Die Deutschen und die Revolution - Heinrich August Winkler - E-Book

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Heinrich August Winkler

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Beschreibung

Als die Franzosen im Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, stürmten, jubelten ihnen auch viele deutsche Dichter und Denker zu. Doch die Begeisterung hielt rechts des Rheins nicht lange an. Als Ludwig XVI. auf dem Schafott endete und die Revolution in Terror überging, rückten viele Deutsche erschrocken von ihr ab. Seither ist das Verhältnis der Deutschen zu Revolutionen ein schwieriges Kapitel geblieben. Heinrich August Winkler, der Doyen unter den Historikern, schildert die Etappen der deutschen Revolutionsgeschichte von 1848 bis 1989 und nimmt auch die düsterste aller Revolutionen, jene der Nationalsozialisten, mit in den Blick. Lieber Reformation statt Revolution: Das war lange die Devise all jener Bürger und Intellektuellen in Deutschland, die mit den bestehenden Verhältnissen haderten und doch keinen gewaltsamen Umsturz wollten. Nachdem in der Revolution von 1848/49 das Doppelziel Einheit und Freiheit verfehlt worden war, gab Bismarck in einer Revolution von oben mit der kleindeutschen Reichsgründung gleichsam eine Antwort auf das Scheitern von 1848. Aus der Revolution von 1918/19 ging mit der Weimarer Republik ein neues demokratisches System hervor, dem die Diktatur des Nationalsozialismus ein Ende bereitete. Ob diese eine Revolution war, erörtert der glänzend geschriebene Band ebenso prägnant wie die Frage nach dem historischen Ort der «friedlichen Revolution» von 1989, mit der die deutsche Frage» in Gestalt der Wiedervereinigung gelöst wurde.

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Winkler, Heinrich August: Die Deutschen und die Revolution

HEINRICH AUGUST WINKLER

DIE DEUTSCHEN UND DIE REVOLUTION

Eine Geschichte von 1848 bis 1989

C.H.BECK

ZUM BUCH

Als die Franzosen im Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, stürmten, jubelten ihnen auch viele deutsche Dichter und Denker zu. Doch die Begeisterung hielt rechts des Rheins nicht lange an. Als Ludwig XVI. auf dem Schafott endete und die Revolution in Terror überging, rückten viele Deutsche erschrocken von ihr ab. Seither ist das Verhältnis der Deutschen zu Revolutionen ein schwieriges Kapitel geblieben. Heinrich August Winkler, der Doyen unter den Historikern, schildert die Etappen der deutschen Revolutionsgeschichte von 1848 bis 1989 und nimmt auch die düsterste aller Revolutionen, jene der Nationalsozialisten, mit in den Blick.

ÜBER DEN AUTOR

Heinrich August Winkler, geboren 1938 in Königsberg, ist einer der prominentesten deutschen Historiker. Er lehrte von 1991 bis 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2014 erhielt er den Europapreis für politische Kultur der Hans-Ringier-Stiftung, 2016 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. 2018 verlieh ihm der Bundespräsident das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Heinrich August Winkler ist Ehrensenator der Deutschen Nationalstiftung. Seine großen Werke «Der lange Weg nach Westen» und «Geschichte des Westens» gehören zu den meistverkauften historischen Werken unserer Zeit. Zuletzt erschien von ihm: «Nationalstaat wider Willen. Interventionen zur deutschen und europäischen Politik» (2022).

INHALT

EINLEITUNG

KAPITEL 1: EINHEIT UND FREIHEIT: DAS DILEMMA DER REVOLUTION VON 1848/49

I.

II.

III.

KAPITEL 2: REVOLUTION VON OBEN: DIE REICHSGRÜNDUNG UND IHRE FOLGEN

I.

II.

III.

IV.

KAPITEL 3: DER PREIS DES FORTSCHRITTS: DIE REVOLUTION VON 1918/19 UND DIE REPUBLIK VON WEIMAR

I.

II.

III.

