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Was Dichten und Denken unterscheidet und wie eng das eine mit dem anderen doch zusammengehört, zeigt Amir Eshel in diesem Essay. Dichten ist nach einem Wort von Hannah Arendt Denken ohne Geländer: frei, ungebunden, ein Versuch jenseits einer Systematik. Damit wirkt Dichtung auf das Denken ein. Es gibt ein dichterisches Denken, das Eshel anhand von Gedichten aufzeigt, aber auch an Bildern von Gerhard Richter, an Werken von Dani Karavan und Installationen, die allesamt einen ganzen Zusammenhang ausdrücken. Amir Eshel richtet seine Aufmerksamkeit auf zeitgenössische Künstler, deren Werke Inhumanität und Unfreiheit ins Zentrum rücken und in ihrer künstlerischen Gestaltung einen Ausweg aus der negativen Wirklichkeit, Erfahrung und Einschränkung weisen zu eigenem Denken, zu perspektivischer Weite, die den Anderen in die Betrachtung einbezieht, zu neuen Formen und Inhalten. Und Amir Eshel zeigt, wie wir es lernen können, dichterisch zu denken, denkend zu dichten.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2020
3Amir Eshel
Dichterisch denken
Ein Essay
Aus dem Englischen von Ursula Kömen
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Das Kernproblem
»Denken ohne Geländer«
Das Gespräch der Menschheit
Denken und Urteilen
1 Gedichte denken Paul Celan und Dan Pagis
Was gilt
Im Bilde (
בצלם
)
Ethik ohne Grundsätze
Ein Grundwort: Ich-Du
Atemwende
Die Vergangenheit als Zukunft
2 Gemälde denken Über Gerhard Richter
»Jenseits dieser sinnlosen Existenz«
Das Geheime Buch
Poiesis als Widerlegung
Geschichte und Hoffnung: Über die menschliche Fähigkeit, zu handeln
Die Erweiterung der Partitur
Das Denken und das Böse
3 Skulpturen denken Über Dani Karavan
»Gerechtigkeit«
Eine Welt eröffnen
Pluralität und Begegnung
Über die Würde
Ethik als Orientierung
Das Recht, Rechte zu haben
»Ist das ein Mensch?«
Koda Unser poetisches Zeitalter
In Erwartung des Unerwarteten
Das poetische Projekt
Dank
Bibliographie
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
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Dies ist ein Essay über beklemmende Gefühle und meine ganz persönliche Reise, die ich antrat, um ihnen auf den Grund zu gehen.
Vor ein paar Jahren erschien ein Buch, an dem ich ein halbes Jahrzehnt gearbeitet hatte, endlich in gedruckter Form. Ich war begeistert. Das Resultat von ungezählten Tagen akribischer wissenschaftlicher Arbeit hatte schließlich auf 350 Buchseiten Form angenommen. Das Cover zierte ein wunderschönes Gemälde. Auf der Rückseite durfte ich Lob von hochgeschätzten Kollegen lesen. In den folgenden Monaten wurde mein Buch (überwiegend) positiv rezensiert. Kollegen von nah und fern sprachen mir ihre Bewunderung für meine Arbeit aus.
Doch bald bemerkte ich, zunehmend misstrauisch: Die Komplimente waren häufig vage formuliert und ließen eine eher flüchtige Lektüre erahnen. Manchmal, wenn es mir inhaltlich relevant erschien, machte ich auch meine Studierenden auf meine neu erschienene Studie aufmerksam, und auch ihre Reaktionen zeigten häufig eine Mischung aus recht allgemein gehaltener Bewunderung und auffallend lückenhafter Detailkenntnis – ganz so wie zuvor bei meinen Kollegen. Nach und nach wurde mir klar: Ich hatte eine respektable wissenschaftliche Abhandlung geschrieben; ein Buch, das einer sorgsam entwickelten Methodologie folgte; ein Buch, randvoll mit verifizierten Details, einer stringenten Argumentation folgend. Und ich hatte ein Buch geschrieben, das kaum jemand tatsächlich las. Vielleicht sollte ich es genauer ausdrücken: Kaum jemand las es von Anfang bis Ende, so wie man ein fesselndes Buch liest. Und auch jene, die es lasen, schienen dies eher aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus denn aus echter Begeisterung zu tun.
Ich war damals überzeugt davon (und bin es noch), dass der Leitgedanke des Buches wertvoll ist: Beim Erinnern traumatischer 8historischer Ereignisse würdigt die zeitgenössische Literatur den Schmerz der Vergangenheit, doch ist dieses Erinnern auch Ausdruck einer Zukünftigkeit – es versetzt uns in die Lage, eine bessere Zukunft zu imaginieren. In den Monaten nach dem Erscheinen des Buches gestand ich (in erster Linie mir selbst) allmählich ein, dass diese zentrale These zwischen all den Details verloren gegangen war – in der Fülle der Belege, die ich für nötig gehalten hatte, um eine valide Aussage machen zu können. Dieser Grundgedanke, der mir so wichtig war, wurde vernebelt durch mein Streben nach »knowingness«, wie Richard Rorty es nennt, einer »besserwissende[n]« Geisteshaltung: »ein Seelenzustand, der vor Schauern der Ehrfurcht bewahrt. Er macht unempfänglich für romantische Begeisterung«.1 Natürlich empfiehlt uns Rorty nicht an, anstelle des Strebens nach Erkenntnis schiere Romantik und wehmütige Empfindsamkeit zu setzen. Doch warnt er davor, einen Roman oder ein anderes Kunstwerk so zu studieren wie etwa eine geologische Formation oder eine Milz – als Gegenstände von wissenschaftlichem Erkenntniswert. Mit einer solchen Herangehensweise würden wir das große Potenzial der Künste aus den Augen verlieren: die Art und Weise, in der Kunst uns für uns selbst und für unsere Umwelt sensibilisiere, weil sie sich eben gerade nicht der wissenschaftlichen Methodik verpflichtet fühle. Wir liefen Gefahr, ihre Fähigkeit, uns Einsicht und Weisheit zu vermitteln, zu übersehen. Die Kunst kann dies, weil sie sich nicht einschränken lässt von Denksystemen oder stringenter Methodik. Ob mein Buch – und das betrifft jedes wissenschaftliche Buch – als ein Kunstwerk betrachtet werden kann, mag dabei zur Diskussion stehen. Und dennoch: Je länger ich über Rortys Idee nachgrübelte, desto konsternierter wurde ich.
