg Hitlers, der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Holocaust kommen? So lauten nur einige der Fragen, zu denen auch Heinrich August Winkler immer wieder öffentlich Stellung genommen hat. Seine glänzend geschriebenen Essays, die hier in einer Auswahl versammelt sind, haben diese «Deutungskämpfe» über fünf Jahrzehnte hinweg maßgeblich geprägt.

«Ein in vielen Fachdebatten und politischen Streitgesprächen gestählter Meister des geschliffenen Wortes.»

Rainer Volk, SWR 2

ÜBER DEN AUTOR

Heinrich August Winkler lehrte von 1991 bis 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014 erhielt er den Europapreis für politische Kultur der Hans Ringier-Stiftung, 2016 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. 2018 verlieh ihm der Bundespräsident das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller «Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen» (32020).

INHALT

VORWORT

I. DEUTSCHLAND VOR 1918

1. WANDLUNGEN DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

I.

II.

III.

2. DER DEUTSCHE SONDERWEG: EINE NACHLESE

3. EINE REVOLUTION VON OBEN – DER «DEUTSCHE KRIEG» VON 1866 ALS HISTORISCHE ZÄSUR

4. UND ERLÖSE UNS VON DER KRIEGSSCHULD – DIE DEUTSCHE BEGEISTERUNG FÜR CHRISTOPHER CLARKS «SCHLAFWANDLER» LÄSST TIEF BLICKEN

I.

II.

III.

II. ZWISCHEN DEN WELTKRIEGEN

1. DIE MÄR VON DER GUTEN REVOLUTION – STEFAN HEYMS «RADEK»: EIN DIENST AM MYTHOS

2. «ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN» – VICTOR KLEMPERERS TAGEBÜCHER AUS DER ZEIT DER WEIMARER REPUBLIK WERFEN EIN SCHLAGLICHT AUF DIE OFT GAR NICHT SO «GOLDENEN» ZWANZIGER JAHRE

3. UNFOLGSAME PROLETARIER – ERICH FROMMS VERSCHOLLENE PIONIERSTUDIE ÜBER ARBEITER UND ANGESTELLTE AM VORABEND DES «DRITTEN REICHES»

4. DIKTATOR MIT SCHEUKLAPPEN – WELCHE ROLLE SPIELTE STALIN BEIM AUFSTIEG HITLERS?

5. DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK – DIE SPD, DIE ERSTE DEUTSCHE DEMOKRATIE UND HITLERS ERMÄCHTIGUNGSGESETZ

6. WARUM DIE BAUERN HITLER WÄHLTEN – EIN WAHLSOZIOLOGISCHE PIONIERSTUDIE ÜBER SCHLESWIG-HOLSTEIN

7. AUFSTAND DES SCHLECHTEN GEWISSENS – EINE NEUE STUDIE ZEIGT, IN WELCHEM MASS DER PREUSSISCHE ADEL SICH HITLER ZUGEWANDT HAT

8. VOM DRACHENTÖTER ZUR DROGE – NEUE ERKENNTNISSE ÜBER DIE ENTWICKLUNG DER VOLKSMEINUNG IM NATIONALSOZIALISTISCHEN DEUTSCHLAND

9. AUS DER ANGST ENTSTANDEN – ERNST NOLTES WERK ÜBER DEN FASCHISMUS IN SEINER EPOCHE

10. EIN EUROPÄISCHER BÜRGER NAMENS HITLER – ERNST NOLTE SCHEITERT MIT SEINEM VERSUCH, DEN NATIONALSOZIALISMUS AUS DEM BOLSCHEWISMUS ABZULEITEN

11. MEHR AGITATION ALS ANALYSE – SEBASTIAN HAFFNERS «GERMANY: JEKYLL & HYDE» LIEGT NACH GUT 5O JAHREN AUF DEUTSCH VOR

III. DAS GETEILTE DEUTSCHLAND

1. VON DEN FASCHISTEN LERNEN? – NEUES ÜBER DIE NACHKRIEGSPLANUNGEN DER KPD

2. WOLLTE ADENAUER DIE WIEDERVEREINIGUNG?

3. WAR KURT SCHUMACHER EIN NATIONALIST? – PETER MERSEBURGER PORTRÄTIERT DEN ERSTEN NACHKRIEGSVORSITZENDEN DER SPD

4. HISTORIKER IN IHRER GEGENWART – ANMERKUNGEN ZU EINEM WISSENSCHAFTLICHEN KONGRESS

5. REQUIEM FÜR EINE REFORM – EINE BERLINER FALLSTUDIE ZUR STUDENTISCHEN REVOLTE VON 1968

Der Lehrer als Welträtselonkel

Wenn Bürger Bürger Bürger nennen

Zu optimistische Erwartungen

Der Präsident als Feudalherr

6. DIE LEBENSLÜGE DES RÄTESYSTEMS – EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT ERNEST MANDEL, DEM SEKRETÄR DER TROTZKISTISCHEN VIERTEN INTERNATIONALE

7. DER REALITÄTSGEHALT ENTSCHEIDET – ANTWORT AN ERNEST MANDEL

8. WIDER DIE VERHARMLOSUNG HITLERS VON LINKS – EINE KRITIK VON THEORIEN DER NEUEN LINKEN

9. DIE MÄR VOM SOZI HITLER – EINE KRITIK DER JÜNGSTEN UMDEUTUNG DER DEUTSCHEN ZEITGESCHICHTE DURCH FRANZ JOSEF STRAUSS UND EDMUND STOIBER

I.

II.

III.