KAPITEL 4: REVOLUTION VON RECHTS? DER ORT DES NATIONALSOZIALISMUS IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE

I.

II.

III.

IV.

KAPITEL 5: MEHR ALS EIN ZUSAMMENBRUCH: DIE FRIEDLICHE REVOLUTION VON 1989

I.

II.

III.

KAPITEL 6: REVOLUTIONEN IN PERSPEKTIVE: RÜCKBLICK UND AUSBLICK

I.

II.

III.

IV.

DANK

ANHANG

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

Einleitung

Kapitel 1 Einheit und Freiheit: Das Dilemma der Revolution von 1848/49

Kapitel 2 Revolution von oben: Die Reichsgründung und ihre Folgen

Kapitel 3 Der Preis des Fortschritts: Die Revolution von 1918/19 und die Republik von Weimar

Kapitel 4 Revolution von rechts? Der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte

Kapitel 5 Mehr als ein Zusammenbruch: Die friedliche Revolution von 1989

Kapitel 6 Revolutionen in Perspektive: Rückblick und Ausblick

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

Für Dörte

Ohne letztlich praktische Forschungsabsicht kann es in der Staatslehre weder fruchtbare Fragen noch wesentliche Antworten geben.

Hermann Heller (1891–1933), Staatslehre

EINLEITUNG

Was «Revolution» bedeutet, glauben wir zu wissen: eine umfassende, häufig gewaltsam herbeigeführte Umwälzung der bestehenden Machtverhältnisse. Der Soziologe Ralf Dahrendorf definierte Revolutionen 1961 als «politische und soziale Wandlungen …, die unter Anwendung von Gewalt extrem rasch verlaufen und äußerst tiefgehende Wirkungen zeitigen».[1] Ähnlich, wenn auch ohne Hervorhebung des Faktors Gewalt, formulierte 1986 der Politologe Kurt Lenk: «Revolution ist stets verbunden mit der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung und neuen Rechtsformen, die über den bloßen Wechsel einer Führungsgruppe (Putsch, Staatsstreich) hinausweisen. Entscheidend dabei ist die Sprengung der bisherigen Sozialstruktur im Sinne eines Bruchs mit der Tradition.»[2]

Es ist ein solcher pragmatischer, an Dahrendorf und Lenk angelehnter Arbeitsbegriff von Revolution, mit dem wir uns unserem Thema, den deutschen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, nähern wollen. Im Vordergrund unseres Interesses steht dabei das Verhältnis der zeitgenössischen Deutschen zur Revolution, und das hat sich innerhalb dieser zwei Jahrhunderte erheblich verändert. In jedem Kapitel werden grundsätzliche Aspekte des Themas «Revolution» erörtert, besonders intensiv im Zusammenhang mit den «friedlichen Revolutionen» von 1989 und zusammenfassend im letzten Kapitel des Buches.

Bevor wir uns der ersten deutschen Revolution, der von 1848/49, zuwenden, bedarf es eines Blicks auf deren Vorgeschichte. Zu ihr gehört zunächst das Ereignis, das das Verhältnis der Deutschen zur Revolution nachhaltig geprägt hat und dessen Folgen Deutschland grundlegend verändert haben: die Französische Revolution von 1789.

Auch viele Deutsche hatten den Franzosen zugejubelt, als diese am 14. Juli 1789 das Symbol des absolutistischen Ancien Régime, die Pariser Bastille, erstürmten. Unter denen, die sich zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, den Ideen von 1789 bekannten, waren große Dichter und Denker wie Kant, Herder und Schiller und manche, die erst noch berühmt werden sollten, wie die damaligen Tübinger Theologiestudenten Hegel, Schelling und Hölderlin. Doch bekanntlich hielt die Begeisterung rechts des Rheins nicht lange an. Bereits im Oktober 1789 rügte Christoph Martin Wieland, der wohl einflussreichste deutsche Publizist der Zeit, auch er ein früher Sympathisant der Revolution, die Entmachtung des Königs von Frankreich, weil sie mit dem nötigen Gleichgewicht der Gewalten, der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt, nicht zu vereinbaren sei.[3]