Die Voraussetzungen, die Rorty vor die »wissende Haltung« stellt, sind genau jene, die mich dazu veranlasst hatten, meine intellektuelle Intuition unter einer dicken Schicht stichhaltiger »Belege« zu vergraben: Ich hatte mich von dem Wunsch leiten lassen, 9als »sorgfältiger« Wissenschaftler respektiert zu werden, als jemand, der die Stichhaltigkeit seiner »Entdeckungen« belegen kann, sowohl innerhalb der eigenen Disziplin als auch darüber hinaus. Statt eine humanistische Perspektive auf einige der Romane zu zeigen, die ich dafür bewundere, dass sie die Themen Gedächtnis, Geschichte und Trauma berühren, wollte ich wie ein Wissenschaftler geachtet werden, der gerade mit spektakulären neuen Befunden aus seinem Labor tritt. Ich habe mein Schreiben der berechtigten, aber häufig despotischen Tendenz in den Wissenschaften unterworfen, einer strikten Methodik zu folgen, eine systematisch argumentierende und evidenzbasierte These darzulegen, meine Analyse mit Stringenz und Logik zu untermauern.
Mein Unbehagen über das Buch wurde in den folgenden Monaten noch stärker, verschärft durch die anschwellende Debatte über die Zukunft der Geisteswissenschaften, und hier insbesondere über das mangelnde Interesse an geisteswissenschaftlicher Forschung und die rückläufigen Anmeldungen für geisteswissenschaftliche Seminare an amerikanischen Universitäten.2 Es drängte sich mir der Gedanke auf, dass das Schicksal meines Buches in einem Zusammenhang stand mit den Beobachtungen, die viele meiner Kolleginnen und Kollegen und auch ich in den letzten Jahren gemacht hatten: Ungezählte talentierte Studierende in Nordamerika und Europa (dies sind die beiden Kontinente, mit denen ich am vertrautesten bin) mieden die Geisteswissenschaften in zunehmendem Maße. Freilich, so dachte ich, ist diese Tendenz bei der Studienfächerwahl in einem größeren Zusammenhang mit den verschärften Anforderungen der sogenannten Wissensökonomie zu sehen. Sicherlich agieren die Studierenden unter dem Druck, ihre kostbare Studienzeit dafür aufzuwenden, Traumkarrieren zu verwirklichen oder die Wege zu gehen, die ihre Eltern ihnen vorgezeichnet haben. Und doch musste ich mir eingestehen, dass die Studierenden, denen ich auf dem Campus begegnete, ganz offensichtlich nicht allesamt blind die Träume ihrer Eltern verfolg10ten oder – noch schlimmer – komatöse Sklaven des Neoliberalismus waren. Mich ließ der Gedanke nicht mehr los, dass manche von ihnen sich durchaus in geisteswissenschaftliche Kurse einschreiben und vielleicht sogar meine Bücher lesen würden, wenn nur … ja, wenn nur, was?
Während ich über diesem verstörenden Gedanken grübelte, fiel mir eine Tagungsreihe ein, die ich besucht hatte. Die einzelnen Vorträge waren unter dem Titel »Poetisches Denken« versammelt, ein Konzept, das hauptsächlich von Martin Heidegger und Hannah Arendt verwendet worden war. Sie beschäftigten sich damit, wie einige der faszinierendsten Schriftsteller – Montaigne, Kafka und Ingeborg Bachmann wurden als Beispiele angeführt – Intuitionen, Einsichten und Weisheiten im Schaffensprozess kultivieren, gleichgültig ob es sich um einen Essay, eine Geschichte oder ein Gedicht handelte. Mit anderen Worten: Der Denkprozess, den einige unserer hochverehrten literarischen Werke auszulösen vermögen, kommt nicht durch systematisches Durchexerzieren einer These zustande, sondern durch eine berührende Metapher oder eine bewegende Szene. Es lag etwas Bezauberndes, etwas von Rortys »romantischem Enthusiasmus« in den Werken, die in den Vorträgen diskutiert wurden und – wenig überraschend – auch in den Vorträgen selbst. Bei beiden standen das Fantasievolle, das Spielerische im Vordergrund sowie die prinzipiell uneingeschränkten Möglichkeiten von Literatur und den Künsten beim Ausloten von Ideen. Sie präsentierten wie in einem Schaukasten die Worte und Bilder, die unser Leben erleuchten, weil sie nicht den Etikettierungen des wissenschaftlichen Denkens unterworfen sind, weil sie frei von Stringenz, Methodik oder der Suche nach der »letzten Wahrheit« sind.
Vielleicht, so dachte ich, sollten sich die Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre stärker darauf konzentrieren, genau diese Art des Denkens, die mir in diesen Vorträgen begegnete, zu kultivieren. Selbstredend ist nichts falsch daran, nach profunder und 11gesicherter Erkenntnis in den Geisteswissenschaften zu streben. Es liegt ein großer Wert darin, beispielsweise so viele Fakten wie möglich über Leben und Werk Franz Kafkas vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu ermitteln. Doch sollte eine Darstellung von Kafkas Werk nicht auch bemüht sein, die Art des Denkens ohne Geländer zu fördern, wie es seine Aphorismen so exemplarisch tun? »Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.«3 Liegt nicht der Wert literaturwissenschaftlichen Schreibens und humanistischer Bildung auch, oder vielleicht sogar vorrangig, in der Art des freien Denkens, wie es Kafkas Aphorismen veranschaulichen? In der ergebnisoffenen Reflexion über Fragen wie: »Was ist wahr?«, »Welcher ist der wahre Weg?«, »Ist das Verfolgen des einen wahren Wegs möglicherweise ein Balanceakt auf einem Hochseil?« oder »Ist es mehr ein Stolpern über ein Seil?«.