IV. NACH DEM MAUERFALL

1. MEHR ALS EIN ZUSAMMENBRUCH – EIN HISTORIKER ERLEBT UND ANALYSIERT DIE FRIEDLICHE REVOLUTION VON 1989 IN LEIPZIG

2. EIN STREIT UM WEIMAR – MIT EINEM «DIALOG ÜBER DIE VERGANGENHEIT» MÖCHTE DIE PDS EINEN KEIL IN DIE SOZIALDEMOKRATIE TREIBEN

3. «DER KRONPRINZ WAR EIN REAKTIONÄRER OPPORTUNIST» – EIN INTERVIEW ZUM STREIT UM BESITZANSPRÜCHE DES HAUSES HOHENZOLLERN

4. GEWALT VON RECHTS, GEWALT VON LINKS – DER STREIT UM DAS «SCHWARZBUCH DES KOMMUNISMUS»

5. GRIFF NACH DER DEUTUNGSMACHT – ZUM TOD DES HISTORIKERS FRITZ FISCHER

6. EIN DENKER DES JAHRHUNDERTS DER EXTREME – AM 15. APRIL 2008 WÄRE RICHARD LÖWENTHAL 100 JAHRE ALT GEWORDEN

7. HELLAS STATT HOLOCAUST? – JÜRGEN HABERMAS, EGON FLAIG UND DER «HISTORIKERSTREIT» VON 1986

8. «IN POLEN ENTSCHEIDET SICH DAS SCHICKSAL EUROPAS» – WAS DEUTSCHLAND DEM WIRKEN VON BRONISŁAW GEREMEK UND JERZY HOLZER VERDANKT

9. GAB ES IHN DOCH, DEN DEUTSCHEN SONDERWEG? – ANMERKUNGEN ZU EINER KONTROVERSE

ANHANG

ERNEST MANDELS OFFENER BRIEF AN HEINRICH AUGUST WINKLER

DANK

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

I. Deutschland vor 1918

1. Wandlungen des deutschen Nationalismus

2. Der deutsche Sonderweg: Eine Nachlese

3. Eine Revolution von oben. Der «deutsche Krieg» von 1866 als historische Zäsur

4. Und erlöse uns von der Kriegsschuld. Die deutsche Begeisterung für Christopher Clarks «Schlafwandler» lässt tief blicken

II. Zwischen den Weltkriegen

1. Die Mär von der guten Revolution. Stefan Heyms «Radek»: Ein Dienst am Mythos.

2. «Zwischen allen Stühlen». Victor Klemperers Tagebücher aus der Zeit der Weimarer Republik werfen ein Schlaglicht auf die oft gar nicht so «goldenen» zwanziger Jahre

3. Unfolgsame Proletarier. Erich Fromms verschollene Pionierstudie über Arbeiter und Angestellte am Vorabend des «Dritten Reiches»

4. Diktator mit Scheuklappen. Welche Rolle spielte Stalin beim Aufstieg Hitlers?

5. Die Ehre der deutschen Republik. Die SPD, die erste deutsche Demokratie und Hitlers Ermächtigungsgesetz

6. Warum die Bauern Hitler wählten. Eine wahlsoziologische Pionierstudie über Schleswig-Holstein

7. Aufstand des schlechten Gewissens. Eine neue Studie zeigt, in welchem Maß der preußische Adel sich Hitler zugewandt hat

8. Vom Drachentöter zur Droge. Neue Erkenntnisse über die Entwicklung der Volksmeinung im nationalsozialistischen Deutschland

9. Aus der Angst entstanden. Ernst Noltes Werk über den Faschismus in seiner Epoche

10. Ein europäischer Bürger namens Hitler. Ernst Nolte scheitert mit seinem Versuch, den Nationalsozialismus aus dem Bolschewismus abzuleiten

11. Mehr Agitation als Analyse. Sebastian Haffners «Germany: Jekyll & Hyde» liegt nach gut 5o Jahren auf deutsch vor

III. Das geteilte Deutschland

1. Von den Faschisten lernen? Neues über die Nachkriegsplanungen der KPD

2. Wollte Adenauer die Wiedervereinigung?

3. War Kurt Schumacher ein Nationalist? Peter Merseburger porträtiert den ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD

4. Historiker in ihrer Gegenwart. Anmerkungen zu einem wissenschaftlichen Kongress

5. Requiem für eine Reform. Eine Berliner Fallstudie zur studentischen Revolte von 1968

6. Die Lebenslüge des Rätesystems. Eine Auseinandersetzung mit Ernest Mandel, dem Generalsekretär der trotzkistischen Vierten Internationale

7. Der Realitätsgehalt entscheidet. Antwort an Ernest Mandel

8. Wider die Verharmlosung Hitlers von links. Eine Kritik von Theorien der Neuen Linken

9. Die Mär vom Sozi Hitler. Eine Kritik der jüngsten Umdeutung der deutschen Zeitgeschichte durch Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber

IV. Nach dem Mauerfall

1. Mehr als ein Zusammenbruch. Ein Historiker erlebt und analysiert die friedliche Revolution von 1989 in Leipzig

2. Ein Streit um Weimar. Mit einem «Dialog über die Vergangenheit» möchte die PDS einen Keil in die Sozialdemokratie treiben

3. «Der Kronprinz war ein reaktionärer Opportunist.» Ein Interview zum Streit um die Besitzansprüche des Hauses Hohenzollern

4. Gewalt von rechts, Gewalt von links. Der Streit um das «Schwarzbuch des Kommunismus»

5. Griff nach der Deutungsmacht. Zum Tod des Historikers Fritz Fischer

6. Ein Denker des Jahrhunderts der Extreme. Am 15. April 2008 wäre Richard Löwenthal 100 Jahre alt geworden

7. Hellas statt Holocaust? Jürgen Habermas, Egon Flaig und der «Historikerstreit» von 1986

8. «In Polen entscheidet sich das Schicksal Europas». Was Deutschland dem Wirken von Bronisław Geremek und Jerzy Holzer verdankt

9. Gab es ihn doch, den deutschen Sonderweg? Anmerkungen zu einer Kontroverse

PERSONENREGISTER

Für Dörte

VORWORT

Dieser Band enthält Aufsätze aus sieben Jahrzehnten. In allen geht es um deutsche Geschichte, und zwar vorwiegend die des 19. und 20. Jahrhunderts. Über viele der Themen, von denen im Folgenden die Rede ist, wurde lange Zeit und wird zum Teil noch heute gestritten. Nicht selten schlugen sich die Kontroversen in Form von Buchbesprechungen nieder. Auch dies findet in dem vorliegenden Band seinen Ausdruck.