Vom Frühjahr 1790 ab wurde die Kritik an den vermeintlichen Anmaßungen der Pariser Nationalversammlung schärfer, und das im gleichen Maß, wie der Einfluss der Jakobiner wuchs. Noch vor Beginn der offenen Schreckensherrschaft kam Johann Gottfried Herder zu dem Schluss: «Wir können der französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offenem Meer vom sicheren Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte.»[4]

Selbst die entschiedensten unter den deutschen Verteidigern der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die sogenannten «deutschen Jakobiner», mochten im revolutionären Frankreich meist kein Vorbild sehen. Einer von ihnen, der Schriftsteller Georg Friedrich Rebmann, bekannte 1796, er habe nie «an eine deutsche Revoluzion (sic!), nach dem Muster der französischen, im Ernste gedacht. In protestantischen Ländern ist sie durchaus unmöglich, und in unseren katholischen fast ebenso sehr.» Eine Revolution ausschließen wollte Rebmann dennoch nicht. Sie werde und müsse erfolgen, «wenn man ihr nicht durch Reformation zuvorkommt».[5]

Letztlich meinte auch Immanuel Kant, der Philosoph aus dem preußischen Königsberg, nichts anderes. Den Ideen der Französischen Revolution bekundete er über die Zeit des schärfstens verurteilten Terrors hinaus öffentlich seine Sympathie. Wenn er 1797 in der Rechtslehre der «Metaphysik der Sitten» ein «repräsentatives System des Volkes» forderte, ging er weit über Theorie und Praxis des Aufgeklärten Absolutismus friderizianischer Prägung hinaus.[6] Doch da er auf gesetzlichen Reformen bestand und einer gewaltsamen Revolution tunlichst vorbeugen wollte, blieb der eigentliche Adressat seiner Forderungen der vorhandene Staat.

Reformation statt Revolution oder Revolution von oben statt von unten: In dieser Folgerung waren sich alle deutschen Intellektuellen einig, die mit den bestehenden Verhältnissen haderten und doch keinen gewaltsamen Umsturz wollten. Sie hatten gute Gründe für ihre Haltung. Die Ausgangslagen Deutschlands und Frankreichs waren höchst unterschiedlich. Viele der deutschen Staaten kannten im Unterschied zu Frankreich die Herrschaftsform des Aufgeklärten Absolutismus. Friedrich der Große, der europaweit als Inkarnation dieses Regierungstyps galt, wurde in Frankreich als positiver Kontrast zu Ludwig XVI. betrachtet. Um sich mit einer aufgeklärten Variante von Absolutismus abzufinden, war Frankreichs «dritter Stand» freilich bereits zu entwickelt und zu selbstbewusst. Der eng mit dem hohen katholischen Klerus liierte französische Adel genoss immense Privilegien, übte jedoch sehr viel weniger gesellschaftlich relevante Funktionen aus als der ostelbische Grund- und Militäradel. Ein «deutscher» Entwicklungspfad war in Frankreich folglich so wenig gangbar wie ein «französischer» in den deutschen Staaten und schon gar nicht im protestantischen Preußen.

Es war nicht zufällig ein preußischer Minister, Carl August von Struensee, der 1799 einem Franzosen gegenüber bemerkte: «Die Revolution, die ihr von unten nach oben gemacht habt, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen … In wenigen Jahren wird es in Preußen keine privilegierte Klasse mehr geben.»[7] Struensee übertrieb: Die Bauernbefreiung, die 1807 im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen stattfand, bedeutete nicht das Ende der adligen Klassenherrschaft. Mit dem Stichwort von der «Revolution von oben» brachte er aber ein Leitthema der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf den Begriff. Sowie schon die Rechtsreformen der friderizianischen Zeit Ansätze einer Revolution von oben aufwiesen, so taten es die Stein-Hardenbergschen Reformen zu Beginn des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren Kernstücken der kommunalen Selbstverwaltung, der Gewerbefreiheit und der Abschaffung der Leibeigenschaft.