Es waren diese Fragen, die mich auf die Reise geschickt haben – im metaphorischen wie im konkreten Sinne. Zunächst machte ich mich daran, jene Lyrik neu zu lesen, die mich selbst am stärksten berührt und mit der ich mich in den vergangenen drei Jahrzehnten beschäftigt hatte. Ich wollte prüfen, wie diese Gattung – zweifellos die den wenigsten Zwängen unterworfene des geschriebenen Wortes – Denken ohne Geländer und Gelehrtheit befördern kann. Schnell wurde mir klar, dass dieses Denken sich nicht auf die Poesie beschränkte. Und so zog ich die Kreise größer: vom geschriebenen Wort zur bildenden Kunst. Ich besuchte mehrere Ausstellungen, um aus erster Hand Kunstwerke zu erleben und über sie zu reflektieren, von denen ich bis dahin nur gelesen hatte, und um mit den Künstlern, die sie erschaffen hatten, zu sprechen. Das Resultat dieser persönlichen intellektuellen Expedition ist dieser Essay, in dem ich mich mit den verschiedenen Erscheinungsformen und der Notwendigkeit des poetischen Denkens beschäftige. Im besten Falle, daran erinnern uns Georg Lukács und 12Theodor Adorno, ist ein Essay verschwistert mit der Poesie. Unbelastet von den Zwängen der »akademischen Zunft«, hat er die größeren Potenziale: Er ziele nicht auf einen »geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau. Er revoltiert zumal gegen die seit Platon eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere sei der Philosophie unwürdig.«4 Ich versuche im Folgenden nicht, eine Theorie des poetischen Denkens zu entwickeln. Ein solches Vorhaben stünde meines Erachtens völlig im Gegensatz zu den freien Formen der Reflexion und des künstlerischen Schaffens, die im Mittelpunkt des Essays stehen sollen. Vielmehr möchte ich anhand einiger Beispiele (die mich besonders angesprochen und bewegt haben) zeigen, was poetisches Denken auszeichnet.
Vielleicht sollte ich auch klarstellen, dass es nicht meine Absicht ist, nahezulegen, sämtliche Literatur und Bildende Kunst – über alle Epochen-, Länder- und Gattungsgrenzen hinweg – thematisiere oder beinhalte poetisches Denken; genauso wenig wie ich mit diesem Essay eine umfassende Darstellung sämtlicher Beispiele in der Kunst, die poetisches Denken beinhalten, abliefern möchte oder kann. Wir beginnen auf dem Weg, den ich eingeschlagen habe, und mit den Künstlern, die ich auf diesem Weg getroffen habe, und ich hoffe, dass meine Leserinnen und Leser das enorme Potenzial des poetischen Denkens für sich selbst weiter entwickeln und in sich wachsen lassen werden. »Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt«, bemerkte der Philosoph Max Bense, und das beschreibt mein Vorhaben sehr gut.5 Ich beginne damit, mir das Potenzial des poetischen Denkens genauer anzuschauen, seine Fähigkeit, uns einen philosophischen Kompass an die Hand zu geben. Dabei konzentriere ich mich auf die beiden Bereiche, in denen ich die größte Wirkmächtigkeit des poetischen Denkens sehe: Politik und Ethik. Ich glaube, dass poetisches Denken uns eine sehr grundlegende Art der Reflexion darüber ermöglicht, wie wir Menschen, die wir lieben, und jene, die wir nicht lieben, behandeln sollten und wie wir mit unserer Umgebung interagie13ren, mit der Welt als Ganzes.6 An diese Überlegungen anschließend, werde ich mich speziellen Werken der Literatur und der Bildenden Künste zuwenden, die in der Lage sind, »Schauer der Ehrfurcht«, wie Richard Rorty es bezeichnet, hervorzurufen: Mit anderen Worten, wir werden sehen, wie Gedichte, Gemälde und Skulpturen zu Erscheinungsformen poetischen Denkens werden und wie diese Erscheinungsformen unsere Wahrnehmung der Welt verändern können.
Meine Auswahl von Gattung und Kunstform ist natürlich nicht zufällig. Dichtung ist die literarische Gattung, die ich selber schreibe, die ich studiere und lehre. Von allen Gemälden und Skulpturen, mit denen ich mich hier beschäftige, habe ich die Originale gesehen. Ich habe enorm davon profitiert, dass ich Gespräche über das Denken in der Kunst mit einigen der Künstler führen durfte: mit dem Maler Gerhard Richter und dem Bildhauer Dani Karavan. Doch glaube ich, dass die hier entwickelten Ideen nicht auf die spezifischen Künstler und Werke, die ich hier diskutiere, beschränkt bleiben. Und ich bin zuversichtlich, dass dieser Essay auch Relevanz für einen größeren Blickwinkel auf andere Kunstwerke und andere künstlerische Medien hat. Deshalb erörtere ich in der Koda, wie es gelingen kann, die Aussagekraft dieses Essays über die Grenzen der eigentlich intendierten Sphäre hinaus auszuweiten.
Meine intensive Beschäftigung mit dem poetischen Denken fand – wie es bei Reisen üblich ist – nicht in einem Vakuum statt. Als ich mit dem Schreiben begann, nahmen weltweit politische Tendenzen an Fahrt auf, die repressiv, manchmal sogar offen tyrannisch waren. Mancherorts – Ägypten und Russland sind hier nur die offensichtlichsten Beispiele – machten sich diese Tyranneien am Gesicht eines bestimmten Herrschers fest, eines selbsterklärten »starken Mannes«, der an allen Hebeln der Macht sitzt. Anderswo – von der Türkei über Ungarn bis nach Polen und Venezuela – wurden Regierungen zwar demokratisch gewählt, be14gannen jedoch bald, einmal an der Macht, tyrannische Elemente herauszubilden: etwa exzessive Autorität, gnadenlose Überwachung, Unterdrückung des freien Denkens und der freien Meinungsäußerung sowie das brutale Ersticken jeglicher abweichender Haltungen. Auch etablierte Demokratien, das konnten wir nicht zuletzt während und nach den Präsidentschaftswahlen von 2016 in den USA beobachten, sind offensichtlich nicht immun gegen tyrannische Tendenzen. Beim Schreiben dieses Essays wuchs die Überzeugung in mir, dass es lohnen würde, den Blick auf poetisches Denken und ein geistiges Leben, das frei von Beschränkungen ist, zu richten – nicht nur, um dienlichere Bücher zu schreiben oder die humanistische Bildung zu bereichern. Poetisches Denken, das möchte ich mit diesem Essay anregen, hat darüber hinaus das Potenzial, dem Aufstieg von Tyranneien etwas entgegenzusetzen: Es ist nicht weniger als ein Instrument, politische Freiheit zu verteidigen und bedeutsame kulturelle Ausdrucksformen zu fördern.