Einige der Texte, vor allem einige aus den 1970er Jahren, handeln von der damaligen Gegenwart, die inzwischen ihrerseits zu einem Teil der deutschen Geschichte geworden ist. Erörtert werden in diesen Aufsätzen zum einen hochschulpolitische Konflikte im Gefolge der studentischen Rebellion von 1968, zum anderen «linke» und «rechte» Versuche, die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur aus tagespolitischen Gründen umzuschreiben.

Gemeinsam ist den in diesem Band vorgelegten Texten das Bemühen, das jeweilige Thema in allgemeinverständlicher Sprache in größere Zusammenhänge einzuordnen und seine Bedeutung für die Gegenwart herauszuarbeiten. Immer wieder geht es dabei um die Korrektur von Legenden und die Unterscheidung von Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik (das Letztere ein Begriff, der in Deutschland erstmals während des «Historikerstreits» von 1986 um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmords in die Debatte eingeführt wurde). Dass einige Zitate und Argumente mehr als einmal auftauchen, liegt in der Natur der Sache.

Der normative Ausgangspunkt aller Aufsätze ist derselbe: Es ist der Versuch, die deutsche Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens voranzutreiben – einer Kultur des demokratischen Pluralismus, der sich Deutschland, ungeachtet seiner Zugehörigkeit zum alten Okzident, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit verhängnisvollen Folgen immer wieder widersetzt hat. Nicht in diesem Band enthalten sind meine Interventionen zu Fragen der deutschen Einheit und der europäischen Integration. Ihnen ist ein weiterer Aufsatzband vorbehalten, dessen Erscheinen für das nächste Jahr geplant ist. Die Rechtschreibung ist in allen Beiträgen die der Erstveröffentlichung.

I.

DEUTSCHLAND VOR 1918

1. WANDLUNGEN DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

Vortrag vor der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau am 7. Juni 1979

Die Geschichte des deutschen Nationalismus ist bisher überwiegend als die Geschichte seiner Denker behandelt worden. Im Vordergrund standen Ideen und nicht Interessen. Die Methoden der Forschung waren geistes- und nicht sozialgeschichtlich, eher phänomenologisch als analytisch.

Die Mängel dieses Ansatzes liegen auf der Hand. Der amerikanische Historiker Robert Berdahl hat 1972 einige der Fragen genannt, die bis heute nicht befriedigend beantwortet sind: «In welchem Verhältnis standen Idee und politische Realität? Auf welche Weise wurden die Gedanken einer intellektuellen Elite zur Erfahrung einer ganzen Nation? Oder – falls die frühen Nationalisten nur Gefühle artikulierten, die weniger deutlich von einem breiten Spektrum der Bevölkerung empfunden wurden – welche neuen Erfahrungen wurden dann durch die nationalistischen Ideen vermittelt? Schließlich: Wie läßt sich erklären, daß zwischen 1800 und 1848 der Nationalismus als politische Bewegung zunehmend Anklang fand?»

Berdahl befaßt sich mit der Zeit des deutschen Vormärz. Aber sein Unbehagen am bisherigen Forschungsstand läßt sich verallgemeinern. Wenn wir die Entstehung und die Wandlungen des deutschen Nationalismus erklären wollen, müssen wir nach seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen fragen. Welche Funktionen hatte der deutsche Nationalismus, wer waren seine Trägerschichten? Haben Funktionen und Trägerschichten sich im Lauf der Zeit geändert – und wenn ja, warum?

Ich möchte zu zeigen versuchen, daß der sozialgeschichtliche Ansatz eine bessere Periodisierung des deutschen Nationalismus erlaubt als der geistesgeschichtliche. Überdies scheint mir, daß die sozialgeschichtliche Perspektive den deutschen Nationalismus erst international vergleichbar macht – daß sie das Typische und das national Spezifische des Phänomens «Nationalismus» schärfer zu unterscheiden hilft. Schließlich eröffnet diese Methode die Chance, Erklärungsversuche der systematischen Sozialwissenschaften aufzunehmen, kritisch zu überprüfen und einen Beitrag zu einer historischen Theorie des Nationalismus zu leisten.

Ich werde mich vor allem drei Problemen widmen. Erstens werde ich auf die Phase eingehen, in der der deutsche Nationalismus ein Ausdruck der bürgerlichen Emanzipation oder, anders gewendet, eine Modernisierungsideologie des aufstrebenden Bürgertums war. Zweitens will ich die Gründe und Folgen jenes Funktionswandels des Nationalismus erörtern, der aus einer «linken» eine «rechte» Ideologie machte. Drittens möchte ich mich der Frage zuwenden, warum es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, und nicht nur dort, einen Funktionsverlust des Nationalismus gegeben hat.

I.

Meine erste These lautet: Vom Vormärz bis in die Reichsgründungszeit war die nationale Parole in erster Linie ein Ausdruck bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen. Die Forderung nach nationaler Einheit richtete sich gegen den landsässigen Adel als den Träger der partikularstaatlichen Zersplitterung. Das Bürgertum dagegen begriff sich selbst als die gesellschaftliche Verkörperung der deutschen Einheit, wobei die Bildungsschicht stärker auf die vor allem von ihr hervorgebrachte deutsche Nationalkultur hinwies, während die industriellen und kommerziellen Unternehmer die politische Einigung Deutschlands primär aus den Notwendigkeiten eines nationalen Marktes ableiteten. Das zweite Argument trat im Zuge der Industrialisierung immer mehr in den Vordergrund. Durch die Schaffung eines deutschen Nationalstaates sollte nicht zuletzt die wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber dem industriell fortgeschrittenen England abgebaut werden. Insofern war der frühe Nationalismus eine Modernisierungsideologie. Die ökonomische Herausforderung durch England hat den deutschen Nationalismus mindestens ebenso nachhaltig geprägt wie die politische Herausforderung durch das napoleonische Frankreich.