Die Bauernbefreiung setzte jene «industrielle Reservearmee» frei, ohne die die Industrielle Revolution nicht hätte stattfinden können, zu der es in Frankreich keine Entsprechung gibt. Dort mündete die Zerschlagung der feudalen Besitzstrukturen in die Entstehung des Parzellenbauerntums, das Karl Marx 1852 die «zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft» nannte und in der er zurecht ihr konservativstes Element erblickte.[8] So paradox es klingt: Das revolutionäre Frankreich brachte eine Gesellschaft hervor, die in mancher Hinsicht konservativer war als die deutsche, die nach 1789 keine Revolution, sondern nur Reformen erlebt hatte.

1815, nach der endgültigen Niederlage Napoleons, trat der Deutsche Bund, eine vom Kaiserreich Österreich geführte Konföderation von 34 Fürstenstaaten und vier Freien Städten, an die Stelle des «Alten Reiches», des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das sich 1806 unter dem Druck Napoleons aufgelöst hatte. Das vage und vieldeutige Verfassungsversprechen in Artikel 13 der Bundesakte von 1815 («In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden»), wurde durch die Wiener Schlussakte von 1820 faktisch wieder zurückgenommen, so dass Österreich und Preußen bis 1848 keinen Anlass sahen, sich eine geschriebene Verfassung zu geben und Parlamente wählen zu lassen.

Doch trotz aller staatlichen Repression, trotz Zensur, Bespitzelung und «Demagogenverfolgung» gelang es den Regierungen der Restaurationszeit nach 1815 nicht, alles rückgängig zu machen, was es in Deutschland in der napoleonischen Zeit an gesellschaftlichem Fortschritt, etwa in Sachen Judenemanzipation, gegeben hatte. Im Vormärz, der Zeit zwischen 1830 und 1848, zeigte sich, wie stark der Drang nach Beseitigung des obrigkeitsstaatlichen Drucks nach wie vor oder inzwischen wieder war. Im Anschluss an die französische Julirevolution von 1830 kam es in einigen Staaten des Deutschen Bundes, darunter Hannover, Braunschweig und Kurhessen, zu revolutionären Erhebungen: Im Mai 1832 demonstrierten viele Zehntausende von Handwerkern, Kaufleuten, Winzern und Studenten aus allen Teilen Südwestdeutschlands vor der Ruine des Hambacher Schlosses für Freiheit und Einheit in Deutschland, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Verbrüderung aller europäischen Freiheitsbestrebungen und für Solidarität mit den unterdrückten Polen; im April 1833 unternahmen Burschenschafter und Handwerker den «Frankfurter Wachensturm», ein putschartiges Unternehmen, das sich gegen den Bundestag, das einzige Verfassungsorgan des Deutschen Bundes mit Sitz in Frankfurt, richtete und massive Reaktionen zur Folge hatte.

Der Drang nach nationaler Einheit, der in Teilen der deutschen Gesellschaft, und besonders in der akademischen Jugend, in den antinapoleonischen Kriegen erwacht war, erfasste 1840 breite Schichten. Den Anstoß gab der französische Ruf nach der Wiederherstellung der «Rheingrenze», das heißt die Rückeroberung des gesamten linksrheinischen Deutschland, das 1797 bis 1814 einen Teil des französischen Staatsgebiets gebildet hatte. Dass die deutschen Fürsten, die die nationale Aufwallung zunächst massiv geschürt hatten, in der Folgezeit nichts zugunsten der Einigung Deutschlands taten, brachte viele Deutsche gegen sie auf. Der «Pauperismus», die vorindustrielle Massenarmut, und die Hungersnöte der 1840er Jahre erzeugten ein soziales Klima, in dem radikale Parolen auf fruchtbaren Boden fielen. Wie explosiv die Lage mancherorts war, zeigte sich im Juni 1844 in dem vom preußischen Militär blutig niedergeschlagenem Weberaufstand in Schlesien.