Nicht zufällig berühren alle hier besprochenen Kunstwerke auf die eine oder andere Weise eine zeitgenössische Erfahrung mit Tyrannei. Einhergehend mit meinen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten, beschäftigen sich die behandelten Werke überwiegend mit den faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts und ihren Folgen, besonders – aber nicht ausschließlich – mit dem nationalsozialistischen Regime. In der Koda möchte ich zeigen, dass Künstler aus allen Disziplinen, und auch jeder Einzelne von uns, poetisches Denken einsetzen können – auch wenn wir es vielleicht anders nennen würden –, um jenen Moment zu erkennen, in dem die Freiheit des Denkens, Schreibens und Handelns in Bedrängnis gerät. Dieser Essay will dazu anregen, dass die durch das poetische Denken entstehende Freiheit dazu genutzt werden kann, heutigen tyrannischen Tendenzen die Stirn zu bieten. Es sind vor allem zwei Leitgedanken, die mich dabei antreiben: zum einen mein Wunsch, poetisches Denken als Chance der Erneue15rung für das Schreiben und Lehren von Literatur und Kunst zu verstehen; und zum anderen meine Überzeugung, dass das Kultivieren von poetischem Denken dabei behilflich sein wird, jene Kräfte, die uns in unseren kulturellen und politischen Freiheiten beschränken wollen, in die Schranken zu weisen.
Tyrannei wird häufig als eine überkommene politische Herrschaftsform angesehen, als schwere staatspolitische Verwerfung, die in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist oder – im schlimmsten Falle – anderswo passiert, aber doch nicht im eigenen Staat. Nichts davon entspricht der Wahrheit, sosehr wir es uns auch wünschen mögen. Tyrannei ist hier, und sie bleibt. Sie tritt, so definiert es der Duden, in Form von Gewalt-, Willkür-, Schreckensherrschaft in Erscheinung. Doch Tyrannei meint auch andere, weniger offensichtliche repressive Kräfte. Häufig sind diese weitaus heimtückischer, zerstörerischer und deshalb erfordern sie ebenso unsere Aufmerksamkeit.
Auch heute noch, 75 Jahre nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands und drei Jahrzehnte nach der Implosion der Sowjetunion, ist Hannah Arendt eine unserer scharfsinnigsten Beobachterinnen moderner Tyrannei in all ihren verschiedenen Ausprägungen geblieben. Ihre Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bildete den Auftakt zu ihrer lebenslangen Beschäftigung mit den verschiedenen Aspekten dieser repressiven Herrschaftsform. Dabei war Arendt davon überzeugt, dass Tyrannei nicht ausschließlich innerhalb von geschlossenen Herrschaftssystemen existierte; vielmehr, so glaubte sie, sei jegliches Denken, insbesondere das westliche, von tyrannischen Tendenzen durchdrungen. Kurz bevor Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erschien, setzte sich Arendt in ihrem Denktagebuch mit der Wesensverwandtschaft von Philosophen und Tyrannen auseinander. Seit Platon sei die westliche Logik, die auf Prinzipien basierte, die 18aus »Denken und Vernunft« resultierten, »by definition« tyrannisch.1 Die Idee, dass Verstehen und fundiertes Urteilen ausschließlich auf Logik, Methode, Stringenz und Systematik gründeten, stelle eine permanente Bedrohung für die Freiheit dar. So wie der politische Tyrann als Souverän allein und für alle Bereiche des Lebens darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist, wird auch das westliche Denken von einem Despoten regiert: der Logik. Arendt identifiziert und akzentuiert die Kernfrage, die uns im Verlauf dieses Essays beständig begleiten wird: »Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch ist?«2
Arendt, selbst nur knapp aus Nazideutschland entkommen, war sich der Verbindung zwischen der westlichen philosophischen Tradition und den zeitgenössischen totalitären Regimen überaus bewusst. Und zweifelsohne hatte sie dabei auch ihre intellektuellen Gefährten im Sinn, die sich in den 1930er Jahren rasch und bereitwillig den neuen Verhältnissen und Machthabern angepasst hatten.3 Ich möchte jedoch anregen, dass die Implikationen aus Arendts Fragestellung – Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch ist? – weit über die politischen Realitäten ihrer Zeit hinausreichen. Ihre Frage hat nichts von ihrer Relevanz verloren, denn wie und was wir über die Welt denken, ist stets von unserem Verständnis darüber gerahmt, was das Denken beinhaltet, woraus es sich zusammensetzt. Die meisten von uns gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass Denken ist, was es ist – eine mentale Beschäftigung, die uns den ganzen Tag, jeden Tag umtreibt –, und schenken den verschiedenen Aspekten des Denkens nur wenig Beachtung. Auch realisieren die wenigsten, dass sich das Denken mitnichten auf die Aktivitäten beschränkt, mit denen wir es üblicherweise assoziieren: etwa den systematischen Versuch, eine Situation einzuschätzen, Probleme zu lösen, eine sinnvolle Entscheidung zwischen verschiedenen beruflichen Optionen zu treffen und Ähnliches. Arendts Frage impliziert eine weit darüber hinausgehende, faszinierende Möglichkeit: Das Denken umspannt weit mehr als 19jene Formen der Erkenntnis, die die westliche Tradition hervorgebracht und idealisiert hat – angefangen bei Platon über die wissenschaftliche Revolution bis hin zum Transhumanismus, jene Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sowohl geistig, körperlich als auch emotional, durch Aufwendung technologischer Systeme zu verschieben sucht. Was, wenn es auch ganz andere Arten des Denkens gibt?
Wie bereits im Vorwort angedeutet, möchte ich mich in diesem Essay dafür aussprechen, dass es sie gibt. Ich denke, die meisten von uns wissen – auf eine intuitive, in der Regel unausgesprochene Weise –, dass das Denken sehr vielfältige Formen annehmen kann. Im Folgenden untersuche ich eine dieser Formen, von der ich glaube, dass sie von besonderem Wert für die Beantwortung von Arendts bohrender Frage ist; eine Art des Denkens, die ich für besonders wesentlich halte, um auf tyrannische Tendenzen zu reagieren. »Dichterisches Denken« nenne ich diese Form, und ich verstehe darunter jenes kreative und grenzenlose Denken, das »Denken ohne Geländer«, dem wir häufig (aber nicht ausschließlich) in der Literatur und in den Künsten begegnen.