Wie stark das Bewußtsein, England wirtschaftlich unterlegen zu sein, Nationalismus hervorbrachte, läßt sich an den bekannten wirtschaftspolitischen Forderungen Friedrich Lists – seinem Programm eines nationalen Erziehungszollsystems – und den von ihm beeinflußten Schutzzöllnern zeigen. Aber auch die erstarkende freihändlerische Bewegung hielt einen deutschen Nationalstaat für eine conditio sine qua non des wirtschaftlichen Fortschritts. In dem Maß, wie sich nach 1848 die freihändlerischen Kräfte durchsetzten, verloren die «großdeutschen» zugunsten der «kleindeutschen» Nationalisten an Boden: Das Programm des wirtschaftlichen Liberalismus ließ sich nur mit Preußen und gegen das Habsburgerreich verwirklichen.

Der vormärzliche deutsche Nationalismus war ebensowenig pazifistisch wie irgendein anderer Nationalismus. List war nicht der einzige, der umfangreichen Annexionen das Wort redete. Der romantische Traum vom Völkerfrühling, von der Internationale der Nationalisten, wurde durch den tatsächlichen Verlauf der Revolutionen von 1848/49 zerstört: Nationale Gegensätze waren ein wesentlicher Grund ihres Scheiterns. Anders als die Revolutionäre von 1789 hielten es die wenigsten Liberalen noch für notwendig, nach der humanitären Legitimation der eigenen nationalen Forderungen und damit nach ihrer Vereinbarkeit mit den Interessen anderer zu fragen. Wo eine solche Legitimation versucht wurde, wie von Marx und Engels, diente sie vor allem dazu, zwischen «revolutionären» und «konterrevolutionären» Völkern – und das hieß: zwischen berechtigten und unberechtigten nationalen Bewegungen – zu unterscheiden. Zur ersten Kategorie gehörten die Polen, zur zweiten die Tschechen, Slowaken und Südslawen.

Die Frage, was denn «des Deutschen Vaterland» sei, beantworteten die Liberalen von 1848 überwiegend taktisch. Wo die Deutschen Angehörige einer fremden Nationalität assimiliert hatten (wie im Fall der Masuren), beriefen sich die Abgeordneten der Paulskirche auf die subjektive Entscheidung der Betroffenen. Waren Deutsche (wie in Elsaß und Lothringen) von einer anderen Nation assimiliert worden, galt der «objektive» Grundsatz «soweit die deutsche Zunge klingt». Im Zweifelsfall mußte behauptet werden, was schon im Besitz eines deutschen Staates war. Der Großteil der Provinz Posen sollte ungeachtet der Sprache und des Willens der Bewohner nach dem Beschluß der deutschen Nationalversammlung zu Deutschland gehören. Eines aber verstand sich für die bürgerlichen Liberalen aller Schattierungen von selbst: «National» und «fortschrittlich» waren zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Noch um 1860 sah sich das liberale Bürgertum so sehr als den eigentlichen Träger der nationalen Einheit, daß der Demokrat Hermann Schulze-Delitzsch 1861 der neugegründeten Partei der «entschiedenen Liberalen», der Deutschen Fortschrittspartei, am liebsten den Namen «Nationale Partei» gegeben hätte, «weil dies nicht bloß die deutsche Politik, sondern die ganzen übrigen Tendenzen der Partei gegenüber der dynastischen» einschließe. Zur gleichen Zeit bezeichnete die National-Zeitung, das Organ des rechten Flügels der Fortschrittspartei, die territoriale Zersplitterung Deutschlands als eine Folge der «Grundlagen des feudalen Staatswesens», während «im deutschen Bürgertum … die Spaltung der Nation überwunden» sei. «Wir sprechen hier», so fügte das liberale Blatt hinzu, «vom Bürgertum, und nicht vom Volk überhaupt, um die soziale Seite des Kampfes, welche die politische Doktrin oft zu sehr aus den Augen verloren hat, schärfer zu betonen.»

Die Revolution von 1848/49 und der preußische Verfassungskonflikt der Jahre 1862 bis 1866 führten die Liberalen im engeren Sinn, die politischen Vertreter des besitzenden und gebildeten Bürgertums, zu dem Schluß, daß sie weder die «Freiheit», d.h. einen stärkeren bürgerlichen Einfluß auf den Staat, noch die «Einheit» im frontalen Kampf gegen die alten Gewalten erzwingen konnten. Für eine revolutionäre Kraftprobe schien es den Liberalen einerseits zu früh, weil die Bevölkerung des platten Landes in Ostelbien größtenteils noch den Junkern folgte. Für eine bürgerliche Revolution war es aber andererseits in liberaler Sicht auch schon wieder zu spät, weil das Proletariat in zunehmendem Maß nicht mehr hinter der Politik der bürgerlichen Liberalen stand.

Die preußischen Liberalen sahen sich durch die territoriale Zersplitterung Deutschlands diskriminiert, weil dieser Zustand den feudal-militärischen Charakter des alten Preußen verstärkte und das Bürgertum schwächte. Das nicht-preußische Deutschland – so das liberale Urteil – verließ sich darauf, daß Preußen im Ernstfall die militärischen Leistungen erbringen würde, auf die die Mittel- und Kleinstaaten verzichteten. Der liberale Politiker Max von Forckenbeck drückte das 1859 so aus: «Ohne eine andere Gestaltung der deutschen Verhältnisse ist m(eo) v(oto) für die Dauer auch die Existenz einer vernünftigen und freien Verfassung Preußens eine Unmöglichkeit. Bleiben die deutschen Verhältnisse so, wie sie sind, so wird und muß in Preußen nur der Militärstaat weiter ausgebildet werden …» Und die Berliner National-Zeitung schrieb im August 1864, wenn fortwährend der kriegerische Beruf des Staates als der dringendste und höchste gelte, gewinne weder das preußische Volk noch seine Volksvertretung an Freiheit. «Es kommt dahin, daß alle, welche für die bürgerlichen Aufgaben des Staates Sinn behalten, den Ehrentitel von ‹Schwätzern› empfangen, und nur die Leistung und der Gehorsam des Soldaten heißen nützlich für den Staat.»