In der zweiten Hälfte der 1840er Jahre wurde immer deutlicher, dass das Lager derer, die sich für die Freiheit und Einheit Deutschlands einsetzten, in sich gespalten war: Den Liberalen im engeren Sinn traten die Demokraten gegenüber. Besonders markant zeigte sich der Unterschied in Südwestdeutschland. Im September 1847 trafen sich, aufgerufen von den Mannheimer Rechtsanwälten Gustav Struve und Friedrich Hecker, die «Ganzen», die sich von den sehr viel gemäßigteren «Halben» abzuheben gedachten, in Offenburg. Zu den Forderungen des dort beschlossenen «Offenburger Programms» gehörten die klassischen Grundrechte mit der Pressefreiheit an der Spitze, die Wahl eines deutschen Parlaments auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, eine volkstümliche Wehrverfassung in Gestalt einer Volksmiliz, eine progressive Einkommenssteuer und der Ausgleich des «Missverhältnisses» zwischen Arm und Reich. Von der Republik war aus taktischer Vorsicht vorerst nicht die Rede, was aber keinen Verzicht auf dieses Ziel bedeutete.

Die Antwort der Gemäßigten, allesamt Abgeordnete der liberalen Kammeropposition aus Baden, Würtemberg und Hessen-Darmstadt, unter ihnen der spätere Präsident der Deutschen Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, aus Hessen-Darmstadt, ließ nicht lange auf sich warten. Sie trafen sich im Oktober 1847, ironischerweise im «Gasthof zum halben Mond», in Heppenheim. In einem von ihnen beschlossenen «Protokoll» befürworteten sie den Ausbau des 1833/34 von Preußen ins Leben gerufenen Deutschen Zollvereins, dem eine Vertretungskörperschaft, also eine Art von beratender Volksvertretung, zugeordnet werden sollte, und seine Erweiterung zwar nicht um das gesamte Habsburgerreich, aber doch um Österreich, soweit es zum Deutschen Bund gehörte. Das «Protokoll» plädierte weiter für eine gerechte Verteilung der öffentlichen Lasten zur Erleichterung des kleineren Mittelstandes und der Arbeiter. Fragen der Wehrverfassung und des Wahlrechts wurden nicht berührt. Die freiheitlichen und rechtsstaatlichen Forderungen deckten sich weitgehend mit denen des Heppenheimer Programms.[9]

Was den rechten vom linken Flügel des Liberalismus in der Hauptsache unterschied, waren zwei Dinge: Zum einen sollten Verfassungen nicht von den Parlamenten als Vertretungen des souveränen Volkes beschlossen, sondern zwischen ihnen und den (von den Landesherren eingesetzten) Regierungen vereinbart werden, um auf diese Weise zur Staatsform der konstitutionellen Monarchie zu gelangen. Zum anderen wollten die meisten Liberalen im engeren Sinn im Gegensatz zu den Demokraten Parlamente aus einem sozial abgestuften Zensuswahlrecht und nicht aus dem allgemeinen gleichen Wahlrecht hervorgehen lassen. Nicht nur in Südwestdeutschland, sondern auch in Preußen, ja überall im vorrevolutionären Deutschland markierten diese Positionen die Trennlinie zwischen Demokraten und gemäßigten Liberalen. Doch auch innerhalb beider Richtungen gab es Differenzierungen: Nur wenige bekannte Demokraten waren Anhänger der von Hecker und Struve geforderten Deutschen Republik, und längst nicht alle Liberalen verteidigten konsequent ein Zensuswahlrecht.