Da ich mich insbesondere für repressive Formen des Denkens und der Politik in der Moderne interessiere, konzentriert sich dieser Essay auf einige wenige Dichter und Künstler, deren Werke sich sowohl mit modernen Tyranneien beschäftigen, insbesondere mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen, als auch dichterisches Denken verkörpern: Paul Celan (1920-1970), Dan Pagis (1930-1986), Gerhard Richter (geb. 1932) und Dani Karavan (geb. 1930). Abschließend, in der Koda, wende ich mich noch dem Werk von Laura Poitras (geb. 1964) zu, um zu zeigen, dass auch die zeitgenössische Kunst – im Zusammenhang mit bestehenden Gefahren für die menschliche Freiheit – diese poetischen Gedankengänge aufnimmt und weiterentwickelt. Obwohl Poitras Arendts Enkeltochter sein könnte (und Jahrzehnte jünger ist als Celan, Pagis, Richter und Karavan), hat sie mit einigen der tyrannischen Kräfte, 20die Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und in anderen Werken untersucht hat, Erfahrungen aus erster Hand gemacht. Diese verarbeitet sie in ihrer Kunst und fordert unsere Fähigkeit heraus, mit all unseren Sinnen zu denken, uns nicht auf Logik und Vernunft zu verlassen. So versetzen wir uns eventuell in die Lage, poetisches Denken als einen einzigartigen, uneingeschränkten Modus unseres geistigen Lebens zu erkennen. Gerade weil die Werke, die ich hier präsentiere, so wenig durchdrungen sind – sowohl im Inhalt als auch in der Form – von den gewohnten Denksystemen, können sie hilfreich sein, individuelle und kollektive Freiheit zu verteidigen und zu kultivieren. Gewiss, auch wenn wir es uns anders wünschen würden, ein Gedicht besteht nur aus Worten, und ein Gemälde nur aus Farbe. Kunstwerke allein sind kaum ein adäquates Mittel, um Tyranneien zu bekämpfen, und ein Kunstwerk als solches kann die Welt nicht verändern. Aber die Art und Weise, mit der wir dieser Kunst begegnen, kann etwas bewirken – zunächst in uns selbst, doch schließlich auch innerhalb der öffentlichen Sphären, in denen wir uns bewegen. Ich glaube, dass Kunstwerke wie jene, die ich hier diskutiere, unsere Art, ihnen zu begegnen, und die Debatten, die sie auszulösen, in der Lage sind, ein differenzierteres und freieres Gemeinwesen zu erzeugen – eine öffentliche Sphäre, in der Dynamik und Achtsamkeit existieren, die sich vielleicht als belastbarer erweist als jene, die wir in den letzten Jahren beobachtet haben: von Peking bis Manila, von Moskau bis Jerusalem und Washington, D. C. – bis hin zu der wachsenden Bedrohung, die Tyranneien im Hier und Heute darstellen.
Ihr Leben lang beschäftigte sich Arendt mit verschiedenen Ausprägungen des freien, grenzenlosen Denkens, des »Denken[s] ohne Geländer«.4 Die Konsequenzen für unsere heutige Zeit muten einerseits eher bescheiden an und sind andererseits doch einschneidend: Unsere historische Dynamik (wobei anzumerken ist, dass sich Arendts Überlegungen auf die westliche Zivilisation fokussierten) ist gekennzeichnet durch einen fundamentalen Bruch mit dem antiken und mittelalterlichen Erbe und seinen intellektuellen und institutionellen Rahmenbedingungen. Arendt verweist hier auf Alexis de Tocqueville, der über hundert Jahre vor der Katastrophe der Weltkriege eine Beobachtung machte, die bis heute in ihrer geradezu bestechenden Einsicht nachhallt: »Wenn die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der Geist im Dunkeln.« Mit diesem Gefühl der Verwirrung und dem Bedürfnis nach einer Neuorientierung im Sinn folgert Arendt: »Ich dachte, man müsse damit beginnen, Gedanken zu denken, die niemand zuvor gedacht hat, und anschließend könne man von allen anderen lernen.«5
Voranschreiten ohne Geländer – losgelöst von Überlieferungen, Normen oder starren Systemen – ist einem Denkansatz verpflichtet, der viel weiter als bis zu Tocqueville und ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Er durchzieht bereits die Schriften der meisten vorsokratischen griechischen Philosophen. Wir finden diese Idee bei Ecclesiastes, bei Seneca und bei Marc Aurel. In der Frühen Neuzeit begegnen wir dieser Art des Denkens bei Montaigne, La Rochefoucauld und Pascal. Er hallt auch bei Novalis und Friedrich Schlegel wider, den beiden deutschen Romantikern, die die strikte Trennung von Philosophie und Dichtung rückgängig zu machen suchten. Schlegel bemerkt in seinem Kritischen Fragment 115: »Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wis22senschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt seyn.«6
Wenn wir uns im 19. Jahrhundert umschauen, erinnert uns »Denken ohne Geländer« an die Briefe von Rahel Varnhagen von Ense (die Berliner Salonnière und Schriftstellerin, der sich Hannah Arendt in ihrem ersten Buch widmete); an die Aphorismen von Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche; und an Heideggers offene Frage: »Was heißt Denken?«. In jüngerer Zeit hat diese Tradition eine Fortführung in Susan Sontags prägnantem Mantra gefunden: »Philosophie ist eine Kunstform – eine Kunst des Denkens oder das Denken als Kunst.«7 Wir begegnen dieser Denkweise auch in Jan Zwickys Begriff der »lyrischen Philosophie«: dem Verschmelzen des Poetischen mit dem Philosophischen zu einer Einheit von »Klarheit, die geprägt ist von der Eingebung einer Kohärenz. […] Denken, das bestimmt ist von einer Empfindsamkeit, die angesichts der wahren Flut von Reizen zur Erschöpfung führen kann.«8 Die Lyrik kann sogar »phänomenale Begrifflichkeiten« »über Gefühle, Anblicke, Geräusche, Geschmäcker und so fort« hervorbringen, wenn sie unsere Gedankenwelt berührt, wie Antonia Peacocke überzeugend herausarbeitet.9