Je geringer die Chancen für eine Durchsetzung der liberalen Forderungen im preußischen Partikularstaat wurden, desto mehr erhob sich der nationale Gedanke zum Inbegriff des allgemeinen Fortschritts. So paradox es klingt: Das Denken in machtstaatlichen Kategorien war ein Ausdruck der innenpolitischen Ohnmacht des preußischen Bürgertums, das nationale Pathos ein Reflex seiner gesellschaftlichen Insuffizienz. «Von der Einheit zur Freiheit», so müsse der Weg der Liberalen verlaufen, proklamierte im August 1865 die National-Zeitung. Ein Jahr später entschied sich der rechte Flügel des «entschiedenen Liberalismus» im Zeichen dieser Erwartung definitiv für eine partielle Zusammenarbeit mit Bismarck und damit für eine Vertagung von Forderungen, die eine De-Facto-Parlamentarisierung Preußens bedeutet hätten. Zwölf Jahre lang prägte der Pakt zwischen den Nationalliberalen und dem aufgeklärten Repräsentanten des Ancien régime die deutsche Innenpolitik. Die nationale Parole hatte in dieser Zeit – von 1866 bis 1878 – für den Nationalliberalismus vor allem eine Funktion: Sie diente der Absicherung des eigenen Anspruchs, die legitime Mehrheit zu sein. Sie war das ideologische Vehikel eines Bürgertums, das eines seiner beiden Hauptziele, die nationale Einheit, zwar prinzipiell erreicht hatte, aber weiterhin von innen bedroht sah und nur durch die Abwehr dieser (vermeintlichen oder wirklichen) Gefahren seinen politischen Einfluß erweitern zu können meinte. Die innenpolitische Stoßrichtung des liberalen Nationalismus war zu dieser Zeit eine dreifache: Er wandte sich einmal gegen die feudalen Trägerschichten des «spezifischen Preußentums» und die übrigen «Partikularisten», zum anderen gegen die katholischen «Ultramontanen» und schließlich gegen die Sozialisten.

Zu dem traditionellen antifeudalen Moment im liberalen Nationalismus waren im Zeichen des Kulturkampfes die antiklerikale und unter dem Eindruck der Pariser Kommune die antisozialistische Komponente getreten. Während die antifeudale Stroßrichtung noch mit Modernisierungstendenzen verbunden war, spiegelte die antisozialistische Begründung der nationalen Parole – die Abwehr des proletarischen Internationalismus – bereits das bürgerliche Interesse an der Erhaltung des Status quo wider. Eine Zwischenstellung nahm der Antiklerikalismus ein. Er stand einerseits in der Tradition liberalen Aufklärungs- und Fortschrittsdenkens und wurde subjektiv als Kampf gegen mittelalterliche Rückständigkeit empfunden. Andererseits desavouierten die Machtmittel, mit denen der übernationale politische Katholizismus – in den Worten der National-Zeitung vom 21. Oktober 1877: die «schwarze Schar der vaterlandslosen Römlinge» – bekämpft wurde, gerade die liberalen Prinzipien, mit denen der Kampf begründet wurde. Insofern war der Kulturkampf durchaus ein Vorspiel für die Unterdrückung der sozialdemokratischen Bewegung nach 1878. Da das antiklerikale Element im bürgerlichen Nationalismus zwischen 1870 und 1878 eindeutig im Vordergrund stand, kann man die These von der historischen Ambivalenz des liberalen Antiklerikalismus auf den liberalen Nationalismus jener Jahre insgesamt übertragen. Dieser Nationalismus trug wohl noch die Züge einer Modernisierungsideologie, aber zugleich war er bereits in einem solchen Maß von Majorisierungsängsten geprägt, daß er partiell in Illiberalismus umschlug.

II.

Der Funktionswandel des Nationalismus, der sich beschleunigt in den späten 1870er Jahren vollzog, ist 1888 von dem freisinnigen Reichstagsabgeordneten Ludwig Bamberger auf eine knappe Formel gebracht worden: «Das nationale Banner in der Hand der preußischen Ultras und der sächsischen Zünftler ist die Karikatur dessen, was es einst bedeutet hat, und diese Karikatur ist ganz einfach so zustande gekommen, daß die überwundenen Gegner sich das abgelegte Gewand des Siegers angeeignet und dasselbe nach ihrer Fasson gewendet, aufgefärbt und zurechtgestutzt haben, um als die lachenden Erben der nationalen Bewegung darin einherstolzieren zu können.»

Bambergers sarkastisches Urteil läßt sich in die Form einer zweiten These bringen: Der Nationalismus, bis in die Reichsgründungszeit eine Parole des liberalen Bürgertums, die sich gegen die feudalen und konservativen Kräfte richtete, wurde seit den späten 1870er Jahren zunehmend ein ideologisches Instrument der Rechten, mit dem die Linke aller Schattierungen – die Linksliberalen ebenso wie die Sozialdemokraten – bekämpft wurde. Die sozialen Träger des neuen rechten Nationalismus waren neben schutzzöllnerischen Industriellen Kräfte, die der nationalen Bewegung bis dahin eher ferngestanden hatten: preußische Großgrundbesitzer und wettbewerbsmüde Kleinproduzenten.