Die Revolution, die, ausgelöst durch die Pariser Februarrevolution, im März 1848 in Deutschland ausbrach und im Frühjahr 1849 endete, war vor allem eines: eine Erhebung für politische Teilhabe des Volkes, für gesicherte Freiheitsrechte und deutsche Einheit, also für das, worin Liberale und Demokraten sich einig waren. Eine auf die Volkssouveränität gegründete demokratische Republik blieb 1848 die Forderung einer Minderheit. Ihre Hauptziele, Freiheit und Einheit, hat die Revolution bekanntlich nicht erreicht: Die Gründe ihres Scheiterns untersucht das erste Kapitel dieses Buches. Im zweiten geht es um die Antwort, die Bismarcks Preußen zwei Jahrzehnte danach in den Einigungskriegen der 1860er und frühen 1870er Jahre auf das Scheitern der Revolution von 1848/49 gab. Als Revolution von oben verstanden bereits Zeitgenossen unterschiedlichster Couleur die Ereignisse, die zur Reichsgründung 1871 führten.

Das dritte Kapitel handelt von der deutschen Revolution von 1918/19, die aus der militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des von Bismarck geschaffenen politischen Systems hervorging. Das neue demokratische Staatswesen wurde, wie man weiß, nicht alt. Die umstrittene Frage, ob das Folgeregime, die Diktatur des Nationalsozialismus, eine deutsche Revolution bildete, wird im vierten Kapitel erörtert. Um dieselbe Frage geht es, aus völlig anderen Gründen, auch im fünften Kapitel. Es befasst sich mit der friedlichen Revolution von 1989/90 in der DDR, in deren Gefolge die historische deutsche Frage in Gestalt der Wiedervereinigung Deutschlands gelöst wurde. Das sechste und letzte Kapitel widmet sich erst der Begriffsgeschichte von «Revolution», rückt dann die deutschen Revolutionen in einen vergleichenden Zusammenhang und fragt schließlich nach ihrem Ort im Geschichtsbewusstsein und der politischen Kultur des wiedervereinigten Deutschland.

Das erste Kapitel ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich im Wintersemester 1997/98 im Rahmen einer Ringvorlesung des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin aus Anlass der 150. Wiederkehr der Revolution von 1848/49 gehalten habe. Die ursprüngliche Fassung meines Beitrags ist in dem 1998 im Verlag Wallstein, Göttingen, erschienenen, von Wolfgang Hardtwig herausgegebenen Band «Revolution in Deutschland und Europa 1848/49» abgedruckt.[10] Alle anderen Kapitel wurden eigens für diesen Band geschrieben.

Mein Buch will keinen ereignisgeschichtlichen Abriss bieten. Mein Ansatz ist vielmehr ein problemgeschichtlicher. Es geht mir um die großen Streitfragen der jeweiligen Zeit – um Fragen, die zum Teil auch heute noch umstritten sind, weil sie auch für die Gegenwart Bedeutung haben. Der Disput wird weitergehen. Ich möchte mit meinem Band zur Klärung der Probleme beitragen, über die da gestritten wird. Ebendies ist die praktische Forschungsabsicht, die diesem Buch zugrunde liegt.

KAPITEL 1

EINHEIT UND FREIHEIT: DAS DILEMMA DER REVOLUTION VON 1848/49

Die Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche am 18. Mai 1848.

Im Jahre 1948, einhundert Jahre nach der deutschen Revolution von 1848/49, veröffentlichte der Tübinger Historiker Rudolf Stadelmann eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema «Deutschland und Westeuropa». Im ersten Aufsatz «Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen» trug Stadelmann, Autor einer ebenfalls 1948 erschienenen, noch heute lesenswerten «Sozialen und politischen Geschichte der Revolution von 1848», eine These vor, die fortan in der Diskussion um den «deutschen Sonderweg», die historische Abweichung Deutschlands vom Westen, eine große Rolle spielte: Seit hundert Jahren werde das Volk der Deutschen «in seinem politischen Wollen fast unbesehen von den anderen Nationen in das Schubfach der Reaktion geschoben und ein Etikett darüber geklebt mit der Aufschrift: Das Volk ohne Revolution. Der Mangel an Befreundung mit der Praxis und den Ideen der westeuropäischen Revolutionen, der Mangel an Erfahrung und Erziehung auf dem Feld der radikalen Abkehr von der absolutistischen Vergangenheit der neueren Jahrhunderte ist der eigentliche Pariastempel, der unserer Geschichte aufgeprägt ist seit etwa drei Generationen. Die Verfemung des deutschen Namens hat in dem Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise der deutschen Entwicklung ihre erste und wahrscheinlich wichtigste Wurzel«.[1]