Denken ohne Geländer, dichterisches Denken, ist freilich noch kein Garant für Freiheit oder ein ethisches Bewusstsein. Heidegger, der uns im 20. Jahrhundert wie wohl niemand zuvor dazu gedrängt hat, unsere Vorstellung vom Denken zu überdenken, steht – in einer bitteren Wendung der Ereignisse – gleichermaßen für »eklatante Gedankenlosigkeit« und, wie wir heute wissen, auch für Antisemitismus, denn in den späten 1920er und den 1930er Jahren machte er sich einige der krudesten antisemitischen Ansichten zu eigen. Und im Jahr 1933 verbeugte er sich schließlich bereitwillig vor der Nazi-Tyrannei, als er in die Partei eintrat, begeistert in Nazi-Uniform posierte und Zeilen schrieb, die keinerlei Spuren irgendeiner Form des Denkens erkennen ließen, wie etwa: »Nicht Lehrsätze und Ideen seien die Lehrsätze eures Seins. 23Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit.«10
In ihrem Bemühen, unser Verständnis vom Denken zu erweitern sowie Vernunft und Logik dazu zu bringen, einen Teil ihres universellen Herrschaftsanspruchs über unser geistiges Leben abzutreten, verwendet Arendt eine Sprache, die meinem Verständnis vom poetischen Denken sehr nahekommt. In einem Essay von 1968 zieht sie Walter Benjamins Werk heran, um diese Idee zu diskutieren. Sie führt aus, dass Benjamin als Schriftsteller »dichterisch dachte«, obwohl er »weder ein Dichter noch ein Philosoph«11 war. Arendts Essay ist bedeutsam, weil er Elemente aus Benjamins Werk herausarbeitet, die später hilfreich dabei sein werden, zu erkennen, was poetisches Denken bedeutet und leisten kann. Für Benjamin, so Arendt, beschränkte sich die Kritik nie auf die Philologien oder die Kulturgeschichte. Als unersättlicher Leser mit einer gewaltigen Sammellust schöner Zitate etablierte Benjamin die Literaturkritik wie ein »Alchemist, der die dunkle Kunst des Verwandelns nichtiger Bestandteile des Wirklichen in das glänzende, beständige Gold der Wahrheit […] ausübt«.12 Diese Art von nachhaltigen Wahrheiten steigen aus seinen Essays empor, in denen er die Worte anderer, Bilder und seine eigene Prosa miteinander verband: etwa wenn er ein Zitat aus einem Gedicht von Gerschom Scholem neben das Gemälde Angelus Novus von Paul Klee stellte und so seinen bekannten »Engel der Geschichte« anfertigte, eine bildhafte Darstellung der Menschheit auf ihrem Weg durch die Zeit und mit einem Blick zurück auf die eigene Geschichte: nichts als »Trümmer auf Trümmer«, während sie von einem Sturm, den »wir den Fortschritt nennen«, in die Zukunft geworfen wird.13
Benjamins viele Metaphern – sein vorrangiges kreatives Medium –, so Arendt, waren weit mehr als lyrische Ornamente. Mit Bezug auf Homer ruft sie uns in Erinnerung, dass Metaphern wie »Engel der Geschichte« das »eigentlich Erkenntnis vermitteln24de Element des Dichterischen« seien; »durch diese Entsprechungen wird dichterisch die Einheit der Welt gestiftet«.14 Sprachbilder wie dieses besitzen als fantasievolle Artefakte die Fähigkeit, neue, mitunter tiefgründige Einsichten in die Welt, die wir bewohnen und gestalten, zu tragen. Metaphern wie Benjamins »Engel der Geschichte« sind »poetisch« im ursprünglichsten Sinne: poiesis (ποίησις) bedeutet »erschaffen«, »machen«.15 Als erschaffene Objekte geben uns Metaphern wie die von Benjamin bedeutsame Einsichten und sie spornen uns an, weiter zu denken. Sie sind Entitäten die, so Arendt, uns die »Einheit der Welt« offenbaren. Sie gewähren eine Erkenntnis in die komplexeren Zusammenhänge unserer natürlichen, individuellen und gemeinschaftlichen Gegebenheiten.
Dieser Essay behandelt drei miteinander in enger Verbindung stehende Aspekte, die über Arendts Konzept vom poetischen Denken noch hinausgehen. Erstens verstehe ich poetisches Denken als eine Form der Einsicht, des Erkennens oder der Schlussfolgerung, entweder eingebunden in die Metapher oder aus dieser hervorgehend – aus einem Gedicht, einem Gemälde oder einer Skulptur.16 Poetisches Denken beinhaltet also stets sowohl die Gedanken des Künstlers, die in das Kunstwerk eingeflossen sind, als auch die Gedanken von uns Lesern, Betrachtern, Kritikern oder Studierenden, die wir beim Lesen, Betrachten oder Hören entwickeln.
Zweitens bezieht sich poetisches Denken, das von solchen kreativen Kunstwerken ausgeht oder in ihnen eingefangen ist, immer auf Kunstwerke, deren Erschaffung sich nicht auf unsere gewohnten Denkweisen reduzieren lässt – rational, stringent und methodisch. Systematisches Denken mag die Werke, denen wir begegnen, beeinflusst haben; und vielleicht ist es auch schlicht und ergreifend unmöglich, zu denken, ohne den Frontallappen miteinzubeziehen. Entscheidend ist aber, so meine These, dass sich die Künstler nicht durch Stringenz und Vernunft haben einschränken 25lassen. Die Arbeiten, mit denen ich mich beschäftige, sind nicht ausschließlich von logischem und systematischem Denken bestimmt.
Drittens bezieht sich poetisches Denken auf Kunstwerke, denen es gelingt, weite Reflexionsräume zu eröffnen. Ich interessiere mich für solche Kunstwerke, die uns zu bedingungslosen Spekulationen über einige der wichtigsten Fragen unseres Lebens anregen wie »Wer sind wir?«, »Wie sollen wir leben?« und »Wie sollen wir unseren Weg in die Zukunft finden?«. Die Räume, die diese Werke eröffnen, können physisch sein. Aber auch ein Gedicht oder ein Gemälde kann solche Räume eröffnen. Wenn wir innehalten, eine gewisse Zeit bei einer Seite in einem Buch verweilen oder vor einer Leinwand stehen und frei reflektieren, dann treten wir aus unserer alltäglichen, routinierten Denkweise heraus.