Eine wesentliche Voraussetzung des politischen Umschwungs der späten 1870er Jahre – das Ende des Wirtschaftsliberalismus und der innenpolitischen Vorherrschaft des Liberalismus, der Beginn einer Ära der Schutzzölle und des konservativ-nationalliberalen Zusammenspiels – war die Wirtschaftskrise von 1873, die den Auftakt zur «Großen Depression» der Jahre 1873 bis 1896 bildete: einer Periode häufiger Konjunktureinbrüche, überdurchschnittlicher Geldverknappung und einer vorwiegend pessimistisch gestimmten Wirtschaftsmentalität. Schuld an der Krise waren – so hieß es in der Propaganda der Rechten – die Liberalen, namentlich das liberale jüdische Bankkapital, die «goldene Internationale».

Infolge rückläufiger Wachstumsraten mußten sich die Verteilungskämpfe verschärfen. Die Krise gab den Sozialdemokraten und der marxistischen Lehre vom Klassenkampf Auftrieb. Wer sich vom Proletariat sozial abheben wollte, der mußte sich zum Nationalismus bekennen: Die ideologische Abgrenzung vom marxistischen Internationalismus war nicht nur beim selbständigen «alten Mittelstand», sondern auch beim «neuen Mittelstand» der Angestellten eine Frage des Überlebens als «Stand». Der Nationalismus der Mittelschichten hatte vor allem die Funktion, ebendiese Abgrenzung von den «vaterlandslosen Gesellen» des sozialistischen Proletariats zu gewährleisten. Der Nationalismus bestätigte die Mittelschichten in ihrem Anspruch, die «Normalmoral» der Gesellschaft zu verkörpern (M. Rainer Lepsius). National sein hieß seit den späten 1870er Jahren nicht mehr antifeudal, sondern antiinternational und, sehr häufig, antisemitisch sein.

Zwar lebte auch nach der sogenannten «inneren Reichsgründung» von 1878/79 die liberale Variante des Nationalismus fort, aber sie stand nun unter einem bisher ungekannten Legitimationsdruck von rechts. Als 1878 die Schutzzöllner deutsche Kolonien in Übersee forderten, nicht zuletzt als «Sicherheitsventil für den grollenden Vulkan der sozialen Frage», wurde dem aus Freihandelskreisen das Ziel einer verstärkten «deutschen Kolonisation» in Posen entgegengesetzt. Die Schutzzöllner konterten erwartungsgemäß, beide Formen von Kolonisation seien durchaus miteinander vereinbar.

So sehr sich die Linksliberalen mit dem historischen Fortschritt im Bunde fühlten, gegen die ungebrochene Macht der alten Herrschaftsschichten vermeinten sie mit rein binnenpolitischen Mitteln nicht aufkommen zu können. So wie einst im preußischen Verfassungskonflikt die späteren Nationalliberalen den Kampf gegen Österreich begrüßt hatten, weil er dem innerstaatlichen Machtkampf neue Dynamik verleihen könne, so glaubte dreißig Jahre später der liberale Soziologe Max Weber, nur auf dem Weg über eine prestigeträchtige deutsche Weltpolitik seien die verkrusteten Strukturen des von den Junkern politisch dominierten Obrigkeitsstaates aufzubrechen. Nichts belegt die Selbstbehauptungskraft des deutschen Ancien régime schlagender als die verzweifelten Kampfmittel, zu denen seine «entschieden liberalen» Kritiker ihre Zuflucht nahmen.

Die Wendung vom linken zum rechten Nationalismus war keine deutsche Besonderheit. Die meisten Länder wandten sich in der Zeit der «Großen Depression» dem Schutzzoll zu, und die industriell besonders entwickelten suchten verstärkt, innere Konflikte nach außen abzulenken – namentlich durch die Eroberung von Kolonien in Übersee. Aber anders als im Westen Europas waren die Traditionen des früheren liberalen Nationalismus in Deutschland nicht stark genug, um im Zeitalter des Imperialismus ein wirksames Korrektiv zum rechten Nationalismus bilden zu können.

Der deutsche Nationalismus hatte, anders als der französische, keine Phase durchlaufen, in der er als Bannerträger von Menschheitsidealen auftreten konnte. Vielmehr war er im Kampf gegen Napoleons Fremdherrschaft entstanden, die sich auf ebendiese Ideale berief. Deutschland hatte im 19. Jahrhundert, politisch gesehen, keine «Epoche des Liberalismus» erlebt. Die Weimarer Republik hatte ein viel schwächeres soziales Fundament als die alten Demokratien des Westens. Dieselben Schichten, die unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in Deutschland das Massenreservoir einer faschistischen Bewegung, des Nationalsozialismus, formten, blieben in den hochindustrialisierten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas mehrheitlich ihren überkommenen Parteien treu.

Was machte den Nationalsozialismus für die Mittelschichten, aus denen sich das Gros seiner Massenbasis rekrutierte, und für erhebliche Teile der agrarischen, militärischen und industriellen «Machtelite» so anziehend? Die Bewegung Hitlers versprach, die überkommene gesellschaftliche Ordnung grundsätzlich zu erhalten und das demokratische System zu zerschlagen, das ebendiese Ordnung zu gefährden schien. Nur in einem Land mit langer obrigkeitsstaatlicher Tradition konnten offen demokratiefeindliche Parolen eine Mehrheit gewinnen. Mit ihrem extremen Nationalismus vermochten die Nationalsozialisten die Unvereinbarkeit der Versprechungen zu verdecken, die sie den unterschiedlichen sozialen Schichten machten. Der Führerkult hatte ebenso die Funktion, der sozial heterogenen Basis einen gemeinsamen Bezugspunkt zu geben – und Hitler war der einzige charismatische Führer, über den die deutsche Rechte verfügte.