Man könnte, ja man muss Stadelmann entgegenhalten, dass die Revolution von 1848 nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Europa gescheitert ist und das negative Deutschlandbild in den liberalen Verfassungsstaaten des Westens sich nicht Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern erst in der Wilhelminischen Ära und im Ersten Weltkrieg herausgebildet hat. Aber mir geht es zunächst nicht um eine Auseinandersetzung mit den anfechtbaren Seiten der Argumentation dieses Autors. Ich nehme seine These vom «Volk ohne Revolution» vielmehr zum Anlass, mich der Revolution von 1848 in drei Schritten zu nähern: Erstens frage ich nach der besonderen Herausforderung, vor die sich der gemäßigte Liberalismus damals gestellt sah. Zweitens erörtere ich die Positionen der demokratischen und sozialistischen Linken. Drittens frage ich nach den Lernprozessen, die durch die Revolution ausgelöst wurden, und damit nach ihren Wirkungen.

I.

Eine «ungewollte Revolution» hat Wolfgang Schieder die Revolution von 1848 genannt. Was die gemäßigt liberalen Vertreter von Besitz und Bildung angeht, die in der Paulskirche die Mehrheit der Abgeordneten stellten, ist das eine zutreffende Formel. Es war geradezu das hervorstechende Merkmal des Liberalismus im engeren Sinn des Begriffs, dass er seine politischen und namentlich seine konstitutionellen Forderungen auf dem Weg der Verständigung mit den Fürsten und ihren Regierungen, also nicht revolutionär, durchsetzen wollte. Von einer Revolution wusste man nie, wo sie hinführen würde: Die große Französische Revolution von 1789 galt deutschen Liberalen gemeinhin nicht als das Beispiel einer geglückten, sondern einer entgleisten Revolution; jakobinische Terreur und napoleonische Herrschaft waren aus liberaler Sicht die historischen «argumenta e contrario» für den Weg der friedlichen Reform.[2]

Die Demokraten gingen deutlich weiter als die Liberalen. Sie wollten im Namen der Volkssouveränität eine Verfassung verabschieden, an die fortan die Fürsten und die Regierungen gebunden waren. Den radikalen Bruch mit der bisherigen Ordnung in Form einer deutschen Republik strebte Ende der 1840er Jahre nur eine kleine Minderheit an.

Im Jahre 1847, am Vorabend der deutschen Revolution, fasste der aus Düsseldorf stammende, damals in Marburg lehrende Historiker Heinrich von Sybel in seiner Schrift «Die politischen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältniß zur preußischen Verfassung» das liberale Credo wie folgt zusammen: «Die Revolution ist es, die auf allen Seiten den ungebändigten Trieb auf Herrschaft erweckt, der ebenso das Grab der konstitutionellen Verfassung wie jeder wahren Freiheit genannt werden kann». Wenn sich die sozialistischen und kommunistischen Tendenzen, namentlich in der Jugend und bei den arbeitenden Klassen, weiter so ausbreiteten wie im letzten Jahrzehnt, würden sie Regierung und Bourgeoisie schlechthin jeden Einfluss auf den vierten Stand, das Proletariat, abschneiden. «Hiergegen gibt es nur ein Mittel, feste Anknüpfung des Bürgerstandes an die Staatsgewalt durch politische Berechtigung. Dadurch, und nur dadurch allein, kann er (der Bürgerstand, H. A. W.) wieder bis zu seinen letzten Teilen herab in den natürlichen Gegensatz gegen jene Tendenzen gerückt, dadurch allein eine geistige Kraft erschaffen werden, welche die öffentliche Meinung in einer gesunden Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände festzuhalten vermag.»