Jehuda Amichais Gedicht »Der Ort, an dem wir recht haben« veranschaulicht alle drei genannten Elemente auf geradezu verblüffende Weise.17 Es drückt mustergültig das Arendt'sche »Denken ohne Geländer« aus, sowohl in dem, was es aussagt, als auch in dem, was es tut:
Der Ort, an dem wir recht haben
An dem Ort, an dem wir recht haben,
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben,
ist zertrampelt und hart
wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber
lockern die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und ein Flüstern wird hörbar
26an dem Ort, wo das Haus stand,
das zerstört wurde.
Das Gedicht birgt eine kühne Offenbarung des Sprechers (der möglicherweise auch der Dichter ist): »An dem Ort, an dem wir recht haben, werden niemals Blumen wachsen.« Eine faszinierende und beharrliche Wirkung haben die Worte, und sie regen dazu an, über die Unterschiede zwischen zwei essenziellen Bereichen der menschlichen Erfahrung nachzudenken: der Gewissheit und der Ungewissheit. Die ersten beiden Strophen stellen eine Verbindung her zwischen unserer epistemologischen und ethischen Überzeugung (der Glaube daran, »recht« zu haben) und einem Ort der Ödnis, nichts blüht hier. Die dritte Strophe jedoch zeigt eine Alternative auf, erzählt vom fruchtbaren Reich des Stromes. Amichai vermeidet offensichtliche Erklärungen oder rationale Begründungen für diese spannungsgeladene Apposition. Stattdessen rufen die spärlichen Zeilen unseren Tastsinn auf den Plan (»zertrampelt und hart«) und unseren Sehsinn (Maulwurf, Pflug, Haus), sie lassen uns spüren und anschließend vielleicht über die Bedeutung sinnieren oder, vielleicht noch wichtiger, darüber, wie es sich anfühlt, »recht [zu] haben«, sicher zu sein, die Wahrheit zu kennen.18
Amichai bedient sich wiederholt der Sprecherperspektive in der ersten Person Plural und animiert seine Leserinnen und Leser damit, sich in Beziehung zu dem »wir« zu setzen. Und seine Zeilen, so stimmungsvoll wie spärlich, scheinen uns dazu aufzufordern, eigene Gedanken zu entwickeln. Wir könnten zum Beispiel die Risiken abwägen, überlegen, was es bedeuten würde, an dem im Gedicht skizzierten »Ort« zu verweilen – an dem Ort, wo Überzeugung und Rechtschaffenheit in eine Sackgasse münden. Der Glaube an die eigene Wahrheit mag zufriedenstellen, aber, und das deutet Amichai hier auf so wundervolle Weise an, er ist auch öde und bringt letztlich nichts hervor. Es ist die Alternative, die 27reich ist an Möglichkeiten. Doch Amichais Gedicht schreibt nichts vor. Es reiht Sprachbilder aneinander, die zum Denken anregen. Es lädt zum Verweilen ein, den »Ort, an dem wir recht haben« zu erspüren, es drängt in keine bestimmte Position, auch nicht in die ihm eigene. Es erzählt, was passieren würde, wenn wir die Aussagen der ersten beiden Strophen uneingeschränkt akzeptierten. Wenn wir also zu dem Schluss kämen, dass Blumen niemals an dem Ort blühen, an dem »wir recht haben«, dann liefen wir Gefahr, wieder einmal, völlige Gewissheit haben zu wollen über das, was kommen wird. Doch statt uns in eine solche Sicherheit zu führen, regen uns die beiden ersten Strophen dazu an, uns zu bemühen, außerhalb unserer gewohnten Denkweisen zu treten, denn innerhalb dieser agieren wir so, als hätten wir stets recht mit unseren Ansichten, Werten oder Entscheidungen. Indem es uns erlaubt, die Komfortzone unserer Gewissheiten zu verlassen, führt uns das Gedicht auf ein viel riskanteres Feld, einen Ort, an dem die Welt »aufgelockert« ist, an dem wir unentwegt all unsere festen Überzeugungen und jede Vorstellung, die uns lieb und teuer ist, von Neuem abwägen müssen.
Amichais Gedicht ist ein gutes Beispiel für Arendts »Denken ohne Geländer«, eine Sicht auf die Welt, die nicht frei von Gefahren ist, wie der Fall Martin Heidegger gezeigt hat. Ein Denken, das keinerlei moralische Verankerung aufweist, kann geradewegs in absurden Irrationalismus führen. Und wenn Irrationalismus und Politik eine unheilvolle Verbindung miteinander eingehen, wie im europäischen Faschismus des 20. Jahrhunderts und wie sie es offensichtlich tagtäglich in einer Welt tun, die von Zeitgenossen wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und Donald Trump geprägt ist, können sich die Folgen zu Katastrophen auswachsen. Doch ich glaube, dass wir solche Fallstricke umgehen und uns gleichzeitig die Potenziale eines Denkens zu eigen machen können, das frei von Dogmen ist. Wir können poetisch und moralisch denken.
28Der Ansatz, den ich mit Arendt und Amichai teile, Gedanken zu denken, »die niemand zuvor gedacht hat und anschließend […] von allen anderen [zu] lernen«, birgt wie gesagt Risiken. Schnell nagt der Zweifel an den Früchten unserer Überzeugungen und macht sie zunichte – selbiges gilt für das Gefühl der Sicherheit und der Ordnung, die uns diese Überzeugungen verleihen. Amichai führt uns unmissverständlich vor Augen, dass in einer solchen Welt auch Ruinen stehen. Ambivalenz zu akzeptieren ist sicherlich weniger effizient und setzt uns mit voller Wucht der Unsicherheit aus, die flüsternd um die Ecke kommt. Und doch, jenen Ort hinter uns zu lassen, an dem wir uneingeschränkt recht haben – und vielleicht noch bedeutsamer: Jenen Ort hinter uns zu lassen, an dem wir davon überzeugt sind, dass es stets eine richtige und entsprechend auch eine falsche Antwort gibt –, kann neue und vielleicht fruchtbarere geistige Nahrung für die Zukunft hervorbringen. Amichais metaphorischer »Ort, an dem wir recht haben«, fordert uns auf, innezuhalten, wenn wir uns dabei ertappen, uns felsenfest im Recht zu glauben. Er veranlasst uns, die uns teuren Sicherheiten und Überzeugungen aufzugeben, und sei es nur für den kurzen Moment, während wir das Gedicht lesen. Denken ohne Geländer kann sich an jedem Ort und zu jeder Zeit zutragen.