Die soziale Funktion des Nationalismus war Hitler selbst bewußt. Seine Devise von 1924 – «Der marxistische Internationalismus wird nur gebrochen werden durch einen fanatisch extremen Nationalismus von höchster sozialer Ethik und Moral» – kann durchaus «funktional» interpretiert werden. Dennoch geht eine bloß funktionalistische Deutung des Nationalsozialismus in die Irre. Die nationalsozialistische Politik, die in letzter Instanz die Politik Hitlers war, läßt sich nicht aus Interessen mächtiger Wirtschaftsgruppen ableiten. Diese Politik war auch nicht bloß eine raffinierte Sozialtechnologie. Hätte Hitler den Antisemitismus nur benutzt, um die Aggressionen des Kleinbürgertums vom Kapital auf die jüdischen Sündenböcke abzulenken, hätte er die Juden nicht töten dürfen. Und wenn der Antisemitismus, wie manche Autoren der «neuen Linken» behaupten, nur ein Stück sozialer Manipulation war – warum dann der Versuch, das millionenfache Verbrechen vor dem deutschen Volk geheimzuhalten? Eine sozial integrierende Funktion hat sich Hitler von der «Endlösung der Judenfrage» offenbar nicht versprochen.

Der Nationalsozialismus ist wohl das extremste Beispiel einer verselbständigten Ideologie, das die Geschichte kennt. Es bedurfte einer hochgradigen Militarisierung der deutschen Gesellschaft durch den Ersten Weltkrieg, der als nationales Trauma nachwirkenden Niederlage von 1918, einer durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen «Panik im Mittelstand» und des tradierten Antiliberalismus in den gesellschaftlichen Führungsgruppen, um die «Machtergreifung» der Nationalsozialisten möglich zu machen. Und es bedurfte einer Gruppe «militärischer Desperados» (Wolfgang Sauer), durch den Ersten Weltkrieg gesellschaftlich entwurzelter Existenzen, die zutiefst bürgerliche Ängste mit einer tiefen Verachtung des Bürgertums verbanden, um den Nationalismus bis zur letzten denkbaren Konsequenz zu treiben. Am Ende stand die nihilistische Negation aller konkreten Interessen im Zeichen nationalistischer und rassistischer Wahnideen. Der Nationalismus diente nicht nur dazu, die Massen zu manipulieren, sondern er verblendete auch diejenigen, die sich für Meister der Manipulation hielten.

III.

Meine dritte These lautet: Der Nationalismus hat nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa im allgemeinen und in Westdeutschland im besonderen als Integrationsideologie nicht mehr dieselbe Rolle gespielt wie nach dem Ersten Weltkrieg. Neben der Desavouierung durch den Nationalsozialismus haben grundlegende Veränderungen der weltpolitischen Konstellation und neue ökonomische Bedingungen zum Funktionsverlust des Nationalismus in der westlichen Welt beigetragen.

Auf den ersten Blick scheint es, als habe es nach dem Zweiten Weltkrieg einen besonders günstigen Nährboden für einen neuen deutschen Nationalismus gegeben: Die Teilung Deutschlands, die Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus dem Osten des Reiches und aus Staaten, die der Nationalsozialismus zu Opfern seiner Aggression gemacht hatte, waren geeignet, nationalistischer Agitation Auftrieb zu geben. Dennoch war der Widerhall nationalistischer Parolen in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt viel geringer als in der Weimarer Republik. Ich sehe hierfür vor allem drei Gründe.

Erstens: Der Nationalsozialismus hat den Nationalismus auch bei einem großen Teil derjenigen Schichten desavouiert, die geholfen haben, ihn an die Macht zu bringen. Bereits während des «Dritten Reiches» sahen sich insbesondere viele mittelständische Anhänger des Nationalsozialismus um die Hoffnungen betrogen, die sie in die Machtübernahme Hitlers gesetzt hatten. Die Konsumgenossenschaften wurden erst im Krieg aufgelöst; die verhaßten Warenhäuser, ebenfalls eine alte Zielscheibe von Angriffen des Kleingewerbes, blieben bis zum Ende des «Dritten Reiches» bestehen. Viel mehr noch als die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik hat das Erlebnis des Krieges und der Kriegsfolgen im Sinne einer nationalen Ernüchterung gewirkt. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es nach 1945 keine wirklich repräsentative gesellschaftliche Kraft, die bestritt, daß der von Deutschland verlorene Weltkrieg von der deutschen Führung ausgelöst worden war. Nur Randgruppen verbreiteten in der zweiten Nachweltkriegszeit eine Kriegsunschuldlüge. Die Trümmer der Städte, das Elend der Heimatvertriebenen, die Not des ganzen Volkes sprachen eine beredte Sprache: Sie zeugten von dem Preis, den nationale Verblendung gefordert hatte. Es gab und gibt nach 1945 nationalistische Gruppen und Parolen. Aber was mir rückblickend erklärungsbedürftig erscheint, ist nicht so sehr die Existenz solcher Gruppen und Parolen als vielmehr die Tatsache, daß ihre Resonanz begrenzt war und eine abnehmende Tendenz aufweist. Eine Erklärung dafür, daß der Nationalismus in der Bundesrepublik eine geringere Anziehungskraft besitzt als in den meisten größeren westeuropäischen Staaten, liegt gewiß in der Erfahrung jener Katastrophe, in die der extreme deutsche Nationalismus geführt hat.