Meine Überzeugung, dass poetisches Denken sowohl ein wertvolles Instrument ist, uns mit unseren Gegebenheiten auseinanderzusetzen, als auch ein potenzieller Schutz vor repressiven Denk- und Handlungsmustern, ist eine sehr alte Idee, und meine Beschäftigung damit schlägt einen weiten Bogen der überlieferten Schriften bis zurück zu den Büchern der Weisheit des Alten Testaments (denken wir etwa an die Klagelieder des Ecclesiastes: »O Nichtigkeit der Nichtigkeiten […], Nichtigkeit der Nichtigkeiten, alles ist 29Nichtigkeit.«19). Poetisches Denken ist ebenso eine ferne Erbin des antiken griechischen Verständnisses von poiesis, die ein breites Spektrum von Phänomenen umfasste, unter anderem den menschlichen Akt der Gestaltung und Transformation von Materie.20 Die Wirkung solcher transformativen Akte – zum Beispiel der Einfluss, den ein Gedicht ausüben kann – gelten bereits seit der Antike als allgemein akzeptiert. Mitunter hat diese Erkenntnis sogar große Sorgen bereitet. Platon zeigte sich beunruhigt über die potenziellen Auswirkungen solcher Akte, als er in Buch 10 von Der Staat die Gefahren für Politik und Moral diskutierte, die von der Poesie ausging. Er schrieb (und ironischerweise wählte er die Form eines literarischen Dialogs): »Und auch mit der Liebeslust und der Zornesleidenschaft wie überhaupt mit allen begehrlichen, schmerzlichen und freudigen Regungen der Seele, die ja doch bekanntlich alle unsere Handlungen begleiten, steht es doch wohl ebenso: daß nämlich die dichterische Nachahmung sie in uns begünstigt? Denn sie nährt und tränkt diese Triebe statt sie absterben zu lassen und macht sie zu Herren in uns statt zu Untergebenen, wie es doch der Fall sein müßte, wenn wir nicht schlechter und unglückseliger, sondern besser und glückseliger werden sollen.«21 Platon hat, wie später auch die christlichen Theologen, das destabilisierende Potenzial der Dichtung und der Künste in ihrer Kapazität, freies Denken und Transformation zu fördern, sehr wohl als eine Kraft erkannt, die Autoritäten anzweifelt – Ersterer hatte die platonischen Ideale im Sinn, Letztere sorgten sich um die unangezweifelte Autorität der kirchlichen Doktrin.22
Platon identifizierte in der Vorstellungskraft von Dichtung und Kunst eine mögliche Ursache für gefährliches gesellschaftliches Chaos, und jeder Tyrann in der Geschichte hat wohl auf die eine oder andere Weise diese Kraft der Imagination attackiert. Deshalb sollen in meinen Überlegungen zum poetischen Denken die Verdienste im Vordergrund stehen, das, was uns diese Art des Denkens trotz oder gerade wegen der Kräfte, die dagegen anwet30tern, zu geben vermag. Meine Gedanken zu den Gedichten, Gemälden und Skulpturen sind insbesondere geprägt von der Kritik des Platonismus während und nach der Renaissance: von Michel de Montaignes ganz bewusster Wahl des Essays als der angemessensten Form der philosophischen Meditation zu François de La Rochefoucaulds eleganten (und weniger normativen) Maximes; von Blaise Pascals fragmentarischen theologischen Pensées zu Giambattista Vicos Scienza Nuova (1725), in der er anregte, die poiesis überschreite die Sphären der Nachahmung oder der Mimesis und die »poetische Weisheit« (sapienza poetica) beschränke sich nicht auf die Leistungen unserer Fähigkeit zur Vernunft, sondern beziehe stets unsere kreativen Fähigkeiten mit ein.23 Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, besonders in der brillanten Lesart von Michel Chaouli, hat meinen Zugang ebenfalls inspiriert. Die Kunst gibt uns, so Kant, »mehr […] zu denken, als in ihr [der Vernunft] aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann«.24 Sie veranlasst uns, das veranschaulicht das poetische Denken trefflich, »so viel zu denken […], als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen lässt«.25
Ich betrachte dieses beständige Ausweiten der existierenden Gedanken – den Wunsch und die Fähigkeit, jenen Ort, an dem wir stets recht haben und an dem die platonischen Ängste vor politischem Chaos lauern, hinter uns zu lassen, geradezu als Kern des poetischen Denkens. Dieser Gedankengang fand in den Jahrzehnten nach Kants Tod in den Aphorismen von Friedrich Schlegel und Novalis eine radikale Erweiterung, aber auch in Percy Bysshe Shelleys »Verteidigung der Poesie« und Friedrich Nietzsches radikalem Angriff auf die platonische Metaphysik in Also sprach Zarathustra. Diese Dichter und Denker haben in vielfacher Hinsicht den Boden für jene des 20. Jahrhunderts bereitet. Martin Heidegger etwa formulierte es folgendermaßen: »Doch gerade weil das Denken nicht dichtet, […] muß es dem Dichten nahe bleiben.«26 Ungefähr 15 Jahre zuvor bemerkte Ludwig Wittgen31stein, darin vielleicht noch radikaler: »Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.«27
Aus Wittgensteins konjunktivischem »dürfte« entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten eine immer ausgedehntere Verwendung in den Werken eines großen Spektrums von Denkern und Schriftstellern. Insgesamt entwickelte sich daraus ein Verständnis der Philosophie als »poetische Komposition«. Häufig erlangten die prägnanten und ideengesättigten Ideen lediglich Bedeutung für eine heterogene Bevölkerung, im Falle von Nietzsche, Heidegger oder Wittgenstein eine elitäre, weiße und von Männern dominierte Kultur. Deshalb habe ich auch den poetischen Kern im feministischen und queeren Denken von Gertrude Stein über Simone de Beauvoir bis zu Luce Irigaray und Judith Butler im Sinn,28 ebenso die Bedeutung des poetischen Denkens für den im Wandel befindlichen rassistischen und imperialen Diskurs: zum Beispiel James Baldwins existentialistischer Aphorismus über das menschliche Handeln: »Zu handeln bedeutet, für etwas einzutreten, und für etwas einzutreten bedeutet, sich in Gefahr zu begeben.«29