Zweitens: Die Nationalsozialisten haben der verbreiteten Angst vor sozialem Abstieg das Versprechen des nationalen Wiederaufstiegs entgegengesetzt. 1945 war der soziale Abstieg für die meisten Deutschen eine vollendete Tatsache. Soziale Ängste wurden weniger durch ein Gefühl der inneren als eines der äußeren Bedrohung hervorgerufen. Dieses Bewußtsein war keine gute Voraussetzung für eine Politik nationalistischer Isolierung, wohl aber für die Politik der westlichen Integration. Eben darin liegt zu einem guten Teil der Erfolg des katholischen Rheinländers und notorischen Antinationalisten Konrad Adenauer begründet – aber auch die Chance der Sozialdemokraten, sich als «nationale» Partei, als Partei der deutschen Einheit, zu profilieren. Daß die gemäßigte Linke eine nationale Politik befürwortete, während die gemäßigte Rechte eine übernationale Politik betrieb, ist, wie der Schweizer Publizist Fritz René Allemann schon 1956 bemerkte, ein wichtiger Unterschied zwischen «Bonn» und «Weimar». Aber die Politik der westlichen Integration war nur möglich, weil die westlichen Siegermächte das westliche Deutschland schon wenige Jahre nach dem Krieg als politischen Partner akzeptierten – auch dies eine fundamentale Differenz zur Weimarer Republik. Anders als 1918 hatten 1945 die Sieger Deutschland besetzt und damit einen ungleich tieferen Bruch mit der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Kontinuität verursacht, als es ihn nach dem Ersten Weltkrieg gab. Die rasche Rehabilitierung des westdeutschen Nachfolgestaates des Deutschen Reiches durch die Westalliierten hat nationalistischen Ressentiments gegen ebendiese Mächte den Boden weithin entzogen.

Drittens: Extremer Nationalismus hat immer auch die Rolle einer Kompensationsideologie gespielt. Wie der amerikanische Psychologe Daniel Katz bemerkt hat, kann Nationalismus für breite Schichten als «gesteigertes psychisches Einkommen» («enhanced psychic income») wirken: als ein über kollektives Prestige vermittelter Ausgleich für materielle Entbehrungen. Der Nationalismus erlaubt die Projektion von Haß und Feindschaft auf «out-groups»; er trägt dazu bei, persönliche Frustration durch kollektive Erfolgserlebnisse auszugleichen, und er hilft, libidinöse Wünsche auf Gruppensymbole zu übertragen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse von Katz liegt darin, daß unter spezifischen Bedingungen ein besonders starker Bedarf an Nationalismus besteht und umgekehrt Nationalismus unter anderen Bedingungen an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren kann: «Wenn die Menschen ein erfülltes und reiches Leben als Individuen führen könnten, würden sie kein Verlangen nach der Größe ihrer Gruppe haben.»

Mir scheint, daß diese Einsicht nicht nur für die Analyse des deutschen Nationalismus wichtig ist. Ganz offenbar hat der wirtschaftliche Wohlstand der Bundesrepublik wesentlich zur Schwächung des Nationalismus beigetragen: Symbolische Ersatzbefriedigungen, wie sie der Nationalismus vermittelt, sind weniger gefragt, wenn die Chancen der materiellen Bedürfnisbefriedigung groß sind. Vieles spricht für die These W. W. Rostows, daß Gesellschaften, die in das Stadium des «Massenkonsums» eingetreten sind, für aggressiven Nationalismus weniger anfällig sind als Gesellschaften, die sich erst in dem früheren Stadium der «wirtschaftlichen Reife» befinden – in Rostows Terminologie eine Phase, die unmittelbar dem industriellen «take-off» folgt.

Bei allen Bedenken, die man gegen die Theorie von den «Stadien des wirtschaftlichen Wachstums» geltend machen kann, scheint es doch evident zu sein, daß es zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung einerseits und Nationalismus andererseits eine enge Beziehung gibt. Ein Blick auf die Länder der «Dritten Welt» von heute bestätigt die Erkenntnis, zu der die Beobachtung der frühen europäischen Nationalismen führt: Nationalismus zielt meist darauf ab, wirtschaftliche Rückständigkeit zu überwinden. Aber neben der materiellen Rückständigkeit ist einseitige politische Abhängigkeit oder Diskriminierung ein dem Nationalismus förderlicher Faktor. Einen Funktionsverlust des Nationalismus gibt es mithin wohl nur dort, wo eine Gesellschaft nicht das Bewußtsein wirtschaftlicher Rückständigkeit und einseitiger politischer Abhängigkeit hat. Wenn dem so ist, dann sind pauschale Verurteilungen von fremdem Nationalismus aus dem Munde westlicher «beati possidentes» das Gegenteil von historischer Einsicht.

Der moderne Nationalismus ist im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entstanden aus dem Bedürfnis nach einer umfassenden Loyalität, die an die Stelle erschütterter alter Loyalitäten – der universalkirchlichen wie der regionalen und ständischen – treten konnte. In einem vergleichsweise kleinen, privilegierten Teil der Welt hat der Nationalismus als Integrationsideologie ausgedient. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu dieser Gruppe von Ländern. Gleichzeitig ist sie nach wie vor konfrontiert mit dem Problem der nationalen Identität der Deutschen. Für die überwältigende Mehrheit der Deutschen steht heute fest, daß es keine Lösung ihres nationalen Problems auf Kosten anderer Völker geben darf. Die Wiederherstellung eines souveränen deutschen Nationalstaates würde von vielen Völkern als Bedrohung empfunden werden und ist darum kein realistisches politisches Ziel. Nur die Fortsetzung des Weges, den die Bundesrepublik mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition eingeschlagen hat, kann zu Lösungen führen, die für die Deutschen und ihre Nachbarn einen Fortschritt bedeuten würden.

Die Geschichte des deutschen Nationalismus zeigt, wohin eine Politik nationaler Überhebung ein Volk gebracht hat. In extremer Form illustriert das deutsche Beispiel aber auch das zerstörerische Potential, das jedem aggressiven Nationalismus innewohnt. Der Nationalismus hat sich als eine Ideologie erwiesen, die zur materiellen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift. Das liegt vor allem daran, daß der Nationalismus sowohl dem verbreiteten Bedürfnis entgegenkommt, sich über die eigenen Bedürfnisse zu erheben, als auch der Neigung, sich über diese Bedürfnisse zu täuschen. Beide Eigenschaften sind, wie die Erfahrung zeigt, kaum voneinander zu trennen. Das Interesse an Verhältnissen, in denen es keinen Bedarf mehr an Nationalismus gibt, wird mithin durch nichts stärker begründet als durch die Geschichte des Nationalismus selbst.